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Robert Hierner
Martin Langer
Reinhard Friedel
(Hrsg.)
Handchirurgie
Band 1
Band 2
Hossein Towfigh
Robert Hierner
Martin Langer
Reinhard Friedel
(Hrsg.)
Handchirurgie
Mit einem Geleitwort von H. Millesi
1 23
Prof. Dr. med. Hossein Towfigh PD Dr. med. Martin Langer
Abteilung für Handchirurgie, Mikrochirurgie Klinik- und Poliklinik für Unfall-, Hand- und
und Plastische Wiederherstellungschirurgie Wiederherstellungschirurgie
St.-Barbara-Klinik Hamm Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Am Heessener Wald 1 Waldeyerstraße 1
59073 Hamm 48149 Münster
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Die Zusammenstellung dieses Buches hat etwa zwei Jahre Zeit in Anspruch genommen. Während dieser Zeit
haben wir oft für Menschen, die uns sehr nahe stehen, zu wenig Zeit gehabt. Trotzdem haben sie uns immer un-
terstützt und uns in unserer Arbeit bestärkt. Dieses Werk ist ihnen in Liebe und Dankbarkeit gewidmet:
Hossein Towfigh:
Meiner lieben Frau, Dr. phil. Nicola Towfigh.
Robert Hierner:
Meiner Frau, Dr. med. Elisa Lorena Hierner, der Liebe meines Lebens.
Martin Langer:
für die Lieben meines Lebens: Christiane, Carolin und Magnus
Reinhard Friedel:
Meinen Eltern, Ruth Friedel und in Gedenken an meinen Vater Fritz Franz Friedel (gest. 13.03.1963)
IX
Geleitwort
Die Handchirurgie hat seit dem Ende der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhun-
derts im deutschen Sprachraum eine enorme Entwicklung erfahren. Dies ersieht man
aus den wissenschaftlichen Veranstaltungen, die Handchirurgie betreffen. Am ersten
Symposium der von Dieter Buck-Gramcko ins Leben gerufenen Deutschsprachigen
Arbeitsgemeinschaft für Handchirurgie, das 1959 in Hamburg stattgefunden hat, ver-
sammelte sich ein kleines Häuflein einschlägig interessierter Chirurgen. Jetzt gleichen
die Treffen der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaft für
Handchirurgie großen Kongressen mit hunderten Teilnehmern. Auch unser Wissen in
Zusammenhang mit handchirurgischen Problemen hat sich vervielfacht und ist für den
Einzelnen kaum mehr überschaubar.
Man muss es daher den Herausgebern des vorliegenden Werkes als großes Verdienst anrechnen, die schwie-
rige Aufgabe übernommen zu haben, das einschlägige Wissen zusammenzufassen und in deutscher Sprache zu
veröffentlichen. Ich habe diesen Entschluss sehr begrüßt und mich geehrt gefühlt, als die Herausgeber mich auf-
forderten, ein Geleitwort zu verfassen.
Natürlich habe ich mich gefragt, warum die Wahl zur Verfassung des Geleitwortes gerade auf mich gefallen
ist. Der Grund liegt vielleicht darin, dass ich einer der letzten noch aktiv tätigen Chirurgen bin, der die ganze
»Sturm und Drang« Periode der Handchirurgie mitgemacht hat. Ein Motiv mag auch sein, dass ich ein Autor
und ein Mitherausgeber des ersten umfassenden Werkes über Handchirurgie in deutscher Sprache war, nachdem
schon vorher bedeutende Bücher zu dem Thema erschienen waren.Vielleicht wollte man mit meiner Wahl an die
Tradition der Gründerzeit anknüpfen.
In Gesprächen mit der »jüngeren Generation« gewinnt man den Eindruck – dieser Eindruck wird auch durch
das erste Kapitel des vorliegenden Werkes unterstrichen – dass schon immer Interesse an handchirurgischen Pro-
blemen vorhanden und die Entwicklung sowie der schließliche Durchbruch ein geradliniger Prozess war. Dem ist
nicht so! Die spezielle Handchirurgie entwickelte sich aufgrund der Misserfolge, die die Anwendung allgemein-
chirurgischer Erfahrungen an der Hand mit sich brachte und im Widerspuch zu Vertretern solcher Prinzipien. Ich
erinnere an den Grundsatz: »Ubi pus ibi evacua«. Dieses an sich richtige Prinzip funktioniert an der Palmarseite
der Hand nicht, weil es dort bei eitrigen Prozessen zur Bildung von Nekrosen kommt, die nicht oder nur sehr lang-
sam eingeschmolzen werden, so dass die Inzision zur Evakuierung des Eiters nicht genügt, sondern die Nekrosen
entfernt werden müssen. Die Ruhigstellung eines verletzen oder operierten Gliedes war eine allgemein anerkannte
Erfahrung. Ihre kritiklose Anwendung zur Ruhigstellung der Hand am sogennanten »Handbrett« unter Streckung
der Metacarpophalangeal- und Interphalangealgelenke führte jedoch zu katastrophalen Versteifungen. Das an
sich logische Prinzip, möglichst den direkten Zugang zu wählen, hat nach Freilegung der Beugesehnen über eine
Längsinzision zu schweren Narbenkontrakturen geführt. Das Überlassen eines Hautdefektes der Sekundärheilung
nach Entwicklung von »schönen« Granulationen mag bei einer Wunde am Rücken akzeptabel sein, verursacht
allerdings, wie wir alle wissen, an den Extremitäten oder im Gesicht schwere Verstümmelungen durch Narbenkon-
trakturen. In diesem Zusammenhang haben die Erkenntnisse der Plastischen Chirurgie hinsichtlich Vermeidung
von Narbenkontrakturen und in Bezug auf Defektdeckung die Bestrebungen der Handchirurgie unterstützt.
Die erfolgreiche Anwendung der neuen Erkenntnisse hat manchen Kollegen seine Laufbahn an Kliniken oder
großen Krankenhäusern gekostet und sie gezwungen, in die freie Praxis auszuweichen, um ihre Erkenntnisse
ungehindert anwenden zu können.
In der Allgemeinchirurgie wurde der Sensibilität kaum Bedeutung beigemessen. Die Verpflanzung von Zehen
als Daumen- oder Fingerersatz nach dem Nikoladoniprinzip hat, wie Patrik Clarkson zeigen konnte, keine Dau-
erergebnisse gebracht, weil die verpflanzten Zehen wegen der fehlenden Sensibilität früher oder später wieder
amputiert werden mussten.
Die ungenügende Sensibilitätsrückkehr an der Hand nach Nervenverletzungen war eines der am meisten
diskutierten Probleme in der ersten Phase der Handchirurgie. Moberg war der Meinung, dass bei Erwachsenen
eine brauchbare Sensibilität niemals zurückkehrt. Die Folge war die Entwicklung der sensiblen neuro-vaskulären
Insellappen, um Fingerkuppen mit einer brauchbaren Sensibilität zu versehen, was allerdings den Nachteil hatte,
dass der Patient die afferenten Impulse nach wie vor am Spenderfinger lokalisierte.
X Geleitwort
Hier haben die Entwicklung der microvaskulären Chiurgie und die Fortschritte der peripheren Nervenchir-
urgie entscheidende Impulse für die Handchirugie gebracht. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Sensation am
Kongress der europäischen Sektion der ICSPRS 1969 in Brighton im Rahmen einer Sitzung über Daumenrekon-
struktion, als John Cobbet über die erste freie, microvaskuläre Verpflanzung der Großzehe als Daumenersatz be-
richtete und ich mehrere Patienten vorstellen konnte, bei denen der Daumen durch Verpflanzung der Großzehe
nach dem Nikoladoniprinzip ersetzt wurde, bei denen aber durch gleichzeitige Nerventransplantation nach der
neuen Technik die Zwei-Punkte-Diskriminierung zurückkehrte.
Der Aufstieg der Handchirurgie beruht zweifellos auf einem Zusammentreffen aller dieser Faktoren und auf
der Erkenntnis, dass alle gesetzten Maßnahmen Bezug auf die besonderen Verhältnisse an der Hand nehmen
müssen, eine Erkenntnis, die in erster Linie auf Sterling Bunnel zurückgeht und, trotz mehrfacher Hinweise z.B.
durch Marc Iselin in Europa nur allmählich weitere Verbreitung fand. Symptomatisch dafür ist die Tatsache,
dass in dem umfassenden Werk von Erich Lexer über die Wiederherstellungschirurgie wohl über rekonstruktive
Eingriffe an Sehnen, Gelenken, Knochen usw. gesprochen wird, das Wort Handchirurgie aber praktisch nicht
vorkommt.
Die Herausgeber des vorliegenden Werkes haben sich bemüht, alle Aspekte, die in Beziehung zur Hand
stehen, zu erfassen. Die beiden Bände enthalten 66 Kapitel. 53 Beiträge stammen aus deutschen Kliniken, 7 aus
Österreich und 6 aus der Schweiz, so dass der ganze deutsche Sprachraum vertreten ist. 96 kompetente Autoren
sind an der Abfassung der Kapitel beteiligt. Wie es der Entwicklung entspricht, stammen etwa je die Hälfte der
Beiträge aus handchirurgischen Institutionen an Unfallkliniken bzw. aus solchen an plastisch-chirurgischen Ein-
richtungen.
Die beiden Bände sind mit etwa 1800 Seiten geplant und werden eine große Zahl an Abbildungen enhalten.
Ich bin überzeugt, dass das vorliegende Werk alle Voraussetzungen erfüllt, einer Generation von Handchirur-
gen als Rückhalt zu dienen und wünsche ihm weite Verbreitung.
Vorwort
Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen des legendären handchirurgischen Werkes von Wilhelm und Wachsmuth in
der Reihe der Kirschner’schen Operationslehre, fast 30 Jahre nach Erscheinen des Lehrbuches von Nigst, Buck-
Gramcko und Millesi und ein Jahrzehnt nach Erscheinen der handchirurgischen Bände der Tscherne’schen Un-
fallchirurgie, ist es uns zusammen mit dem Springer-Verlag gelungen, eine aktuelle ausführliche Monografie zur
Handchirurgie unter Mitwirkung zahlreicher renommierter Autoren zu erarbeiten.
Die Handchirurgie hat in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen. Die Zusatzbezeich-
nung »Handchirurgie« kann heute nach der Facharztanerkennung in einem der chirurgischen Fachgebiete in
einer 2–3-jährigen Ausbildung erlangt werden. Die wesentlichen Ausbildungsabschnitte sollten heute in dafür
qualifizierten handchirurgischen Zentren und Netzwerken erfolgen, um den angehenden Handchirurgen sowohl
auf die Behandlung einfacher und komplexer Erkrankungen und Verletzungen der Hand als auch auf den Einsatz
mikrochirurgischer Techniken vorzubereiten. Die steigende Anzahl von Arzthaftungsfällen nach handchirurgi-
schen Behandlungen weist auf das dringende Erfordernis und die Notwendigkeit einer soliden und umfassenden
handchirurgischen Ausbildung hin. Aus diesem Grund wird von immer mehr handchirurgisch erfahrenen Kol-
legen die Einführung eines eigenständigen Facharztes für Handchirurgie gefordert, welcher den Umfang und die
Bedeutung des handchirurgischen Fachgebietes angemessen repräsentieren würde.
Die Tatsache, dass in der Hand viele funktionell wichtige Strukturen eng beieinander liegen, fordert eine ge-
naue Kenntnis der Anatomie und Biomechanik. Sie erklärt auch, warum oft kleine Schädigungen große Auswir-
kungen auf die globale Handfunktion haben und warum häufig komplexe operative Eingriffe erforderlich sind.
Zum besseren Verständnis erhält der Leser unter der Überschrift »Chirurgisch relevante Anatomie und Physiolo-
gie« zu Beginn eines jeden Kapitels die notwendige Basisinformation in komprimierter Form.
Handchirurgie ist ein integratives Fach. Diagnostik und Therapie multistruktureller Gewebe im Bereich der
Hand und der oberen Extremität stellen eine interdisziplinäre Aufgabe dar und bedürfen eines Therapieteams.
Mitglieder des Therapieteams sind – neben dem Handchirurgen, dem Patienten und seinen Angehörigen – Pfle-
gepersonal, der geschulte Handtherapeut, medizinisch-technisches Personal (Diätassistent, Orthopädiemeister
etc.), ärztliches Personal anderer Disziplinen (Anästhesie, Radiologie, Neurologie, Innere Medizin etc.) sowie die
Sozialdienste und Krankenkassen. Damit die Behandlung zum Erfolg führt, muss der Handchirurg bereit und
ausreichend qualifiziert sein, die Leitung dieses vielschichtigen Teams zu übernehmen und die unterschiedlichen
Blickwinkel der einzelnen Mitglieder auf den richtigen Behandlungspfad zu fokussieren. Bei guter Koordination
und Zusammenarbeit der einzelnen Bereiche wird auch das Behandlungsergebnis besser ausfallen.
Um in einem multidisziplinären Team erfolgreich arbeiten zu können, benötigt man eine »gemeinsame Spra-
che«, d. h. eine gemeinsame Klassifikation der vorliegenden Pathologie (»Worüber sprechen wir?«), ein gemein-
sames Diagnose- und Dokumentationsschema (»Worauf müssen wir achten?«) und gemeinsame therapeutische
Pfade für verschiedenen Situationen (»Wie sollen wir vorgehen?«). Diesen Anforderungen haben wir mit dem
einheitlichen Aufbau aller Kapitel – und der Darstellung von Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik und Klassifi-
kation – Rechnung getragen.
Um aus den zahlreichen möglichen Therapieverfahren die für den individuellen Patienten optimale Be-
handlung auszuwählen, bedarf es der Kenntnis handchirurgischer Grundlagen, einer exakten Beschreibung der
vorliegenden Pathologie der Erkrankung (Pathologie-bedingte Faktoren) und der Kenntnis Patienten-bedingter
und Therapie-bedingter Kriterien. Hierbei gibt es nur noch ein Dogma: Viele Wege führen nach Rom. Die stetige
Evaluation der Ergebnisse im Sinne eines Leistungsvergleichs und das akademische Streben nach Verbesserung
sind die Antriebskraft für Neuerungen. Der differenzierte Einsatz konservativer und/oder operativer Therapie-
möglichkeiten führt bei dem individuellen Patienten zum optimalen Ergebnis. Deshalb haben wir in jedem Kapi-
tel ein besonderes Augenmerk auf die Indikationsstellung und Differenzialtherapie gelegt.
Für die Therapie im Bereich der oberen Extremität und der Hand verwenden wir ein integratives Therapie-
konzept, welches die Erstversorgung bei Trauma, die operative Rekonstruktion, adjuvante Maßnahmen und funk-
tionsverbessernde Sekundäreingriffe umfasst. Die Qualität der Erstversorgung hat entscheidenden Einfluss auf
den Verlauf von Behandlung und Heilungsprozess und das funktionelle und ästhetische Endergebnis. Immer gilt
der Grundsatz »Life before Limb«. Die Möglichkeit sekundärer Eingriffe entbindet nicht von der Notwendigkeit,
bei der Primäroperation die bestmögliche Versorgung durchzuführen, sollte aber immer bei komplexerer Patho-
XII Vorwort
logie vor Beginn der Therapie eingeplant werden. Adjuvante Maßnahmen – und hier vor allem die Handtherapie
– stellen einen integralen Bestandteil der Behandlung im Bereich der Hand dar. Nur durch eine rechtzeitig einset-
zende und konsequent durchgeführte Begleitbehandlung durch geschulte Handtherapeuten kann ein optimales
Therapieergebnis erreicht werden. Handtherapeutische Maßnahmen gehören zum Gesamtbehandlungsplan.
Es war uns ein besonderes Anliegen, die Handtherapie erstmals in einem deutschsprachigen handchirurgi-
schen Lehrbuch breiter darzustellen. Das Zusammenspiel von konservativen und operativen Therapiemöglich-
keiten und die entsprechende Nachbehandlung sind in allen Kapiteln einheitlich dargestellt.
Ein Novum stellt die Beschreibung von spezifischen Unterschieden in Diagnostik und Therapie während
des Wachstums dar. Diesem Thema ist in jedem Kapitel am Ende des allgemeinen Teils ein eigener Abschnitt
gewidmet.
Die Darstellung der wichtigsten Operationstechniken ist in jedem Kapitel standardisiert im zweiten Abschnitt
unter »Spezielle Techniken« dargestellt. Auf »Fehler, Gefahren und Komplikationen« wird jeweils im dritten Ab-
schnitt eines Kapitels hingewiesen.
Gerade im Zeitalter des Internets, in dem aktuelles Wissen umfangreich und breit gefächert, aber häufig we-
nig strukturiert für jedermann zugänglich ist, kann ein gut strukturiertes Lehrbuch die Grundlagen vermitteln
und als solides Fundament dienen. Das Buch ist als Lehrbuch für den Anfänger und Nachschlagewerk für den
Erfahrenen konzipiert. Zum tieferen Eintauchen in die jeweilige Thematik wird am Ende eines jeden Kapitels auf
eine Vielzahl weiterführender Literaturquellen verwiesen.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text bei Personenbezeichnungen überwiegend nur die männ-
liche Form verwendet, sie schließt aber selbstverständlich beide Geschlechter ein.
Oft geht wertvolles Wissen durch einen Generationswechsel verloren. Durch die Auswahl der Autoren ist es
uns gelungen, den Wissenstransfer zwischen den Generationen optimal zu gestalten. Die Herausgeber sind be-
sonders dankbar, dass in diesem Buchprojekt eine Reihe herausragender Persönlichkeiten mitgewirkt und so den
nachfolgenden Generationen ihr großes Wissen und ihren reichen Erfahrungsschatz weitergegeben haben.
Es ist uns eine große Ehre, dass Herr Prof. Hanno Millesi, Pionier der Handchirurgie, das Geleitwort für un-
ser Buch verfasst hat.
Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zur Qualitätsverbesserung in der Handchirurgie zu leisten sowie
wissenschaftliche und fachlich-sachliche Diskussionen anregen zu können.
Danksagung
Die Herausgeber danken allen, die sich um das Entstehen dieses Buches verdient gemacht haben.
▬ Ein herzliches Dankeschön geht an Herrn Peter Bergmann und Frau Christiane Beisel, sowie an die übrigen
Mitarbeiter des Springer-Verlages, die zur Entstehung dieses Werkes beigetragen haben.
▬ Ein entscheidendes Element des Buches sind die neuen Zeichnungen, die von Herrn Reinhard Henkel ange-
fertigt wurden. Er hat die komplexe Materie mit großem Einfühlungsvermögen bearbeitet und den Abbildun-
gen mit seiner besonderen Fähigkeit zur Konzentration auf das Wesentliche einen besonderen fachlichen und
künstlerischen Ausdruck gegeben.
▬ Für den großen Einsatz und die ausgezeichnete Zusammenarbeit bei dem Lektorat der Manuskripte möchten
wir uns ganz besonders bei Frau Dr. Christiane Grosser bedanken.
▬ Für die gelungene und übersichtliche Gestaltung des Buches sowie die digitale Bearbeitung möchten wir uns
bei Herrn Tobias Schaedla sehr herzlich bedanken.
▬ Den Autoren möchten wir für die professionelle Zusammenarbeit und die ausgezeichneten Beiträge danken,
die den hohen Standard der Handchirurgie im deutschen Sprachraum widerspiegeln.
▬ Wir danken Herrn Prof. Hanno Millesi, einem der großen Pioniere der Handchirurgie, sehr herzlich für sein
inhaltsreiches Geleitwort und seine freundliche Empfehlung des Werkes.
▬ Nicht zuletzt sei den Kollegen gedankt, die durch Rat und konstruktive Kritik zum Gelingen beigetragen und
unser Werk wohlwollend begleitet haben.
Inhaltsverzeichnis Band 1
13 Technik der Arthroskopie im Bereich
I Geschichte der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Gerhard Böhringer
II Propädeutik IV Handrehabilitation
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
23 Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im
Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen) . . . . 539 ERRATUM.......................................E1
Hossein Towfigh
25 Frakturen im Mittelhandbereich
inklusive sekundärer Korrektur knöcherner
Fehlstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
Hossein Towfigh
(Mit einem Beitrag von Barbara Schmidt und
Annelie Weinberg)
29 Kapsel-Band-Läsionen im
Handgelenkbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709
Hossein Towfigh
Inhaltsverzeichnis Band 2
48 Kompartmentsyndrome im Bereich
der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343
IX Rekonstruktive Handchirurgie Karlheinz Kalb
Knochen-Weichteildefekte 49 Durchblutungsstörungen im Bereich
der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1361
38 Rekonstruktion von palmaren und Reinhold Stober, Franz-Eduard Brock
dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel
50 Lymphödem der oberen Extremität . . . . . . . . . . . 1385
und Nagelbett) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
Rüdiger G.H. Baumeister
Robert Hierner, Hossein Towfigh
56 Nervenkompressionssyndrome im Bereich
der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1537 XIX Ästhetik
Margot Wüstner-Hofmann, Hans Assmus
(Mit Beiträgen von Gregor Antoniadis,
Albrecht Wilhelm, Christian Bischoff, Henrich Kele, 65 Ästhetische Handchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1811
Martin Bendszus, Mirko Pham) Rafael Jakubietz, Michael Jakubietz, Rainer Meffert,
Jörg Grünert
57 Motorische Ersatzoperationen im Bereich
der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1621
Jürgen Rudigier
XX Entwicklungsbiologische Aspekte
58 Freie funktionelle Muskeltransplantation
im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . 1651
Robert Hierner, Alfred Berger 66 Entwicklungsbiologische Grundlagen
handchirurgisch relevanter Erkrankungen . . . . 1821
59 Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen Peter Hyckel
(Tetraplegie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1673
Andreas Gohritz, István Turcsányi, Jan Fridén Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1827
XV Onkologie
XVI Begutachtung
62 Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755
Jürgen Probst
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Gregor Antoniadis Prof. em. Dr. med. Alfred Berger
Bezirkskrankenhaus Günzburg Medizinische Hochschule Hannover
Neurochirurgische Klinik Klinik für Plastische, Hand und
der Universität Ulm Wiederherstellungschirurgie
Ludwig-Heilmeyer-Straße 2 Hohlbeinstraße 1
D-89312 Günzburg D-30916 Isernhagen
E-Mail: gregor.antoniadis@uni-ulm.de E-Mail: berger-alfred@t-online.de
Prof. em. Dr. med. Rüdiger G.H. Dr. med. Adriana Blonder
Baumeister Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik
Ludwig-Maximilians-Universität Abteilung für Handchirurgie und
Campus-Grosshadern Wiederherstellende Plastische Chirurgie
Chirurgische Klinik und Poliklinik Friedberger Landstraße 430
Plastische-, Hand-, Mikrochirurgie D-60389 Frankfurt
Marchioninistraße 15 E-Mail: adriana.blonder@bgu-frankfurt.de
D-81377 München
E-Mail: sekr.plast@med.uni-muenchen.de
Priv. Doz. Dr. med. Robert Eberl Prof. Dr. Jan Friden
Universitätsklinik Graz Sahlgrenska Universitetsjukhuset
Universitätsklinik für Kinder- und Department für Handchirurgie
Jugendchirurgie Bruna Straket 9,
Auenbruggerplatz 34 SE-413 45 Göteborg
A-8036 Graz E-Mail: jan.friden@orthop.gu.se
E-Mail: robert.eberl@meduni-graz.at
XXIII
Autorenverzeichnis
Dr. med. Lars Peter Kamolz, M.Sc. Dr. med. Walter Künzi
Facharzt-Ordinationsgemeinschaft Universitätsspital Zürich
Bahngasse 7 Klinik für Wiederherstellungschirurgie
A-2700 Wr. Neustadt Rämistrasse 100
E-Mail: kamolz@plastchirurg.info CH-8091 Zürich
E-Mail: walter.kuenzi@usz.ch
XXVI Autorenverzeichnis
Prof. em. Dr. med. Hildegunde Piza Prof. Dr. med. Jürgen Rudigier
Universität Innsbruck Ortenau Klinikum, Offenburg-
Klinik für Plastische und Gengenbach
Wiederherstellungschirurgie Klinik für Unfall- und Handchirurgie
Kalmanstraße 41 Ebertplatz 12
A-1130 Wien D-77654 Offenburg
E-Mail: hildegunde.piza@i-med.ac.at E-Mail: traumatologie@og.ortenau-
klinikum.de
Prof. em. Dr. med. Jürgen Probst Prof. Dr. med. Erwin Scharnagel
Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Universitätsklinik für Chirurgie
Murnau Medizinische Universität Graz
Alter Mühlhabinger Weg 3 Klinische Abteilung für Plastische und
D-82418 Murnau am Staffelsee Rekonstruktive Chirurgie
E-Mail: Prof.Juergen.Probst.Murnau@ Auenbrugger Platz 29
t-online.de A-8036 Graz
E-Mail: erwin.scharnagel@medunigraz.at
Prof. Dr. med. Barabara Schmidt PD. Dr. med. Michael Steen
Universitätsklinik Graz Berufsgenossenschaftliche Kliniken
Universitätsklinik für Kinder- und Bergmannstrost
Jugendchirurgie Klinik für Plastische und Handchirurgie,
Auenbruggerplatz 34 Brandverletztenzentrum
A-8036 Graz Merseburger Straße 165,
E-Mail: barabara.schmidt@meduni-graz.at D-06112 Halle (Saale)
E-Mail: plastische-chirurgie@
bergmannstrost.com
Prof. Dr. med. Stephan Spendel Prof. Dr. med. Hossein Towfigh
Medizinische Universität Graz St. Barbara-Klinik Hamm
Universitätsklinik für Chirurgie Department für Handchirurgie,
Klinische Abteilung für Plastische und Mikrochirurgie und Plastische
Rekonstruktive Chirurgie Wiederherstellungschirurgie
Auenbrugger Platz 29 Am Heessener Wald 1
A-8036 Graz D-59073 Hamm
E-Mail: stephan.spendel@medunigraz.at E-Mail: prof.towfigh@towfigh.de
XXIX
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Peter M. Vogt Dr. med. univ. Maria Wiedner
Klinik für Plastische, Hand- und Universitätsklinik für Chirurgie
Wiederherstellungschirurgie Medizinische Universität Graz
Medizinische Hochschule Hannover Klinische Abteilung für Plastische und
Carl-Neuberg-Straße 1 Rekonstruktive Chirurgie
D-30625 Hannover Auenbrugger Platz 29
E-Mail: info-phw@mh-hannover.de A-8036 Graz
E-Mail: maria.wiedner@medunigraz.at
PD Dr. med. Annelie Weinberg Prof. em. Dr. med. Albrecht Wilhelm
Universitätsklinik Graz Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie,
Universitätsklinik für Kinder- und Handchirurgie
Jugendchirurgie Schongauerstraße 2
Auenbruggerplatz 34 D-63739 Aschaffenburg
A-8036 Graz E-Mail: albrecht.wilhelm@klinikum-
E-Mail: anneliemartina.weinberg@ aschaffenburg.de
meduni-graz.at
XXX Autorenverzeichnis
I Geschichte
Die Handchirurgie als Spezialfach hat sich erst in der zweiten um 1504
1 Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildet, konnte sich aber trotz Goetz von Berlichingen (1480–1562) verliert bei der Belagerung
der enormen Spezialisierung mit tausenden verschiedener Ope- von Landshut seine rechte Hand. Seine eiserne Hand ist die erste
rationen und riesigen Patientenzahlen (allein 30–40% der Ar- passive Prothese und für die damalige Zeit ein unglaubliches fein-
beitsunfälle betreffen die Hand) bis heute in Deutschland nicht mechanisches Kunstwerk mit 3 mechanischen Gelenken der Finger
als eigenständige und unabhängige Disziplin durchsetzen. Das und zwei für den Daumen. Die Finger müssen mit der gesunden
spezielle Interesse an der differenzierten Anatomie der Hand Hand um das Schwert gelegt werden. Nach Lösen der Arretierung
war jedoch immer schon hoch und die hervorragenden Ergeb- springen die Finger wieder in Streckstellung.
nisse nach durchdachten und exakt ausgeführten handchirur-
gischen Eingriffen haben Chirurgen auch in den vergangenen 1543
Jahrhunderten immer wieder fasziniert. Viele Techniken, die wir Andreas Vesalius (1514–1564) veröffentlicht seinen Atlas der Ana-
heute selbstverständlich benutzen, sind das Resultat von lange tomie und wird der Vater der modernen Anatomie.
zurückliegenden (nicht nur des 20. Jahrhunderts) Entdeckun-
gen, Forschungen, Erfindungen und genialen Ideen. Der Versuch um 1550
eine einigermaßen vollständige Geschichte der Handchirurgie zu Ambroise Paré (1509–1590), der Vater der Chirurgie in Frank-
schreiben, würde den Umfang eines Lehrbuchkapitels bei Weitem reich, sammelte seine Erfahrungen meist als Kriegschirurg. Auf
sprengen. Die Geschichte der Handchirurgie in komprimierter den Schlachtfeldern konnte er aus der Not heraus zwei Behand-
Form darzustellen und dabei die wichtigsten Personen, Daten lungsarten direkt miteinander vergleichen – das Ausbrennen
und Meilensteine zu nennen, ist nur stichpunktartig möglich. der Amputationswunden mit siedendem Öl, die vorgeschriebene
Diese Übersicht bietet auf engstem Raum interessante Einbli- Technik, und nachdem das Öl ausgegangen war, die Ligatur der
cke über die Forschungsschwerpunkte zu den jeweiligen Zeiten, Arterien. Die mit Abstand besseren Ergebnisse führten dazu,
überraschend junge Techniken und sehr alte Verfahren, die sich dass Paré niemals wieder heißes Öl verwendete und er die Tech-
seit Jahrzehnten bewährt haben. Trotzdem zeigt diese Zusam- nik der Arterienligatur empfahl. Er beschrieb auch Handinfek-
menstellung große Lücken und viele wichtige Personen sind nicht tionen, künstliche Hände und Schienen für die Streckung zur
genannt. Bei den Abbildungen haben wir uns beschränken müs- Weiterbehandlung nach Narbendurchtrennung bei kontrakten
sen und einige weniger bekannte Portraits ausgewählt. Aktuelle Fingern.
Geschehnisse haben wir noch nicht aufgenommen und sind nur
bis 1993 mit der »Geschichte« vorgedrungen. Trotz intensiver 1596
Suche konnten wir etliche Vornamen, Jahreszahlen und Fakten Felix Würtz (1514–1575), »Practica der Wundarznei«, in der er
nicht herausfinden, für Hinweise und Korrekturen aus der Leser- u. a. angibt, dass Finger, die steif und unbrauchbar werden in eine
schaft sind wir äußerst dankbar. bestmögliche und am wenigsten störende Stellung gebracht werden
sollen.
400 v. Chr.
Hippokrates von Kos (460–354 v. Chr.) beschreibt in seinem Cor- 1614
pus Hippokraticum Anweisungen zur Reposition von Luxationen Felix Platter (1536–1614) aus Basel beschreibt bereits 200 Jahre vor
und Frakturen der Hand. Dupuytren die Retraktion der Palmaraponeurose.
um 1480 1741
Leonardo da Vinci (1452–1519) fertigt die ersten genauen Zeich- Pietro Berettini da Cortona (1596–1669), Tabulae anatomicae mit
nungen der Muskeln, Knochen, Blutgefäße, Sehnen der Hand und Nervenverbindung zwischen N. medianus und N. ulnaris in der
u. a. auch erstmals der A2- und A4-Ringbänder an. Hand (Berettini-Verbindung).
Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
5 1
1742 1841
Josias Weitbrecht (1702–1747) »Syndesmologica«, eine fast voll- Alfred Poland (1820–1872), Fehlbildungen der Hand mit fehlen-
ständige Darstellung aller Bänder des Menschen, erscheint. dem M. pectoralis.
1760 1850
Pieter Camper (1722–1789), Chiasma der Beugesehnen an den Gustav Biedermann Günther (1801–1866), »Das Handgelenk«.
Fingern.
1851
1763 Sauveur Henri Victor Bouvier (1799–1877 ), Zeichen der Kontrak-
Roland Martin (1726–1788), Martin-Gruber-Verbindung zwischen tur der intrinsischen Muskulatur bei Ulnaris-Lähmung.
N. ulnaris und N. medianus am Unterarm.
1853
1778 Sir James Paget (1814–1899), 1. Fall eines Karpaltunnelsyndroms,
Claude Pouteau (1725–1775) beschreibt (posthume Veröffentli- Sehnenheilung, Nervennaht.
chung) die distale Radiusfraktur.
1854
1802 John Struthers (1823–1899), Processus supracondylaris humeri.
William Heberden (1710–1801) beschreibt die Arthrose des Finge- Charles Pierre Denonvilliers (1808–1872), lokale Hautlappenplasti-
rendgelenks und prägt den Ausdruck »Angina pectoris«. ken im Sinne der Z–Plastik.
1810 1855
Simon Zeller (1746–1816) verwendet erstmals einen dreieckigen Guillaume Benjamin Amand Duchenne (1806–1875), Muskeldys-
dorsalen Lappen zur Neubildung der Fingerzwischenfalte bei der trophien, »Physiology of motion«, eine der wichtigsten Publikatio-
Syndaktylietrennung. nen der Medizingeschichte.
1813 1856
Carol Friedrich Ludovic Gantzer, Gantzer‘scher Muskel, akzessori- Julius von Szymanowski (1829–1868), Z-Plastik.
scher Kopf des M. flexor pollicis longus.
1861
1814 Jean Casimir Felix Guyon (1831–1920), Loge de Guyon, später Be-
Abraham Colles (1773–1843), distale Radiusextensionsfraktur. gründer der Urologie in Frankreich
Giovanni Batista Monteggia (1762–1815), Fraktur der proximalen Carl von Langer (1819–1887), Spaltlinien der Haut.
Ulna mit Radiuskopfluxation.
1862
1821 Maurice Raynaud (1834–1881), Raynaud-Syndrom der Finger.
Sir Astley Paston Cooper (1768–1841), Kontraktur der Palmara-
poneurose. 1865
Joseph Lister (1827–1912), Tuberculum Listeri.
1832
Baron Guillaume Dupuytren (1777–1835), Kontraktur der Palma- 1867
raponeurose. Joseph Lister (1827–1912), Asepsis.
1833 1868
Sir Charles Bell (1774–1842), »The hand, its mechanism and vital Friedrich Gustav Jacob Henle (1809–1885) beschreibt in seinem
endowments as evincing design«, einer der Klassiker der Medizin »Handbuch der systematischen Anatomie« sympathische Nerven-
überhaupt. fasern zum N. ulnaris (Henle‘scher Nerv) und die Anheftungen des
Georg Friederich Louis Stromeyer (1804–1876), Beginn der Seh- TFCC an der Ulna.
nenchirurgie, Tenotomie.
Jean Gaspard Blaise Goyrand (1803–1866), anatomische Arbeiten 1869
über die Dupuytren-Kontraktur und später (1837) Beschreibung Jacques Louis Reverdin (1842–1908), Reverdin-Plastik.
der Flexionsfraktur des distalen Radius. Johann Friederich Horner (1831–1886), eine besondere Form der
Ptosis.
1834
Ernst Heinrich Weber (1795–1878), Zwei-Punkte-Diskrimination. 1870
Wenzel Leopold Gruber (1814–1890), veröffentlicht zahlreiche
1835 anatomische Variationen an der Hand und u. a. auch die Media-
Filippo Pacini (1812–1883), Tastkörperchen. nus-Ulnaris-Verbindung am Unterarm (Martin-Gruber-Verbin-
dung).
1835
Margarethe Karoline Eichler, Berliner Instrumentenmacherin und 1872
Bandagistin, entwickelt eine künstliche Hand, bei der eine aktive Silas Weir Mitchell (1829–1914), »Injuries of nerves and their con-
Beugung und eine passive Streckung möglich sind. sequences«, prägt den Begriff Kausalgie.
6 Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
1873 1885
1 Johann Friedrich August von Esmarch (1823–1908), künstliche Augusta Klumpke (1859–1927), Plexusparese.
Blutleere.
Wilhelm Heinrich Erb (1840–1921), Plexuslähmung. 1886
Carl Thiersch (1822–1895), dünne Hauttransplantate.
1874
Carl Thiersch ( 1822–1895), Spalthauttransplantation. 1888
Carl Hueter (1838–1882), Infektionen der Hand, Hueter-Linie. Max Oberst (1849–1925), Oberst-Anästhesie am Finger.
1875 1889
John Reissberg Wolfe (1824–1904), Vollhauttransplantation. M. Bilhaut, Keilresektion beim Doppeldaumen.
1876 1891
Francesco Parona (1842–1908), tiefer Unterarmraum (Parona- Otto Sprengel (1852–1915), Sprengel-Deformität.
Raum). Carl Nicoladoni (1847–1902; ⊡ Abb. 1.3), Daumenrekonstruktion,
transplantierte erstmals Zehen zur Hand und entwickelte wichtige
1878 Transpositionen von Sehnen.
John Cleland (1835–1925), Hautbänder der Finger.
1892
1879 Francois Legueu und E. Juvara, vertikale Septen in der Hohlhand.
Otto Wilhelm Madelung (1846–1926; ⊡ Abb. 1.1), Fehlbildung des
distalen Radius mit spontaner Subluxation der Hand (Madelung- 1893
Deformität). Archibald Edward Garrod (1819–1907), Knöchelpolster über den
PIP.
1881
Richard von Volkmann (1830–1889) Ischämische Kontraktur. 1893
Fedor Krause (1857–1937), Technik der Vollhauttransplantation
1882 (Wolfe-Krause-Lappen).
Edward Halloran Bennett (1837–1907; ⊡ Abb. 1.2), Basisfraktur des
Metakarpale 1. 1895
Friedrich Daniel von Recklinghausen (1833–1910), Neurofibro- Wilhelm Konrad Röntgen (1845–1923) veröffentlicht seine Arbeit
matose. über die X–Strahlen.
1895
Fritz de Quervain (1868–1940), Tendovaginitis stenosans, später
die Luxationsfraktur des Handgelenks.
1896
A. Cannieu, Medianus-Ulnaris-Verbindung in der Hohlhand.
1897
Paul Poirier (1853–1907), Poirier‘sche Raum im Carpus.
1900
Carl Nicoladoni (1847–1902), Daumenplastik.
⊡ Abb. 1.1 Otto Wilhelm Madelung. (Aus Münchner Medizinische Wochen- Louis Xavier Edouard Léopold Ollier (1830–1900), Dyschondropla-
schrift 1926) sie-Enchondromatose, bereits 1872 Hauttransplantationen.
⊡ Abb. 1.2 Edward Halloran Bennett. (Aus Mostofi 2005) ⊡ Abb. 1.3 Carl Nicoladoni. (Aus Mostofi 2005)
Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
7 1
1901 William Darrach (1876–1948), subperiostale Resektion der distalen
Henri Francois Secrétan (1856–1916), chronisches festes Hand- Ulna.
rückenödem. Konrad Biesalski (1868–1930) und Leo Mayer, »Die physiologische
Sehnenverpflanzung«.
1902
Paul Sudeck (1866–1945), »Über die akute (trophoneurotische) 1913
Knochenatrophie«. Pierre Marie (1853–1940) und Charles Foix beschreiben die Kom-
pression des N. medianus im Karpaltunnel; Das Karpaltunnelsyn-
1903 drom.
Charles Edward Beevor (1854–1908), Test der intrinsischen Paralyse.
1915
1904 Jules Froment (1878–1946), Papierzeichen bei der Ulnarisparese.
Harvey Williams Cushing (1869–1939), pneumatische Blutleere. Paul Hoffmann (1884–1962) und Jules Tinel (1879–1952), Hoff-
mann-Tinel-Zeichen.
1905
Ètienne Destot (1864–1918), beschreibt Fälle mit einer skapholu- 1916
nären Dissoziation. Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), »Die willkürlich bewegliche
Hand«.
1906
Eugène Apert (1868–1940), Acrocephalosyndaktylie. 1917
Ludwig Kirchmayr, Sehnennahttechnik.
1907 Hermann Krukenberg (1863–1935), Unterarmspaltung nach Hand-
Fritz de Quervain (1868–1940) beschreibt die Luxationsfraktur des amputation zum Greifen.
Carpus.
1918
1908 Georg Clemens Perthes (1869–1927), Radialis-Ersatzplastik.
Fritz Frohse (1871–1916) und Max Fränkel, Frohse‘sche Arkade, Arthur Steindler (1878–1959), Bizeps-Ersatzplastik.
»Die Muskeln des menschlichen Armes«.
August Karl Gustav Bier (1861–1949) führt die intravenöse Regio- 1920
nalanästhesie ein. Erich Lexer (1867–1937), Wiederherstellungschirurgie.
Ricardo Finochietto (1888–1962), Volkmann-Kontraktur der
1909 Hand.
Martin Kirschner (1879–1942), Kirschner-Drähte.
1921
1910 Sterling Bunnell (1882–1957; ⊡ Abb. 1.5) prägt den Ausdruck
Robert Kienböck (1871–1953), Lunatumnekrose. »atraumatische Technik«.
G. Preiser, Skaphoidnekrose. Sir Robert Jones (1858–1933), Sehnentranspositionen.
Silvio Rolando (Chirurg aus Genua; ⊡ Abb. 1.4), Y-förmige Basis- E. Huber, Opponensplastik mit Abductor digiti minimi.
fraktur des Metakarpale 1.
1921
1911 Georg Clemens Perthes (1869–1927), plastischer Daumenersatz,
Georg Hirschel (1887–1963) beschreibt die subaxiale Plexusanäs- Sehnentranspositionen bei der Radialisparese.
thesie.
1922
1912 Harold Jalland Stiles (1863–1946), Sehnentransposition der ober-
Allen Buckner Kanavel (1874–1938), »Infections of the hand«, Kar- flächliche Beuger zu den Streckern bei der Ulnarisparese.
dinalzeichen bei der Infektion der Beugesehnenscheide.
⊡ Abb. 1.4 Silvio Rolando. (Aus Mostofi 2005) ⊡ Abb. 1.5 Sterling Bunnell. (Aus Mostofi 2005)
8 Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
1924 1941
1 Herbert Galloway, spaltet erstmals den Karpaltunnel zur Neurolyse H. Milch, Ulnaverkürzungsosteotomie.
des N. medianus.
1944
1927 Sterling Bunnell (1882–1957), Surgery of the hand, Begründer der
Josef Kirner, Endglieddeformität des Kleinfingers. modernen Handchirurgie, eine der wichtigsten Personen für die
Handchirurgie überhaupt.
1928
Olof Hultén, Minusvariante der Ulna bei M. Kienböck. 1945
Karl Krömer, »Die verletzte Hand«.
1929
H. Camitz, Opponensplastik mit Palmaris-longus-Sehne. 1946
Lorenz Böhler (1885–1973), »Die Technik der Knochenbruchbe- S.B. Fowler, Tenodeseoperation bei der Ulnarisparese.
handlung« (1. Aufl.). Gründung der »American Society for Surgery of the Hand«
E.V. Allen, Rheumatologe, Allen-Test zur Überprüfung der Hohl- (ASSH).
handbögen.
1949
1930 Johan Matthijs Frederik Landsmeer (1919–1999), Ligamenta reti-
Harry Finkelstein (1865–1939), Test bei Tendovaginitis stenosans nacularia der Finger.
de Quervain. Walter Harvey Gervis (1901–1981), Trapeziektomie bei Rhizarth-
rose.
1931 S.B. Fowler, Strecksehnenplastik, Lumbrikalis-Ersatz.
Leo Testut (1849–1925 ), Testut’sches Ligament.
1950
1933 Otto Hilgenfeld (1900–1983), operativer Daumenersatz.
James R. Learmonth (1895–1967), führt die ersten Karpaltunnel-
syndrom-Operationen durch (⊡ Abb. 1.6) 1951
George S. Phalen (1911–1998), Flexionstest beim Karpaltunnel-
1934 syndrom.
O. von Rosen, Hypothenar-Hammer-Syndrom. Gründung des »Scandinavian Club for Surgery of the Hand« (Erik
Riccardo Galeazzi (1866–1952), distale Radiusschaftfraktur mit Moberg, 1905–1993).
Ulnakopfluxation. Peter Gordon Lawrence Essex-Lopresti (1916–1951; ⊡ Abb. 1.7),
DRUG-Luxation mit Radiuskopffraktur.
1936 J.J. Gartland und C.W. Werley, Bewertungsschema für distale Ra-
L. Sauvé und M. Kapandji, »Die Arthrodese des distalen Radioul- diusfraktur.
nargelenkes«. Sydney Sunderland (1910–1993), Klassifikation der Nervenverlet-
Hermann Matti, Skaphoidpseudarthrosenoperation. zungen.
T.D. Cronin, Cross-finger-Lappen.
1938 Claude Verdan (1909–2006), spezialisierte Sehnenchirurgie.
Marc Iselin (1898–1987), »Chirurgie de la Main«.
1952
1939 Gründung des »Hand Club« in England
Arthur Steindler (1878–1959), Sehnentranspositionen an der Hand. Paul Wilson Brand (1914–2003), »Reconstruction of the hand in
leprosy«, später »Biomechanics of the hand«.
1941 Leslie Gordon Kiloh (1917–1997) und Samuel Nevin (1905–1979),
J. Grayson, palmare Hautbänder des Fingers. Interossea-anterior-Syndrom.
⊡ Abb. 1.6 James R. Learmonth. (Aus Luchetti u. Amadio 2007) ⊡ Abb. 1.7 Peter Gordon Lawrence Essex-Lopresti. (Aus Mostofi 2005)
Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
9 1
1953 1962
James William Littler (1915–2008), sensible Insellappenplastik für Bertil Stener beschreibt die Band-Dislokation beim »Skidaumen«.
den Daumen.
1963
1954 Dieter Buck-Gramcko (*1927), erste unabhängige handchirurgische
James William Littler (1915–2008), Release bei Kontraktur der in- Abteilung in Deutschland (Hamburg).
trinsischen Muskulatur. Raoul Tubiana (*1915) gründet die Groupe d’Etude de la Main
Otto Russe (1913–1983), Skaphoidpseudarthrosenoperation. (GEM).
Julian Bruner (1900–1997), Zick-Zack-Schnitt am Finger.
1955
Jörg Böhler (1917–2005), deutsche Übersetzung von Bunnell‘s 1964
»Chirurgie der Hand« H.D. Wassel, Klassifikation der Doppeldaumen.
1956 1965
Robert Merle d‘Aubigné (1900–1989; ⊡ Abb. 1.8), Radialisersatz- Die »Deutschsprachige Arbeitsgemeinschaft für Handchirurgie« wird
plastik. gegründet. Gründungsmitglieder: Jörg Böhler, Dieter Buck-Gramcko,
Robert Guy Pulvertaft (1907–1986), Durchflechtungsnaht bei Seh- Walter Christ, Jürgen Geldmacher, Heinz Georg, Klaus Hellmann,
nen. Heinz Hoffmann, Hanno Millesi, Henry Nigst, Wolfgang Pieper, Wil-
Mark Iselin (1898–1987), beginnt mit handchirurgischen Kursen in helm Schink, Claude Verdan, Albrecht Wilhelm, Gottlieb Zrubecki.
Paris-Nanterre und bildet im Laufe der Zeit über 1200 Chirurgen
aus aller Welt in Handchirurgie aus. 1966
Eric M. Moberg (1905–1993), »Akut handkirurgi«, Pionier der Groupe Suisse d’Etude de la Main (GEM) wird gegründet.
Handchirurgie in Europa, 1. Präsident der IFSSH 1968, Ninhydrin- Albrecht Wilhelm (*1929), Denervation des Handgelenks.
Test, Moberg-Lappen 1970, Operationen bei Tetraplegikern. O. Graner, Operationstechnik bei M. Kienböck.
Gründung der »International Federation of Societies for Surgery of
1957 the Hand« (IFSSH).
Geoffrey Osborne, Faszie über dem N. ulnaris zwischen beiden
Ursprüngen des FCU am Ellenbogen. 1967
P. Delcoulx, Klassifikatoion des M. Kienböck. Walter Blauth (*1924), Klassifikation der Daumenhypoplasie.
Gründung der »Japanischen Gesellschaft für Handchirurgie«. Kauko Vainio (1913–1989), Grundgelenksarthroplastik.
Harold Kleinert (*1921), Nachbehandlung der Beugesehnennaht.
1958
Jörg Böhler beginnt mit den »Wiener Handkursen«. 1968
Eduardo Alfredo Zancolli (*1924), »Structural and dynamic basis
1959 of hand surgery«, »Atlas of surgical anatomy of the hand« (1991).
»Handchirurgischer Literaturzirkel« wird in Deutschland haupt- Alfred Bertil Swanson (*1923), Swanson-Prothesen und Klassifika-
sächlich von Dieter Buck-Gramcko ins Leben gerufen. tion der Handfehlbildungen.
Mark Iselin (1898–1987) prägt den Ausdruck »aufgeschobene
Dringlichkeit« (»urgence differeé«). 1969
Ivan B. Matev (*1925), Strecksehnenplastik bei Mittelzügelinsuffi-
1960 zienz, später Kallusdistraktion des Daumens,
Wilhelm Schink (1916–2004), »Handchirurgischer Ratgeber«. Jürgen Geldmacher, Ernst Scharizer und Dieter Buck-Gramcko
geben die Zeitschrift »Handchirurgie« heraus, ab 1983: »Handchir-
1961 urgie, Mikrochirurgie, Plastische Chirurgie«.
Widukind Lenz (1919–1995) deckt die Wirkung von Thalidomid
(Contergan) auf die Entwicklung von Fehlbildungen auf. 1970
Hugh Graham Stack (1915–1992), »The palmar fascia«; entwickelte
»Stack’sche Schiene«.
1971
Emil Beck (*1931), gefäßgestielte Pisiformetransplantation beim
M. Kienböck.
1972
Werner Wachsmuth (1900–1990) und Albrecht Wilhelm, »Die
Operationen an der Hand«.
Ronald Lee Linscheid (*1929) macht die skapholunäre Dissoziation
bekannt.
1973
Richard G. Eaton (*1929) und James William Littler (1915–2008),
⊡ Abb. 1.8 Robert Merle d‘Aubigné. (Aus Mostofi 2005) Bandplastik für die Instabilität des Sattelgelenks.
10 Kapitel 1 · Geschichte der Handchirurgie
1976 1991
Adalbert Kapandji (*1928), intrafokale K-Draht-Spickung bei dis- C. Zaidemberg, vaskularisierter Knochenspan aus dem distalen
talen Radiusfrakturen. Radius für das Skaphoid.
Jürgen Geldmacher (1929–1994), Sehnenchirurgie.
1977 Wolfgang Hintringer und Martin Leixnering, Klassifikation der
Kenya Tsuge (*1921), Beugesehnennaht. Mittelgelenksverletzungen.
Josef Ender, Skaphoidplatte.
1992
1979 Hanno Millesi (*1927), Chirurgie der peripheren Nerven.
Richard Linburg, Anomaler Sehnenzügel zwischen der FPL- und
FDP-II-Sehne. 1993
Y.C. Chen, erste Arthroskopie des Handgelenks. C. Angrigiani, Interossea-posterior-Lappen.
Guy Foucher, Insellappen vom Zeigfinger.
II Propädeutik
2.1 Allgemeines – 14
2.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 14
2.1.2 Epidemiologie – 17
2.1.3 Ätiologie – 18
2.1.4 Diagnostik (»Basisuntersuchung Hand«) – 18
2.1.5 Klassifikation – 21
2.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie – 21
2.1.7 Therapie – 21
2.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter – 22
2.2 Spezielle Techniken – 23
2.2.1 Frische Handverletzung – 23
2.2.2 Vaskuläre Untersuchung – 25
2.2.3 Lymphatische Untersuchung – 25
2.2.4 Neurologische Untersuchung – 25
2.2.5 Untersuchung der Strecksehnen – 25
2.2.6 Untersuchung der Beugesehnen – 25
2.2.7 Untersuchung der Fingergelenke – 25
2.2.8 Untersuchung des Karpus – 25
2.2.9 Untersuchung bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises – 25
2.2.10 Untersuchung bei Infektionen – 25
2.2.11 Untersuchung bei Verbrennung – 25
2.2.12 Untersuchung bei Hochdruckinjektionsverletzungen – 25
2.2.13 Untersuchung bei Paravasaten – 25
2.2.14 Untersuchung bei Tumoren – 25
2.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen – 25
Weiterführende Literatur – 25
2.1 Allgemeines werden, nämlich »greifende Aktionen« und »nicht greifende Akti-
onen«.
2.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie Zu den »nicht greifenden« Aktionen zählt beispielsweise das
und Physiologie Schieben oder Heben von Gegenständen.
2 »Greifende Aktionen« können weiter unterteilt werden in
Bei jedem primären oder sekundären rekonstruktivem Eingriff an elementare, transiente und Präzisionsgreifformen. Die einfachste
der Hand müssen stets sämtliche funktionellen, ästhetischen und Ausprägung der »elementaren Greifformen« stellt der Hakengriff
sozialen Aspekte gemeinsam betrachtet werden. Nur so lässt sich dar, der ggf. schon mit einem einzigen gebeugten Finger ausführ-
ein für den betroffenen Patienten optimales Ergebnis erzielen. bar ist (⊡ Abb. 2.2a). Der Daumen ist für diese Funktion nicht
notwendig. Da ein Greifpartner fehlt, können Gegenstände weder
Oberflächenanatomie und Topografie der Hand in der Hand gehalten noch bewegt werden. Der laterale Spitzgriff
Bereits bei der Betrachtung des Oberflächenreliefs lassen sich für ist eine weitere elementare Greifform. Durch das Zusammenspiel
die Untersuchung der Hand wichtige Informationen bekommen von zwei Fingern bzw. dem Daumen und einem Finger können im
(⊡ Abb. 2.1). Unterschied zum Hakengriff Gegenstände in der Hand gehalten
und sogar bewegt werden. Ist im Fingerbereich nur eine Adduktion
Funktionelle Bedeutung der Hand möglich, so spricht man vom sog. Zigarettengriff (⊡ Abb. 2.2b).
Funktionell gesehen hat die Hand zwei Hauptaufgaben, und zwar Der Schlüsselgriff (⊡ Abb. 2.2c) wiederum setzt die Fähigkeit zur
ihre Nutzung als Werkzeug für unsere Auseinandersetzung mit Adduktion des Daumens an den Zeigefinger voraus. All diese
der direkten Umwelt (z. B. Greifen etc.) sowie ihre Verwendung elementaren Greifformen werden bei angeborenen Fehlbildun-
als Wahrnehmungsorgan für zu ertastende Informationen (taktile gen der Hand, posttraumatischen Funktionseinschränkungen und
Gnosis). Läsionen des Plexus brachialis vermehrt gesehen. Durch die Op-
position des Daumens gegenüber der Hohlhand und/oder den
Mechanisches Werkzeug Fingern verbessert sich die Kraftentwicklung, außerdem kommt
Bei der Nutzung der Hand als mechanisches Werkzeug können in es zu einer deutlichen Erweiterung der Bewegungsmöglichkeiten.
Anlehnung an Napier und Landsmeer zwei Formen unterschieden Die einfachste elementare Greifform mit Oppositionsbewegung
⊡ Tab. 2.1 Grundmuster der Handfunktion und mögliche Beeinträchtigung durch Amputationsverletzungen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
MdE (%)
»Greifende« Aktionen
Elementare Greifformen
Reine Fingerfunktion
Lateraler Spitzgriff
Keine Daumenopposition
Schlüsselgriff + + - - -
Daumenopposition
Transiente Greifformen
Präzisionsgreifformen
Palmarer Spitzgriff + + + - - + - - - + - - - - -
Dreifingerspitzgriff + + - - - + - - - + + - - - -
Fingerkuppen-Spitzgriff + + + - - (+) - - - - - - - - -
a
Klassifikation der Amputationshöhe nach dem Replanation Committee of the International Society of Reconstructive Microsurgery
b
Angaben aufgrund der klinischen Erfahrung bei Begutachtung von Replanationsverletzungen im Handbereich
sekundären Rekonstruktionen, vor allem des Zeigefingers, zu be- werbsfähigkeit für Zone-V- und -VI-Amputationen beträgt 50%.
achten ist. Neben der Längenverringerung an sich spielen auch der Verlust
Liegt die Amputationshöhe proximal des Metakarpalköpf- der Gelenkfunktion im Fingerbereich und die Verminderung der
chens, so lassen sich mit dem betroffenen Finger auch einfa- Sensibilität eine wichtige Rolle. Steife MP- und PIP-Gelenke und
che Greifformen nicht mehr durchführen. Bei den Mehrfinger- fehlende Sensibilität führen nicht nur zu einem völligen Funk-
amputationsverletzungen unterscheidet man Verletzungen mit tionsverlust des betroffenen Fingers, sondern auch zu einer sig-
Daumenbeteiligung und Verletzungen mit erhaltener Daumen- nifikanten Beeinträchtigung der Hand als Ganzes, was bei allen
funktion. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist abhängig von primären und sekundären Rekonstruktionen, vor allem im Zeige-
Art und Anzahl der betroffenen Finger. Bei transmetakarpalen fingerbereich, zu beachten ist (⊡ Tab. 2.1).
Amputationsverletzungen unterscheidet man Verletzungen mit
intakter Daumenfunktion und Verletzungen mit beeinträchtigter Taktile Gnosis
Daumenfunktion. Bei Amputationen im Bereich der Zone V kann Durch Betasten oder Begreifen von Gegenständen können wichtige
bei mobilem Handgelenk noch eine rudimentäre Greifbewegung nichtvisuelle Informationen über die Umwelt erfasst werden, was
durchgeführt werden, wenn eine Oppositionsmöglichkeit (z. B. besonders bei blinden Menschen deutlich wird.
palmare Schiene) besteht. Bei Amputationen der Zone VI ist Die ulnare Seite der Fingerkuppe von Zeige- und Mittelfinger
keine greifende Funktion mehr möglich. Die Minderung der Er- und die radiale Seite des Ring- und Kleinfingers sind für die taktile
2.1 · Allgemeines
17 2
Ästhetische Bedeutung der Hand
> Das Bild der Hand ist unter vielerlei Gesichtspunkten ein
wichtiger Teil des Gesamteindruckes einer Person.
Für ein harmonisches Erscheinungsbild der Hand stellen ihre ge-
samte Größe, die Proportionen der einzelnen Elemente zueinander
und ein normales Bewegungsmuster die wichtigsten Merkmale dar.
Eine insgesamt hypoplastische Hand fällt weniger auf, wenn die
Proportionen der einzelnen Elemente übereinstimmen. Bei nor-
malem Bewegungsmuster und Einsatz der Hand fällt auch der Ver-
lust eines kompletten Strahles auf den ersten Blick nicht auf, was
Grundlage einer großzügigeren Indikationsstellung zur plastischen
Handverschmälerung bei der Frau ist. Ist die Handfunktion gestört,
wird jede Veränderung in diesem Bereich wegen der unphysiologi-
schen Bewegungsabläufe schon bei oberflächlicher Betrachtung
auffällig. Sobald die Hand aber die Aufmerksamkeit auf sich zieht,
wird im Rahmen genauerer Betrachtung eine Hypoplasie oder ein
fehlender Fingerstrahl sofort bemerkt.
Neben dem Gesicht kann vor allem an der Hand das Alter ei-
nes Menschen gut abgeschätzt werden ( Kap. 63)
2.1.3 Ätiologie
Leitsymptome in der Anamnese von Verletzungen oder
Störungen der Greiffunktion können angeboren oder erworben Erkrankungen der Hand
sein. Sie können auftreten bei erhaltener Fingerlänge (neuro- ▬ Schmerzen in Ruhe oder unter Belastung (Angaben mithilfe
2 gen, arthrogen, ossär), nach Längenverlust (Hypoplasie, Am- einer Schmerzanalogskala von 0 bis 10; ⊡ Abb. 2.4)
putationsverletzungen) oder im Rahmen sog. komplexer Funk- ▬ Einschränkungen von
tionsstörungen mit Längenverlust und zusätzlicher Funktions- – Beweglichkeit
beeinträchtigung. Störungen bei erhaltener Fingerlänge können – Kraft
kutan, tendogen, nerval (ZNS/PNS), arthrogen, ossär alleine oder – Sensibilität
in Kombination bedingt sein. Als Sonderformen sind die spas-
tischen Lähmungen und die Einschränkung der Greiffunktion
im Rahmen eines »komplexen regionalen Schmerzsyndroms« Inspektion
(früher Reflexdystrophie, Algodystrophie, Morbus Sudeck) zu Die Inspektion ist Beginn der klinischen Untersuchung und oft der
nennen. Schlüssel in der Diagnostik wie aus dem Begriff »Blickdiagnose«
deutlich wird. Das Augenmerk sollte auf Folgendes gerichtet werden:
SCHMERZ-SKALA
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
a b
c d
⊡ Abb. 2.7 Allen-Test zur Prüfung der Durchblutung der Hand. a Der Patient
öffnet und schließt die Hand mehrmals kräftig. b Bei geschlossener Faust
werden Aa. radialis et ulnaris durch den Untersucher komprimiert. c Beim
Öffnen der Faust wird eine der Arterien freigegeben, dabei sollte sich die
gesamte Hand sofort röten (positiver Allen-Test). d Tritt keine oder nur eine
⊡ Abb. 2.5 Kapandji-Index zur Messung der Beweglichkeit des Daumen- verzögerte Rötung ein, so ist die freigegebene Arterie alleine nicht in der
strahles. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Lage, die Hand zuverlässig zu durchbluten (negativer Allen-Test)
20 Kapitel 2 · Basisuntersuchung der Hand und Propädeutik
⊡ Tab. 2.2 Wundklassen nach der Klassifikation des Centre of Disease Control (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
2 Sauber-kontaminierte Wunde Frische Wunde, die durch Desinfektion sicher in Wundklasse 1 überführt werden kann
(Schnittverletzung)
4 Schmutzig-infizierte Wunde Traumatische Wunde mit avitalem Gewebe, manifest infizierte Wunde
22 Kapitel 2 · Basisuntersuchung der Hand und Propädeutik
70°–80°
b
30°–40°
a
⊡ Abb. 2.10 Intrinsic-plus-Stellung zur Immobilisation der Hand (Anmer-
⊡ Abb. 2.9 Anlage einer atraumatischen Fingerblutleere mithilfe eines OP- kung: Die Schiene muss palmar liegen!). (Aus Berger u. Hierner 2009)
Handschuhes. a Zurechtschneiden der »Fingerling-Blutleere«, b Überstülpen
und Auswickeln des Fingers durch Rollen des Fingerlings von distal nach
proximal (»Blutleere«). (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Bei isolierter Notwendigkeit der Fingerruhigstellung kommen
spezielle Fingerschienen (z. B. Stack-Schienen) zum Einsatz. Aus-
nahmen bilden Schienen bei speziellen Indikationen wie z. B. die
Optische Hilfsmittel Kleinert-Schiene nach Beugesehnenverletzung, in der das Handge-
Für Eingriffe an der Hand ist eine Lupenbrille mit mindestens lenk in leichter Flexion ruhiggestellt wird. Auch für die Ruhigstellung
2-facher Vergrößerung, bei mikrochirurgischen Operationen ein gilt, dass möglichst nur die Handanteile immobilisiert werden, die
Operationsmikroskop erforderlich. betroffen sind. Dies sollte nicht länger als unbedingt notwendig bei-
behalten werden, um spätere Bewegungseinschränkungen möglichst
Postoperative Schmerztherapie zu vermeiden. Gibt ein Patient Schmerzen an, ist sofort die Schiene
Starke postoperative Schmerzen können die Stressantwort des Kör- zu kontrollieren und zu korrigieren. Eine Ruhigstellung der gesamten
pers verstärken, eine schmerzbedingte Aktivierung des sympa- oberen Extremität ist nur in Außnahmesituationen indiziert. Hierfür
thischen Nervensystems kann zu einer Belastung des Herz-Kreis- wird ein Desault-Verband oder ein Dreieckstuch so kurz wie möglich
lauf-Systems führen. Die Mobilisation bzw. physiotherapeutische eingesetzt, um nicht weiteren Immobilisationsschaden im Bereich
Beübung ist bei unzureichend behandelten Schmerzen erschwert. der proximal gelegenen großen Gelenke, vor allem im Schulterbe-
Eine suffiziente Schmerztherapie ist daher in der postoperativen reich herbeizuführen. Schlingen sind heutzutage obsolet.
Phase von zentraler Bedeutung ( Kap. 3).
Handtherapeutische Nachbehandlung
Verbandstechniken und Ruhigstellung Die Operation an der Hand stellt bei vielen Verletzungen und
Der postoperative Verband ist Teil der Operation und muss vom Erkrankungen nur den ersten, wenn auch zunächst entscheiden-
Operateur angelegt werden. Er soll einerseits das OP-Gebiet steril den Schritt in der Behandlung dar. Für den Behandlungserfolg
abdecken, hat aber, abhängig vom Eingriff, noch weitere Funktionen. mit Funktionserhalt der Hand ist eine Nachbehandlung durch
Der Verband besteht aus Pflaster oder Fettgaze, ausgezogenen Kom- Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten mit Erfahrung in der
pressen, auch interdigital, um Mazerationen zu vermeiden. Dann Handchirurgie notwendig ( Kap. 15). Hilfsmittel können beglei-
erfolgt die elastokompressive Wicklung mit einer elastischen Binde, tend verwendet werden. In Frage kommen Schienen zur Lagerung
ggf. erfolgt zuvor noch eine Polsterung mit synthetischer Watte. oder Quengelbehandlung, Greifhilfen, Spezialanfertigungen von
Durch die elastokompressive Wicklung wird eine leichte Kompres- Gegenständen des täglichen Gebrauchs und vieles mehr.
sion erzeugt, die Hämatom- und Ödembildung verhindern soll. Der
Verband darf aber nicht schnüren und keine Stauung der Finger
verursachen. Die Fingerspitzen sollten sichtbar sein, um Durchblu- 2.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
tung und Sensibilität überprüfen zu können. Die von der Operation
nicht betroffenen Finger sollten vom Verband ausgespart bleiben. Die Untersuchung der Hand des Kindes kann sich aus verschiede-
Die operierte Hand wird postoperativ erhöht gelagert bzw. der Pati- nen Gründen oft sehr schwierig gestalten:
ent bei ambulanten Eingriffen darauf hingewiesen, den betroffenen 1. (Kleine) Kinder sind noch nicht in der Lage, wie der Erwach-
Arm bewusst hochzuhalten. Außerdem muss er darauf aufmerksam sene, auf klare Anweisung, gezielte Aktionen oder Bewegun-
gemacht werden, die nicht betroffenen Finger aktiv zu bewegen, um gen durchzuführen.
den venösen Rückfluss und den Lymphabfluss zu fördern. 2. Aufgrund von Schmerzen und Angst ist das rationale Kom-
Wird eine Ruhigstellung benötigt, erfolgt dies normalerweise in munikationsverhalten der Kinder deutlich geringer als das des
Unterarmgips-/Cast-Schiene in Intrinsic-plus-Stellung. Das Hand- Erwachsenen.
gelenk soll ca. 30° dorsal extendiert sein, die Fingergrundgelenke 3. Die begleitenden Eltern müssen ebenfalls in die Untersuchung
70°–90° flektiert und die PIP- und DIP-Gelenke gestreckt. Dies ist mit einbezogen werden. Die Angst von Elternteilen überträgt
die Position, in der die Seitenbänder der Fingergelenke maximal sich sehr schnell auf das Kind. Gut kooperative Eltern können
gedehnt sind. Dadurch lässt sich eine Verkürzung der Seitenbänder ein wichtiger Schlüssel für eine aussagekräftige Diagnostik
mit nachfolgender Gelenkkontraktur vermeiden. Der Daumen wird sein. Sie können ihre Kinder am ehesten dazu bewegen, ver-
in Abduktion und leichter Opposition ruhiggestellt ⊡ Abb. 2.10). schiedene Aktionen auszuüben.
2.2 · Spezielle Techniken
23 2
4. Bei nicht ausreichender Diagnostik ist im Zweifelsfalle die In- 2.2 Spezielle Techniken
dikation zur operativen Exploration großzügiger zu stellen als
beim Erwachsenen. 2.2.1 Frische Handverletzung
Besonderheiten bei der Therapie und Nachbehandlung bei Kin- Für die Dokumentation der frischen Handverletzung hat sich der
dern werden ausführlich in Kap. 19 dargestellt. »Ergänzungsbericht bei Handverletzungen« auch bei nicht berufs-
genossenschaftlichen Heilverfahren bewährt (⊡ Abb. 2.11).
Unfallbetrieb (Bezeichnung bzw. Name und Anschrift des Arbeitgebers, des Kindergartens, der Schule oder Hochschule, des/der Pflegebedürftigen)
Vorzustände und Vorschäden an der verletzten Hand oder am selben Arm (Narben, chronische Hautveränderungen, Muskelatrophie,
Durchblutungsstörungen, Bewegungsstörungen, Gliedverluste, Sensibilitätsstörungen, alte Verletzungen):
Befund Aussehen, Form, Stellung, Haltung. Hautwärme, Durchblutung, Bluterguss, Fingernagelbeschaffenheit, Beschwielung, Ver-
arbeitung. Schwellung, Rötung. Form, Art und Tiefe der Wunden (Schnitt-, Riss-, Säge-, Fräs-, Schleif-, Schürf-, Quetsch-,
Biss-, Brand-, chemische Wunde). Wundalter, Wundinfektionen. Funktionsstörungen von Beugung, Streckung, Daumen-
spreizung, -opposition, Spitzgriff D 1 + 2. Seitenbänder des Daumens. Sensibilität, Greifstörungen – Händedruck, Faust-
schluss, Henkelgriff, Spreizung. BKS.
Bitte wenden!
a D(H)13e Ergänzungsbericht bei Handverletzungen Stand März 1995
Weiterführende Literatur
3.1 Allgemeines – 28
3.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 28
3.1.2 Epidemiologie – 30
3.1.3 Ätiologie – 30
3.1.4 Diagnostik – 30
3.1.5 Anästhesie – 30
3.1.6 Schmerztherapie – 33
3.2 Spezielle Techniken – 40
3.2.1 Spezielle Anästhesieverfahren – 40
3.2.2 Spezielle Schmerztherapieverfahren – 49
3.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen – 51
Weiterführende Literatur – 52
C3
Nn. supraclaviculares
C4
C5
N. cutaneus brachii lateralis superior
Th2
Th3 Rami cutanei anteriores
pectorales
Th4
Th5 N. cutaneus brachii
medialis
C6 N. cutaneus brachii
lateralis inferior
Th1 N. cutaneus antebrachii
a Ansicht von vorn medialis
N. cutaneus antebrachii
lateralis
C7
Ramus palmaris des
C8 N. ulnaris
Ramus palmaris des N. medianus
Ramus superficialis des N. radialis
Nn. digitales palmares communes
und proprii des N. medianus
Nn. digitales palmares
communes und proprii des
N. ulnaris
Nn. supraclaviculares
Hautnerven C4 Segmentale Zuordnung
der Hautareale
C5
N. cutaneus brachii
lateralis superior des C6
N. axillaris Th2
N. cutaneus brachii lateralis
inferior des N. radialis Th3
N. cutaneus brachii posterior
des N. radialis C7
N. intercostobrachialis und
N. cutaneus brachii medialis
C8
N. cutaneus antebrachii b Ansicht von hinten
posterior des N. radialis Th1
N. cutaneus antebrachii
lateralis des N. musculocutaneus
N. cutaneus antebrachii
medialis
Ramus superficialis des
N. radialis
Ramus dorsalis des
N. ulnaris
Nn. digitales palmares Nn. digitales palmares
proprii des N. medianus proprii des N. ulnaris
⊡ Abb. 3.1 Dermatome und Innervation auf der ventralen und dorsalen Oberfläche der oberen Extremität. (Aus Tillmann 2009)
3.1 · Allgemeines
29 3
ralis, dorsalis und medialis. Im Bereich der Arteria axillaris liegen in den Sulcus bicipitalis medialis ein. Anteile aus Th1 bilden im We-
diese drei Faszikel medial, lateral und dorsal der Arterie und teilen sentlichen den Nervus cutaneus brachii medialis und den Nervus
sich hier in ihre Äste auf. Der Fasciculus posterior gibt dabei den cutaneus antebrachii medialis, denen sich Zweige der Nn. Intercos-
N. axillaris und den N. radialis ab. Der N. axillaris zieht dann durch tales I–III als N. intercostobrachialis anschließen. In seinem Verlauf
die laterale Achsellücke zum M. deltoideus und zum M. teres minor. wird der Plexus brachialis von einer septierten Faszienscheide, einer
Der N. radialis gelangt in den Sulcus bicipitalis medialis und zieht Ausstülpung der tiefen Halsfaszie, umgeben. Diese zieht mit der
nach dorsolateral in den Sulcus nervi radialis. Der Fasciculus latera- A. subclavia als Gefäß-Nerven-Scheide in die Axilla. Die Septierung
lis entlässt den N. musculocutaneus und bildet gemeinsam mit dem der Faszienhülle wird von einigen Autoren für einen unvollständi-
Fasciculus medialis die Medianusgabel, aus der der N. medianus gen Blockadeerfolg mitverantwortlich gemacht ( Kap. 51).
hervorgeht und weiter oberflächlich der A. axillaris verläuft. In sei-
nem Verlauf tritt der N. medianus gemeinsam mit der A. brachialis Auf die Pharmakologie wird in Abschn. 3.1.5 eingegangen.
⊡ Abb. 3.2 Plexus brachialis. a Anatomie. b Der Plexus bildet sich aus den ventralen Ästen von C5-Th1. Aus dem Truncus superior und medius entsteht der
Fasciculus lateralis, aus dem Truncus inferior der Fasciculus medialis. Der Fasciculus posterior enthält Anteile aus allen 3 Trunci. Die interskalenäre Technik im
Bereich der Mm. Scaleni führt zu einer Blockade der Trunci, die vertikale infraklavikuläre Blockade (VIB) im Bereich der Medioklavikularlinie zu einer Blockade
der Fasciculi und die axilläre Technik im Bereich der Axilla zu einer Blockade der Einzelnerven. (Aus Rossaint et al. 2008)
30 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
3.1.2 Epidemiologie Kap. 2 die Durchdringung von Lipidmembranen und die Proteinbindung
verantwortlich. Anhand der Zwischenkette erfolgt die Einteilung in
3.1.3 Ätiologie Kap. 2 Amid- und Estertyp. Die Aminogruppe macht die Lokalanästhe-
tika zu schwachen Basen, da sie durch Protonisierung in ein positiv
3.1.4 Diagnostik Kap. 2 geladenes Molekül umgewandelt werden können.
Der pKa-Wert der Lokalanästhetika liegt nahe dem physiologi-
3 3.1.5 Anästhesie schen pH-Wert, sodass sich in vivo ein dynamisches Gleichgewicht
zwischen der basischen (ungeladenen = LA) und der kationischen
Zur Induktion und Aufrechterhaltung einer Allgemeinanästhesie (positiv geladenen = LAH+) Form einstellt. Dies ist entscheidend
in der Handchirurgie steht die gesamte Bandbreite der Inhala- für die klinische Wirksamkeit der Lokalanästhetika.
tions- und Injektionsanästhetika zur Verfügung. Darüber hinaus Lokalanästhetika vom Estertyp, wie z. B. das Procain (Novo-
kommen die üblichen Opiate und Muskelrelaxanzien zum Einsatz. cain), sind relativ instabil, kurzwirksam und untoxisch. Sie werden
Die Erläuterung aller zur Verfügung stehenden Substanzen würde im Plasma schnell durch die Pseudocholinesterase hydrolytisch
an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Wir erlauben uns daher gespalten. Die dabei entstehende p-Aminobenzoesäure ruft bei ei-
diesbezüglich auf die weiterführende Literatur zu verweisen. nigen Patienten allergische Reaktionen hervor. Eine Sonderstellung
innerhalb der Lokalanästhetika vom Estertyp nimmt aufgrund sei-
Anästhetika ner langen Wirkungsdauer aber auch hohen Toxizität das Tetracain
Anhand ihrer chemischen Struktur werden die heute klinisch ein- (Pantocain) ein.
gesetzten Substanzen in Lokalanästhetika vom Amidtyp und Ester- Die heute klinisch gebräuchlichsten Lokalanästhetika gehören
typ unterteilt. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich wesentlich dem Amidtyp an. Dazu gehören das Lidocain (Xylocain), das
in ihrer Stabilität, ihrem Metabolismus, ihrer Toxizität und in Prilocain (Xylonest), das Ethidocain (Dur-Anest), das Mepivacain
der Häufigkeit der Auslösung allergischer Reaktionen (⊡ Abb. 3.3, (Meaverin, Scandicain), das Ropivacain (Naropin) und das Bupi-
⊡ Tab. 3.2). vacain (Carbostesin). Diese Lokalanästhetika sind viel stabiler und
Beide Gruppen besitzen ein dreiteiliges Grundgerüst beste- werden nicht plasmatisch gespalten, sondern müssen hepatisch
hend aus einem lipophilen aromatischen Rest, einer Zwischen- metabolisiert werden. Daher kann der Abbau des Lidocains auch
kette und einer hydrophilen Aminogruppe. Der aromatische Rest als Leberfunktionstest bei einer Leberzirrhose oder nach einer
zeichnet wesentlich für die lipophilen Eigenschaften und damit für Lebertransplantation genutzt werden. Eine Verlängerung der ali-
phatischen Seitenkette an der Aminogruppe beeinflusst wesentlich
die physikochemischen und biologischen Eigenschaften des Lo-
aromatischer Rest Zwischenkette Aminogruppe kalanästhetikums im Sinne einer höheren Lipophilie und Protein-
(lipophil) (Ester oder Amid) (hydrophil)
bindung sowie einer Zunahme der lokalanästhetischen Potenz, der
Wirkungsdauer und der Toxizität.
O C2H5 Das Molekulargewicht beeinflusst die Diffusionsgeschwin-
Procain +
H2N C O CH2 CH2 N digkeit des Lokalanästhetikums und zwar ist die Diffusionsge-
(Estertyp) C2H5
H schwindigkeit umgekeht proportional zur Wurzel aus dem Mo-
lekulargewicht. Da aber alle gebräuchlichen Lokalanästhetika ein
Molekulargewicht (der Base) zwischen 220 (Prilocain) und 288
CH3
(Bupivacain) besitzen, ergibt sich daraus bezüglich der Diffusions-
O + C2H5 geschwindigkeit nur ein maximaler Faktor von 1,15 zugunsten des
Lidocain
NH C CH2 N Prilocains.
(Amidtyp)
C2H5
H Um eine ausreichende Wasserlöslichkeit zu erreichen, liegen
CH3 die Lokalanästhetika in den handelsüblichen Injektionslösungen
als Salze der Salzsäure vor. Daher sind diese Injektionslösungen mit
⊡ Abb. 3.3 Chemische Struktur von Lokalanästhetika einem pH-Wert zwischen 4 und 6 leicht sauer. Nach der Injektion
Lokalanästhetikum Potenz (in vitro) Molekulargewicht (Base) pKa (25 oC) Verteilungskoeffizient Proteinbindung (%)
Ester
Amide
Ropivacain Wirkprofil ähnlich Bupi- Geringere Kardio- und Neu- 300 (?) 0,2–0,5/0,75–1
vacain rotoxizität als Bupivacain
Prilocain 0,2%igen Lösung wird dabei normalerweise eine gute sensible, bei
Prilocain (Xylonest) ist das Lokalanästhetikum mit der derzeit nur minimaler motorischer Blockade erreicht.
geringsten Toxizität. Allerdings muss ab einer Dosierung von über
600 mg/70 kg mit einer klinisch bedeutsamen Methämoglobinbil- Bupivacain
dung gerechnet werden. Deshalb ist das Prilocain kontraindiziert Bupivacain (Carbostesin) ist ein stark und lang wirksames Lokal-
bei Kindern unter 6 Monaten und nicht geeignet für den repeti- anästhetikum mit allerdings auch deutlich erhöhter Toxizität. Je
tiven Gebrauch, z. B. im Rahmen einer postoperativen Schmerz- nach gewählter Konzentration lässt sich die Qualität der Blockade
therapie mittels kontinuierlicher Regionalanästhesieverfahren. Au- im Sinne einer Differenzialblockade beeinflussen. Insbesondere
ßerdem ist Vorsicht geboten bei Patienten mit einer Anämie (z. B. bei der Periduralanästhesie kommt es bei der Verwendung einer
bei chronischen Nierenerkrankungen) und bei Patienten mit einer 0,125%igen Lösung vorwiegend zu einer Sympathikusblockade,
Methämoglobinämie (z. B. aufgrund eines Glucose-6-Phoshat-De- bei einer 0,25%igen Lösung zu einer vorwiegend sensiblen und
hydrogenase-Mangels). Zur intravenösen Regionalanästhesie wird bei einer 0,5-0,75%igen Lösung auch zu einer ausgeprägten mo-
eine 0,5–1%ige Lösung und zur Infiltrations- und Leitungsanästhe- torischen Blockade. Aufgrund seiner langen Wirkungsdauer von
sie eine 1–2%ige Lösung eingesetzt. 4–8 h ist das Bupivacain das im Rahmen einer postoperativen
Schmerztherapie mittels kontinuierlicher Regionalanästhesiever-
Mepivacain fahren am häufigsten eingesetzte Lokalanästhetikum. Zur Spi-
Mepivacain (Meaverin oder Scandicain) liegt bezüglich seiner To- nalanästhesie wird 0,5%iges Bupivacain sowohl als hyperbare, als
xizität zwischen dem Lidocain und dem Prilocain. Außerdem wird auch als isobare Lösung eingesetzt. Bei der kontinuierlichen Spi-
es etwas langsamer resorbiert und metabolisiert. Eine Methämo- nalanästhesie mittels Spinalkatheter sollte nur isobares Bupivacain
globinbildung wird durch das Mepivacain nicht induziert. Zur In- appliziert werden, um neurologische Komplikationen im Sinne
filtrations- und Leitungsanästhesie wird in der Regel eine 1–2%ige eines Cauda-Equina-Syndromes zu vermeiden. Zur intravenösen
und zur Spinalanästhesie eine 4%ige hyperbare Lösung eingesetzt. Regionalanästhesie darf das Bupivacain – wie auch das Ropivacain
Da beim Mepivacain eine systemische Kumulation bei wiederhol- und Etidocain – aufgrund seiner langen Wirkungsdauer und ho-
ten Injektionen in kurzen Zeitintervallen nachweisbar ist, scheint hen Kardiotoxizität nicht eingesetzt werden.
sein Einsatz zur postoperativen Schmerztherapie mittels kontinu-
ierlicher Regionalanästhesieverfahren nicht sinnvoll zu sein. Etidocain
Etidocain (Dur-Anest) ist ebenfalls ein lang wirksames Lokalan-
Ropivacain ästhetikum. Es weist im Gegensatz zum Ropivacain aber eine
Ropivacain (Naropin) ist ein neueres lang wirksames Lokalanäs- besonders ausgeprägte motorische Blockade auf. Daher wird es
thetikum, das als reines S-(-)-Enantiomer vorliegt. Es zeichnet sich insbesondere dann – alleine oder in Kombination mit einem
im Vergleich zu Bupivacain durch eine geringere Toxizität bei anderen langwirksamen Lokalanästhetikum – eingesetzt, wenn
vergleichbarer Wirkungsdauer aus. Die Differenzierung zwischen intraoperativ eine vollständige motorische Blockade erwünscht ist.
sensibler und motorischer Blockade soll je nach verwendeter Kon- Verwendung findet dabei eine 1%ige Lösung. Im Rahmen einer in-
zentration noch ausgeprägter sein als beim Bupivacain. Ist bei travenösen Regionalanästhesie darf das Etidocain nicht eingesetzt
einer Periduralanästhesie intraoperativ eine motorische Blockade werden (s. auch Abschn. »Bupivacain«).
erwünscht, so muss eine 0,75–1%ige Lösung appliziert werden.
Aufgrund seiner ausgeprägteren Differenzialblockade und seiner Therapie und Differenzialtherapie
geringeren Toxizität könnte das Ropivacain aber insbesondere im Zur Schmerzausschaltung in der Handchirurgie bieten sich neben
Rahmen der Schmerztherapie mittels kontinuierlicher Regional- der Allgemeinanästhesie sowohl verschiedene Verfahren der peri-
anästhesieverfahren von Vorteil sein. Unter Verwendung einer pheren Regionalanästhesie als auch die Lokalanästhesie an. Eine
3.1 · Allgemeines
33 3
Analgosedierung bietet die Möglichkeit, eine unvollständige/un- Besonderheiten im Wachstumsalter
zureichende Regional- oder Lokalanästhesie zu supplementieren. Die alleinige Regionalanästhesie spielt bei Kindern meist eine eher
Nicht alle genannten Verfahren ermöglichen jedoch die Applika- nachgeordnete Rolle. Prinzipiell stellen die Blockaden des Plexus
tion einer pneumatischen Blutleere, sodass die Auswahl des Anäs- brachialis über einen axillären oder infraklavikulären Zugang je-
thesieverfahrens individuell für den Patienten und den jeweiligen doch sichere Verfahren und eine Alternative zur Allgemeinanäs-
Eingriff getroffen werden muss. thesie dar, die vor allem bei nicht nüchternen Notfallpatienten und
In der Regel ist die Allgemeinanästhesie bei allen größeren Ein- in Sonderfällen wie bei ehemaligen Frühgeborenen Anwendung
griffen, bei denen zusätzlich an einer anderen Körperregion ope- finden können und darüber hinaus eine optimale postoperative
riert wird, z. B. Spongiosaentnahme vom Beckenkamm, Hauttrans- Schmerztherapie gewährleisten.
plantation sowie bei großen Eingriffen mit längeren OP-Zeiten
! Cave
(z. B. Replantationen), zu bevorzugen. Auch ist die Allgemeinan-
Die Durchführung einer Operation unter alleiniger Regio-
ästhesie bei sehr ängstlichen oder unkooperativen Patienten sowie
nalanästhesie sollte jedoch erst ab einem Alter von etwa
bei kleinen Kindern vorzuziehen. Im Rahmen kürzerer (ambulan-
10 Jahren routinemäßig erwogen werden und bleibt dem
ter) Eingriffe bietet sich bei Patienten ohne Kontraindikation die
Erfahrenen vorbehalten.
Allgemeinanästhesie unter Verwendung der Larynxmaske an.
Unter den Verfahren zur Regionalanästhesie gewährleisten nur In den meisten Fällen gilt der Grundsatz »Kinder wollen keine
die Plexusblockaden die Toleranz der Blutleeremanschette für län- Spritzen!«. Daher werden im Gegensatz zum Erwachsenen Regio-
gere Operationen. Allerdings kann es bei der axillären Blockade nalanästhesieverfahren bei Kindern in der Regel in Allgemeinanäs-
aufgrund einer inkompletten Blockade des N. radialis und des thesie oder zumindest Analgosedierung durchgeführt.
N. musculocutaneus zu Tourniquetschmerzen kommen. In diesen
! Cave
Fällen ist eine zusätzliche Lokalanästhesie oberhalb des Tourni-
Unter diesen Umständen gilt es zu beachten, dass die
quets oder eine Sedierung notwendig. Blockaden der peripheren
üblichen Warnsignale wie Schmerzen bei punktions-
Nerven eignen sich für Eingriffe, die keine oder eine nur sehr
bedingter Nervenläsion, intraneuraler Injektion oder
kurze Blutsperre benötigen sowie zur Vervollständigung einer in-
Frühzeichen der intravasalen Lokalanästhetika-Injektion
kompletten Plexusanästhesie.
fehlen.
Gegebenenfalls können auch Kombinationen aus Allgemein- und
Regionalanästhesie angewandt werden. Dies bietet sich insbesondere Zur optimalen Anlage einer axillären Plexusanästhesie wird inzwi-
dann an, wenn zu erwarten ist, dass der Patient von einer postopera- schen vielfach die Verwendung der ultraschallgesteuerten Punk-
tiven kontinuierlichen Regionalanästhesie profitieren wird. tion unter Verzicht auf einen Nervenstimulator empfohlen. In
Die intravenöse Regionalanästhesie erlaubt OP-Zeiten bis zu diesem Fall reicht bei Kindern unter 6 Jahren in der Regel eine Ein-
60 min. Die Verwendung einer pneumatischen Blutleere ist hierbei zelinjektion aus. Bei älteren Kindern sollten wie beim Erwachsenen
obligat. Zu bedenken ist, dass die Blutleere nicht vor Ablauf von die Nerven gezielt einzelnen blockiert werden. In beiden Fällen
20 min und nicht deutlich vor dem OP-Ende geöffnet werden kommt eine Menge von 0,75 ml/kg KG eines Lokalanästhetikums
darf, da die Anästhesie nach Reperfusion des Armes innerhalb von zur Anwendung. Als Lokalanästhetika bieten sich 1%-ige Prilocain
5–10 min abklingt. oder Lidocain Lösungen oder eine Mischung im Verhältnis 1:1 an.
Die Oberst‘sche Leitungsanästhesie ermöglicht bei Eingriffen Für die postoperative Analgesie werden Levobupivacin 0,25%ig
distal des proximalen Grundgliedes die Anlage einer Fingerblut- oder Ropivacain 0,2-0,35%ig empfohlen.
leere und OP-Zeit bis 30 min.
Die Infiltrationsanästhesie bleibt oberflächlichen kleinen Ein-
griffen vorbehalten. 3.1.6 Schmerztherapie
Unabhängig davon, ob periphere Regionalanästhesien von ei-
nem Nichtanästhesisten oder einem Anästhesisten durchgeführt Eine effektive Schmerztherapie sollte bei akuten Verletzungen be-
werden, ist es unabdingbar, dass die Technik beherrscht wird sowie reits vor der Operation beginnen. Dazu sind periphere Analgetika
auftretende Komplikationen erkannt und adäquate Therapiemaß- ohne thrombozytenaggregationshemmenden Effekt wie Metamizol
nahmen eingeleitet werden. Der Anwender wird an dem anästhesi- oder Paracetamol und/oder niedrig bis mittelpotente Opioide wie
ologischen Standard gemessen werden, der in der Anästhesie zum Tilidin oder Piritramid geeignet. Ansonsten beginnt die Schmerz-
Zeitpunkt der Behandlung galt. therapie spätestens mit der Durchführung der Anästhesie als All-
Gerade bei der Anästhesie des Plexus brachialis und der intra- gemein- oder Regionalanästhesie. Am Ende der Anästhesie ist
venösen Regionalanästhesie muss aufgrund der Intoxikationsgefahr darauf zu achten, dass keine Lücke in der analgetischen Versorgung
bei hoher Gesamtdosis des Lokalanästhetikums eine angemessene zwischen der Beendigung der Anästhesie und dem Beginn der
intra- und postoperative Überwachung des Patienten gewährleistet postoperativen Schmerztherapie entsteht. Am effektivsten ist dies
sein, d. h., vor jeder Regionalanästhesie mit Verwendung einer natürlich mit einem kontinuierlichen Regionalanästhesieverfahren
größeren Menge an Lokalanästhetikum muss ein Venenzugang am wie der Plexusanästhesie sicherzustellen.
kontralateralen Arm angelegt werden und der Patient mit EKG- Zur Analgesie nach einer Allgemeinanästhesie werden Akut-
Monitor, Sauerstoffsättigungs- sowie Blutdruckmessung überwacht schmerzmittel nach dem 1989 publizierten WHO-Stufenschema
werden. Das Equipment zur Notfallbehandlung (Notfallmedika- eingesetzt (⊡ Abb. 3.4). Das WHO-Stufenschema wurde zwar pri-
mente, die Möglichkeit zur Sauerstoffzufuhr und Beatmung sowie mär zur Therapie von Tumorschmerzen entwickelt, kann in mo-
ein Intubationsbesteck) muss jederzeit verfügbar sein. difizierter Form aber auch als Basis für die perioperative Schmerz-
therapie genutzt werden. Als Stufe IV werden neuerdings invasive
! Cave schmerztherapeutische Techniken aufgeführt, die postoperativ als
Bei Infektionen ist eine Regionalanästhesie im Hinblick auf Weiterführung der intraoperativ begonnenen Regionalanästhesie
eine Keimverschleppung kontraindiziert. natürlich fortgeführt werden können.
34 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
eingehenden Analyse des Schmerzcharakters und der Schmerzätio- rung im Umgang mit diesen Medikamenten voraus. Demzufolge
logie. Außerdem sind die jeweiligen substanzspezifischen Kontra- sollte die Indikationsstellung und Dosierung in Zusammenarbeit
indikationen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit ande- mit einem erfahrenen Schmerztherapeuten erfolgen. Ein Überblick
ren Medikamenten zu beachten. Viele dieser Medikamente – ins- über die potenziellen Indikationen von Koanalgetika ist in der
besondere Antidepressiva, Antikonvulsiva und Muskelrelaxanzien folgenden Tabelle dargestellt (⊡ Tab. 3.3). Für zusätzliche Informati-
– müssen jeweils langsam aufdosiert bzw. ausgeschlichen werden. onen muss hier aus Platzgründen auf die weiterführende Literatur
3 Der Umgang mit vielen Koanalgetika setzt daher eine große Erfah- verwiesen werden.
Medikamente Indikationen
Antikonvulsiva; kombinierte Natrium- und Kalziumkanalblocker: Neuropathische Schmerzen: z. B. nach Schlaganfall, bei HIV-assoziierter
Lamotrigin (z. B. Lamictal) Polyneuropathie, bei Migräneaura mit neurologischen Ausfällen
Stimmungsstabilisierend (bei Depression und Manie)
Antiarrhythmika (Natriumkanalblocker): Neuropathische Schmerzen (nur indiziert, wenn Analgetika, Antikonvulsiva und
Mexiletin (z. B. Mexitil) Antidepressiva zur Behandlung des neuropathischen Schmerzes nicht ausreichen)
Spasmolytika (zentral): Baclofen (z. B. Lioresal) über intrathekale Neuropathische Schmerzen; Schmerzen bei zentralnervöser Spastik (z. B. bei multi-
Pumpen ple Sklerose, hypoxischer Hirnschädigung und Rückenmarksverletzungen)
Biphosphonate: Alendronsäure (z. B. Fosamax) Knochenschmerzen bei Osteoporose und osteoklastischen Knochenmetastasen
Nozizeptiv, somatisch Dumpf, drückend, pochend, Gut lokalisierbar Dauerschmerz, oft mit belastungs-
(Knochen, Muskeln, Gelenke) bohrend abhängigem Durchbruchschmerz
Ischämisch, somatisch oder Hell, pochend Extremität, auch viszeral Belastungsabhängig, abhängig von
viszeral möglich der Nahrungsaufnahme
Stufe 1 Diclofenac 75 mg 2-mal tgl. Bei Gabe von Diclofenac oder Ibuprofen:
Omeprazol 40 mg, 1-mal tgl.
oder (alternativ: Ranitidin)
3
Ibuprofen 600 mg bis 3-mal tgl.
oder
Stufe 2 Tilidin/Naloxon (Valoron) anfangs 3-mal 50/4 mg; insgesamt bis zu 3-mal Bei Übelkeit 10 mg MCP oder 2–5 mg
200/16 mg Haloperidol p.o.;
bei Obstipation Movicol 1–3 Beutel oder
oder Lactulose 1–3-mal 15 ml pro Tag
Stufe 3 Oxycodon, retardiert (Oxygesic) 20 mg 2-mal tgl., Steigerung bis auf 2-mal 40 mg Bei Übelkeit 10 mg MCP oder 2-5 mg
Haloperidol p.o.
Wenn nicht ausreichend zusätzlich: bei Obstipation Movicol 1–3 Beutel oder
Laktulose 1- bis 3-mal 15 ml pro Tag
Morphin, unretradiert (Sevredol) 10 mg p.o. bei Schmerzspitzen bis zu 6-mal tgl.
Schmerzkonsil
NSAID Oral (alleine) Effektiv für geringfügigen und moderaten Schmerz, Beginn präoperativ, relativ kontraindiziert bei Patienten mit
Nierenerkrankung und mit Risiko auf oder mit aktueller Koagulopathie, kann Fieber unterdrücken
Oral (in Verbindung Potenzierender Effekt aufgrund Opioideinsparung, Beginn präoperativ, Kontraindikation s. oben
mit Opioid)
Parenteral Effektiv für moderaten und starken Schmerz, teuer, nützlich, wenn Opioide kontraindiziert, besonders zur
Vermeidung von respiratorischer Depression und Sedierung, verstärkt Opioidwirkung
Opioid Oral Effektiv wie parenterale Gabe in geeigneter Dosierung, Gebrauch sobald orale Medikation toleriert wird
Intramuskulär Ehemals Darreichungsform der Wahl für parenterale Medikation, jedoch schmerzhaft und Resorption unzuverläs-
sig, daher Vermeidung dieser Darreichungsform, wenn möglich
Subkutan Ehemals Darreichungsform, wenn eine geringe Volumenmenge einer kontinuierlichen Infusion benötigt wird
und intravenöser Zugang schwer zu erhalten ist, Injektion schmerzhaft und Resorption unzuverlässig
Intravenös Parenterale Darreichungsform der Wahl nach Operation, geeignet für Bolus und kontinuierliche Applikation,
benötigt Monitoring, signifikantes Risiko für Atemdepression
PCA (systemisch) Intravenös und subkutan empfehlenswert, gute und langanhaltende Analgesie, bei Patienten sehr beliebt,
Infusionspumpen erforderlich, Beachtung des Risikos bei Opioidanwendung
Epidural/Intrathekal Gute Analgesie, signifikantes Risiko für Atemdepression, manchmal mit verzögertem Beginn, benötigt intensives
Monitoring
Lokal- Epidural/Intrathekal Begrenzte Indikation, effektive regionale Analgesie, Opioideinsparung, Risiko für Hypotension, Muskelschwäche,
anäs- Gefühlsstörung, benötigt intensives Monitoring
thetika
Periphere Nerven- Limitierte Indikation, effektive regionale Analgesie, Opioideinsparung
blockade
3.1 · Allgemeines
39 3
WHO-Stufe 1: Nichtopioidanalgetika
Tilidin/Naloxon ab 2 Jahren ab 15 kg
Opioide Tilidin, Morphin Obstipation, Übelkeit, Sedierung, Atemdepression, Bradykardie, Bronchospasmus, Pruritus, Krampf-
anfälle, Miosis, Blasenentleerungsstörung
Antikonvulsiva Pregabalin Gewichtszunahme, Knöchelödeme, Benommenheit; seltener Ataxie, Verwirrung, Tremor, Dysarthrie,
Doppelbilder, Obstipation, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, erektile Dysfunktion, Libidosenkung
Die neurologischen Nebenwirkungen treten im Wesentlichen wäh- Diagnostische Nervenblockaden dienen zur Abklärung der
rend der Auf- und Abdosierungsphase der Antidepressiva und Schmerzätiologie und Lokalisation. Darüber hinaus liegt ihre Be-
Antikonvulsiva auf, während sie bei konstantem Plasmaspiegel der deutung insbesondere bei schon länger bestehenden Schmerzen in
Medikamente häufig wieder verschwinden oder zumindest deut- der Differenzierung zwischen peripherer Schmerzauslösung und
lich reduziert werden. bereits chronifizierten zentralnervösen Umschaltungen.
Grundsätzlich sind bei der Auswahl der Analgetika und Koan- Überprüfungskriterien für die korrekte technische Durchfüh-
algetika die spezifischen Nebenwirkungen und Kontraindikationen rung der Nervenblockade sind:
der Substanzklassen und einzelnen Präparate zu berücksichtigen ▬ Vasodilatation (sichtbare Venenerweiterung und Erhöhung
(⊡ Tab. 3.8). der Pulswellenamplitude bei der Pulsoxymetrie),
Die für die perioperative Schmerztherapie bei handchirurgi- ▬ Anstieg der Hauttemperatur (seitenvergleichende Messung der
schen Eingriffen relevanten regionalanästhesiologischen Techni- Hauttemperatur vor und nach der Blockade; ΔT≥5 °C),
ken werden im Abschn. 3.2 im Einzelnen beschrieben. ▬ verminderte Reaktion auf thermische und sensible Reize (Kälte-
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen peripheren und reiz, Nadelstiche, Spitz-stumpf-Diskriminierung, Berührung),
rückenmarksnahen Nervenblockaden sowie der Blockade sympa- ▬ Beeinflussung der Motorik und der Tiefensensibilität,
thischer Ganglien (z. B. Ganglion stellatum). Diese Blockadetech- ▬ ggf. noch spezielle Effekte, wie z. B. Horner-Syndrom bei der
niken können wiederum zu diagnostischen und therapeutischen Stellatum-Blockade
Zwecken eingesetzt werden. Demzufolge spricht man dann von
diagnostischen, prognostischen, prophylaktischen und therapeuti- Zur Überprüfung der Effektivität einer diagnostischen Blockade
schen Nervenblockaden. muss die Schmerzintensität vor der Blockade und nach der Blo-
40 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
ckade sowohl in Ruhe als auch unter passiver und aktiver Belas-
tung quantifiziert werden. Dies kann z. B. mittels einer visuel-
len Analogskala (VAS) erfolgen. Außerdem muss der Effekt bei
wiederholten Blockaden reproduzierbar sein und nicht genauso
durch Injektionen von Kochsalzlösung ausgelöst werden. Bei ei-
nem reproduzierbaren positiven Effekt der Nervenblockade ist
3 dann eine Blockadeserie mit einem Lokalanästhetikum oder ggf.
auch die Blockade mit einem Neurolytikum als Therapieversuch
gerechtfertigt.
! Cave
Nervenblockaden haben gerade im Rahmen der Therapie
chronischer Schmerzen einen ausgeprägten Placeboeffekt!
Prognostische Nervenblockaden – als spezielle Form der diagnos-
tischen Nervenblockaden – sind grundsätzlich vor der Durchfüh-
rung invasiver Maßnahmen, wie chemischer oder chirurgischer
Neurolysen, durchzuführen. Zeigt die prognostische Nervenblo-
ckade keine effektive Schmerzlinderung, so ist die Durchführung ⊡ Abb. 3.5 Infiltrationsanästhesie für die kleine Wundversorgung
eines invasiven Verfahrens, wie einer chemischen oder chirurgi-
schen Neurolyse, nicht indiziert!
Prophylaktische Nervenblockaden erfolgen nicht zur The- Nerven-Bündels. Diese Anästhesieform ist besonders für Eingriffe
rapie bereits bestehender chronischer Schmerzen, sondern sind im Endgliedbereich und im palmaren Fingerbereich geeignet und
im Sinne einer »preemptiven Analgesie« zur Vermeidung einer hier der Leitungsanästhesie nach Oberst überlegen.
Chronifizierung von Schmerzen zu verstehen. Dazu zählt z. B. die
kontinuierliche perioperative Blockade des Plexus brachialis bei Leitungsanästhesie nach Oberst
Amputationen im Bereich der oberen Extremität zur Vermeidung Bei der Oberst-Leitungsanästhesie handelt es sich um eine Blo-
eines Phantomschmerzes. Ob das Konzept der »preemptiven An- ckade der jeweils paarweise einen Finger versorgenden Nervi di-
algesie« jedoch tatsächlich in der Lage ist, die Ausbildung eines gitalis palmaris und dorsalis. Die Oberst‘sche Leitungsanästhesie
Phantomschmerzes zu beeinflussen oder gar zu verhindern, bleibt bietet den Vorteil geringer Komplikationsraten, einer einfachen
umstritten. Von Bedeutung scheint dabei zu sein, ob der Patient Technik und einer geringen Versagerquote. Wenn die Blockade am
bereits präoperativ Schmerzen verspürte. Handrücken in Höhe der Fingergrundgelenke gesetzt wird, besteht
Therapeutische Nervenblockaden können einen temporären die Möglichkeit zur Anlage eines Fingertourniquets. (Anmerkung:
oder permanenten Charakter haben. Bei temporären Nervenblo- Diese Blockadetechnik ist analog auch an den Zehen anwendbar.)
ckaden kommen im Wesentlichen Lokalanästhetika, Opioide und
Kortikiode zum Einsatz. Permanente Nervenblockaden werden Indikationen
durch die Injektion von Neurolytika, durch eine Kryokoagulation Die Oberst‘sche Leitungsanästhesie kann prinzipiell bei Wundver-
des Nervs oder durch eine chirurgische Neurolyse erreicht. Bei der sorgungen und Operationen im Bereich distal des Fingergrund-
chemischen Neurolyse peripherer gemischter Nerven muss aller- gliedes angewendet werden.
dings in 1–10% der Fälle mit einer Alkoholneuritis mit Hyperäs-
thesie, Dysästhesie und Brennschmerz durch eine partielle Neuro- Kontraindikationen
lyse und Regeneration gerechnet werden. Außerdem sind Ausfälle Die Leitungsanästhesie nach Oberst darf nur zur Anwendung
im Bereich der Sensibilität und Motorik zu erwarten. Daher sollte kommen, wenn Durchblutungsstörungen und Infektionen im zu
die Indikation zur Neurolyse peripherer gemischter Nerven sehr anästhesierenden Gebiet ausgeschlossen sind.
streng gestellt werden!
Durchführung
Die Punktion erfolgt normalerweise jeweils auf der ulnaren und
3.2 Spezielle Techniken radialen Seite des Fingers in Höhe der Mitte der Basisphalangen.
Von dort aus werden jeweils 0,5-1,0 ml Lokalanästhetikum dorsal
3.2.1 Spezielle Anästhesieverfahren und palmar des Knochens nach vorheriger Aspiration injiziert.
Die Injektion kann prinzipiell auch von der Palmarseite her er-
Infiltrationsanästhesie folgen. Soll zur Operation ein Fingertourniquet angelegt werden,
Die einfache Infiltrationsanästhesie eignet sich nur zum Verschluss so empfiehlt sich die Blockade in Höhe des Fingergrundgelenks
oberflächlicher Wunden oder für kleine Eingriffe wie die ober- (⊡ Abb. 3.6).
flächliche Wundversorgung (⊡ Abb. 3.5) oder zur Hauttransplantat-
entnahme. Eine exakte Präparation tieferer Strukturen ist nicht Medikamente und Dosierungen
möglich. In der Regel kommen bei der Oberst-Leitungsanästhesie mittellang
wirksame Lokalanästhetika, wie Lidocain, Mepivacain oder Prilo-
Leitungsanästhesie nach Iselin cain in 1%iger Konzentration zur Anwendung.
Bei der Leitungsanästhesie nach Iselin wird das Lokalanästhetikum
in die Beugesehnenscheide gespritzt. Durch Beugen und Strecken ! Cave
des Fingers kommt es dann zu einer Verteilung entlang der Beuge- Das Lokalanästhetikum darf keinen Vasokonstriktor enthal-
sehenscheide und somit zu einer Umspülung des palmaren Gefäß- ten, da es sich um Endstrombahngebiete handelt!
3.2 · Spezielle Techniken
41 3
⊡ Abb. 3.7 Betäubung der distalen Mittelhand und der Finger durch Infiltra-
tion der Interdigitalräume. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
Mittelhandanästhesie
Um die Grundgliedbasen bzw. Mittelhandköpfchen zu betäuben,
kann entsprechend der Oberst-Leitungsanästhesie von dorsal seit-
lich der Mittelhandknochen ein Lokalanästhetikum, nach nega-
tivem Aspirationstest, an die Interdigitalnerven gespritzt werden
(⊡ Abb. 3.6, ⊡ Abb. 3.7).
Medianusblock
Die Punktionsstelle liegt zwischen der Sehne des M. palmaris
longus und der Sehne des M. flexor carpi radialis, etwas 2 Quer-
finger proximal der Handgelenkbeugefalte. Bei der Punktion spürt
man den Durchtritt durch die Unterarmfaszie. Falls der Patient
Parästhesien angibt, wird die Kanüle minimal zurückgezogen. Es
werden 3–5 ml Lokalanästhetikum injiziert. Zur Betäubung des
Ramus palmaris des N. medianus genügt eine subkutane Infiltra-
tion (⊡ Abb. 3.8 und ⊡ Abb. 3.11).
Ulnarisblock
Die Blockade kann entweder im Sulcusbereich des Ellenbogens
oder in Höhe des Handgelenks durchgeführt werden. Der N. ulna-
ris ist im Sulcusbereich zwar leichter zu lokalisieren, da der Nerv ⊡ Abb. 3.8 Blockade der palmaren Leitungsbahnen in Höhe der Hand-
dort aber auch nicht ausweichen kann, kann es auch schnell zur wurzel. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
42 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
Traumatisierung des Nervs durch die Injektionsnadel oder durch ⊡ Abb. 3.10 Blockade der dorsoradialen Leitungsbahnen in Höhe der Hand-
den Druck des Lokalanästhetikums kommen. Zur Blockade des wurzel. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
N. ulnaris im Bereich des Sulcus punktiert man 1–2 cm proximal
des im Sulcus N. ulnaris getasteten Nervs bei gebeugtem Ellen-
bogen. Die Kanüle zeigt in Richtung Humeruslängsachse, der N. Intravenöse Regionalanästhesie (Bier-Block)
ulnaris liegt hier sehr oberflächlich (ca. 0,5 cm tief). Kribbelpar- Bei der intravenösen Regionalanästhesie nach Bier (IVR) wird das
ästhesien im Bereich des kleinen Fingers zeigen die korrekte Lage Lokalanästhetikum nach Auswickeln des Armes und Anlegen einer
der Kanüle an, die Kanüle wird dann minimal zurückgezogen. Blutsperre über eine möglichst distal gelegene Vene am Hand-
Nach negativem Aspirationstest werden 2–3 ml Lokalanästhetikum rücken oder Unterarm des zu anästhesierenden Armes injiziert
injiziert. Für die Blockade am Handgelenk erfolgt die Punktion und diffundiert von hier aus an die Nerven. Die IVR vereint die
unmittelbar radial (Punktionsrichtung nach dorsal) oder ulnar Vorteile einer relativ einfachen technischen Durchführung mit
(Punktionsrichtung nach radial) der gut tastbaren FCU-Sehne, einer kurzen Anschlagzeit, einer geringen Versagerquote und einer
etwa 2–3 Querfinger proximal der Handgelenkbeugefalte. Bei Aus- niedrigen Komplikationsrate.
lösen von Kribbelparästhesien wird die Kanüle minimal zurückge-
zogen. Nach dem Aspirationstest erfolgt die Injektion von 2–3 ml Indikationen
Lokalanästhetikum. Der zur Streckseite ziehende Ramus dorsalis Aufgrund der technischen Rahmenbedingungen ergeben sich die
des N. ulnaris bedarf manchmal einer separaten subkutanen Injek- folgenden Indikationen:
tion dorsal des Ellenkopfes (⊡ Abb. 3.9, ⊡ Abb. 3.11b). ▬ Operationen am Unterarm und der Hand, die
▬ in Blutleere/Blutsperre durchgeführt werden und bei denen
Distaler (sensibler) Radialisblock ▬ eine Öffnung der Blutleere erst nach oder kurz vor Ende der
Die Blockade der sensiblen oberflächlichen Äste wird am Hand- Operation notwendig ist,
gelenk durch eine quere subkutane Injektion von 2–3 ml Lokal- ▬ mit einer Operationsdauer von maximal 1 h.
anästhetikum durchgeführt. Die Punktion erfolgt 1 cm proximal
der Handgelenks, etwa 1 cm dorsal der Pulsation der A. radialis Anmerkung: Theoretisch sind auch Operationen an der unteren
(⊡ Abb. 3.10 und ⊡ Abb. 3.11). Extremität unter IVR durchführbar. Die Durchführbarkeit ist auf-
Werden alle drei die Hand sensibel versorgenden Nerven in grund des dort benötigten hohen Manschettendruckes und der
Höhe des Handgelenks blockiert, spricht man von einem Hand- sich daraus ergebenden schlechten Tourniquettoleranz jedoch nur
block (⊡ Abb. 3.11). eingeschränkt möglich.
3.2 · Spezielle Techniken
43 3
Durchführung
Zur Durchführung einer intravenösen Regionalanästhesie wird in
der Regel eine pneumatische Doppelkammermanschette einge-
setzt. Um einen unbemerkten Druckabfall in den Manschetten zu
vermeiden, sollte der Manschettendruck automatisch auf ein vor-
gewähltes Druckniveau nachreguliert werden. Andererseits muss
auch eine manuelle Möglichkeit zur Regulation des Manschetten-
drucks bestehen, um beim Ausfall der Automatik einen ausrei-
c chenden Manschettendruck sicherstellen zu können.
Die intravenöse Regionalanästhesie wird in den folgenden
⊡ Abb. 3.11 Handblock. a Blockade des N. medianus im Handgelenkbereich, Schritten durchgeführt (⊡ Abb. 3.12 und ⊡ Abb. 3.13):
b Blockade des N. ulnaris im Handgelenkbereich, c Blockade des R. superfici- ▬ Legen einer dünnlumigen Venenverweilkanüle (0,8–1,0 mm)
alis N. radialis im Handgelenkbereich. (Aus Nerlich u. Berger 2003) möglichst weit distal (Hand- oder Fußrücken);
44 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
a b
⊡ Abb. 3.13 Vermuteter Wirkmechanismus der intravenösen Regionalanästhesie. a Das injiziierte Lokalanästhetikum fließt in einer Vene bis zum Ellenbogen. Hier
gelangt es über die benachbarten Arterien durch das dicke Perineurium in den Kern der Nervenfasern. Von hier aus diffundiert das Lokalanästhetikum in die Man-
telfasern: Die frühe Blockade der Kernfasern führt zu einer raschen Anästhesie der distalen Extremität, die späte Blockade der Mantelfasern zu einer verzögerten
Anästhesie der proximalen Extremität. b Querschnitt des distalen Oberarmes: Der N. medianus und der N. ulnaris werden von zahlreichen großen (mit Lokalanäs-
thetikum gefüllten) Nerven begleitet. Der N. radialis hingegen ist nur von wenigen (mit Lokalanästhetikum gefüllten) Gefäßen umgeben. (Aus Rossaint et al. 2008)
3.2 · Spezielle Techniken
45 3
Der Zusatz von Vasokonstriktoren ist wegen der Gefahr der Generelle Durchführung und Lokalisation von Nerven
ischämischen Schädigung der Extremität kontraindiziert. Zur Kontrolle der korrekten Lage der Kanülenspitze können meh-
Zur Schmerztherapie bei CRPS können außerdem die Gabe von rere Techniken genutzt werden:
Clonidin (150 μg bzw. 2 μg/kg) oder Guanethidin (2,5–5–10 mg) im ▬ gezieltes mechanisches Auslösen von Parästhesien mit der
Rahmen einer intravenösen Regionalanästhesie erwogen werden. Punktionskanüle,
▬ Auslösen von Kälteparästhesien durch die Injektion kalter
Spezielle Risiken, Komplikationen und Limitationen Kochsalzlösung,
Hauptrisiko der IVR ist die Lokalanästhetikaintoxikation durch ▬ elektrische Stimulation mit einem Nervenstimulator,
unzureichenden Tourniquetdruck oder akzidentelles vorzeitiges ▬ ultraschallgesteuerte Punktion.
Öffnen des Tourniquets während der ersten 20–30 Minuten nach
der Lokalanästhetikainjektion (s. oben). Das gezielte Auslösen von Parästhesien und somit die ehemalig
Bei vorbestehenden Durchblutungsstörungen der Extremität klassische Grundbedingung für periphere Leitungsanästhesien »no
ist das Anlegen einer Blutleere und damit auch die intravenöse paresthesia – no anesthesia« gilt heute allerdings als obsolet. Viel-
Regionalanästhesie kontraindiziert. Außerdem wird das Verfahren mehr gilt die Identifikation der zu blockierenden nervalen Struktu-
häufig durch die Dauer der Tourniquettoleranz limitiert. Daher ren mit einem Nervenstimulator als Standard.
sollte die geplante Operationsdauer nicht über 1 h liegen. Die zur Stimulation des Nervs benötigte Stromstärke steht in
direktem Zusammenhang zum Abstand der Nadelspitze zum Nerv
Blockaden des Plexus brachialis und weist eine inverse Korrelation zum Erfolg der Blockade auf.
Blockaden des Plexus brachialis sind in dessen Verlauf sowohl über Außerdem kommt es beim Durchdringen perineuraler Bindege-
supraklavikuläre und infraklavikuläre als auch über einen axillären webshüllen – wie z. B. der Gefäßnervenscheide des axillären Plexus
oder weiter distalen Zugang möglich. Dabei wurden u. a. die fol- – zu einem plötzlichen Abfall der benötigten Reizstromstärke, da
genden Techniken beschrieben: diese Bindegewebshüllen eine zusätzliche elektrische Isolation der
▬ interskalenäre Plexusanästhesie nach Winnie, Nerven bewirken. Eine benötigte Reizstromstärke unter 0,7 mA
▬ perivaskuläre Plexusanästhesie nach Winnie und Collins, spricht in der Regel für eine zur Blockade ausreichende Annähe-
▬ supraklavikuläre Plexusanästhesie nach Kulenkampff, rung der Kanülenspitze an den Nerven. Es sollte jedoch versucht
▬ vertikale infraklavikuläre Plexusanästhesie nach Kilka, Geiger werden, die Stimulationskanüle so zu positionieren, dass auch
und Mehrkens, noch mit einer Reizstromstärke von 0,3–0,5 mA deutliche Muskel-
▬ infraklavikuläre Plexusanästhesie nach Raj (Modifikation von kontraktionen auszulösen sind.
Sims), Die einzelnen Nervenfasertypen unterscheiden sich außerdem
▬ axilläre Plexusanästhesie nach De Jong (s. unten), bezüglich der erforderlichen Impulsdauer, die zum Auslösen einer
▬ kontinuierliche axilläre Plexusanästhesie nach Selander (s. un- Depolarisation benötigt wird. So werden die dick myelinisierten
ten), Aα-Fasern (Motorik) bereits bei einer Impulsdauer von 50–100 μs
▬ »mid humeral approach« nach Dupré. stimuliert, während die dünn myelinisierten Aδ-Fasern (Schmerz)
eine Impulsdauer von mindestens 150μs und die nicht myelinisier-
Zwischen den genannten Blockadetechniken bestehen zahlreiche ten C-Fasern (Schmerz) eine von 400 μs benötigen. Daher kann
Übergangsformen und Modifikationen. Für den Bereich der Hand- ein gemischter peripherer Nerv bei einer Impulsdauer von 100 μs
chirurgie erscheint hinsichtlich des Risikoprofils und des zu anäs- durch das Auslösen von Muskelkontraktionen lokalisiert werden,
thesierenden Areals insbesondere die axilläre Plexusanästhesie ge- ohne dass es zur Auslösung von Schmerzen kommt. Muss ein rein
eignet. Hierbei stehen sowohl die Single-Shot-Technik als auch kon- sensibler Nerv lokalisiert werden, ist eine längere Impulsdauer von
tinuierliche Verfahren, mittels Kathetertechnik zur Verfügung. Die 500–1000 μs erforderlich.
Durchführung der Plexusanästhesie kann unter dem Einsatz eines Zur Durchführung einer peripheren Nervenstimulation wird der
Nervenstimulators oder ultraschallgesteuert stattfinden. Bei entspre- negative Pol des Nervenstimulators mit der Punktionskanüle und der
chender Erfahrung scheint die ultraschallgesteuerte Plexusanästhesie positive Pol mit einer in der Nähe der Punktionsstelle angebrachten
mit einer höheren Trefferquote, kürzeren Anschlagzeit und einem Klebeelektrode verbunden. Bei der Stimulation ist sicherzustellen,
geringeren Bedarf an Lokalanästhetikum verbunden zu sein. dass die Batteriespannung ausreichend und der Stromkreis geschlos-
sen ist. Dies wird in der Regel durch Leuchtdioden am Nervenstimu-
Kontraindikationen lator angezeigt. Zur peripheren Nervenstimulation müssen spezielle
Bezüglich der Blockade des Plexus brachialis bestehen folgende Kanülen eingesetzt werden, die abgesehen von der Spitze mit einem
generelle Kontraindikationen: isolierenden Überzug versehen sind. Dabei ist zu beachten, dass je
▬ Ablehnung durch den Patienten, kleiner der Emissionsort ist, desto höher die Stromdichte und desto
▬ Allergien gegen die zu verwendenden Lokalanästhetika (sehr geringer wiederum die benötigte Stromstärke zur Auslösung einer
selten für LA vom Amidtyp!), Muskelkontraktion ist (⊡ Abb. 3.14; ⊡ Tab. 3.10).
▬ lokale Infektionen im Bereich der Punktionsstelle,
▬ ipsilateraler Shuntarm, Punktionskanülen
▬ Infektionen im Bereich des zu blockierenden Armes oder der Zur Durchführung peripherer Regionalanästhesien wie der axillä-
Hand, ren Plexusblockade stehen spezielle Punktionskanülen mit einem
▬ generalisierte Infektionen (Sepsis), kurzen Schliff im Winkel von 15–30° und einer umgebenden Iso-
▬ Voroperationen im Bereich der Punktionsstelle bzw. der Axilla lationshülle zur Verfügung, deren Verwendung das Risiko einer di-
(relativ), rekten Nervenläsion reduzieren kann. Außerdem ermöglichen diese
▬ Gerinnungsstörungen (relativ), »stumpfen« Kanülen ein besseres Ertasten anatomischer Strukturen.
▬ unklare neurologische Veränderungen (ggf. gute Dokumenta- So wird beim Durchstechen der Gefäßnervenscheide bei der axillä-
tion). ren Plexusanästhesie häufig ein deutlicher »Klick« verspürt.
46 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
a c
3
⊡ Tab. 3.10 Kennmuskeln der motorischen Nerven der oberen Extremität. (Aus Rossaint et al. 2008)
In der Regel sind diese Kanülen mit einem Kabel zur Elek- Axilläre Blockade des Plexus brachialis
trostimulation und einem Zuspritzschlauch zur Aspiration und Zahlreiche Modifikationen der axillären Plexusblockade (⊡ Abb. 3.15)
Medikamenteninjektion versehen. Dies ermöglicht die »Technik sind seit ihrem Erstbeschreiber Hirschel veröffentlicht und diskutiert
der immobilen Nadel« und vermeidet den Wechsel zwischen Ka- worden. Es haben sich 3 Arten der axillären Blockade etabliert:
bel- und Schlauchanschluss, bei dem es ansonsten zu einer Dis- ▬ die perivaskuläre Single-Injection-Technik,
lokation der Kanülenspitze kommen kann. Die Durchführung ▬ die Multiinjektionstechnik,
des Aspirationstests und der Medikamenteninjektion durch eine ▬ die transarterielle Technik.
Hilfsperson erleichtert die Immobilisierung der Punktionskanüle
und ermöglicht außerdem die gleichzeitige Kompression der Ge- Im Vergleich zu den supra- und infraklavikulären Blockaden
fäßnervenscheide distal von der Punktionsstelle bei der axillären tritt bei der axillären Blockade häufiger eine inkomplette Blo-
Plexusanästhesie. Die Kanülen zur Single-Shot-Technik haben eine ckade auf. In der axillären Region haben sich aus den Faszikeln
Dicke von 24–20 G bzw. 0,55–0,9 mm und eine Länge zwischen schon periphere Nerven gebildet, die nicht mehr so kompakt
25 und 180 mm. Die verwendete Stimulationskanüle sollte in Ab- zusammen liegen wie in der supra- und infraklavikulären Region.
hängigkeit von der geplanten Blockadetechnik so kurz wie möglich Insbesondere werden der N. musculocutaneus und der N. radi-
sein, um Komplikationen bei der Punktion zu vermeiden. Zur alis nicht immer erreicht. Dadurch können Tourniquetschmer-
axillären und interskalenären Plexusanästhesie sind Kanülen mit zen an der Blutsperremanschette auftreten. Die Anschlagzeit,
einer Stichlänge von 25 mm in der Regel ausreichend. Bei der abhängig von der Technik, ist länger als bei klavikulanahen
Verwendung zu langer Kanülen steigt z. B. bei der interskalenären Blockaden. Der große Vorteil ist ein deutlich geringeres Risiko
Plexusanästhesie das Risiko einer hohen Periduralanästhesie, einer für schwerwiegende Komplikationen, insbesondere besteht keine
totalen Spinalanästhesie sowie das Risiko eines Pneumothorax an. Gefahr der Pleuraverletzung (Pneumothorax).Die kontinuierliche
Neuerdings stehen auch atraumatische Stimulationskanülen nach axilläre Blockade eignet sich zur postoperativen Schmerzthera-
Sprotte für die periphere Leitungsanästhesie zur Verfügung. pie, physiotherapeutische Behandlungen (z. B. nach Tenolysen,
Zur kontinuierlichen Plexusanästhesie stehen des Weiteren Sti- Mobilisierung eingesteifter Gelenke), Prophylaxe und Therapie
mulationskanülen zur Verfügung, die das Einführen eines Kathe- chronischer Schmerzzustände (CRPS) und Sympatikolyse (nach
ters ermöglichen. Replantationen).
3.2 · Spezielle Techniken
47 3
Durchführung
▬ Beim axillären Zugang zum Plexus brachialis wird der Arm
des Patienten um etwa 90o abduziert, außenrotiert und im
Ellenbogengelenk ebenfalls um etwa 90° gebeugt gelagert.
Dadurch kommt die Hand mit der Handfläche nach oben in
Höhe des Kopfes zu liegen.
▬ Anschließend wird die Achselhöhle ausrasiert, desinfiziert und
steril abgedeckt.
▬ Als anatomische Landmarke wird die Arteria axillaris mög-
lichst proximal palpiert. Bei schlecht zu palpierender Pulsation
– z. B. bei sehr adipösen Patienten – kann die Lokalisation der
Arterie mittels Ultraschall erfolgen.
▬ Direkt oberhalb der Arterie wird eine intrakutane Lokalanäs-
thesie gesetzt. (Anmerkung: Durch einen zusätzlichen, kleinen
subkutanen Wall senkrecht zur Arterie nach dorsal können
gleichzeitig mit 3–5 ml Lokalanästhetikum der N. intercosto-
brachialis und der N. cutaneus brachii medialis blockiert wer- ⊡ Abb. 3.15 Technik der axillären Plexusblockade
den.)
▬ Die Punktion erfolgt nach einer Stichinzision der Haut in
leicht proximaler Richtung mit dem Zielpunkt direkt oberhalb
der Arterie. Bei Perforation der Gefäßnervenscheide ist ein
charakteristischer »Klick« zu spüren. Nun lassen sich bereits
mit geringen Stromstärken (unter 0,7 mA) Muskelkontraktio-
nen im Bereich der Hand und der Finger auslösen.
▬ Nach entsprechender Positionierung der Stimulationskanüle
erfolgt die Injektion des Lokalanästhetikums. Hierbei muss eine
intravasale Fehllage vor Beginn der Injektion sowie nach jeweils
5 ml durch einen Aspirationstest ausgeschlossen werden.
▬ Durch Kompression der Gefäßnervenscheide distal der Punk-
tionsstelle lässt sich die Ausbreitung des Lokalanästhetikums
nach proximal und damit die Blockade des N. musculocu-
taneus und des N. radialis positiv beeinflussen. Dabei sollte
a
die Kompression bereits während der Positionierung der
Stimulationskanüle erfolgen, um eine Dislokation durch eine
nachträgliche Kompression zu vermeiden.
▬ Bei Verwendung der Kathetertechnik zur kontinuierlichen
Plexusanästhesie erfolgt die Punktion in weiten Teilen analog,
jedoch in einem flacheren Winkel von etwa 30–40°.
▬ Die Gefäßnervenscheide wird nach einem Aspirationstest
über die innen liegende Stahlkanüle mit Lokalanästhetikum
aufgefüllt. Danach wird die äußere Teflonkanüle unter ständi-
gem Drehen über die fixierte Stahlkanüle in die Gefäßnerven-
scheide vorgeschoben. (Das ständige Drehen in eine Richtung
lässt ein Abknicken der Teflonkanüle beim Vorschieben in
die Gefäßnerven sofort an einem Zurückfedern in die Gegen-
richtung erkennen. Dann sollte die Teflonkanüle nicht weiter
vorgeschoben werden, weil ansonsten das Einführen des Ka-
theters unmöglich gemacht wird.)
▬ Nach dem Vorschieben der Teflonkanüle wird die Stahlkanüle b
entfernt und der Katheter 3–5 cm über die Spitze der Teflon-
kanüle hinaus in die Gefäßnervenscheide eingeführt. ⊡ Abb. 3.16 Technik der vertikalen infraklavikulären Plexusblockade (VIP).
▬ Anschließend wird die Teflonkanüle über den liegenden Ka- Orientierungspunkte: Identifizierung der Mitte der Fossa jugularis und des
theter entfernt und der Katheter mit dem Konnektor verbun- ventralen Akromionfortsatzes. Exakte Halbierung der Strecke mittels Maß-
den. Nach einem erneuten Aspirationstest über den Katheter band. a Anzeichnen der Orientierungspunkte, b Punktion mit Nervenstimu-
wird noch ein 0,2 μm Bakterienfilter angeschraubt, der Kathe- lator. (Aus Rossaint et al. 2008)
ter mit einer Naht fixiert und steril abgedeckt.
Das geschilderte Vorgehen bietet die Vorteile, dass das Lokalanäs- Blockaden in Bereich der Faszikel (supra- und infraklavikulär)
thetikum zunächst an der Position mit dem besten Stimulationser- Die vertikale infraklavikuläre Plexusblockade (VIP) ist in der An-
gebnis in die Gefäßnervenscheide injiziert wird und das Vorschie- ästhesieausbreitung auf Hand und Unterarm der axillären Blockade
ben der Teflonkanüle und des Plexuskatheters in die aufgefüllte überlegen, außerdem ist keine Abduktion und Außenrotation zur
Gefäßnervenscheide in der Regel einfacher gelingt. Punktion notwendig (⊡ Abb. 3.16 und ⊡ Abb. 3.17). Allerdings be-
48 Kapitel 3 · Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie
C4
IV
C5
Fasciculus supraclavicularis cranialis
Fasciculus supraclavicularis medius
V
3 Fasciculus supraclavicularis caudalis C6
VI
C7
Fasciculus infraclavicularis radialis
Fasciculus infraclavicularis dorsalis VII
C8
Fasciculus infraclavicularis ulnaris
Th1
I
N. medianus
N. ulnaris
schen Nervensystems für die Therapie chronischer Schmerzen in sympatholytische Wirkung der Blockade vermittelt. Die Effektivität
Betracht. Auch bei ersteren kommt es zu einer Blockade der sym- der intravenösen Regionalanästhesie mit Guanethidin zur Therapie
pathischen Afferenzen und Efferenzen der blockierten Extremität. des komplexen regionalen Schmerzsyndroms wird allerdings in der
Das sympathische Nervensystem ist bei einer Vielzahl chronischer Literatur sehr kontrovers diskutiert.
Schmerzsyndrome involviert. Dazu zählen:
▬ das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) bzw. die Ganglion-stellatum-Blockade
3 sympathische Reflexdystrophie (SRD) / Morbus Sudeck, Die Ganglion-stellatum-Blockade ist bei den folgenden Schmerz-
▬ der sympathisch unterhaltene Schmerz (SMP), syndromen der oberen Extremität indiziert:
▬ Phantomschmerzen und ▬ dem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) bzw. der
▬ andere neuropathische Schmerzen. sympathischen Reflexdystrophie (SRD) / Morbus Sudeck,
▬ dem sympathisch unterhaltenen Schmerz (SMP),
Zu den charakteristischen Symptomen einer Beteiligung des sym- ▬ Phantomschmerzen,
pathischen Nervensystems an der Schmerzentstehung und -verar- ▬ neuropathische Schmerzen und
beitung gehören: ▬ ischämisch bedingten Schmerzen.
▬ Brennschmerz,
▬ Sponatanschmerz, Für die Ganglion-stellatum-Blockade gelten wegen der direkten
▬ oberflächliche Lokalisation, Nachbarschaft zum Plexus cervicobrachialis die gleichen Kontrain-
▬ nächtliche Verstärkung, dikationen wie für die interskalenäre Plexusblockade nach Winnie.
▬ begleitende Allodynie oder Hyperästhesie, Außerdem sind höhergradige AV-Blockierungen und bradykarde
▬ Temperaturregulationsstörungen und Herzrhythmusstörungen als Kontraindikationen anzusehen, da die
▬ trophische Störungen (z. B. vermindertes Wachstum der Haut- Nervi accelerantes, über die die sympathische Innervation des Her-
anhangsgebilde). zens erfolgt, häufig komplett mitblockiert werden. Damit ist die
Ganglion-stellatum-Blockade unter den folgenden Bedingungen
Zur Erfolgskontrolle einer Sympathikusblockade können die fol- kontraindiziert:
genden Methoden angewandt werden: ▬ Rekurrensparese der kontralateralen Seite,
▬ Horner-Syndrom (bei Stellatumblockaden), ▬ Phrenikusparese der kontralateralen Seite,
▬ seitenvergleichende Messung der Hauttemperatur vor und ▬ Vorerkrankungen der kontralateralen Lunge,
nach der Blockade (die Temperaturdifferenz sollte mindestens ▬ grenzwertig kompensierte respiratorische Insuffizienz,
5 °C betragen), ▬ höhergradige AV-Blockierungen und bradykarde Herzrhyth-
▬ Erhöhung der Pulswellenamplitude (Pulsoxymeter) und musstörungen sowie
▬ Messung des psychogalvanischen Reflexes (Hemmung der ▬ als beidseitige Blockade!
Schweißsekretion).
Die Blockade des Ganglion stellatum erfolgt von ventral über den
Neben der Blockade des Plexus brachialis und der zervikalen paratrachealen Zugang. Die Punktion wird dabei in Rückenlage bei
Periduralanästhesie kommen im Bereich der oberen Extremität leicht erhöhtem Oberkörper und überstrecktem Hals in Höhe des
zur Sympathikusblockade die intravenöse Regionalanästhesie mit 6. HWK zwischen dem Krikoid und dem Innenrand des Musculus
Guanethidin und die Ganglion-stellatum-Blockade in Frage. Die sternocleidomastoideus durchgeführt. Dazu wird mit zwei Fingern
Ganglion-cervicale-superius-Blockade ist nur bei Schmerzen im die Arteria carotis nach lateral verdrängt und der Querfortsatz des
Gesichts- bzw. Kopfbereich indiziert und aufgrund der Lokali- 6. HWK mit dem Tuberculum caroticum ertastet (⊡ Abb. 3.20). Die
sation des Ganglions direkt unter der Schädelbasis in Höhe von Punktion erfolgt je nach Konstitution des Patienten mit einer 22- bis
HWK 2 nur als transorale ganglionäre lokale Opioidapplikation 25-G-Kanüle mit 25–40 mm Länge und angeschlossenem kurzem
(GLOA) durchzuführen. Verlängerungsschlauch (immobile Nadel nach Winnie) zwischen
den beiden tastenden Fingern. Dabei sind Nadeln mit einem 30- bis
Intravenöse Regionalanästhesie mit Guanethidin 45°-Schliff zu bevorzugen, da sie ein besseres Ertasten der anatomi-
Die allgemeine Technik der intravenösen Regionalanästhesie nach schen Strukturen ermöglichen und mit einer geringeren Inzidenz
Bier wurde bereits im Abschn. 3.2.1 dargestellt. Die intravenöse intravasaler Injektionen verbunden sind. Bei Verwendung längerer
Regionalanästhesie mit Guanethidin ist bei Patienten mit kom- Kanülen besteht prinzipiell auch das Risiko einer hohen Peridural-
plexem regionalem Schmerzsyndrom (CRPS) oder sympathisch oder Spinalanästhesie! Die Stichrichtung erfolgt senkrecht nach
unterhaltenem Schmerz (SMP) indiziert. dorsal auf die Wirbelsäule zu. Nach Knochenkontakt wird die Ka-
Als Sympatholytikum wird dabei Guanethidin in einer Dosie- nüle 2–5 mm zurückgezogen, damit die Kanülenspitze den Bauch
rung von 0,05–0,3 mg pro kg Körpergewicht (entsprechend einer des prävertebralen Musculus longus colli wieder verlässt.
Gesamtdosis von 2,5–20 mg pro Sitzung) eingesetzt. Die dadurch
! Cave
induzierte Entleerung der Noradrenalinspeicher in der betroffenen
Nach einem Aspirationstest in zwei Ebenen ist die Injektion
Extremität bewirkt zunächst eine Verstärkung des Brennschmerzes
einer Testdosis von 0,5 ml Lokalanästhesikum obligat, um
(diagnostisch wichtig!). Je nach Ausmaß des Brennschmerzes wer-
eine intraarterielle Injektion in die Arteria vertebralis oder
den nach der Guanethidinaplikation noch 30–40 ml physiologische
carotis auszuschließen (ggf. flüchtige neurologische Ausfälle
Kochsalzlösung zur besseren Verteilung oder eine entsprechende
und Krampfanfälle!).
Menge Prilocain 0,25–0,5% zur Linderung des Brennschmerzes
und zur Erleichterung einer anschließenden physiotherapeutischen Nach einer Wartezeit von 30–60 s erfolgt dann die langsame Injek-
Behandlung nachinjiziert. Über die Hemmung der Wiederauf- tion von 10 ml Lokalanästhetikum (z. B. Bupivacain 0,25%) über
nahme des Noradrenalins für mehrere Tage wird im Rahmen einer einen Zeitraum von 1–2 min. Bei einer erfolgreichen Blockade
Blockadeserie (3–10 Blockaden im Abstand von 2–7 Tagen) die kommt es innerhalb von 5–15 min zu einem Horner-Syndrom
3.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
51 3
3.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
4.1 Allgemeines – 54
4.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 54
4.1.2 Epidemiologie – 55
4.1.3 Ätiologie – 55
4.1.4 Diagnostik – 55
4.1.5 Klassifikation – 55
4.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie – 56
4.1.7 Therapie – 56
4.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter – 56
4.2 Spezielle Techniken – 56
4.2.1 Aktiv geführte Sekundärheilung (und Epithelisierung) – 56
4.2.2 Primäre Wundversorgung – 57
4.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen – 58
4.3.1 Diagnose – 58
4.3.2 Chirurgische Therapie – 61
4.3.3 Medikamentöse Therapie – 61
Weiterführende Literatur – 61
fen nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus forensischer desinfektion ist für den Transport nicht erforderlich und kann
Sicht einer besonderen Aufmerksamkeit. Hierbei muss auf die durch Einsatz von irritierenden, gewebetoxischen Mitteln schäd-
genaue Dokumentation der Angaben des Patienten und der Be- lich sein. Die Blutstillung erfolgt durch einen fachgerecht angeleg-
gleitpersonen sowie auf die Bedeutung der Fotodokumentation ten Druckverband. Das Abschnüren des Armes oder die Anlage
geachtet werden. einer Blutdruckmanschette ist nicht erlaubt. Auf keinen Fall dürfen
Tier- und Menschenbisse sind stark kontaminiert. Zusätzlich blutende Gefäße mit einer Klemme am Unfallort erfasst werden,
liegt meistens ein sehr schwerer, ausgedehnter, des Öfteren multi- da schwere Nebenschäden (z. B. an benachbarten Nerven, Sehnen)
zentrischer Weichteilschaden vor. entstehen können.
4 Primäre Wundversorgung
4.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Die Prinzipien der Wundbehandlung wurden nach den Experi-
menten von Friedrich 1898 festgelegt. Diese Grundregeln haben
Die Wundbehandlung kann je nach Kontamination und Alter der bis heute im Wesentlichen ihre Gültigkeit. Sie betonen die früh-
Wunde in vier Formen gestaltet werden: zeitige und korrekte chirurgische Versorgung der Wunde unter
Berücksichtigung des Infektionsrisikos. Die Hand ist zwar durch
Primäre Wundnaht die grundsätzlich gute Durchblutung mit einer besonders gu-
Wenn immer möglich ist die primäre Wundnaht anzustreben. Vor- ten Heilungstendenz begabt, die Prinzipien der Wundbehandlung
aussetzungen für die primäre Wundnaht sind: unterscheiden sich trotzdem nicht von anderen Regionen des
1. Die Wunde darf nicht älter als 6, max. 8 h sein. Körpers.
2. Die Wunde darf nicht verschmutzt oder potenziell kontami-
niert sein (Bissverletzungen).
3. Die Wundränder dürfen nicht zerstört oder unterminiert sein. 4.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Verzögerte Primärnaht Für die Therapie von Verletzungen und Defekten im Kindesalter
Bei verschmutzten und vermutlich oder offensichtlich kontami- gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende
nierten Wunden ist eine offene Wundbehandlung erforderlich. Die Besonderheiten sind zu beachten:
Wundnaht erfolgt vor der Granulationsbildung, 2–7 Tage nach der ▬ Wundversorgungen bei Kindern sollten in adäquater Anäs-
Verletzung, wobei die Wundränder nicht angefrischt werden müs- thesie durchgeführt werden. Eine Lokalanästhesie mit zusätz-
sen. Studien haben gezeigt, dass die Reißfestigkeit der Wunde nach licher brachialer Fesselung der Kinder ist zwar möglich, aber
verzögerter Primärnaht nach 20 Tagen signifikant höher ist, als bei nicht mehr zeitgemäß. Aus kinderpsychologischer Sicht sollte
Primärnähten. Nach 60 Tagen ist die Widerstandsfähigkeit doppelt die Indikation zur Versorgung in Kurznarkose großzügig ge-
so hoch als nach Primärnaht. Als Ursache werden ein besserer Se- stellt werden.
kretabfluss und die stimulierte Angiogenese (Granulationsphase) ▬ Die postoperative Immobilisierung beim Kind ist aufgrund
vermutet. der schnelleren Heilung oft kürzer als beim Erwachsenen. Auf
der anderen Seite müssen vor allem bei kleinen Kindern auch
Sekundärnaht Gelenke und Extremitätenanteile mit immobilisiert werden,
Die Sekundärnaht wird frühestens am 8. Tag nach der Verletzung damit sich das Kind die Schiene nicht selbst entfernt (Ober-
durchgeführt. Dazu ist die Mobilisierung der Wundränder erfor- armgipsschiene beim Kleinkind vs. Unterarmgipsschiene beim
derlich, wodurch eine erneute Traumatisierung des Gewebes ent- Erwachsenen bei Operationen an der Hand).
steht. Durch die Unterbrechung der Granulationsbarriere steigt das
Infektrisiko. Aus diesem Grund ist manchmal, besonders bei star-
ker Wundretraktion, eine Hauttransplantation oder im Bereich der 4.2 Spezielle Techniken
Hohlhand und an der Beugeseite der Fingern eine aktiv geführte
Sekundärheilung günstiger ( Abschn. 4.1.6). 4.2.1 Aktiv geführte Sekundärheilung
(und Epithelisierung)
Aktiv geführte Sekundärheilung (und Epithelisierung)
Die physiologische Granulation und Epithelisierung ist besonders an Voraussetzungen sind ein ausführliches Débridement und keine
der Beugeseite der Hand und an den Fingerkuppen sehr intensiv. Be- freiliegenden Knochenstrukturen. Die Folie wird wasserdicht ap-
obachtungen und Untersuchungen haben bewiesen, dass an der Fin- pliziert. Der Patient muss darauf hingewiesen werden, dass es in
gerkuppe unter Einsatz einer einfachen Operationsfolie (»semiok- den nächsten Tagen zu einer starken Geruchsentwicklung kommen
klusiver Verband«) eine beinahe normale Struktur der Fingerkuppe wird. Der Folienwechsel erfolgt alle 3 Tage. Dabei darf die Wund-
wiederhergestellt werden kann. Voraussetzungen sind ein ausführli- fläche nicht berührt bzw. abgewischt werden. Nach dem Entstehen
ches Débridement und keine freiliegenden Knochenstrukturen. einer sichtbar stabilen Epithelschicht etwa am 10.–14. Tag wer-
den Salbenverbände eingesetzt. Nach den Untersuchungen von
Mennen dauert die volle Regeneration im Durchschnitt 20 Tage.
4.1.7 Therapie Einige Autoren setzen am Ende der Behandlung Silbernitratätzung
oder Kortisonverbände zur Hemmung der »Überwucherung« ein.
Wundbehandlung im Akutfall Nach den Angaben von Mennen und nach unserer Erfahrung ist
Notfallversorgung allerdings feststellbar, dass die Granulations- und Epithelisierungs-
Zur Erstversorgung einer Handverletzung ist es wichtig anzumer- regulierung ohne medikamentöse Einwirkung unter mechanischer
ken, dass die Wunde ohne Berührung oder besondere Reinigung Schonung und in der physiologischen Feuchtkammer einwandfrei
mit trockenen, sterilen Kompressen zu verbinden ist. Die Wund- funktioniert (⊡ Abb. 4.2).
4.2 · Spezielle Techniken
57 4
Anästhesie. Falls eine lokale Anästhesieform gewählt wurde, wird
das Lokalanästhetikum am besten vor der Abdeckung verabreicht.
Damit kann Zeit eingespart werden. Der Zusatz von Adrenalin zur
Blutstillung im Bereich der Hand, insbesondere bei Verletzungen,
wo die Durchblutung gemindert werden kann, wird nicht empfoh-
len. Zur genauen Technik der Infiltrations- und Leitungsanästhesie
verweisen wir auf Kap. 2.
Reinigung. Reinigung der Wundumgebung ggf. mit Bürste und Wundreinigung (Débridement). Die Spülung der Wunde er-
Seife. folgt mittels steriler Ringer-Lösung. Antiseptische Lösungen brin-
gen keine Vorteile und können die Wundheilung negativ beein-
Rasur. Rasur mittels Einmalrasierer unter Verwendung von Flüs- flussen.
sigkeit (nie trocken), am besten mittels für offene Wunden zuge-
lassenen Desinfektionsmitteln. Auch bei sehr behaarten Patienten Wundexzision. Die richtige Wundexzision ist an der Hand von
ist eine komplette Rasur der Extremität nicht erforderlich, wegen sehr großer Bedeutung. Die Radikalität und die Entfernung aller
der Mikroverletzungen sogar untersagt. Empfohlen wird die Rasur nicht vitalen Gewebeanteile steht immer im Vordergrund, wobei
in einer Breite von etwa 3 cm, damit keine Haare in die Wunde eine zu großzügige, blockartige Ausschneidung im Bereich der
gelangen können. Hand als unnötig radikal anzusehen ist. Die Hautexzision ist am
besten mit einem kleinen (15er) Skalpell durchzuführen. Beschä-
Hautdesinfektion. Bei offenen Wunden sind alkoholische Haut- digte tiefere Strukturen wie z. B. Subkutangewebe und Muskeln
desinfektionsmittel zu vermeiden. Es muss auf jeden Fall darauf ge- lassen sich mit der Schere besser bearbeiten. Vor der tiefen Exzi-
achtet werden, dass kein Desinfektionsmittel in die Wunde gelangt. sion werden die in der anatomischen Region relevanten Strukturen
Das Abwaschen erfolgt von der Umgebung der Wunde nach außen aufgesucht, um einen iatrogenen Schaden zu vermeiden. Falls die
hin. Zur Dauer des Abwaschvorganges muss die Einwirkungszeit Wunde in der Tiefe nicht gut zu beurteilen ist, muss der Schnitt
des verwendeten Desinfektionsmittels beachtet werden. erweitert werden. Die Richtung der Wunde ist bei einer Verlet-
58 Kapitel 4 · Prinzipien der Wundbehandlung im Handbereich (»Die kleine Handverletzung«)
zung vorgegeben. Grundsätzlich sollten nicht unbedingt benötigte die flüssigen Gewebekleber (Dermabond, Epiglu, Histoacryl etc.) zu
Schnitterweiterungen vermieden werden. Wenn durch die Lage der erwähnen. Der Wirkstoff ist Cyanoacrylat, ähnlich wie bei den Se-
entstehende Narben mit Funktionsbeeinträchtigungen zu rechnen kundenklebern. Es ist wichtig anzumerken, dass diese Materialien
ist, sollte jedoch der Verlauf der Wunde z. B. durch eine Z-Plastik vor der Polymerisation ätzend wirken. Das Polymer ist nicht resor-
korrigiert werden. Einige Möglichkeiten der Erweiterung sind in bierbar und darf nicht in die Wunde geraten, da sonst eine starke
⊡ Abb. 4.3 dargestellt. Zu den häufigsten Schnittführungen siehe Fremdkörperreaktion entsteht. Aus diesen Gründen ist der Einsatz
⊡ Abb. 4.4. Durch die Wundexzision wird die verschmutzte und im handchirurgischen Bereich eingeschränkt. Subkutannähte wer-
kontaminierte Wunde in eine saubere, keimarme Wunde umge- den bei Verletzungen ggf. in proximalen Bereichen (Unterarm,
wandelt. Oberarm) zur besseren Adaptation der subkutanen Faszie und sub-
dermal zur Adaptation und Entlastung der Hautnaht eingesetzt.
Blutstillung. Bei der Wundrevision wird festgestellt, ob größere
und für die Durchblutung wichtige Gefäße, welche mikrochirur-
gisch wiederhergestellt werden können, verletzt sind. Ansonsten 4.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
erfolgt die Blutstillung nach der Wundexzision mittels bipolarer
Koagulationspinzette. Bei der Koagulation müssen die Hautränder Der Begriff »kleine Handverletzung« darf nur nach einer aus-
weitgehend geschont werden, ansonsten droht eine Wundrandnek- führlichen Untersuchung und korrekt durchgeführten operativen
rose und Wunddehiszenz. Ligaturen sind möglichst zu vermeiden, Versorgung nach Ausschluss von Begleitverletzungen verwendet
damit keine Fremdkörper hinterlassen werden. werden. Die Gefahr der Falschbeurteilung und des Übersehens von
Läsionen anderer Strukturen sind im Bereich der Hand groß. Die
Drainage. Kleine Wunden, bei denen z. B. nur eine Hautadapta- Fehlerquellen können wie folgt zusammengefasst werden:
tion erfolgt ist, müssen nicht drainiert werden. Falls die Wunde
und die Gewebszerstörung größer sind oder bei der Operation eine
starke diffuse Blutung vorlag, empfiehlt sich eine aus der Wunde 4.3.1 Diagnose
ausgeleitete Halbrohr- oder Kapillardrainage (⊡ Abb. 4.5). Redon-
Drainage oder andere geschlossene Systeme kommen bei komple- Nichterkennen tieferer Verletzungen aufgrund unzureichender
xen, schweren Verletzungen proximal des Handgelenks zum Ein- Untersuchung.
satz. Auf die genaue Platzierung der Drainage muss zur Schonung Nervenläsionen werden bei Handverletzungen häufig über-
wichtiger Strukturen (Gefäße, Nerven) geachtet werden. sehen. Die orientierende Untersuchung ist zur genauen Beurtei-
lung nicht ausreichend. Es muss berücksichtigt werden, dass die
Wundnaht. Im Bereich der Finger und der Hand erfolgt grund- Angaben der aufgeregten Patienten ungenau sind. Ein 2-Punk-
sätzlich eine einfache Hautnaht mittels Einzelknopfnähten. Naht- te-Diskriminierungstest kann einfach und schnell durchgeführt
material ist ein monofiler, nicht resorbierbarer Faden, von der werden. Bei verdächtigen anatomischen Lokalisationen der Ver-
Stärke 4/0, oder 5/0 (⊡ Abb. 4.6). Bei Kindern ist ein schnell re- letzung wird bei der Wundexploration der entsprechende Nerv
sorbierbares, geflochtenes Material günstig, damit auf den Faden- dargestellt.
zug verzichtet werden kann (z. B. Vicryl rapid). Alternativ können Gefäßverletzungen sind im Fall einer spontanen Blutstillung
bei kleineren Verletzungen insbesondere an den Fingern und bei durch Thrombusbildung schwer zu erkennen. Bei Verdacht einer
Kindern Klammerpflaster (»SteriStrip«, »Leukostrip«, »Porofix«, Gefäßverletzung ist die operative Freilegung – ähnlich wie bei den
»Omnistrip« etc.) angewendet werden. Darüber hinaus sind noch Nerven – erforderlich, und falls eine geschlossene Verletzung am
4.2 · Spezielle Techniken
59 4
a d
⊡ Abb. 4.4 Elektive Hautinzisionen im Bereich der Hand. a Beugeseite: Die Schnitte folgen den anatomischen Hautlinien. Die Überquerung der Hohl-
hand- und Gelenkfalten soll möglichst im kleinen Winkel und nicht in 90° erfolgen. Rechts: L-förmige Schnittführung in der Handgelenkbeugefalte. Fort-
führung des Schnittes bogenförmig nach distal in oder neben der Linea vitalis. Die Inzisionen dürfen die Linea vitalis nicht kreuzen bzw., wenn es unver-
meidbar ist, in möglichst kleinem Winkel. Interphalangealgelenke können durch einen L-förmigen Schnitt dargestellt werden. Der klassische Zugang zu
den Beugesehnen ist die Bruner-Inzision, zickzackförmig an den Fingern geführt, wobei die Spitzen des Schnittes seitlich über den Gelenkfalten liegen.
Dieser Zugang ist sicher, ohne Gefahr der Rand- und Spitzennekrose, allerdings ist die Narbenbildung manchmal ungünstig und führt zu Kontrakturen
(s. Finger D2 und D3). Deshalb empfiehlt sich bei guter Hautdurchblutung die korrigierte Bruner-Inzision, wo die Schnittführung genau in den Inter-
phalangealfalten mit Querverbindungen erfolgt (s. D4). Links: L- Förmige Schnittführung zur Freilegung der Interphalangealgelenke. Der Schnitt in der
distalen Hohlhandfalte eignet sich z. B. zur Exploration der Sehnenscheide und des A1-Ringbandes in der Hohlhand. b Streckseite: Hauptregel ist, dass
die Gelenke nie in der Längsachse, in der sog. Medianlinie durchquert werden dürfen. Die Ausweichung erfolgt meist bogenförmig oder leicht gewinkelt
zickzackförmig. An der Streckseite der Hand können die Grundgelenke durch einen quergeführten Schnitt oder wellenförmig um die MHK-Köpfe geführt
exploriert werden. Zur Freilegung der Mittelhandknochen ist ein einfacher intermetakarpal geführter Längsschnitt geeignet. c–e Seitenfläche: An den
Fingern sind die längsgeführten Schnitte in der Mediolaterallinie sehr schonend, die Narben werden dünn und unauffällig. Wichtig ist die genaue Platzie-
rung der Schnitte genau in der Trennlinie der beuge- und streckseitigen Haut, bei gebeugtem Finger in der Verbindung der Interphalangeallinienspitzen.
(Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
60 Kapitel 4 · Prinzipien der Wundbehandlung im Handbereich (»Die kleine Handverletzung«)
Gefäß (Kontusion, Gefäßwandläsion) vorliegt, muss nach Öffnung forderung stellen partielle Sehnenverletzungen dar, bei denen die
der Blutsperre eine Funktionsüberprüfung erfolgen ( Kap. 7). Funktion der Sehne nicht gestört ist. Alleine die Eröffnung der
Sehnenverletzungen sind häufige Begleiter von Stichverlet- Sehnenscheide bedeutet ein erhöhtes Infektionsrisiko und bedarf
zungen. Bei ausführlicher Untersuchung ist die Diagnose einer einer Exploration und ausgiebigen Spülung.
kompletten Sehnendurchtrennung eindeutig. Genaue anatomische Auch oberflächliche Sehnenverletzungen müssen mit einer
Kenntnisse bezüglich der Sehnenfunktionen (z. B. tiefe und ober- Naht versorgt werden, die freie Gleitfähigkeit muss jedoch, manch-
flächliche Beugesehnen, Ansatz der Strecksehnen an den Fingern) mal durch Fenestrierung der Sehnenscheide, gesichert werden
sind zur richtigen Beurteilung unerlässlich. Eine größere Heraus- ( Kap. 5).
Eröffnete Gelenke sind bei der Untersuchung, in Abwesenheit
4 von Instabilität oder Luxierbarkeit des Gelenks nicht erkennbar
(⊡ Abb. 4.7). Es gibt typische exponierte Stellen, wo die Mitbetei-
ligung der Gelenke wahrscheinlich ist, z. B. an der Streckseite der
Hand über den Grund-, Mittel- und Endgelenken, insbesondere
wenn Strecksehnen verletzt sind. Die Gefahr hierbei liegt in der
postoperativen Infektion (Arthritis purulenta) ( Kap. 43).
Bei Verletzungen mit potenzieller Frakturgefahr ist eine Rönt-
genaufnahme zu veranlassen. Im Fall einer typischen Anamne-
se wie Sturz, Verkehrsunfall und anderen Verletzungen unter
hoher Energieeinwirkung ist eine Röntgenuntersuchung Pflicht
( Kap. 9).
⊡ Abb. 4.5 Kapillardrainage (»Easy-Flow-Drainage«). Durch Längsschlitzung ⊡ Abb. 4.7 Röntgenaufnahme bei akuter Schnittverletzung und klinisch
der Drainage kann der Kapillareffekt und somit die Drainageleistung deut- offensichtlicher Strecksehnenverletzung über dem Endgelenk dorsal. Drin-
lich erhöht werden gender Verdacht einer Gelenkbeteiligung
a b c
5.1 Allgemeines – 66
5.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 66
5.1.2 Epidemiologie – 67
5.1.3 Ätiologie – 67
5.1.4 Diagnostik – 68
5.1.5 Indikation und Differenzialtherapie – 72
5.1.6 Therapie – 81
5.1.7 Besonderheiten im Wachstumsalter – 85
5.2 Spezielle Techniken – 85
5.2.1 Primäre Strecksehnennaht Zone 1 – 85
5.2.2 Reinsertion der Strecksehne Zone 1 – 86
5.2.3 Veraltete bzw. sekundäre Strecksehnennaht Zone 1 – 87
5.2.4 Primäre Strecksehnennaht Zone 2 – 88
5.2.5 Veraltete bzw. sekundäre Strecksehnennaht Zone 2 – 88
5.2.6 Primäre Strecksehnennaht Zone 3 – 88
5.2.7 Reinsertion der Strecksehne Zone 3 – 88
5.2.8 Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mittelgelenk (Knopflochdeformität) – 89
5.2.9 Primäre Strecksehnennaht Zone 4 – 91
5.2.10 Primäre Strecksehnennaht Zone 5 im Fingerbereich – 91
5.2.11 Primäre Strecksehnennaht Zone 5 im Daumenbereich – 92
5.2.12 Rekonstruktion von veralteten Verletzungen über den Grundgelenken Zone 5 – 92
5.2.13 Primäre Strecksehnennaht Zone 6 – 93
5.2.14 Rekonstruktion von Defektzuständen der Strecksehne Zone 6 – 93
5.2.15 Extensor-indicis-proprius-Transfer für EPL – 93
5.2.16 Sehnentransfer am Handrücken – 95
5.2.17 Sehnentransplantation am Handrücken – 95
5.2.18 Primäre Strecksehnennaht Zone 7 – 95
5.2.19 Primäre Strecksehnennaht Zone 8 – 96
5.2.20 Technik der Spaltung des 1. Strecksehenfaches bei Tenovaginitis stenosans de Quervain – 96
5.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen – 97
Weiterführende Literatur – 98
5.1 Allgemeines
Für die Versorgung der Sehnen ist die Kenntnis der Anatomie
und der Physiologie unerlässlich. Als unabdingbare Vorausset-
zung bei allen Hand- und atraumatischen Operationen garantiert
diese einerseits eine schonende Versorgung und andererseits das
dafür notwendige Verständnis und Einfühlungsvermögen. Die
Physiologie der unterschiedlichen Gleitamplituden der Sehnen,
aber auch der Verlauf und das vorhandene Gleit- bzw. Schienen-
gewebe sowie die unterschiedliche Dicke der Sehnen und deren
differenzierte Anatomie sind charakteristisch für die Streck- und
5 Beugesehnen.
Die Strecksehnen können sich in bestimmten Zonen im Seh-
nenscheidenkanal durch Druck und Veränderung, traumatisch wie
degenerativ, schmerzhaft in der Gleitamplitude verkürzen.
Bei der Strecksehne ist aufgrund des bestehenden Connexus ⊡ Abb. 5.1 Blutversorgung der Sehne über die Vincula
intertendineus über dem Handrücken und an den Fingern eine Re-
traktion der Sehne nach proximal nur wenige Millimeter möglich.
Verletzungen der Sehnen sind relativ häufig. Lang andauernde dem Periost verlaufenden Seitenästen anastomosieren. Im Sehnen-
Arbeitsunfähigkeit, die auf eine derartige Verletzung folgt, kann scheidentunnel, wo die Vincula tendinei für die Ernährung der
für den Patienten, abgesehen von körperlicher und psychischer Sehnen verantwortlich sind, ist die Sehnenheilung entscheidend
Belastung, auch eine sozioökonomische Katastrophe bedeuten. Die davon abhängig, ob diese Gefäßverbindungen erhalten sind oder
Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach einer Sehnenverletzung ist z. B. ob bei unterbrochener Blutversorgung der nekrotische Sehnen-
mit einer Unterschenkelfraktur zu vergleichen. stumpf durch die reparativen Heilungsvorgänge aus dem Parate-
Die Erstversorgung ist von großer Bedeutung, da sie oft über non revaskularisiert werden muss.
den endgültigen Verlauf entscheidet. Während die tiefen Beu- Die Revaskularisation erfolgt dann durch die bindegewebigen,
gesehnen durch die oberflächlichen in Höhe der Grundphalanx kapillären Strukturen, die in die Sehnenscheide einwachsen und
hindurchtreten, weisen die Strecksehnen einen glatten und unge- dadurch jene Verbindung verursachen, die je nach Ausdehnung
hinderten Verlauf vom Ursprung bis zum Ansatz auf. der Adhäsion zur Blockierung der Sehne führt und ihre Gleitfähig-
Die unterschiedlichen Standpunkte bekannter Chirurgen ha- keit dauerhaft vermindert.
ben darüber hinaus in der Vergangenheit oft die Handlungsweise Dieser Revaskularisierungsmodus erklärt die unbefriedigenden
der wenig erfahrenen oder unerfahrenen Handchirurgen in ihrem Resultate der sekundären Beugesehnenplastik.
Fachgebiet erschwert, da eine Meinungsbildung durch geeignete Aus heutiger Sicht kann das Verfahren der sekundären Beu-
Literatur kaum möglich war. gesehnenplastik, das jahrzehntelang als Methode der Wahl galt,
Inzwischen konnten durch experimentelle Untersuchungen ex- aufgrund neuer Erkenntnisse über die Pathophysiologie der Seh-
akte und begründete Antworten auf die offenen Fragen gefunden nenheilung und durch die Entwicklung besserer Techniken nicht
werden, sodass derzeit bezüglich der Behandlung von Sehnenver- mehr befriedigen. Eine gewebsschonende, atraumatische Operati-
letzungen klare Standpunkte vertreten werden. onstechnik, die zur Vermeidung der Sehnennekrose und als Anreiz
Die Methode der Wahl für die Sehnenversorgung besteht heute für eine narbige Bindegewebswucherung von Bunnell (1921, 1922)
unbestritten in der primären sofortigen oder postprimären Wie- und Pulvertaft (1948) gefordert wurde, reicht für eine störungsfreie
derherstellung innerhalb von 14 Tagen. Sehnenheilung nicht aus.
Kleinert (1973) gibt eine funktionelle Nachbehandlung und
Frühmobilisation zur Entlastung der genähten Sehne durch eine
5.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und direkt postoperativ angelegte dynamische Schiene an. Diese Me-
Physiologie thode beruht auf dem antagonistischen Innervationsprinzip von
Beugung und Streckung des Unterarmes, wobei es bei Innervation
Anatomie und Gefäßversorgung des Antagonisten reflektorisch zur Erschlaffung des Agonisten
Es ist bereits durch experimentelle Untersuchungen bewiesen, dass kommt. Die Sehne selbst wird nicht durch den Zug beansprucht.
jede Sehne ein bestimmtes Gefäßsystem besitzt und eine messbare Die Methode der Kleinert-Sehnennaht und Technik der dyna-
metabolische Tätigkeit hat (Leistikow 1975; Towfigh 1983). mischen Übungen können an bestimmten Zonen (z. B. am Hand-
Potenza (1962) stellte durch genaue anatomische Studien fest, rücken) auch für die Strecksehnen angewandt werden.
dass die lockeren, mit Gefäßen durchsetzten Sehnengleitgewebe, Um die Sehnen findet sich ein stark vaskularisiertes Gleitge-
das Paratenon und das Mesotenon, für die Blutversorgung der webe (Paratenon). Das Paratenon dient der Gefäßversorgung und
Sehnen verantwortlich sind. Im Sehnenscheidentunnel wird die Auflösung der Reibungskräfte. Anatomisch ist die Sehnenscheide
Blutversorgung in erster Linie durch das Mesotendineum bzw. die aus 2 Lamellen aufgebaut, dem Epitenon, das direkt auf der Sehne
Vincula tendinum gewährleistet (⊡ Abb. 5.1). aufliegt, und dem Paratenon, das den fibrösen Kanal auskleidet.
Das Mesotenon schließt sich dem Epitenon an, welches die An Stellen, wo aus funktionellen Gründen eine Richtungsänderung
Sehnenoberfläche innerhalb der Sehnenscheide bedeckt. Die be- der Sehne notwendig wird, ermöglicht die Sehnenscheide das Glei-
sondere Anatomie der Blutversorgung, die durch die Sehnen- ten der Sehne durch den osteofibrösen Kanal.
durchtrennung unterbrochen wird, ist das Kernproblem der re- Um das Gleiten der Sehne in der Sehnenscheide möglichst
konstruktiven Sehnenchirurgie. Das Vinculum selbst erhält seine reibungslos zu gestalten, verläuft die Sehne in einem dünnen Film
Blutversorgung aus den palmaren Gefäßen, die mit kleineren, über von Synovialflüssigkeit.
5.1 · Allgemeines
67 5
> Die Sehne ist ein lebendes Gewebe mit metabolischer Tätig- führen. Diesen Strukturunterschieden muss bei der Strecksehnen-
keit und messbarer reparativer Aktivität. rekonstruktion und Nachbehandlung Rechnung getragen werden.
Für die Strecksehnennaht sind abhängig vom Durchmesser der
Die Wichtigkeit der vaskulären Versorgung ist seit Langem be- Verletzung der Sehne und dem Lokalbefund verschiedene Naht-
kannt und durch zahlreiche Untersuchungen belegt. Daher ist das techniken möglich.
bestmögliche atraumatische Vorgehen und Schonen der Vincula Während im Bereich der flachen Zonen (Zone 1–3) die U-Nähte
bei operativen Eingriffen unbedingt erforderlich (Lundborg 1977; ausreichend sind, werden bei Sehnen mit ovalem Durchschnitt im
Towfigh 1983). Bereich der Zone 4–5 die U-Naht oder auch die Kirschmeier-Naht
Die Kenntnis dieser anatomischen Besonderheit ist wesentlich, und in den Zonen 7–8 bei Sehnen mit rundem Querschnitt die
da die Versorgung zumindest in bestimmten Zonen entscheidend modifizierte Kirschmeier-Naht nach Zechner angewandt.
sein kann. Bei der Strecksehne ist aufgrund der bestehenden Con-
nexus intertendinei über dem Handrücken und an den Fingern eine
Retraktion der Sehne nach proximal nur wenige Millimeter möglich. 5.1.2 Epidemiologie
trennung, nämlich einer spontanen Ruptur, unterschieden werden. rückens, aber auch der Tabatière und der Grundgelenke, palpato-
Die traumatischen Rupturen der Extensoren sind wesentlich häu- risch getastet und so bei der Innervation die aktive Spannung der
figer als die der Flexoren. Die am häufigsten auftretenden Exten- Sehne überprüft werden.
sorenrupturen finden sich im Bereich der Endphalanx und über Funktionell wichtige Sehnen führen bei Verletzung zu charak-
dem Mittelgelenk, aber auch Rupturen der Seitenzügel in Höhe teristischen Veränderungen der Ruhestellung in den betreffenden
des Grundgelenks und dadurch bedingte Luxationen der Extenso- Hand- und Fingergelenken. Für die Beurteilung der Funktion
ren sind bekannt. Außerdem sind Rupturen des Extensor pollicis der Streckaponeurose am Finger muss die Beweglichkeit des Fin-
longus in Höhe des Tuberculum Lister und Abrisse am Muskel- gers im Mittelgelenk bei gestrecktem und gebeugtem Grundgelenk
Sehnen-Übergang bekannt. Die Behandlungstaktik bei verschie- überprüft werden. So wird eine Behinderung der Beugung in den
denen Lokalisationen beinhaltet eine besondere Schwierigkeit und Mittelgelenken bei gestreckten Grundgelenken eher für eine Hand-
unterschiedliche Indikationen. binnenmuskelkontraktur sprechen.
5 Rupturen der Extensor-pollicis-longus-Sehnen (EPL) sind eine
sehr häufige Komplikation nach einer distalen Radiusfraktur. Es
Die Untersuchung der Strecksehnen ist einfach und kann mit
einigen spezifischen Tests exakt durchgeführt werden.
werden traumatische und nicht traumatische Ursachen der häufi- Die Prüfung umfasst:
gen Sehnenläsionen angenommen. Hinsichtlich der Pathogenese ▬ Inspektion,
werden eine mechanische und eine vaskuläre Chirurgie diskutiert, ▬ Palpation und
wobei es durch mechanische Arrosion oder durch Störung der ▬ Funktionsprüfung (jeweils im Vergleich mit der Gegenseite).
Durchblutung zur Ruptur der Sehne kommt.
Folgende Ursachen können als gedeckte Ruptur der Sehnen Bei Synergisten ist die Diagnose schwieriger, so z. B. bei der Funk-
festgehalten werden: tionsprüfung des Extensor carpi radialis longus oder des Extensor
1. Traumatische Ruptur und Durchtrennung. indicis, wo eine Restfunktion immer noch vom Synergisten auf-
2. Subkutane Ruptur nach indirektem Trauma wie z. B. EPL- rechterhalten werden kann. Eine Abgrenzung ist dann durch den
Ruptur nach distaler Radiusfraktur und die Ruptur infolge Vergleich der Kraft mit der Gegenseite durchzuführen.
mechanischen Scheuerns der Sehne am Osteosynthesematerial Im Bereich des distalen Unterarmes haben die Strecksehnen
(wie Platten und Schrauben). eine große Gleitamplitude (55 mm) und eine starke Muskelspan-
3. Subkutane Ruptur als Folge chronischer Mikrotraumata bei nung. Bei Durchtrennungen dort kommt es zu einer starken Re-
speziellen Berufen und Sportarten, wie Trommlerlähmung. traktion des proximalen Sehnenstumpfes, es ist also für die Ope-
4. Subkutane Ruptur bei Grundkrankheiten wie rheumatische ration eine großzügige Inzision vonnöten, über die der Patient auf-
Erkrankungen oder Tumoren. Bei den distalen Radiusfrakturen geklärt werden muss. Diese Sehnendurchtrennungen im Bereich
wird häufiger die Ruptur der EPL-Sehne nach nicht dislozierter des distalen Anteiles der Streckersehnen sind primär optimal zu
als nach dislozierter Radiusfraktur beobachtet. Diese Rupturen versorgen, sekundär sind meist nur Brückentransplantate möglich.
werden mit einem Hämatom in der Sehnenscheide, welches Deshalb ist eine exakte Untersuchung dort besonders wichtig.
durch eine Drucksteigerung die Blutzufuhr zur Sehne behin- Im Bereich des Handgelenks finden sich unter dem Retinacu-
dert und somit infolge von Ernährungsstörungen und Nekrose lum extensorum 6 Streckersehnenfächer (⊡ Abb. 5.2), die in ihnen
zur Ruptur führt, erklärt. Eine Blutung bei frischer distaler verlaufenden Sehnen müssen einzeln geprüft werden.
Radiusfraktur, ein Hämatom in der Strecksehnenscheide der
Extensor-pollicis-longus-Sehne sowie ein Abriss des Mesote- 1. Streckersehnenfach
nons bei noch gesund aussehnender Sehne wird festgestellt. Abduktor pollicis longus (APL)
Bei der mechanischen Theorie als Ursache der EPL-Ruptur- Ansatz an der Basis dorsal Mittelhandknochen I.
Radiusfraktur wird eine durchscheuernde Sehne am distalen
Rand des Retinaculum extensorum, an der dorsalen distalen Extensor pollicis brevis (EPB)
Radiuskante oder an der Austrittstelle aus dem Sehnenfach, Ansatz an der Basis dorsal Daumengrundglied.
wo die Sehne in einem Winkel von etwa 40° weiter zum Die beiden Sehnen bilden die palmare Begrenzung der sog.
Daumen zieht, diskutiert. Weiterhin werden in neuester Zeit Tabatière.
durch nicht fachgerecht eingebrachte winkelstabile palmare
Plattenosteosynthesen auch Strecksehnenverletzungen in allen Test. Daumen in der Hohlhandebene abspreizen (⊡ Abb. 5.3).
Strecksehnenfächern am distalen Radius und am Handgelenk
beobachtet, die allesamt als eher iatrogene und intraoperative 2. Streckersehnenfach
Komplikation bei Einbringen der längeren Schrauben gewertet Extensor carpi radialis longus (ECRL)
werden müssen. Auch eine zu nah an die palmare oder dorsale Ansatz an der Basis Mittelhandknochen 2.
Radiuslippe angebrachte Platte kann die Sehnen durchscheu-
ern, verletzen und schließlich eine Ruptur herbeiführen. Extensor carpi radialis brevis (ECRB)
Ansatz an der Basis Mittelhandknochen 3.
5.1.4 Diagnostik Test. Die geschlossene Faust locker auf der Unterlage auflegen und
den Patienten auffordern, im Handgelenk zu strecken (⊡ Abb. 5.4).
Die Anamnese, Art und Lokalisation der Wunde oder der angege-
benen Beschwerden sowie das Funktionsverhalten der Hand und 3. Streckersehnenfach
der Finger können bereits Aufschlüsse über die Art der Verletzung Extensor pollicis longus (EPL)
geben. Die Diagnose sollte präoperativ aufgrund von Inspektion, Ansatz an der Basis des Daumenendgliedes.
Palpation und Funktionsbefund gestellt werden. Der Sehnenverlauf Es handelt sich dabei um ein sehr langes Sehnenfach mit relativ
kann vor allem im Bereich des distalen Unterarmes und des Hand- schlechter Durchblutung, daher treten Spätrupturen, z. B. nach
5.1 · Allgemeines
69 5
M. interosseus dorsalis 1 M. extensor carpi radialis longus
M. extensor Sehne des M. extensor indicis
pollicis longus
M. extensor
pollicis brevis
Connexus
intertendinei
Retinaculum
extensorum ⊡ Abb. 5.3 Muskeltestung M. abductor pollicis longus: Der Muskel spreizt
1 4 5 6
2 3
M. extensor
carpi ulnaris
M. extensor
digiti minimi
a
M. abductor M. extensor digitorum
pollicis longus M. extensor pollicis longus
M. extensor M. extensor carpi radialis brevis
pollicis brevis
M. extensor carpi radialis longus
M. abductor
pollicis longus
M. extensor
pollicis brevis
Radius
Ulna Radiusfraktur, auf. Deshalb soll nach Möglichkeit routinemäßig
1 bei Radiusfrakturen die EPL-Funktion geprüft werden (Schaden-
2 6
4
ersatzprozesse).
3 5
Test. Flache Hand auf der Unterlage auflegen und den Patienten
auffordern, den Daumen nach dorsal über die Hohlhandebenen
b abzuheben. (⊡ Abb. 5.5)
4. Streckersehnenfach
M. extensor M. extensor Extensor digitorum communis (EDC)
carpi radialis longus carpi ulnaris Grundgelenkstreckfunktion.
M. extensor M. extensor digitorum M. extensor
carpi radialis brevis et M. extensor indicis digiti minimi
M. extensor pollicis longus
Extensor indicis (EI): Zusatzstrecker des Zeigefingers
Test. EDC: Bei mittlerer Beugung der Grund- und Mittelgelenke
⊡ Abb. 5.2 Topografie und Verlauf der Strecksehnen. a Ansicht von dorsal, Aufforderung, die Grundgelenke zu überstrecken (⊡ Abb. 5.6)
b Querschnitt: Die Strecksehnen ziehen mit kurzen Sehnenscheiden in 6 Fä- EI: Isolierte Zeigefingerstreckung bei gebeugten Fingern
chern unter dem Retinaculum extensorum hindurch (⊡ Abb. 5.7).
70 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
Test. Bei Aufliegen der Hand Ulnaduktion und Abheben von der
Unterlage (Extension) (⊡ Abb. 5.9).
Handrücken
Test. Klinisch wichtig ist festzustellen, ob die Durchtrennung pro-
ximal oder distal der Connexus intertendinei stattgefunden hat.
Proximal der Connexus führt die Durchtrennung nur zu einem
Teilausfall, da eine Kompensation erfolgen kann. Die Durchtren-
nung der Strecksehne distal der Connexus führt zu vollem Ausfall
der Streckung.
Ein sicherer spezifischer Test ist in dieser Region nicht be-
kannt.
Grundgelenke
Die Durchtrennung des M. Extensor digitorum communis (EDC)
führt nur am 3. und 4. Finger zum Streckausfall. Bei einem totalen
Ausfall aller Strecker müsste auch noch der Extensor indicis und
der Extensor digiti minimi durchtrennt sein. Da es sich im Grund-
gelenkbereich bereits um breite Sehnenplatten handelt, besteht die
Gefahr, dass anfänglich bei einer Teildurchtrennung noch eine
Kompensation erfolgt, die jedoch später zu einem Streckdefizit
führen kann. Bei Verdacht Klärung durch subtile chirurgische
Wundrevision.
⊡ Abb. 5.7 Muskeltestung M. Extensor indicis proprius: Isolierte Zeigefinger-
streckung bei gebeugten übrigen Fingern Grundgliedbereich
Im Bereich der Grundglieder bilden die Strecksehnen ein Halbrohr
um das Gelenk, sodass meist nur eine Teildurchtrennung dieses
5. Streckersehnenfach Halbrohres vorliegt und die Diagnostik schwierig ist.
Extensor digiti minimi (EDM) Ein spezieller Test ist nicht bekannt. Die anfängliche Sympto-
Ansatz Streckeraponeurose im Grundgelenk V. matik kann gering ausgeprägt sein. Da in diesem Bereich der Gleit-
weg jedoch mit ungefähr 15 mm schon relativ kurz ist, müssen
Test. Finger zur Faust, isolierte Streckung des Kleinfingers. Die auch Teildurchtrennungen operativ versorgt werden, da sonst doch
Sehnen Extensor indicis und Extensor digiti minimi können auch in erhebliche sekundär eintretende Streckausfälle resultieren können.
der Weise geprüft werden, dass bei gebeugtem Mittel- und Ringfin- Ähnliches Verhalten wie bei den Fingergrundgelenken ist am Dau-
ger die Zeigefinger und Kleinfinger gestreckt werden (⊡ Abb. 5.8). mengrundglied angebracht.
5.1 · Allgemeines
71 5
Mittelgelenke
In diesem Bereich ist die Funktionsprüfung schwierig und proble-
matisch. Bei Kenntnis der Anatomie ist evident, dass bei Teildurch-
trennungen durch die noch erhaltenen Seitenzügel anfänglich die
Streckung noch nahezu vollständig erhalten sein kann. Bei völliger
Durchtrennung des Tractus intermedius kommt es zunächst zu
einer Streckerschwäche und nach Abgleiten des Seitenzügels nach
lateral zu einer Knopflochdeformität.
Endgelenkbereich
Strecksehnenrupturen im Bereich des Endgelenks sind klinisch
meist eindeutig zu diagnostizieren. Bei der Aufforderung, das End-
⊡ Abb. 5.9 Muskeltestung Mm. Extensores carpi ulnaris: Bei Aufliegen der gelenk zu strecken, verbleibt ein Streckdefizit von 10–50°, das einer
Hand Ulnaduktion und Abheben von der Unterlage (Extension) konservativen Behandlung zugeführt werden soll.
a b c
⊡ Abb. 5.10 Strecksehnenaponeurose im Fingerbereich. a Ansicht des Strecksehnenapparates von dorsal, b Zusammensetzung des Strecksehenapparates
(hell »extrinsic system«, dunkel »intrinsic system«), Ansicht von dorsal, c Zusammensetzung des Strecksehenapparates (hell »extrinsic system«, dunkel »intrinsic
system«), Ansicht von lateral. (Aus Weinberg et al. 2006)
72 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
Geschlossene Verletzungen der Strecksehne über dem Endge- xus intertendinei mit in den Bereich des Handrückenabschnitts
lenk sind die häufigsten Sehnenverletzungen in dieser Lokalisa- einbezogen wurde.
tion (Mallet-Finger). Sie weisen häufig eine knöcherne Beteiligung Die Bereiche über dem Gelenk mit ungeraden Zahlen bilden
auf. Bei kompletter Ruptur und Mitverletzung der Landsmeer- immer ernstere und problematische Anteile, während dazwischen
Ligamente, die feine seitliche Faserzügel an der Streckaponeurose liegende Zonen mit geraden Zahlen prognostisch günstiger sind.
bilden, steht das Endglied des Fingers in voller Beugung (Ham- Während im eigentlichen Fingerbereich die Strecksehnen gleich-
merfinger), wobei eine aktive Streckung nicht mehr möglich ist mäßig und uniform verlaufen, findet sich am Handrücken eine
(⊡ Abb. 5.10). Bleiben die Landsmeer-Ligamente erhalten, so ist große Variationsform. Gemeinsame Sehnenverläufe mehrerer Fin-
das Streckdefizit deutlich geringer. Bei allen Strecksehnenverlet- ger, mehrfach angelegte Strecksehnen und unterschiedliche Ver-
zungen in dieser Zone sollte immer eine Röntgenaufnahme in bindungen der Strecksehnen miteinander sind keine Seltenheit.
2 Ebenen, evtl. in Vergrößerungstechnik, durchgeführt werden. In Höhe des Handgelenks verlaufen die Strecksehnen mit Seh-
5 Damit kann eine mögliche knöcherne Verletzung aufgedeckt wer-
den, deren Lokalisation für die eingeschlagene Therapie entschei-
nenscheide umgeben in Sehnenfächern unter dem Retinaculum
extensorum (⊡ Abb. 5.2, ⊡ Abb. 5.11).
dend sein kann. Die Aufgabe der geordneten Zugführung durch Strecksehnen
Die Verletzung wird häufig bei Sportlern nach Aufprall ei- vom Unterarm zum Handrücken wird vom Retinakulum exten-
nes Balles oder Anstoßen an einen harten Gegenstand oder eine sorum übernommen. Das Retinakulum stellt einen verstärkten
Wand festgestellt. Der gegenteilige Mechanismus, bei dem das Anteil der Unterarmfaszie dar und geht kontinuierlich in die Fascia
Endglied zum Zeitpunkt der Verletzung nach dorsal ausweicht, dorsalis manus über. Es entstehen so 6 Osteofibrosekanäle, die
kann zu einer Meißelfraktur am Endglied führen (Busch-Fraktur). den Strecksehnenverlauf sichern und einen »Bogensehneneffekt«
Die Strecksehnenruptur bzw. der offene Riss am Endglied wird in wie auch eine abnormale radiale oder ulnare Sehnenverlagerung
der Literatur auch als Hammerfinger, Mallet-Finger oder Baseball- verhindern.
Finger bezeichnet. Klinische Bedeutung können insbesondere das 1. und das
Bevorzugt sind die 3 ulnaren Finger betroffen, während der 3. Strecksehnenfach bekommen. Eine entzündliche Schwellung
Daumen nur selten betroffen ist. des Sehnengleitgewebes mit nachfolgender bindegewebiger Ver-
dickung und Einengung des 1. Sehnenfaches führt zur Krankheit
Zoneneinteilung der Strecksehnen der Tendovaginitis stenosans de Quervain. Rupturen der Sehne
Die Strecksehnen zeigen im gesamten Verlauf einen sehr diffe- des Muskulus extensor pollicis longus (im 3. Strecksehnenfach) auf
renzierten Aufbau mit charakteristischen Funktionsmerkmalen. Höhe des umlenkenden Listertuberkels kommen bei Polyarthritis
Ihr Ausfall nach einer Strecksehnenverletzung führt dann zu ent- und distalen Radiusfrakturen vor.
sprechenden typischen Funktionsausfällen. Es ist deshalb sowohl Der sehnenscheidenfreie Mittelhandabschnitt der Strecksehne
aus funktionellen wie auch therapeutischen Gründen zweckmä- sind die variablen Connexus intertendinei. Diese führen funkti-
ßig, ähnlich wie bei den Beugesehnen auch die Strecksehnen in onell die Stabilisierung der Finger bei der Streckung. Neben den
verschiedene Zonen einzuteilen. Es existieren zwei verschiedene extrinsischen Strecksehnen, nämlich Extensor digitorum, Extensor
Zoneneinteilungen. An dieser Stelle wurde einfachheitshalber die indicis und Extensor digiti minimi, die einen direkten Einfluss auf
Zoneneinteilung nach Verdan (1966) ausgewählt. Er unterscheidet den Tractus intermedius und die dorsale Aponeurose haben, funk-
von distal nach proximal 8 Zonen, wobei der Bereich der Conne- tionieren die intrinsischen Sehnen, nämlich Muskuli lumbricalis
und Musk. Interossei, sowie die retinakulären Bänder als Zusatz-
einrichtung.
I II
delt worden ist, sekundär eine Strecksehnenruptur des Daumens nenenden ein Sehnenregenerat. Da dieses jedoch zu lang ist, ist
festgestellt. Dies kann einmal durch Reibung der Sehne an scharfen eine ausreichend aktive Streckung im Endgelenk nicht möglich.
Knochenkanten geschehen, zum anderen kann die Reibung der Zur Therapie werden verschiedene sekundäre Rekonstruktions-
Sehne am Osteosynthesematerial zur Ruptur führen. möglichkeiten angeboten.
Bei geschlossenen, aber auch bei offenen Läsionen hängt der Bei fehlender Rekonstruktion der Strecksehne in diesem Be-
Zeitpunkt der chirurgischen Therapie vom Ausmaß der Verletzung reich kommt es in der Folge nicht selten zur Ausbildung einer
und Begleitverletzung ab. Falls keine primäre Versorgung erfolgt, Schwanenhalsdeformität (⊡ Abb. 5.14), weil es zu einer Dysbalance
kann es im Laufe der Zeit zu einer Degeneration und Schrumpfung der Kraftübertragung der intrinsischen und extrinsischen Mus-
der verletzten Bänder und der Sehnen sowie zu einem zunehmenden kelsysteme kommt. Sie stellt sich dar als funktionelle oder fixierte
Verlust der Gleitamplitude infolge der Muskelinaktivität kommen, Hyperextension des proximalen und Flexionsstellung des distalen
sodass eine spätere Versorgung immer mit Funktionseinbußen und Interphalangealgelenks.
5 eventuellen intraoperativen Problemen verbunden ist. Aus diesem
Grunde ist bei feststehender Diagnose eine Therapie notwendig. Je
Wenn es zu einer solchen Schwanenhalsdeformität gekommen
ist, muss nach operativer Strecksehnenrekonstruktion am Endge-
früher die konservative oder die operative Therapie angesetzt wird, lenk ggf. über einen separaten palmaren Zugang das PIP-Gelenk
desto größer wird die Chance auf ein gutes Ergebnis sein. gesondert angegangen werden. Hierbei wird die palmare Platte
gerafft oder eine Tenodesenoperation durchgeführt, um das PIP-
Verletzungen über dem Endglied – Zone 1 Gelenk in eine leichte Palmarflexion von 15° zu bringen.
Für die Strecksehenverletzungen im Endgliedbereich bestehen
mehrere Klassifikationen (⊡ Abb. 5.12, ⊡ Abb. 5.13). Verletzungen über dem Mittelglied – Zone 2
Die Versorgung von Typ 1 und 2 erfolgt mit der Stack-Schiene. Die Verletzungen über dem Mittelglied entsprechen im Wesentli-
Die Versorgung von Typ 3 und 4 erfolgt ausschließlich operativ. chen denen am Endgelenk. Bei Durchtrennung eines Seitenzügels
Bei schweren offenen Traumen im Bereich des Endgliedes bleibt die Streckfähigkeit des Endgliedes z. T. erhalten. Die Ver-
kann es auch zu Strecksehnenverlusten kommen, die nicht sel- sorgung erfolgt durch Einzelknopfnähte. Defektüberbrückungen
ten eine knöcherne Verletzung als Begleitschaden aufweisen. Hier durch Transplantate bringen aufgrund der Zerstörung der Seh-
kann ein kleines Sehnentransplantat die defekte Zone der Sehne nengleitlager, z. B. bei Hobel- oder Kreissägenverletzungen nicht
überbrücken. Allerdings muss aufgrund der Zerstörung des Seh- immer den gewünschten Erfolg. Ein Versuch der Wiederherstel-
nengleitlagers und (relativ) mangelhafter Durchblutung in dieser lung bei fehlender Arthrose ist jedoch angezeigt und gerechtfertigt.
Region mit weniger guten Ergebnissen gerechnet werden. Aus die- Endgelenkarthrodese ist bei langstreckigem Verlust der Streck-
sem Grund empfiehlt es sich, diesen Eingriff als Sekundäreingriff sehne angezeigt (⊡ Abb. 5.15).
nach glatter Wundheilung anzuschließen.
Bei größeren Defekten und Substanzverlust im Endgliedbe- Verletzungen über dem Mittelgelenk – Zone 3
reich empfiehlt es sich jedoch, eine Arthrodese des Endgelenks Finger
durchzuführen, wobei je nach Beruf und Geschlecht die beste Die Streckaponeurose ist über dem Mittelgelenk sehr kompliziert
funktionelle und kosmetische Stellung des Endgliedes zwischen 0 und setzt sich aus dem Endstück des Tractus intermedius, aus
und 20° ausgewählt werden sollte. den beiden Seitenzügeln der Mm. interossei und des Lumbricalis
sowie aus den Fasern, die ein fein verzweigtes Netz zwischen die-
Hammerfinger (»Mallet-«, »Baseball-« und »Drop-finger«) sen Elementen spannen (⊡ Abb. 5.10), zusammen. Die Landsmeer-
Sind Strecksehnenläsionen am Endgelenk nicht oder insuffizient Ligamente setzen vor allem am vorderen Rand der Seitenzügel an,
behandelt worden, bildet sich zwischen den rupturierten Seh- sodass bei Unterbrechung der Verbindung mit dem Mittelzügel das
Daumen
Im Bereich des Daumens führt bei einem Sehnendefekt, der mehr
als 10 mm beträgt, der Versuch einer End-zu-End-Naht zu einer
großen Behinderung der Daumenbeugung. Deshalb ist eine De-
fektüberbrückung durch ein Transplantat oder durch eine Um-
lagerung angezeigt. Diese Maßnahme kann auch bei primärer
Defektentstehung vorgenommen werden. Das Sehnentransplantat
zur Defektüberbrückung im Bereich des Extensor pollicis longus
ist eine physiologische Lösung, da sie die Funktion des zurück-
⊡ Abb. 5.16 Knopflochdeformität nach Verletzung des Tractus intermedius gezogenen Muskels wiederherstellt und die Extensionskraft des
über dem Mittelgelenk. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Zeigefingers unangetastet belässt. Die Ausführung der Operation
76 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
ist jedoch schwierig und zeitaufwendig. Die proximale Verbindung Offene Verletzungen, sowohl über dem Strecksehnenhäubchen
des Transplantates mit dem proximalen Stumpf der Daumen- als auch proximal davon, sollten, wann immer möglich, primär
strecksehne erfolgt in Durchflechtungsnaht nach Pulvertaft, wobei versorgt werden. Bissverletzungen (Faustschlag ins Gesicht) führen
die distale Nahtstelle ebenso durch die Durchflechtungsnaht nach oft zu Sehnenverletzungen in dieser Zone.
Pulvertaft angeheftet wird. Dabei muss die Länge und die Gleit- Bei Bestehen von defekten Weichteilen kann die Haut durch
amplitude der Sehne mitberücksichtigt werden. Viel günstiger und einen lokalen Verschiebelappen gedeckt werden.
mit sehr guten Ergebnissen wird dagegen der Sehnentransfer, vor
allem der Indicis-Sehnentransfer, zur Wiederherstellung der Funk- Daumen
tion des M. extensor pollicis longus angewandt. Diese Methode Die Strecksehnenaponeurose des Daumens im proximalen Ab-
ist einfach und schnell durchführbar. Es ist außerdem leichter, die schnitt ähnelt den Verhältnissen am Grundglied der Finger.
korrekte Länge der Sehne zu finden, wenn die Durchflechtungs- Der sehnige Anteil des M. extensor pollicis longus bildet den
5 naht über dem ersten Mittelhandknochen zu liegen kommt. Auch zentralen Zügel der Aponeurose. Ein vollständiger Streckausfall am
Daumenendgelenk liegt erst dann vor, wenn die Sehne im mittle-
die Sehne des E. digiti mini eignet sich für den Transfer.
ren und distalen Drittel des Grundgliedes komplett rupturiert oder
Verletzungen über dem Mittelgelenk – Zone 4 durchtrennt ist.
Finger Eine komplette oder partielle Durchtrennung der Aponeurose
Komplette Durchtrennungen sind hier relativ selten, wie auch im sollte in jedem Fall chirurgisch wiederhergestellt werden, wobei
Bereich der Zone 2. Nach multiplen Verletzungen und Frakturen aufgrund der Breite und Dicke des Sehnenabschnittes alle ge-
in diesem Bereich kann es zu Verwachsungen und Blockierungen bräuchlichen und bisher besprochenen Nahtmethoden (4/0) geeig-
der einzelnen Strecksehnen kommen. Isolierte Verletzungen des net erscheinen. Zusätzlich werden einzelne U-Nähte mit 4/0 atrau-
Tractus intermedius bzw. des zentralen Anteiles führen zu keinen matischem monofilen Faden zur Adaptation der Sehnenstümpfe
erkennbaren funktionellen Ausfällen, da die noch vorhandenen angelegt. Eine 4-wöchige Ruhigstellung auf einem Steigbügelgips,
und funktionstüchtigen Seitenzügel die Funktion kompensieren der lediglich den Daumen in Streckstellung fixiert, entlastet die
können. Nur bei Durchtrennung des zentralen und eines seitlichen Sehnennaht.
Anteiles der Streckaponeurose werden Kraftminderung und Streck-
hemmungen im Mittelgelenk sichtbar. Bei schweren Quetschverlet- Bemerkung
zungen kann eine geschlossene Verletzung der Streckaponeurose Obwohl bei der Zoneneinteilung nach Verdan das Grundglied des
im Grundglied vorkommen. Daumens als Zone 2 angegeben wird, ist – aufgrund der bestehen-
den sehnigen Einstrahlung der Muskulatur in Höhe des Grund-
> Eine Versorgung der Strecksehne bei inkompletter Durch-
gliedes und Ähnlichkeit der Strecksehnenhaube des Daumens am
trennung ist angezeigt.
Grundgelenk zu den Grundgelenkstrecksehnenhauben der Finger
Bei umschriebener Verletzung und Defektbildung im zentralen – hier die Zone 2 des Daumens zusammen mit der Zone 4 der
Anteil bzw. im Bereich des Tractus intermedius, wird trotz erhalte- Finger behandelt.
ner Funktion eine Adaptation der Sehnenränder mit 4/0 atraumati- Die geschlossenen oder gedeckten Verletzungen in diesem
schem monofilem Faden zur Optimierung des Ergebnisses durch- Bereich werden vor allem bei starker Quetschung und geschlos-
geführt. Auch die isolierte Verletzung eines der beiden Seitenzügel senen Frakturen festgestellt. Auch hier wird, wie bei den offenen
wird in gleicher Form durch 4/0 atraumatischen monofilen Faden Verletzungen der Streckaponeurose, bei Feststehen der Diagnose
versorgt. eine chirurgische Intervention unumgänglich sein, wenn man eine
Bei Durchtrennung des zentralen Abschnittes, nämlich des optimale Funktion des betreffenden Fingers erreichen will. Nach
Tractus intermedius und einer der beiden Seitenzügel, wird eine chirurgischer Versorgung ist eine 4-wöchige Ruhigstellung des Fin-
feine atraumatische Einzelknopfnaht zur exakten Adaptation der gers in einer physiologischen (»intrinsic-plus«) Stellung notwendig,
Aponeurosen erforderlich. Zur Vermeidung schwerer Verwach- wobei die Grundgelenke in 60° Beugestellung und Streckstellung
sungen muss bei der Versorgung der Streckaponeurose auf das der Mittel- und Endgelenke auf einer palmar angelegten Unterarm-
Sehnengleitlager größten Wert gelegt werden. Hand-Gipsschiene ruhiggestellt werden. Für den Daumen wird ein
Bei Versorgung von Frakturen im Bereich der Phalanx muss Steigbügelgips, der das Daumengrund- und Endgelenk in Streck-
unbedingt das Osteosynthesematerial unterhalb des peritendinö- stellung hält, notwendig.
sen Gleitgewebes zu liegen kommen, damit die Sehne frei ohne In der postoperativen Phase ist eine fortlaufende wöchentliche
Reibung auf dem Osteosynthesematerial gleiten kann. Dies ist Kontrolle notwendig, wobei die äußere Fixation nach 4 Wochen
eine wesentliche Voraussetzung zur atraumatischen Operation im entfernt werden kann. Die Bewegungsübungen werden ab der
Bereich der Phalanx, sowohl was die Knochenbruchbehandlung als 5. postoperativen Woche angesetzt.
auch die Versorgung der Strecksehnen anbelangt.
Bei gleichzeitig bestehenden Frakturen und Strecksehnenver- Verletzungen über dem Mittelgelenk – Zone 5
letzungen muss immer die Möglichkeit einer stabilen Osteosyn-
> Die Zone 5 des Daumens, nämlich das Grundgelenk, ent-
these oder einer Adaptationsosteosynthese durch Kirschner-Drähte
spricht der Zone 5 der Finger, nämlich den Grundgelenken,
abgewogen werden, da nach Versorgung der Strecksehne eine vo-
und wird entsprechend hier abgehandelt.
rübergehende Ruhigstellung zur Sehnenheilung benötigt wird und
damit der günstige Effekt einer Plattenosteosynthese hier nicht Bei kompletter Durchtrennung der Extensoren in Höhe der Grund-
entsprechend genutzt werden kann. Die Osteosynthesematerialien gelenke wird ein vollständiger Funktionsausfall der Streckfähigkeit
müssen möglichst durch Periostschlauch oder peritendinöses Ge- im Grundgelenk festgestellt, wobei die Streckung in Mittel- und
webe gedeckt sein, damit einerseits die Verwachsungsmöglichkeit Endgelenken durch die intakte Handbinnenmuskulatur erhalten
so gering wie möglich gehalten wird und andererseits die Sehne bleibt. Nur bei voller Streckung und Spreizung kann die vollstän-
vor dem Osteosynthesematerial geschützt ist. dige Funktion der einzelnen Finger im Vergleich zu den gesunden
5.1 · Allgemeines
77 5
Nachbarfingern festgestellt werden. Bei zusätzlicher Verletzung der vergrößern sich jedoch die meist dorsoradial gelegenen Längsrisse,
seitlichen Aponeurose, bzw. des intertendinösen Gewebes, kommt sodass es zur Luxation der Strecksehne vorwiegend nach ulnar
es zum Abweichen der Strecksehne in Richtung der unverletzten kommt. Ist eine gedeckte Luxation der Strecksehne an mehreren
Seite, da der Zug des intertendinösen Gewebes auf die Strecksehne Fingern feststellbar, so spricht dies eher gegen eine traumatisch
von der gesunden Seite her überwiegt. Dadurch gleitet die Streck- bedingte Verletzung. Infolge einer angeborenen Hypoplasie der
sehne nicht mehr über die Mitte des Mittelhandknochenköpfchens, seitlichen Strecksehnenhäubchen kann es zu einer Luxation oder
sondern gleitet in die Tiefe zwischen den beiden Mittelhandköpf- Subluxationsstellung der Strecksehnen kommen, die gegenüber
chen ab. Da die Strecksehne dann nicht die gewohnte, längere den traumatisch bedingten Sehnenluxationen abgegrenzt werden
Strecke über dem Mittelhandköpfchen durchläuft, entsteht somit müssen.
eine relative Verlängerung der Strecksehne und dadurch resultiert Bei veralteten Verletzungen der Strecksehne, vor allem über
ein Streckdefizit des verletzten Fingers. dem Metakarpalköpfchen, bildet sich unversorgt dann ein über-
Ähnliche Verletzungen der Strecksehnenhaube über den schießender Sehnenkallus mit der klinisch sichtbaren Prominenz
Grundgelenken können sich sowohl bei den geschlossenen wie der Weichteile direkt über dem Grundgelenk. Die Veränderungen
auch bei den offenen Verletzungen einstellen. verursachen eine schmerzhafte endgradige Bewegungseinschrän-
Am Zeige- und Kleinfinger wird nach Ruptur oder Durch- kung im Bereich des Grundgelenks. Auch diese Verletzungen soll-
trennung des M. extensor digitorum communis kein vollständiger ten nach Abtragen des Sehnenkallus durch U-Nähte mit 4/0 mo-
Funktionsausfall der Streckung festgestellt werden, da in diesem nofilem Faden und ggf. mit einer entlastenden Lengemann-Naht
Bereich zusätzlich die Sehnen des M. extensor indicis proprius und adaptierenden Sehnennähten versorgt werden. Die Dauer der
am Zeigefinger und des M. extensor digiti minimi am Kleinfinger Ruhigstellung beträgt ebenso 4 Wochen.
die Streckung an beiden genannten Fingern kompensieren. Nur Die operative Korrektur der gedeckten Sehnenverletzungen in
wenn auch diese Sehnen durchtrennt bzw. rupturiert sind, wird Zone 5 entspricht der bei den offenen Verletzungen angewandten.
am Zeige- und Kleinfinger ein entsprechender Funktionsausfall im
Sinne eines kompletten Streckverlustes im Grundgelenk festgestellt Verletzungen über dem Handrücken – Zone 6
werden können. Die Dauer der Ruhigstellung beträgt 4 Wochen in Nach einer Durchtrennung im Bereich der Strecksehnen des
Intrinsic-plus-Stellung. Handrückens kommt es zu einem partiellen Streckverlust der
Grundgelenke der Finger, da der distale Stumpf der verletzten
> Eine konservative Behandlung der rupturierten Streckseh-
Sehne durch die queren bzw. schräg verlaufenden Verbindungen
nenhaube bringt nicht die gewünschte funktionelle Wie-
zu den benachbart liegenden Strecksehnen Connexus intertendinei
derherstellung. Falls keine Kontraindikation besteht, sollte
ein weiteres Herabsinken des verletzten Fingers verhindert. Aus
immer eine chirurgische Intervention erfolgen. Die nicht ver-
diesem Grund ist auch ein weiteres Zurückgleiten der Sehne nicht
sorgte Strecksehnenhaube führt zu einer Subluxation oder
möglich. Nur bei der Verletzung der Strecksehnen des Daumens
Luxation der Sehne.
und des Kleinfingers im Bereich des Handrückens kann aufgrund
Bei Strecksehnenverletzung direkt über dem Grundgelenk muss der sehr beweglichen Sehnen der proximale Stumpf weit zurück-
immer mit einer Öffnung des Grundgelenks gerechnet werden, gleiten, sodass das Auffinden des proximalen Stumpfes gewisse
weshalb eine besonders sorgfältige Wundversorgung und Suche Schwierigkeiten macht.
nach Fremdkörpern erforderlich ist.
Wird bei der Versorgung einer offenen Verletzung der Streck- Isolierte Muskelverletzungen
sehne auch die Verletzung der Aponeurose festgestellt, muss diese Die isolierten Verletzungen der dorsalen Handgelenkmuskeln wie
zur Vermeidung einer Strecksehnenluxation mitversorgt werden. Extensor carpi radialis und Extensor carpi ulnaris führen zu kei-
Dabei wird bei frischen oder einige Tage (7 Tage) alten Verletzun- nem funktionellen Ausfall. Der Ausfall dieser Sehnen führt jedoch
gen die Streckaponeurose durch einige atraumatische U-Nähte zu einem nachprüfbaren Kraftverlust der Handgelenkstreckung,
mitversorgt. Bei kurzstreckiger Verletzung der Strecksehne am weshalb bei Verletzung dieser Sehnen stets eine Wiederherstel-
Grundgelenk kann diese auch lediglich durch U-Nähte mit mono- lung angezeigt ist. Aufgrund bestehender geringer Gleitamplitude
filem Faden versorgt werden, wobei die Form und die Dauer der können die Strecksehnen nach Durchtrennung vor allem des pro-
Ruhigstellung unbeeinflusst bleibt. Sind bei offenen Verletzungen ximalen Anteils durch Druck auf die zugehörigen Muskelbäuche
die Sehnenenden zerfetzt und ungerade, werden diese nach exakter dargestellt werden. Die Versorgung erfolgt durch U-Nähte.
Säuberung sparsam begradigt und danach die Sehnennaht durch-
geführt. Daumen
Nach offener oder geschlossener Verletzung des seitlichen An- Bei frischen Verletzungen der Daumenstrecker müssen sowohl die
teils der Streckaponeurose des Lig. metacarpalia transversa müssen Sehne des Extensor pollicis brevis als auch die Sehnen des Extensor
diese ebenso versorgt werden. Derartige Läsionen führen zwar pollicis longus versorgt werden, damit eine ausreichende und gute
nicht sofort zu einer Funktionseinbuße, die Defekte werden jedoch Funktion des Daumens wieder möglich wird. Für das Auffinden
im Laufe des weiteren Gebrauchs so vergrößert, dass es zu Luxatio- des proximalen Sehnenstumpfes des Extensor pollicis longus, der
nen der Sehnen, vorzugsweise nach ulnar, kommt. sich infolge der großen Gleitamplitude (58 mm) immer weit zu-
Bei Verletzung der Connexus intertendinei müssen diese rückzieht, muss nicht selten ein zusätzlicher Schnitt proximal des
ebenso durch U-Nähte wiederhergestellt werden. Retinaculum extensorum angelegt werden. Danach kann der pro-
Die Verletzungen der Strecksehne über dem Grundgelenk, vor ximale Strecksehnenstumpf mit einer Sehnenfasszange ulnar und
allem die gedeckten Rupturen der seitlichen Anteile der Streckapo- proximal am Radiusrand gefasst werden. Zuweilen kann das Auf-
neurose bzw. der Retinacula, können durch Gewalteinwirkungen finden des proximalen Stumpfes der Daumenstrecker sehr schwie-
auf die Mittelhandköpfchen hervorgerufen werden (Faustschlag). rig sein, sodass das der Sehne zugehörige dritte Sehnenfach gespal-
Dabei können zunächst die entstandenen Teilrisse ohne funktio- ten oder sogar die Sehne unter den Fingerextensoren am distalen
nelle Einbußen die Diagnose erschweren. Bei weiterem Gebrauch Unterarm gesucht werden muss. Wegen der Verwachsungsgefahr
78 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
wird nun der proximale Sehnenstumpf des Daumens nicht durch entsprechender Bewegungsamplitude ausgewählt werden muss.
das 3. Strecksehnenscheidenfach geführt, sondern subkutan nach Hier kommt für den Daumen die Indicis-proprius-Umlagerung in
distal bis zur Nahtstelle im Mittelhandbereich geleitet. Frage. Für die Finger sind Sehnenumlagerungen einer gesunden
Durch eine senkrecht eingestochene Nadel kann dann ein Strecksehne in Durchflechtungstechnik günstiger als mehrfache
erneutes Zurückgleiten der Sehne verhindert werden. Die Versor- Transplantate. Auch die Sehne des Extensor digiti minimi eignet
gung frischer Daumenstrecksehnen über dem Handrücken erfolgt sich für eine Umlagerung.
nach exakter Adaptation der Sehnenenden durch 4/0 atraumati-
schen monofilen Faden, der in U-Technik-Naht die Sehnenenden
vereinigt. Therapie der Defekte in Zone 6
Bei sehr zarten und flachen Sehnen kann ausnahmsweise die 1. Koppelung des distalen Stumpfes an die Nachbarsehne
ausziehbare Schnürsenkelnaht nach Bunnell zur Anwendung kom- 2. Transposition eines Teils der intakten Nachbarsehne
5 men. Dabei werden nach Zickzackstichelung am proximalen Seh- 3. Interponat Palmaris-longus-Sehne als Transplantat
nenstumpf die beiden Drahtenden etwa 1,5–2 cm distal der Seh- 4. Transfer Extensor-indicis-proprius- oder Extensor-digiti-
nendurchtrennungsstelle am distalen Stumpf herausgeleitet und minimi-Sehne
über der Haut mit einer Bleikugel befestigt.
Bei der Verletzung beider Extensoren des Daumens werden
diese getrennt versorgt. Die Ruhigstellung erfolgt in einem Steigbü- Bei der Ruhigstellung des Daumens nach Versorgung der Streck-
gelgips in »Auto-Stopp-Stellung« für 4 Wochen. Danach kann mit sehne soll eine extreme Streckstellung des Daumens im Grund-
vorsichtigen aktiven krankengymnastischen Bewegungsübungen gelenk vermieden werden, da es sonst zu einem erheblichen,
begonnen werden. schmerzhaften Immobilisierungsschaden in diesem Gelenk kom-
men kann. Bei zu schneller Freigabe der ruhigstellenden äußeren
Finger Fixation kann es zu einer erneuten Ruptur der Sehne kommen.
Die Versorgung der Fingerstrecksehnenverletzungen am Handrü- Eine unkorrekte Verspannung führt zur Funktionseinschränkung.
cken erfolgt bei günstigen Voraussetzungen und Weichteilverhält- Eine Rekonstruktion der Extensor-pollicis-longus-Sehne mit ei-
nissen ebenso durch U-Nähte 4/0 atraumatisch. Das Aufsuchen nem Sehnentransplantat zeigt auch gute Ergebnisse.
des proximalen Endes kann evtl. einen zusätzlichen transversalen
Schnitt auf der Dorsalseite des Handgelenks erfordern. Beim Mas- Verletzungen im Handgelenkbereich – Zone 7
sieren der Muskelkörper in der distalen Richtung kann schließlich Bei Verletzung der Strecksehnen in diesem Bereich (unter der Reti-
das proximale Ende in der Wunde erscheinen. Durch eine senk- naculum extensorum) gleiten die proximalen Stümpfe, da sie nicht
recht eingestochene atraumatische Nadel wird dann ein erneutes mehr miteinander durch die Connexus intertendinei verknüpft
Zurückschlüpfen der Sehnenstümpfe verhindert. Die Sehnennaht- sind, in die Sehnenfächer weit nach proximal zurück.
stelle wird stets durch eine Deckung mit dem Paratenon vor Ver- Nach Verletzung der Strecksehnen kann klinisch ein deutlicher
wachsungen geschützt. Streckausfall der betreffenden Finger, vor allem in den Grundge-
Postoperativ wird eine Ruhigstellung mit einer palmaren Un- lenken, festgestellt werden. Die Verletzungen der dorsalen Hand-
terarmgipsschiene in Funktionsstellung in Intrinsic-plus-Stellung gelenkstrecker, wie Extensor carpi radialis longus und brevis sowie
im Handgelenk und Beugestellung in Grund- und Streckstellung in Extensor carpi ulnaris, können bei der klinischen Überprüfung
Mittelgelenken der Finger für die Dauer von 4 Wochen vorgenom- leicht übersehen werden.
men. Danach kann mit krankengymnastischen Bewegungsübun- Die Versorgung der Strecksehnen in dieser Zone ist aufgrund
gen begonnen werden. der bestehenden engen osteofibrösen Kanäle (⊡ Abb. 5.2) sehr
Für die Behandlung von frischen Defektverletzungen der schwierig und die Ergebnisse nach Wiederherstellungsoperationen
Strecksehnen stehen Sehnentransplantate und Sehnenumlage- sind nur bei sorgfältiger Vereinigung der Sehnenstümpfe günstig.
rungen zur Verfügung ( Abschn. 5.2.14, Abschn. 5.2.15, Ab- Nach der operativen Versorgung ist bei bestehender Blockierung
schn. 5.2.16, Abschn. 5.2.17). proximal oder distal des Retinaculum extensorum eine sekundäre
Eine dynamische Nachbehandlung, ähnlich wie bei Beugeseh- Tenolyse angezeigt. Dabei ist dann die partielle Resektion des
nen, wird für die Fingersehnen empfohlen. Lig. carpi transversum zu überprüfen. Die Rekonstruktion des
Auch bei geschlossenen Verletzungen der Strecksehnen, so- Retinaculums ist zur Vermeidung eines Bogensehneneffekts bei
wohl des Daumens (z. B. nach distaler Radiusfraktur) als auch der Handgelenkstreckung sehr wichtig.
Finger in Höhe des Handrückens, ist für die Wiederherstellung der Die sekundäre Versorgung nach Durchtrennung in dieser Zone
Funktion eine chirurgische Intervention unumgänglich. bereitet große Schwierigkeiten, da sich die Sehnenstümpfe auch
Da die Voraussetzung für eine End-zu-End-Naht nur in Aus- nach maximaler Dorsalflexion der Handwurzeln nicht mehr aus-
nahmefällen gegeben ist, wird oft bei einer älteren geschlossenen reichend adaptieren lassen.
Verletzung oder einer sekundären Wiederherstellung mit Subs- In einer solchen Situation ist ein größerer wiederherstellender
tanzverlust von mehr als 10 mm und Verletzung mehrerer Streck- Eingriff in Form einer Transplantation der Sehnen unumgänglich.
sehnen eine Umlagerung der Nachbarsehne oder ein Transplantat Die häufigste geschlossene Sehnenruptur im Bereich der osteo-
notwendig sein. Aufgrund der Veränderungen im Bereich der fibrösen Kanäle stellt die Ruptur der langen Daumenstrecksehne
Sehnenstümpfe ist fast immer eine Stumpfanfrischung notwendig. dar. Die Rupturstelle liegt in typischer Weise am distalen Ende
Damit wird der zu überbrückende Defekt vergrößert. des 3. Strecksehnenscheidenfaches, wo die Sehne in einem relativ
Ein Sehnenbrückentransplantat kann nur dann eingesetzt wer- scharfen Winkel plötzlich in eine radiale Richtung umgeleitet wird.
den, wenn der Motor der Sehne noch über eine genügende Bewe- Die meist traumatisch bedingten Rupturen kommen, vor allem
gungsamplitude verfügt. Liegen die Verletzungen länger als 6 Wo- nach typischen Radiusfrakturen und schweren Handwurzelverren-
chen zurück, verfügt der Motor der Sehne nicht über eine ausrei- kungen, nach Wochen und Monaten vor. Als Ursache der Spätrup-
chende Gleitamplitude, sodass ein neuer Motor (Muskelsehne) mit turen werden die degenerativen Veränderungen der Sehne nach
5.1 · Allgemeines
79 5
Quetschung im osteofibrösen Kanal bzw. am distalen Rand des Re-
tinaculum extensorum angesehen. Auch die Zerstörung des knö-
chernen Bodens des 3. Strecksehnenscheidenfaches infolge einer
typischen Radiusfraktur oder sogar eine an einer Fragmentspitze
aufgespießte Sehne mit partieller Sehnendurchtrennung werden als
posttraumatische Sehnenruptur bezeichnet. Als Folge eines chro-
nischen Traumas können auch subkutane Rupturen des Extensor
pollicis longus auftreten. Auch ist eine postoperative Sehnenruptur
durch Osteosynthese bekannt (Schrauben, Platte).
Betroffen sind vor allem Berufe mit einer besonderen Bean-
spruchung der Extensor-pollicis-longus-Sehne. Aus diesem Grunde
ist die Verletzung auch als sog. »Trommlerlähmung« bekannt.
Die geschlossenen Rupturen der Fingerstrecker kommen über-
wiegend als pathologische Sehnenrupturen bei rheumatischer und
bei Tumordestruktion vor.
Die Versorgung der Extensor pollicis longus in Zone 7 wird
durch die exakte Adaptation der Sehnenstümpfe mit 4/0 atraumati- ⊡ Abb. 5.17 Nahtmethode zur Vereinigung des Transplantates mit dem
schem monofilen Faden vorgenommen. Für die Fingerstrecker wird distalen Sehnenstumpf bei unterschiedlichen Sehnenquerschnitten (»Sand-
ebenso mit 4/0 atraumatischem monofilen Faden adaptiert genäht. wich-Methode«). (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Bei längeren Defektverletzungen sind mehrere Brückentrans-
plantate anzuwenden; dabei muss die Nahtstelle der Sehnen jeweils
ausreichend proximal und distal des Retinaculums zu liegen kom-
men. Bei vereinzelter Durchtrennung der Fingerstrecker können zugehörigen Strecksehnenscheidenfach durchgeführt werden, um
die Stümpfe auch an den benachbarten Fingersehnen angeschlos- Blockierungen zu vermeiden. Für den distalen Einschluss des
sen werden. Der Anschluss muss möglichst außerhalb des Streck- Transplantates eignet sich vor allem wegen des Ausgleiches der
sehnenscheidenfaches zu liegen kommen. Querschnitte die Sandwich-Methode (⊡ Abb. 5.17); dabei reichen
Die Ruhigstellung erfolgt nach chirurgischer Versorgung in ei- 2–3 U-Nähte aus, um das Transplantat mit dem aufgespaltenen
ner beugeseitig angelegten Unterarmgipsschiene für die Dauer von distalen Sehnenstumpf belastungsstabil zu verbinden.
3 Wochen, wobei das Handgelenk in Nullstellung und die Grund- Falls der Motor der Sehne nicht mehr ausreicht, wird ein Seh-
gelenke der Finger in Beugestellung gehalten werden müssen. Eine nentransfer zur Wiederherstellung der Strecksehne vorgenommen.
dynamische Nachbehandlung, ähnlich wie bei Beugesehnen, wird Hierfür eignet sich die Sehne des M. extensor carpi radialis longius
empfohlen (außer für Daumen). mit 33 mm Gleitamplitude als relativ guter Muskel-Sehnen-Transfer.
Die chirurgische Versorgung der geschlossenen Rupturen der In dieser Zone finden sich auch durch die Verletzung oder Zer-
Strecksehnen Zone 7 entspricht denen der offenen Verletzungen. störung der Muskulatur häufig Verwachsungen.
Geschlossene Verletzungen in Zone 8 werden überwiegend
Verletzungen über dem distalen Unterarm – Zone 8 durch schwere Quetschverletzungen verursacht. Daher sind, neben
In diesem Bereich werden die Strecksehnenverletzungen vor allem der Wiederherstellung der Strecksehne, auch Rekonstruktionen der
durch Schnitt-, Quetsch-, Weichteil- und Traktionsverletzungen Weichteile notwendig.
und schwere ausgedehnte Sägeverletzungen verursacht. Aufgrund Einen Sonderfall stellt auch hier eine Ausrissverletzung von
der bestehenden Junctura tendineum in Höhe des Handrückens Strecksehnen im muskulären Anteil am Unterarm bei starken
kommt es nach Durchtrennung der Strecksehne am distalen Un- Rotationstraumen dar, die sich klinisch durch ausgeprägte Häma-
terarm nicht zu einem völligen Ausfall der Streckfunktion. Der tombildungen am Unterarm und entlang der rupturierten Muskel-
isolierte Ausfall der Strecksehnen kann bisweilen durch eine Wi- sehne bemerkbar macht. Hier kommt bei langstreckigem Verlust
derstandsprüfung an der verminderten Kraft der Hand festgestellt als Therapiemöglichkeit der Transfer der Indicis-Sehne in Frage,
werden. Bei Durchtrennung des Extensor pollicis longus hängt vor allem, da häufig die Strecksehne des Daumens betroffen ist.
der Daumenstrahl unter die Ebene der Mittelhand herab, wobei Die postoperative Ruhigstellung bei allen Strecksehnenverlet-
gleichzeitig eine leichte Beugung im Grund- und Endgelenk fest- zungen in der Zone 8 erfolgt in einer gut gepolsterten, beugesei-
zustellen ist. tigen Unterarmgipsschiene für insgesamt 4 Wochen. Das Handge-
Liegt ein wesentlicher Defekt bei einer Fingerstrecksehne vor, lenk wird in leichter Dorsalflexion und die Grundgelenke werden
so heftet man den distalen Sehnenstumpf an der benachbarten in- in 40°-Beugestellung gehalten. Anschließend kann mit aktiven
takten Sehne des M. extensor digitorum an. Dabei wird auf die von krankengymnastischen Übungen begonnen werden. Ein dynami-
radial nach ulnar leicht abnehmende Streckstellung in den Grund- scher Schienenverband (⊡ Abb. 5.23) kann anstelle von Ruhigstel-
gelenken der Finger geachtet. Der proximale Sehnenstumpf kann lung in dieser Zone empfohlen werden.
ebenso als Kraftverstärker auf die Sehne transferiert werden.
Eine Transplantation bei Mehrfachverletzung der Sehne ist nur Zeitpunkt der Operation
dann indiziert, wenn der proximale Stumpf der verletzten Streck- Grundsätzlich gilt:
sehne noch genügend widerstands- und belastungsfähiges Sehnen- ▬ primäre Sehnennaht, wenn innerhalb von 24 h die Sehnenver-
gewebe enthält. Andernfalls ist ein Sehnentransfer vorzuziehen. sorgung erfolgt,
Für die proximale Sehnennaht eignet sich je nach Beschaffenheit ▬ spätprimäre Sehnennaht, wenn innerhalb von 2–14 Tagen die
der Sehne für die Daumen die Einflechtnaht nach Pulvertaft oder Sehnenversorgung erfolgt,
für die Finger die Zechner-Naht, da die Sehnen einen größeren ▬ sekundäre Sehnennaht, wenn die Sehnenversorgung nach dem
Umfang zeigen. Die distale Verbindung sollte nicht zu nahe dem 14. Tag erfolgt.
80 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
Tenolyse der Strecksehnen Hier ist der therapeutische Ansatz eine Fesselung der Sehne,
Bei der Tenolyse der Strecksehne, die vor allem nach schweren wobei eine gestielte Lappenplastik aus dem Retinaculum extenso-
Quetschungen, Infektionen und Verbrennungen durchgeführt wird, rum so umgeklappt wird, dass die Sehne des Extensor carpi ulnaris
können die abgetrennten und blockierenden Sehnenabschnitte wieder geführt wird.
übersichtlich freigelegt und durch Beseitigung aller Verwachsun- Stärkere Handgelenktraumen, vor allem Drehbewegungen,
gen kann die Sehnengleitfähigkeit wiederhergestellt werden. können zu Verletzungen und Rissbildungen am Discus articularis
führen und die federnde Subluxation der Elle erzeugen. Betroffen
> Nach erfolgten Strecksehnennähten sollte die Tenolyse nicht
sind hier aber auch Bänderschwächen bei Jugendlichen, vorwie-
vor Ablauf von 4–6 Monaten erfolgen.
gend bei Mädchen. Differenzialdiagnostisch muss bei den Seh-
Falls nach isolierten Frakturen oder Quetschungen eine Tenolyse nenluxationen vor allem an schmerzhafte Reizerscheinungen im
erforderlich ist, wird man sich dann eher zu dieser Maßnahme ent- Gebiet der Sehne des Extensor oder Flexor carpi ulnaris gedacht
5 schließen müssen, wenn im Laufe der Nachbehandlung keine Fort- werden.
schritte im Sinne einer Funktionsbesserung zu verzeichnen sind.
Die Voraussetzung für das Gelingen einer Tenolyse der Streck- Sehnenscheidenveränderungen
sehne ist ähnlich wie bei der Beugesehne; die Tenolyse bietet dann In der Sehnenscheide kann es posttraumatisch, aber vor allem
gute Erfolgschancen, wenn eine ausreichende Gefäßversorgung durch Reizung und Degeneration oder auch nach chronischer
und Trophik der Hand und Finger vorhanden ist. Die gute Beweg- Belastung, zu einer Hypertrophie und vermehrter Flüssigkeitsan-
lichkeit der Gelenke, narbenfreie Gewebe, freie Beweglichkeit der sammlung im Kanal kommen. Der Sehnenscheidenkanal, der die
Antagonisten, gleichmäßige Kontinuität der Strecksehne und gute Sehnen allgemein umhüllt, hat die Aufgabe der Sehnenführung
Hautdeckung sind einige Voraussetzungen und Grundbedingun- und Ernährung, wobei die Sehnenscheiden zum Teil in einem Os-
gen für Tenolysemaßnahmen. teofibrosekanal die Sehnen um die Knochen und Gelenke herum
Die Schnittführung bei der Tenolyse soll so gewählt werden, führen. Oft durch chronischen Druck oder Überlastung, aber auch
dass Wundheilungsstörungen durch Frühmobilisation in jedem gelegentlich durch ein Trauma, kann es zu einer Sehnenscheiden-
Fall vermieden werden. Die hierfür geeigneten Inzisionen im Be- reizung und Hypertrophie kommen, wobei sich vermehrt Sekreti-
reich des Unterarmes und Handrückens werden in Form von leicht onen in diesem Bereich ansammeln. Die Bewegung der Sehne in
bogenförmig längsverlaufenden Schnittführungen vorgenommen. diesem Kanal ist dann schmerzhaft und die Funktion zuweilen ge-
Im Bereich der Finger wird möglichst eine dorsolaterale Inzision stört. Die Behandlung besteht in einer Spaltung der Sehnenscheide,
angelegt. Bei Verwachsungen im Bereich des Unterarmes ist eine dort wo eine Funktionsstörung verursacht wird.
ausgiebige Fensterung der oberflächlichen Faszie und eine daran
angeschlossene Tenolyse der genähten Strecksehnen erforderlich Tendovaginitis stenosans de Quervain
( Kap. 14). Als Tendovaginitis stenosans de Quervain wird die Sehnenschei-
denfacheinengung des 1. Strecksehnenfaches bezeichnet, wobei in
Spontanrupturen der Strecksehnen diesem Strecksehnenfach normalerweise die Sehnen der Extensor
Die traumatischen spontanen Strecksehnenrupturen werden vor pollicis brevis und der Abduktor pollicis longus verlaufen. Da diese
allem im Zusammenhang mit Frakturen beobachtet. Die trauma- Sehnen auch zum Teil gegenläufige Bewegungen ausüben, kommt
tischen Spontanrupturen der Strecksehnen, die auf einer nicht- es hier zu einer vermehrten Reizung. Klinisch werden hier deutli-
traumatischen Grundlage erfolgen, dürften jedoch häufiger vor- che Schmerzen bei der Hyperflexion (Finkelstein-Test) festgestellt
kommen, als die vorhandenen Publikationen vermuten lassen. (⊡ Abb. 5.18). Außerdem wird eine deutliche Druckschmerzhaftig-
Nigst (1967) berichtet über Rupturen der Strecksehnen des 3. und keit über dem 1. Strecksehnenfach bei der Beugung und Streckung
4. Fingers 4 Wochen nach einem Sturz auf die Hand bei Arthrose am Daumen von dem Patienten angegeben. Gelegentlich wirkt
des Handgelenks mit Kahnbeinpseudarthrose.
Habituelle Sehnenluxationen
Der habituellen Luxation der Extensor-carpi-ulnaris-Sehne können
Luxationen des distalen Radioulnargelenks oder Radiusfrakturen mit
Sprengung des Radioulnargelenks vorausgehen bzw. diese begleiten.
Dabei ist der Discus articularis beschädigt bzw. gerissen und/oder
am Processus styloideus ulnae abgebrochen. Dieses ist eine typische
Sportverletzung bei extremer Dorsalextension und gleichzeitiger
Pronation im Handgelenk, wobei die anlagebedingte Minusvariante
der Ulna bei eingeschränkter Dorsalbeweglichkeit des Handgelenks
bei der Entstehung dieser Verletzung eine Rolle spielt.
Bei der klinischen Untersuchung wird ein Schnappphänomen
an der Ulnaseite des Handgelenks festgestellt. Dies lässt sich dann
beliebig oft provozieren, wenn der Patient das Handgelenk in Ex-
tension und Supination bewegt. Die Ursache ist die Luxation der
Sehne des Extensor carpi ulnaris aus dem Sulkus zwischen Capitu-
lum ulnae und dem Processus styloideus auf das Capitulum ulnae,
wobei hier die Patienten oft stechende Schmerzen angeben. Bei der
Operation wird ein offenes Sehnenfach des Extensor carpi ulnaris
(6. Sehnenfach) festgestellt. Die Sehne gleitet durch Extension und
Supination vom Sulkus auf das Capitulum ulnae über. ⊡ Abb. 5.18 Finkelstein-Test
5.1 · Allgemeines
81 5
auch das 2. Strecksehnenfach, in welchem der Extensor carpi ra- Verhärtung breitet sich zum Teil auf das Trapezoideum und das
diales longus und Extensor carpi radiales brevis verlaufen, ebenso Capitatum aus. In leichter Beugestellung kann die Veränderung
verdickt. Hin und wieder können mehrere Abduktorsehnen des auch deutlich sichtbar gemacht werden.
Daumens oder auch mehrere Sehnenscheidenfächer in diesem Röntgenologisch wird die Veränderung in etwa 30–40° Supi-
Bereich festgestellt werden. nation und 30° ulnarer Deviation in einem seitlichen Strahlengang
dargestellt. Diese osteokartilaginäre Veränderung kommt gehäuft
Gelenksteifen bei Frauen im Bereich der rechten Hand (2:1) zwischen dem 30.
Vor allem im Rahmen komplexer Verletzungen und bei inadäqua- und 50. Lebensjahr vor.
ter Nachbehandlung kann es zu Gelenkeinsteifungen im Handge- Sie verursacht ziehende Schmerzen im Bereich des Handrü-
lenk- und Fingerbereich kommen. Eine grundlegende Vorausset- ckens entlang der Extensor carpi radialis longus oder brevis sowie
zung für eine funktionelle Bewegung ist die freie passive Gelenkbe- bei Beugung des Handgelenks. Gelegentlich wird ein dorsales Gan-
weglichkeit ( Kap. 14). glion in diesem Bereich tastbar.
Als Therapie wird die totale Entfernung des Ganglions und die
Carpe bossu Entfernung der osteokartilaginären Exostose vorgenommen, wobei
Als Carpe bossu werden Veränderungen im Bereich der Basis des durch einen direkten Längsschnitt über dem Handrücken zwischen
2. oder 3. Mittelhandknochens bezeichnet, die am ehesten eine der Basis des 2. und 3. Mittelhandknochens die Sehne dargestellt
osteokartilaginäre Veränderung im Bereich der karpometarkar- und bis zur Ansatzstelle verfolgt wird. Durch eine subperiostale
palen Knochen darstellen. Nicht selten ist diese Veränderung mit Darstellung, ohne den Sehnenansatz zu tangieren, wird die Exos-
einem Ganglion im Bereich des Handgelenkrückens zu finden. Die tose dargestellt und mit dem Meißel am Karpus und am metakar-
Veränderungen sind sowohl sichtbar als auch palpabel und bilden palen Knochen abgetragen. Das eventuell vorhandene Ganglion
ein hartes Gebilde in diesem Bereich. Es ist gleichzeitig auch die wird ebenso vollständig exzidiert. Wir empfehlen im Bereich der
Ansatzstelle des Extensor carpi radialis longus oder Extensor carpi Exostose eine leichte Muldung der Knochen durch Herausnahme
radialis brevis an der Basis des 2. oder 3. Mittelhandknochens. Die der Exostose zu schaffen, um eine Reaktion der Knochen auf die
Sehne zu vermeiden. Schließlich wird eine Kapselnaht über der
entfernten Exostose mit einem 4/0 monofilen Faden angelegt. Eine
Ganglion Ruhigstellung ist für die Zeit der Wundheilung zu empfehlen, ein
Resektionsebene Rezidiv ist möglich und muss entsprechend mit dem Patienten
zuvor besprochen werden (⊡ Abb. 5.19).
5.1.6 Therapie
Für eine exakte Behandlung der Strecksehnen ist die Kenntnis der
funktionellen Anatomie der Strecksehnen von entscheidender Be-
deutung. Während dorsale Beweglichkeit bzw. Extension der Hand
im Handgelenk durch die Streckbewegungen ausschließlich der Ex-
tensoren der Unterarmregion erfolgt, wird die Streckung der Finger
ECRB
Os capitatum durch eine zusammenspielende Aktion der langen Strecksehnen der
Finger (extrinsisches System) und der kurzen Handbinnenmuskula-
tur (intrinsisches System) durchgeführt. Dabei wird das Extrinsic-
System der langen Fingerstrecker und das Intrinsic-Systems der
Handbinnenmuskulatur bei Streckung der Finger angesprochen.
Auf besondere Variationen der Strecksehnen und deren Verlauf
in gemeinsamen oder getrennten osteofibrösen Kanälen muss an
dieser Stelle hingewiesen werden.
Die Gleitfähigkeit der Strecksehnen wird durch lockeres, mehr-
gesunde Knorpelanteile
schichtig angeordnetes Verschiebegewebe, das Paratenon, gewähr-
leistet, durch das auch die Beziehung zwischen den benachbarten
Sehnen hergestellt wird. Darüber hinaus gibt es über der Handwur-
zel osteofibröse Kanäle, die an der Unterseite des Retinaculum ex-
tensorum verlaufen. Die Sehnen, die das Handgelenk in Richtung
Finger passieren, verlaufen in solchen osteofibrösen Kanälen bzw.
die Strecksehnen besitzen allein oder gruppenweise einen eigenen
Sehnenscheidenkanal. Es muss beachtet werden, dass die Streckung
und Beugung im Bereich der Grund-, Mittel- und Endgelenke der
Finger aus dem Zusammenspiel zweier Komponenten, nämlich
der Extrensic- und Intrensic-Systeme, zustande kommen, sodass
die Störung eines der beiden Systeme eine Funktionsstörung der
Exophytenabtragung Extensoren verursacht.
Die beiden Systeme wirken abhängig voneinander und syner-
⊡ Abb. 5.19 Carpe bossu an der Basis des 2./3. Mittelhandknochens, Capita- gistisch streckend auf das Grund- und Mittel- sowie Endgelenk ein.
tum und Trapezoideum Der Ausfall der EDC bewirkt die Beugung im Grundgelenk.
82 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
Es ist nicht die Aufgabe dieses Kapitels auf die genaue Anato- Nach 8-wöchiger Behandlung bleibt nicht selten nach Entfer-
mie und funktionelle Bedeutung der einzelnen Strukturen einzuge- nung der Schiene ein Streckdefizit von 5–10° zurück. In diesem
hen, sondern vielmehr die Reparationsmöglichkeiten der Streckap- Fall muss die Schiene für weitere 4 Wochen in der Nacht getragen
parate unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion aufzuzeigen. werden.
Für das Verständnis der Therapie ist jedoch eine genaue Kennt- Falls notwendig, kann eine aktive Krankengymnastik ange-
nis der Anatomie, der funktionellen Anatomie und der Topografie schlossen werden.
notwendig. Die Gleitamplitude am Unterarm beträgt 40 mm, im Der Nachteil der Methode besteht in einer inkompletten
Bereich der Fingerglieder nur noch 1 mm. Strecksehnenadaptation bei vollständiger Strecksehnenruptur und
Aufgrund der verschiedenen Lokalisationen, Sehnendicke und Hautmazerationen unter der Plastikschiene bei unzureichender
unterschiedlicher Spannung ist die Dauer der Ruhigstellung nach Hautpflege.
operativer Versorgung der Strecksehnen in verschiedenen Zonen Weitere konservative Maßnahmen zur Behandlung der gedeck-
5 unterschiedlich. Da für die Sehnenheilung unter Umständen eine
lange Ruhigstellung nach Sehnennaht notwendig ist, müssen die
ten Strecksehnenrupturen am Endgelenk, die vielleicht eine bessere
Annäherung der beiden Sehnenenden ermöglichen, werden in
Fingergelenke in einer Stellung ruhiggestellt werden, die einer der Literatur beschrieben. So wird eine Fixierung des Fingers mit
Spannung der Kollateralbänder entspricht. Andernfalls kann es Überstreckung im DIP und Beugung im PIP und MP für 5 Wo-
durch zu lange Ruhigstellung zu einer Schrumpfung der Kapsel chen empfohlen.
und der Kollateralbänder kommen, wodurch die Funktion der Aufgrund der unphysiologischen Stellung der Finger und da-
Finger stark beeinträchtigt wird. Deshalb ist jede unphysiologische durch bedingter Schrumpfung der Kapsel und Kollateralbänder
Stellung der Finger, die zur Schrumpfung der Kollateralbänder und und Beeinträchtigung der Beweglichkeit der Nachbarfinger, vor
der Kapsel führen kann, abzulehnen und vor allem nach einer ope- allem bei älteren Patienten, ist diese Methode nicht geeignet. Eine
rativen Versorgung der Strecksehne unbedingt zu vermeiden. Dermatodese bringt häufig kein gutes Ergebnis.
> Die Dauer der erforderlichen Ruhigstellung in den Zonen 8,
Knöcherner Strecksehnenausriss. Auch bei einem knöchernen
7 und 6 beträgt 3 Wochen. Die Dauer der Immobilisation
Strecksehnenausriss am Endglied kann eine konservative Behand-
nimmt nach distal zu:
lung mit Ruhigstellung auf einer Stack-Schiene eingeleitet werden.
▬ über dem Grundgelenk 4 Wochen,
Dabei muss das knöcherne Fragment so gut reponiert sein, dass
▬ über dem Mittelgelenk 5 Wochen,
es für 8 Wochen in einer Stack-Schiene ohne erneute Reposition
▬ über dem Endgelenk 8 Wochen.
ruhiggestellt werden kann. Eine Röntgenkontrolle bei liegender
Eine Mobilisierung der Sehne durch Antagonisten, hier
Stack-Schiene kann die gute Stellung des knöchernen Fragmentes
die »Beuger«, ist vor allem in den Zonen 5–8 im Sinne der
dokumentieren.
passiven Streckung (= umgekehrte Kleinert-Technik) vor-
teilhaft. Zone 2
Die konservative Behandlung der Strecksehnenverletzung in
Konservative Therapie Zone 2 erfolgt analog zur Versorgung in Zone 1, wobei die Ruhig-
Zone 1 stellung auf einer Stack-Schiene für 8 Wochen erfolgen muss.
Die Behandlung einer gedeckt rupturierten Strecksehnenverlet-
zung am Endgelenk ist primär immer eine konservative, zumal Zone 3
insgesamt nur 2–3% unbefriedigende Ergebnisse am Schluss der Die Behandlung der geschlossenen Strecksehnenverletzung über
konservativen Behandlung zu erwarten sind. Bei der konservati- dem Mittelgelenk kann sowohl konservativ als auch operativ erfol-
ven Behandlung wird lediglich das Endglied in Nullstellung oder gen, wobei der Erfolg der konservativen Behandlung aufgrund des
auch leichter Überstreckung für längere Zeit ruhiggestellt. Als komplizierten Aufbaues der Streckaponeurose fraglich ist.
ruhigstellende Verbände kommen Gips und Metallschienen sowie
Kunststoffschienen in Frage. Die einfache Methode besteht in der
Behandlung mit einer Kunststoffschiene nach Stack (1969), die das
Endglied in einer leichten Überstreckstellung hält. Dabei kann die
Schiene in Höhe des Mittelgliedes durch einen Klettverschluss am
Finger festgehalten werden (⊡ Abb. 5.20). Die Ruhigstellung erfolgt
uneingeschränkt für 8 Wochen. Eine unkontrollierte Entfernung
der Schiene ist strikt verboten. Danach wird die Schiene für weitere
4 Wochen nur nachts getragen.
Bei bestehender Perforation im Bereich der Kunststoffschiene
kann nach Waschungen die Feuchtigkeit im Bereich der Schienen
mit dem Fön vorsichtig beseitigt werden.
⊡ Abb. 5.20 Konservative Behandlung der gedeckten Strecksehnenruptur ⊡ Abb. 5.21 Mittelgelenkschiene für die konservative Behandlung der
Zone 1 und 2 (Stack-Schiene). (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Strecksehnenverletzung in Zone 3
5.1 · Allgemeines
83 5
Für die Ruhigstellung wird der verletzte Finger auf eine Un- ▬ schonender anatomischer Präparation der Sehnenstümpfe und
terarmgipsschiene mit einer eingesetzten palmaren Fingerschiene Sehnenscheiden unter Erhaltung der Blutversorgung,
ruhiggestellt, wobei das Grundgelenk in etwa 40°-Beugestellung ▬ Vermeidung von scharfem Anfassen der Sehnenoberfläche mit
gehalten wird. Mittel- und Endgelenk werden in voller Streckstel- Instrumenten (»No-Touch-Prinzip«),
lung ruhiggestellt. Die Zeit der Immobilisation bleibt unverändert ▬ Sehnennaht ohne Spannung und Überwerfung,
5 Wochen. Nach 3 Wochen können spezielle Schienenanordnun- ▬ Verschluss der Sehnenscheide und des Retinaculum extensorum,
gen im Sinne einer Streckquengelung, die lediglich das Mittelge- ▬ Anlegen eines dynamischen Schienenverbandes, je nach Mög-
lenk in Überstreckstellung halten, notwendig sein. Der Nachteil lichkeit,
der Methode besteht in einer Immobilisierung auch benachbarter ▬ Sicherstellung der Nachsorge.
Gelenke.
Die Ruhigstellung in dieser Zone kann auch in einer Mittel- Anforderungen an die operative Versorgung
gelenkschiene erfolgen, wobei Grund- und Endgelenk für die Be- Operationen an Strecksehnen müssen auch nach strengen hand-
weglichkeit frei bleiben (⊡ Abb. 5.21) Die Schiene muss mindestens chirurgischen Grundsätzen erfolgen. Wie bei den Beugesehnen hat
6 Wochen getragen werden. Je nach Verletzungsgrad ist der Er- auch bei den Strecksehnen die Durchführung des Eingriffs unter
folg dieser konservativen Behandlung nicht sicher. Eine eventuelle optimalen räumlichen, personellen und instrumentellen Voraus-
Operation muss bei der Aufklärung mit dem Patienten vor Beginn setzungen, unter Verwendung von Lupenbrille in Blutleere oder
der konservativen Behandlung besprochen werden. Blutsperre und bipolaren Koagulationen zu erfolgen. Auch hier
muss eine präoperative Vorbereitung und Planung erfolgen.
Operative Therapie Die Versorgung einer offensichtlichen Strecksehnenverletzung
Grundlegende Prinzipien der operativen Versorgung in halbaseptischen Ambulanzräumen ist keinesfalls gerechtfertigt.
Bei der Wiederherstellung aller Sehnenverletzungen, aber auch bei Die Gefahr der Retraktion und des Zurückschlüpfens des pro-
offenen Wunden mit Verdacht auf eine Sehnenverletzung, muss ximalen Sehnenstumpfes ist bei der Strecksehne vor allem im Be-
die Versorgung im aseptischen Operationssaal auf einem Armtisch reich der Finger und des Handrückens weniger gegeben, da diese
erfolgen. sich durch den Connexus intertendineus oder den jeweiligen Sei-
Eine zuverlässige und ruhige Assistenz, gute Lichtverhältnisse, tenzügel nur wenige Millimeter nach proximal verschieben. Eine
adäquates Instrumentarium, eine Vergrößerungsmöglichkeit durch Ausnahme hiervon bildet die lange Strecksehne des Daumens, die
Lupe oder Mikroskop und je nach Erfordernis eine Blutleere oder sich mehrere Zentimeter zurückziehen kann.
Blutsperre sind für die Versorgung der Sehne unerlässlich. Hand-
chirurgische Standards müssen eingehalten werden. Nahtmaterial
Steht einmal die Diagnose einer Sehnenverletzung fest, so muss Das gewählte Nahtmaterial sollte eine entsprechende Reißfestigkeit
die Versorgung in einer entsprechenden Leitungsblockade, in Ple- besitzen, damit weder das Nahtmaterial aus der Sehne herausreißt,
xusanästhesie oder in Vollnarkose erfolgen. noch sich die Reißfestigkeit des Fadens in kurzer Zeit verändert
und es zu einem Riss des Nahtmateriales kommt.
> Von einer Oberst-Leitungsanästhesie oder gar Lokalanästhe-
Im Allgemeinen werden reißfeste resorbierbare monofile Fä-
sie muss dringend abgeraten werden.
den Stärke 4/0 für die Strecksehnennaht angewandt. Es können in
Bei der Operation sollte die Wunde sorgfältig gereinigt und gesäu- bestimmten Zonen auch reißfeste nichtresorbierbare polyfile Fäden
bert und je nach Verletzung ein Wundabstrich zur Feststellung der mit glatter Oberfläche als Kernnaht angewandt werden, wobei zur
Keimart und -anzahl entnommen werden. Falls die ursprüngliche Adaptation 5/0 monofile resorbierbare Fäden eingesetzt werden.
Riss- oder Schnittverletzung zur besseren Darstellung und Wieder-
herstellung erweitert werden muss, sollten nur geeignete Schnitte Nahttechniken
ausgewählt werden, die keine Durchblutungsstörungen der Haut- Anforderungen an Nahttechniken
lappen oder eine Kontrakturbildung verursachen. Bei der saube- Der Nachteil der bisherigen Nahttechniken besteht in einem avas-
ren, scharf durchtrennten, frischen Wunde mit Stecksehnenverlet- kulären Nekroseanteil und einer entzündlichen Reizerscheinung
zung ist es normalerweise nicht nötig, die Sehnenenden zu kürzen. des Sehnengewebes durch das Nahtmaterial und Verklebung bei
Ein Anfassen der Sehnen mit der chirurgischen Pinzette führt zu Ruhigstellung trotz temporärer Bewegungsübungen sowie in einer
starker Traumatisierung und Veränderung der Sehnenoberfläche Störung des Heilungsverlaufes infolge unphysiologischer Vereini-
und zu sekundären Verklebungen. gung des Sehnengewebes. Die experimentellen Untersuchungen
Nach Sehnenversorgung und Entfernung der Blutleere wird die von Furlow (1976), Greulich et al. (1977) und Towfigh (1989)
durch die Hyperämisierung hervorgerufene Blutung zunächst durch zeigen, dass das Regenerationsvermögen von Endotenon und Epi-
Kompression gestillt. Nach ca. 5 min kann mit dem bipolaren Mik- tenon nur bei intakter Gefäßversorgung der Sehnenstümpfe unter
rokoagulator die Blutstillung durch feine Koagulation erfolgen. biologisch und mechanisch günstigen Voraussetzungen erfolgen
Da bei jeder Operation eine ausreichende Säuberung und kann. Aufgrund der experimentellen Untersuchungen sind an die
Reinigung vorgenommen wird, ist nur bei starker Verschmutzung chirurgische Sehnennaht folgende Anforderungen zu stellen:
und Fremdkörpereinsprengungen eine kurzfristige perioperative 1. sorgfältige Schonung der anatomischen Blutversorgung, vor
Antibiotikagabe angezeigt. allem durch Schonung der Vincula tendineum im Sehnen-
Falls eine Schnitterweiterung zur besseren Darstellung der Seh- scheidentunnel und durch atraumatische, gewebsschonende
nen notwendig wird, sollten zuvor die Durchblutungsverhältnisse Operationstechnik;
der entstandenen Hautlappen überprüft werden. Es muss auch 2. Vermeidung der avaskulären Sehnennekrosen, die infolge von
darauf geachtet werden, die verletzten Connexus intertendinei Sehnenquetschungen und Strangulation durch Nahtmaterial
wiederherzustellen. und Nahttechniken entstehen und auch bei erhaltener Blut-
Die wesentlichen Prinzipien zur Versorgung der Sehnen be- versorgung eine sekundäre Sehnenheilung mit proliferativen
stehen in: Verklebungen am Gleitlager zur Folge haben;
84 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
3. frühfunktionelle Zugbeanspruchung der Sehnennaht, die in gewissem Sinne obligater Bestandteil der Sehnennaht und daher
keine Dehiszenz verursacht, aber eine Wiederherstellung der praktisch nicht immer vermeidbar ( Kap. 6).
Sehnenstruktur begünstigt.
Operative Zugangswege
Nahtmethoden Vor jeder Operation muss die Schnittführung überlegt und der je-
Verschiedene Nahtmethoden sind entwickelt und verfeinert wor- weiligen Situation entsprechend angepasst werden. Auf der Dorsal-
den, um den hohen Anforderungen einer gewebeschonenden seite der Hand und des Handgelenks besitzt die Haut transversale
atraumatischen Operationstechnik gerecht zu werden. Grundsätz- Faltenbildungen. Daher müssen die Schnittführungen in den Falten
lich werden drei Nahttechniken angewandt. Andere Nahttech- oder parallel dazu angelegt werden, um die störende Narbenbil-
niken, die als Hilfsmittel benützt werden, können zusätzlich zu dung zu vermeiden. Die Schnittführung und somit die Hautnarbe
diesen generellen Nahttechniken eingesetzt werden. Als generelle darf später nicht die Gleitfähigkeit der Sehne beeinträchtigen.
5 Strecksehnennahttechniken werden angewandt (⊡ Abb. 5.22): Um glatte und bessere Narbenverhältnisse vor allem beim Faust-
1. U-Nähte, schluss zu erreichen, werden im Bereich des Handrückens und auf
2. Kernnaht nach Zechner und der Streckseite der Finger S-, Z- und stufen- oder wellenförmige
3. Durchflechtungsnaht nach Pulvertaft. Schnittführungen angelegt. Sowohl die Schnittführung als auch
die Erweiterungsschnitte sollen so angelegt werden, dass in der
Die Hilfsnähte, die zur Unterstützung vor allem der U-Nähte ein- gleichen Sitzung auch die Begleitverletzungen mitversorgt werden
gesetzt werden können, sind: können ( Kap. 4). Quer angelegte Inzisionen, vor allem im Bereich
1. Lengemann-Draht-Naht (selten), des Handrückens, führen infolge der Anspannung der Hautdecke
2. Ausziehdrahtnaht und beim Faustschluss zu einer Zugbeanspruchung, durch die es zur
3. Mitek-Anker. Narbenkontraktur und Keloidbildung kommen kann.
Bei einer Inzision am Hand- und Fingerrücken müssen die
Die primäre Sehnennaht ist heute Methode der Wahl bei der sensiblen Äste der Nn. radialis und ulnaris auch im Fingerbereich
Versorgung der Sehnen. Bei bestehender Kontraindikation ist der mitberücksichtigt und geschont werden.
primäre Wundverschluss, die spätprimäre Sehnennaht oder die Für den Sehnentransfer vom Handrücken haben sich vor al-
verspätete Sehnentransplantation die Behandlung der Wahl. Eine lem kurze Längsschnitte proximal der Grundgelenke durchgesetzt.
kontrollierte Bewegung in einer dynamischen Schiene unterstützt Bogenförmige Schnitte dorsoradial oder dorsoulnar haben sich für
wesentlich den Heilungsprozess der Sehne. Die elektromyografi- einen begrenzten Eingriff im Bereich der Sehnenhaube am Grund-
schen Untersuchungen haben gezeigt, dass die genähte Strecksehne und Mittelgelenk gut bewährt. Im Bereich der Zone 1 können
im dynamischen Zugverband nicht unter Spannung steht bzw. winkel- oder bayonettförmige Inzisionen eine gute Übersicht der
während der aktiven Beugung eine Entspannung erfährt. Während Sehnen ermöglichen.
der Streckung bringt das Gummiband den Finger in Streckung,
sobald die Beuger erschlaffen. Eine frühe Bewegung zusammen Operative Techniken
mit einer genauen atraumatischen Technik soll die Bildung fester Aufgrund der Vielfalt der Techniken in den einzelnen Zonen wird
Adhäsionen zwischen der Sehne und dem umgebenden Gewebe die operative Versorgung der Strecksehne in den einzelnen Zonen
begrenzen. Diese Methode wird für die primäre Sehnenwiederher- im speziellen Teil ausführlich behandelt.
stellung an der Hand, aber auch bei verzögerter Primärversorgung
bis zum 14. Tag nach Durchtrennung der Sehnen, allgemein ange- Weiterbehandlung
wendet. Die Ruhigstellungszeit ist je nach Zone unterschiedlich und wird
Tierexperimentelle Arbeiten (Leistikow 1975) zeigen, dass bei der jeweiligen Versorgung der Zonen mit angegeben (siehe
auch bei intakter Blutversorgung eine mehr oder weniger ausge- unten). Für die konservative Behandlung der Zone 1–3 werden
prägte avaskuläre Nekrose der Sehnenstümpfe infolge von Stran- jeweils 6–8 Wochen Schienenruhigstellung und darüber hinaus
gulation durch das Nahtmaterial verursacht wird. Dadurch wird nächtliche Schienenruhigstellung eingesetzt (s. »Konservative Be-
die sekundäre Sehnenheilung mit Verwachsungen zum Gleitlager handlung«).
a b c
⊡ Abb. 5.22 Häufigste Nahttechniken für die Versorgung der Strecksehne. a U-Nähte, b Kernnaht modifiziert nach Zechner, c Durchflechtungsnaht nach Pul-
vertaft. (Aus Nerlich u. Berger 2003)
5.2 · Spezielle Techniken
85 5
Die Ruhigstellung nach Naht der Strecksehnen in Zone 4–8 5.1.7 Besonderheiten im Wachstumsalter
erfolgt auf einer Schiene in Intrinsic-plus-Stellung ( Kap. 14).
Für die dynamische Bewegungsübung der Strecksehne wird Im Allgemeinen wird auch im Wachstumsalter ähnlich wie bei
ähnlich wie bei der Beugesehne auch ein Gummizügel eingesetzt. den Erwachsenen vorgegangen, wobei auf die knöchernen Streck-
Der Gummizügel wird am Schienenverband des Unterarmes so sehnenverletzungen im Ansatz der Sehnen bei offener Epiphyse
fixiert, dass der verletzte Finger in Streckstellung gehalten wird geachtet werden muss. Hier ist bei Frakturen der Epiphyse oder
(⊡ Abb. 5.23). Durch Innervation der Antagonisten, nämlich der einer Epiphysiolyse eine operative Intervention und Fixation mit
Beugesehnen, und Beugung des verletzten Fingers wird die ge- Kirschner-Draht erforderlich, um eine Wachstumsstörung zu ver-
nähte Strecksehne bewegt. Durch Gleiten der Sehne wird die Naht meiden. Im Allgemeinen wird in solchen Fällen wie bei Frakturen
jedoch nicht unter Zug gebracht, da eine Kontraktion der Streck- im Kindesalter vorgegangen.
muskulatur vom Unterarm nicht erfolgt. Dadurch ist die Verwach- Bei isolierten Sehnennähten ohne knöcherne Verletzung wer-
sungstendenz stark herabgesetzt. Der Patient beginnt mit aktiven den die einzelnen Zonen wie bei Erwachsenen behandelt. Hierbei
Übungen durch Beugung des Fingers gegen den Widerstand des muss auf dünneres Nahtmaterial 5/0 oder 6/0 zurückgegriffen
Gummizügels bereits ab dem ersten postoperativen Tag. Diese werden. Die Zeit der Ruhigstellung wird in jeder Zone beibehalten.
Übungen können mehrmals am Tag unter Anleitung erfolgen. Auf einen dynamischen Verband wird verzichtet.
Der passive Teil des Übungsprogrammes wird vom Therapeuten
durchgeführt. Unter Entlastung aller anderen Gelenke werden die
einzelnen Fingergelenke passiv sowohl in volle Flexion als auch in 5.2 Spezielle Techniken
volle Extension gebracht. Dieselbe Technik und Vorgehensweise
kann auch bei Strecksehnen in bestimmten Zonen angewandt 5.2.1 Primäre Strecksehnennaht Zone 1
werden.
Bei offenen Verletzungen einer Strecksehne am Endglied erfolgt
die sofortige operative Versorgung entsprechend dem Vorgehen bei
einer offenen Gelenkverletzung.
⊡ Abb. 5.24 a–d Versorgung einer Strecksehnenverletzung Zone 1 Typ 2. Sehnenruptur proximal der Einstrahlung des Landsmeer-Bandes Streckdefizit >45°,
zunehmende Schwanenhalsdeformität. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
86 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
5.2.2 Reinsertion der Strecksehne Zone 1 Bei größeren knöchernen Strecksehnenausrissen kann das
Fragment durch einen Kirschner-Draht fixiert und gleichzeitig
Die Durchtrennung der Streckaponeurose kann auch unmittelbar die temporäre Arthrodese des Endgelenks durchgeführt werden.
am knöchernen Ansatz erfolgen, oder mit einem kleinen knöcher- Nach retrogradem Einführen des Drahtes wird das Fragment in
nen Fragment ausgerissen sein. Bei Abkippung oder bei einem reponierter Stellung gehalten und dann der Draht orthograd nach
größeren, nicht adaptierbaren knöchernen Fragment muss eine
operative Fixation des knöchernen Strecksehnenausrisses erfolgen,
wenn dies mehr als ein Drittel des Endgelenks bildet.
Hier kann gelegentlich auch die ausziehende Naht nach Bunnell
oder die Naht nach Lengemann angewandt werden. Die beiden zu-
vor genannten Nahttechniken können durch Mitek-Anker ersetzt
5 werden. Der Mitek-Anker wird an der Ansatzstelle der Sehne tief
im streckseitigen Endgliedknochen angebracht. Mit den armierten
Fäden wird die Sehne angenäht, wobei der kleine Knöchel adap-
tiert werden sollte. Dabei kann ebenso eine temporäre Arthrodese
des Endgelenks zur Entlastung der Naht angeschlossen werden. a
Ein Tangieren des Kirschner-Drahtes mit der Ausziehdrahtnaht
oder Lengemann-Naht muss vermieden werden. Die temporäre
Arthrodese und die Drahtnaht können nach 6 Wochen entfernt
werden. Der Mitek-Anker bleibt selbstverständlich im Knochen
verankert (⊡ Abb. 5.25).
a b
c
⊡ Abb. 5.26 Knöcherner Strecksehnenausriss Zone 1 mit mittelgroßem
Fragment. a Präoperativer Aspekt, b Einbringen eines an beiden Enden an-
⊡ Abb. 5.25 Refixation des knöchernen Strecksehnenausrisses Zone 1 mit- gespitzten Kirschner-Drahtes durch die Frakturfläche der Endphalanxbasis,
tels Lengemann-Ausziehnaht. a Ansicht von lateral, b Ansicht von lateral. c c nach Reposition des Fragments Zurückbohren des Kirschner-Drahtes, d
Zur Sicherung der Naht kann eine temporäre DIP-Arthrodese mittels axialem fixiertes knöchernes Fragment und temporärer Arthrodese mit gleichem
Kirschner-Draht erfolgen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Kirschner-Draht. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
5.2 · Spezielle Techniken
87 5
a b d e f
⊡ Abb. 5.27 Versorgung einer Strecksehnenverletzung Zone 1 Typ 4: großer knöcherner Abriss (mit Luxation des Endgelenks nach palmar) – mithilfe einer
Schraubenosteosynthese. a Röntgenbefund präoperativ (d. p. Strahlengang), b Röntgenbefund präoperativ (lateraler Strahlengang), c intraoperativer Aspekt
nach Darstellung der Gelenkfraktur, d intraoperativer Aspekt nach Fixierung des Knochenfragments mithilfe einer Minifragmentschraube und Vorbohren mit-
hilfe eines Kirschner-Drahtes (1,2 mm), e postoperative Röntgenkontrolle (d. p. Strahlengang), f postoperative Röntgenkontrolle (lateraler Strahlengang)
a
5 Bei totaler Ruptur oder Durchtrennung ist die U-Naht der Sehne
und temporäre Arthrodese des Endgelenks für 6 Wochen angezeigt
(wie am Endgelenk).
Bei fehlender Versorgung der Sehne auch in dieser Zone kann
es zu einer sekundären Schwanenhalsdeformität kommen.
Für die Versorgung der Strecksehne in diesem Bereich ist ein dor-
solateraler Längsschnitt ausreichend, da die Retraktion der Sehne
in diesem Bereich sehr gering ist ( Kap. 4).
Bei Eröffnung des Gelenks muss das Gelenk ausreichend mecha-
nisch durch Spülungen gereinigt werden. Durch Mobilisierung des
Tractus intermedius lassen sich die kleineren Defekte im Bereich der
Mittelgelenkhaube gut ausgleichen. Dabei wird der Tractus interme-
dius von den Seitenzügeln in einer Länge von etwa 15 mm abgelöst
und die Strecksehne nach distal verlagert. Nach erfolgter Reinsertion
kann dann der Tractus intermedius mit dem Seitenzügel wieder
vernäht werden. Die Naht erfolgt mit 4- bis 5/0 atraumatischem mo-
nofilem Faden mit glatter Oberfläche, wobei hier durch Einzelknopf-
U-Nähte eine gute Fixation erreicht wird (⊡ Abb. 5.30a–c).
Eine zusätzliche Kirschner-Draht-Osteosynthese, die schräg c
bei vollständig gestrecktem Mittelgelenk angebracht wird, sorgt für
eine temporäre Arthrodese des Gelenks, die insgesamt 5 Wochen
belassen werden soll. Der Kirschner-Draht wird schräg durch das
Gelenk angebracht und das Ende des Drahtes subkutan versenkt,
sodass die Gefahr einer Infektion so gering wie möglich gehalten
wird (⊡ Abb. 5.30d). Die Rekonstruktion kann zusätzlich bei knö- d
chernem Ausriss mit einer Ausziehnaht nach Lengemann verstärkt
werden (⊡ Abb. 5.30e)
Nach Wiederherstellung des Tractus intermedius kann auch
eine Ruhigstellung auf einem entsprechenden Fingerschienenver-
band (bei bestehender Compliance) anstatt eines transartikulären
Kirschner-Drahtes erfolgen. Hierbei wird das Grundgelenk leicht
gebeugt, das Mittel- und Endgelenk gestreckt gehalten. Der Schie-
e
nenverband muss ebenfalls für 5 Wochen eingehalten werden.
a b
c d
⊡ Abb. 5.31 Reinsertion des Tractus intermedius durch angebrachte transossäre Naht an der Basis des Mittelgliedes. a Intraoperativer Aspekt nach Darstel-
lung des Tractus intermedius, b Vorbohren des Knochenkanals im Bereich der Mittelgliedbasis, c Durchzug des Fadens mithilfe einer UCL-Nadel, d intraopera-
tiver Aspekt nach Rekonstruktion des Mittelzügels
ben sich die transossäre Naht (⊡ Abb. 5.31), die Ausziehnaht nach
Lengemann und die Implantation eines Knochenankers bewährt
(⊡ Abb. 5.32).
Größere knöcherne Ausrisse können mit Kleinfragmentmi-
nischrauben nach offener Reposition stabilisiert werden. Je nach
Stabilität der Osteosynthese muss dann über die Dauer der Ruhig-
stellung entschieden werden (⊡ Abb. 5.33).
Die Dauer der Ruhigstellung bzw. der temporären Arthrodese
beträgt 5 Wochen. Beim Fehlen des distalen Sehnenanteils bzw.
Narbensaumes wird, falls eine Reinsertion nicht möglich ist, die
Behandlung wie bei der Defektbildung vorgenommen.
Es werden mehrere Operationsverfahren für die Versorgung
der Knopflochdeformität bzw. veralteter Verletzungen des Tractus
intermedius angegeben.
Technik
▬ Leicht dorso-medialer oder dorso-ulnarer bogenförmiger
streckseitiger Zugang oder Schnitterweiterung nach distal und b
proximal.
▬ Präparieren des Mittelzügels und der beiden Seitenzügel. ⊡ Abb. 5.35 Technik der Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mittel-
▬ Längsspalten beider Seitenzügel. Die jeweils mittig gelegenen gelenk nach Hellmann. a Planung der Rekonstruktion, b Rekonstruktion am
Anteile der abgespaltenen Seitenzügel werden zur Rekonstruk- Ende der Operation. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
tion des Mittelzügels verwandt und mit 4/0 vernäht.
b
Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mittel-
gelenk nach Snow
Die Umkippplastiken, die von Snow (1973) und Wilhelm (1983)
angegeben wurden (⊡ Abb. 5.37), bestehen in einer Ablösung
des dorsomedialen Abschnittes der Streckaponeurose distal des
Grundgliedes gestielt in etwa 4 mm Breite. Nach Ablösung der
Streckaponeurose wird diese nach distal umgeschlagen und nach
c
vorsichtiger Präparation zwischen dem Tractus intermedius und
der der Mittelphalanx aufliegenden Verschiebeschicht nach distal
geführt und unmittelbar vor der Mittelphalanxbasis durch eine
⊡ Abb. 5.37 Technik der Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mit-
quere Inzision herausgeleitet und genäht.
telgelenk nach Snow. a Planung der Rekonstruktion, b und c Rekonstruktion
Zusätzliche Einzelknopfnähte mit 4/0 atraumatischem mo-
am Ende der Operation. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
nofilem Faden befestigen die Umkippplastik im Bereich der Seh-
nennarbe und der Mittelphalanxbasis. Hier wird eine zusätzli-
che temporäre Kirschner-Draht-Arthrodese des Mittelgelenks für
5 Wochen empfohlen.
Es werden weiterhin viele Variationen des Sehnentransfers zur
Wiederherstellung des Tractus intermedius angegeben, die jedoch
keine große Resonanz gefunden haben.
Technik
▬ Leicht bogenförmiges Umschneiden des Mittelgelenks streck-
seitig. ⊡ Abb. 5.38 Technik der Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mittel-
gelenk nach Fowler. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
▬ Präparation eines Sehnenstreifens aus dem Tractus interme-
dius in Höhe des Grundgelenks, distal gestielt.
▬ Umschlagen des gehobenen Sehnenstreifens um 180°. Kräftige
Nähte an der Umschlagfalte mit 4/0 PDS. 5.2.9 Primäre Strecksehnennaht Zone 4
▬ Nähte mit dem verbliebenen Sehnenstumpf des Mittelzügels
oder ggf. transossäre Refixation. Bei umschriebener Verletzung und Defektbildung im zentralen
▬ Der Hebedefekt wird mit 4/0 verschlossen. Anteil, bzw. im Bereich des Tractus intermedius, wird trotz erhalte-
ner Funktion eine Adaptation der Sehnenränder mit 4/0 atraumati-
Strecksehnenplastik nach Defektbildung am Mittel- schem monofilem Faden zur Optimierung des Ergebnisses durch-
gelenk nach Fowler geführt. Auch die isolierte Verletzung eines der beiden Seitenzügel
Zur Wiederherstellung größerer Defekte im Bereich des Tractus wird in gleicher Form durch 4/0 atraumatischen monofilen Faden
intermedius werden Sehnentransplantate eingesetzt. Die klassi- durchgeführt. Zur Verstärkung der Naht kann eine Lengemann-
sche Sehnenplastik wurde von Fowler (1959) beschrieben; sie Ausziehnaht eingesetzt werden (⊡ Abb. 5.39).
wird heute wegen wenig überzeugender Ergebnisse nicht mehr
angewandt. Eine zweite von Fowler angegebene Methode stellt
eine ganz wesentliche Korrektur der ersten Operationsmethode 5.2.10 Primäre Strecksehnennaht Zone 5
dar. Hier wird das Transplantat ausschließlich zur Korrektur des im Fingerbereich
verletzten Tractus intermedius verwendet, die Seitenzügel bleiben
unangetastet. Zur Befestigung des Transplantates wird ein querer Die Versorgung der Strecksehne über dem Grundgelenk erfolgt
Bohrkanal im dorsomedialen Bereich der Mittelphalanxbasis an- durch die entlastende U-Naht. Diese Maßnahme ist leicht möglich,
gelegt, und nach Durchzug des Transplantates führt man den Seh- da die Sehne in diesem Bereich relativ dick ist. Das Gelenk ist meist
nenstreifen gekreuzt über das Mittelgelenk nach proximal. Nach mit eröffnet und muss dann immer mit revidiert werden. Erst danach
Durchkreuzen der schrägen Fasern der seitlichen Aponeurosen- erfolgt die Naht der Kapsel und der Sehne. Die exakte Adaptation
abschnitte wird dann das Transplantat mit 4/0 monofilem Faden der Sehnenenden erfolgt durch mehrere U-Nähte mit 4/0 atrauma-
an der Streckaponeurose angenäht, temporäre Kirschner-Draht- tischem monofilem Faden; bei den adaptierenden Nähten muss auch
Arthrodese (⊡ Abb. 5.38). auf die gute Gleitfähigkeit der Sehne geachtet werden (⊡ Abb. 5.40).
92 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
⊡ Abb. 5.40 Operative Versorgung der Strecksehne und Strecksehnenhaube bei frischer Verletzung. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001
5.2 · Spezielle Techniken
93 5
Dabei ermöglicht eine einfache Doppelung oder Raffung des in- wird durch Einzelknopfnähte die Fixierung der umgeschlagenen
tertendinösen Gewebes (⊡ Abb. 5.41) eine Wiederherstellung der Streckaponeurose vorgenommen (⊡ Abb. 5.41b).
Sehnenbalance. Ein weiteres Operationsverfahren wird von Michon angegeben.
Weitere operative Möglichkeiten zur Beseitigung der Balance- Hier werden Teile der Strecksehne distal gestielt zur verletzten
störung der Strecksehnen bestehen in einem Einrollen der Sehne Seite der Streckaponeurose umgeklappt und dort mit dem lateralen
mit einem Teil der Streckaponeurose zur gesunden Seite; hier Rand des Sehnenhäubchens oder Lig. transversum intercarpeum
bzw. der Kapsel vernäht (⊡ Abb. 5.41c).
Bei der Operation nach Wheeldon wird die Junctura tendinea
durchtrennt, zur verletzten Seite geklappt und an der Kapsel fixiert
(⊡ Abb. 5.41d, e).
a b
Von einem ca. 1 cm langen, längs verlaufenden Schnitt in Höhe herausgeführt. Das proximale Ende des Extensor indicis wird
des Grundgelenks des Zeigefingers ulnarseitig wird die Sehne des durch einen Tunnel unter den Ästen des R. superficialis nervus
M. extensor indicis proprius dargestellt. Diese bedient sich stets radialis und der Strecksehne des Zeigefingers in Richtung des
ulnar von der Sehne des M. extensor digitorum des 2. Fingers. Die distalen Stumpfes des Extensor pollicis longus hindurchgezogen.
Extensor-indicis-Sehne wird isoliert und schräg quer durchtrennt. Nun erfolgt die Naht mit dem Stumpf des Extensor pollicis longus
Der distale Stumpf der Sehne wird dann mit 1–2 Nähten an dem in Durchflechtungsnahttechnik nach Pulvertaft. Dabei kann, je
benachbarten Extensor digitorum des 2. Fingers durch U-Nähte nach Dicke und Beschaffenheit der Sehnenenden, eine Sandwich-
fixiert. Auf diese Weise wird die Zugachse der Zeigefingerstreck- oder Seit-zu-Seit-Naht durchgeführt werden. Vor der endgültigen
sehne wiederhergestellt. Nun wird am Handgelenk eine quere Befestigung der Sehnenenden aneinander ist die Wahl der rich-
Inzision mehr radialseitig angelegt und von hier aus die Sehne tigen Spannung von großer Bedeutung. Beim Anlegen der Naht
des Indicis proprius identifiziert, isoliert und über dem Hand- müssen Handgelenk und Daumen in voller Streckstellung stehen.
gelenk sorgfältig herausgezogen. Die Sehne des Extensor indicis Erst dann kann die Durchflechtungsnaht an der Kreuzungsstelle
wird über dem Handgelenk distal des Retinaculum extensorum durch einzelne atraumtische monofile Fäden (Stärke 4/0) vernäht
5.2 · Spezielle Techniken
95 5
des Retinaculum extensorum durchgeführt werden, wenn nach
Resektion oder zumindest Teilresektion des Retinaculums keine
Blockade der Nahtstelle im osteofibrösen Kanal zu erwarten ist.
Dabei muss eine Bewegungsamplitude des Zeige- und Kleinfingers
von 3 cm und im Bereich des 3. und 4. Fingers von 4 cm berück-
sichtigt werden.
Geeigneter erscheint es jedoch, die Naht im Unterarmbereich
vorzunehmen. Bei der Sehnentransplantation sollte die proximale
Naht am Muskel-Sehnen-Übergang angelegt und eine Fensterung
der Unterarmfaszie durchgeführt werden.
Die Nachbehandlung von Sehnenverpflanzungen im Bereich
der Fingerstrecker erfordert ebenfalls eine 4-wöchige Ruhigstel-
lung, wobei das Handgelenk in Nullstellung, die Fingergelenke im
Grundgelenk in Beugestellung und die Mittel- und Endgelenke in
Streckstellung gehalten werden müssen.
3 Wochen, wobei das Handgelenk in Nullstellung und die Grund- postoperative Ruhigstellung bei allen Strecksehnenverletzungen in
gelenke der Finger in Beugestellung gehalten werden müssen. Eine der Zone 8 erfolgt in einer gut gepolsterten, beugeseitigen Unter-
dynamische Nachbehandlung, ähnlich wie bei Beugesehnen, wird armgipsschiene für insgesamt 4 Wochen. Das Handgelenk wird
empfohlen (außer beim Daumen). in leichter Dorsalflexion und die Grundgelenke werden in 40°-
Beugestellung gehalten. Anschließend kann mit aktiven kranken-
gymnastischen Übungen begonnen werden.
5.2.19 Primäre Strecksehnennaht Zone 8 Ein dynamischer Schienenverband (⊡ Abb. 5.23) kann anstelle
von Ruhigstellung in dieser Zone empfohlen werden.
Da der proximale Stumpf der Sehnen sich sehr leicht proximal-
wärts wendet, müssen die Wunden durch Verlängerungsschnitte
erweitert werden. Falls keine Defekt- oder Substanzverluste vor- 5.2.20 Technik der Spaltung des 1. Strecksehenfaches
liegen, wird die Sehne mit 4/0 atraumatischem monofilem Faden bei Tenovaginitis stenosans de Quervain
in U-Naht-Technik versorgt. Aufgrund der Breite und des Um-
fangs der Sehne ist hier eine entlastende Naht nicht unbedingt Die Therapie der bestehenden Tendovaginitis stenosans de Quer-
erforderlich. Um Verwachsungstendenzen vorzubeugen, muss die vain besteht in einem über dem radiodorsalen Handgelenk geführ-
Unterarmfaszie dann in genügender Breite reseziert werden. Die ten, etwa 3 cm längs verlaufenden Schnitt, bei dem zuerst auf die
5.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
97 5
a c
exakte Darstellung und Schonung der Ramus superficialis nervus dann nach Eröffnung der Blutleere und Blutstillung mit Hautnaht
radialis geachtet werden muss. Danach erst wird das Sehnenschei- beendet werden. Bei korrekter Indikation und Durchführung der
denfach dargestellt und eröffnet und je nach Notwendigkeit in die- Operation ist Beschwerdefreiheit, bis auf Wundschmerz direkt
sem Bereich eine Tenosynovialektomie durchgeführt. Es muss auf nach der Operation, gegeben (⊡ Abb. 5.47).
exakte und vollständige Spaltung des Sehnenscheidenfaches und
die Anomalien in diesem Bereich geachtet werden.
5.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
> Im Bereich des 1. Strecksehnenfaches kann jede Sehne
in einem eigenen osteotendinösen Kanal verlaufen. Die
Als häufigste Fehler bei der Versorgung von Strecksehnenver-
»Septen« müssen komplett durchtrennt werden. Zur
letzungen und -defekten sind die inadäquate Operationstechnik
Kontrolle können die Sehnen mit einem Sehnenhaken
(keine adäquate Anästhesie, keine Lupenbrille, fehlendes feines In-
hervorluxiert werden.
strumentarium) und Ruhigstellung sowie die ungenügende Nach-
Je nach Erfordernis wird auch das 2. Strecksehnenfach ebenso behandlung zu nennen.
eröffnet. Die Operation, die unter handchirurgischen Prinzipien Auf spezifische Fehler, Gefahren und Komplikationen wird in
mithilfe der Blutleere und Lupenbrille durchgeführt wird, kann den jeweiligen Abschnitten ausführlich eingegangen.
98 Kapitel 5 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen
5 a c
b d
⊡ Abb. 5.47 Technik der Spaltung des 1. Strecksehenfaches bei Tenovaginitis stenosans de Quervain. a Hautschnitt: längsverlaufender Schnitt über dem
radiodorsalen Handgelenk, b Darstellung des R. superficialis N. radialis und des 1. Strecksehnenefaches, c Spaltung des osteofibrösen Köchers und eventuelle
Resektion eines Faszienstreifens zur Verminderung der Rezidivgefahr, d Kontrolle der vollständigen Eröffnung – auch von zusätzlichen Septen im Bereich des
1. Strecksehnenfaches – mithilfe eines Sehnenhakens. Die Sehnen werden einzeln aus dem 1. Strecksehenfach hervorluxiert und auf vollständige Gleitfähig-
keit geprüft. (Aus Wetterkamp et al. 1998)
Vinculum longum
Membrana synovialis
(parietales Blatt)
Vagina fibrosa
Recessus synovialis
Arcus digitopalmaris
⊡ Abb. 6.1 Schematische Darstellung des Aufbaus der Beugesehnen am Finger. Primärbündel mit Flügelzellen und Kollagenfaserbündel, Sekundärbündel
und Tertiärbündel
Blutversorgung und Ernährung der Beugesehnen ⊡ Abb. 6.2 Druckbereiche der Beugesehnen an den Ringbändern
Die Kenntnis von der Blutversorgung der Beugesehnen ist von
großer Bedeutung für die Sehnennahttechnik und die Sehnen-
heilung. Die Beugesehnen sind stärker durchblutet als allgemein erkennen lässt. Hier besitzen die Beugesehnen nur sehr spärliche
angenommen. Dies fällt bei frischen Schnittverletzungen oder oder an manchen Stellen gar keine Gefäße (⊡ Abb. 6.2). Die Ernäh-
beim Öffnen der Blutleere ganz besonders auf. Da Kollagen einen rung der Sehnen muss an den Stellen mit hoher Druckbelastung
besonders guten blutstillenden Effekt hat, steht eine Blutung recht – ähnlich wie beim Knorpel – durch Diffusion aus der Synovia
schnell. Die Beugesehnen weisen Blutgefäße vor allem an den erfolgen. Die Blutgefäße, die die Beugesehnen der Hand direkt
nicht druckbelasteten Seiten auf, d. h. vor allem auf der dem Kno- versorgen, kommen proximal aus dem karpalen Gefäßnetz und
chen zugewandten Seite. Auf der zur Haut weisenden Seite werden verlaufen zusammen mit der Synovialis. Im Fingerbereich verlau-
die Beugesehnen durch die Ringbänder zurückgehalten. An diesen fen die Beugesehnen in sehr engen osteofibrösen Kanälen, die zu
Stellen treten z. T. enorme Druckkräfte und auf, was sich auch an eng sind, dass noch eine zirkuläre Synovialgewebsumhüllung um
der mikroskopischen Struktur der Sehnen in diesen Bereichen die Beugesehnen genügend Raum hätte. Hier verlaufen die Blut-
104 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
Vincula longa
Mesotenonium Vincula breves
Arcus
digitopalmaris
distalis
A. ulnaris
⊡ Abb. 6.3 Durchblutung der Beugesehnen an der Hand in den Zonen 1 bis 4
FDP-Ansatz
Mm. lumbricales
A4-Ringband (eröffnet)
FDS Zone I
(Chiasma und Ansatz)
6 Chiasma tendinum
CAMPER
A2-Ringband (eröffnet)
FPL
FDS Zone II
(FDS Sehne geteilt) FDP-Sehne
FDP III-V
FDS Zone III
(FDS-Sehne ungeteilt)
Gantzer-Muskel
PIP-Gelenks (zwischen dem Gelenkspalt des Mittelgelenks und am Unterarm parallel nebeneinander. In der Hohlhand dienen die
dem distalen Rand des A2-Ringbandes) findet die teilweise Durch- Sehnen des FDP den Musculi lumbricales als Ursprung. Die Seh-
kreuzung der Sehnenfasern (Chiasma tendinum Camperi) statt. nen des FDP und hier insbesondere die Sehnen zum Mittelfinger,
Die beiden Endsehnenfaserzüge setzen etwa in der Mitte des Mit- Ringfinger und Kleinfinger sind bereits knapp proximal des Hand-
telgliedes an (⊡ Abb. 6.7). gelenks durch Sehnenzügel und distal des Handgelenks durch die
Im Sehnenscheidenbereich der Finger bilden die oberflächliche von je zwei benachbarten Sehnen entspringenden Musculi lumbri-
und die tiefe Beugesehne einen gemeinsamen querovalen Sehnen- cales eng miteinander verbunden und können daher nur schlecht
körper. Durch die Aufspaltung der oberflächlichen Beugesehne isoliert bewegt werden. Der M. FDP des Zeigefingers ist dagegen
und spiralige beidseitige Umfassung der tiefen Beugesehne ändert besser von den anderen FDP-Muskeln und Sehnen getrennt und
sich je nach Lokalisation der Querschnitt der FDP-Sehne. verfügt über eine gewisse Unabhängigkeit. Nach Fahrer (1971)
Durch die oberflächliche Lage haben die Sehnen des FDS eine kann man diesen Muskel auch als isolierten M. flexor profundus
größere Wirkung auf das Grundgelenk als die tiefe Beugesehne. indicis bezeichnen.
Durch elektromyographische Untersuchungen konnte gezeigt wer- Ursprungsgebiete des Flexor pollicis longus und des Flexor
den, dass der FDP hauptsächlich die wenig belasteten Beugebewe- digitorum profundus sind Radius, Membrana interossea und Ulna.
gungen der Finger leistet, während der FDS bei größeren Kraftan- Der M. flexor pollicis longus weist zusätzliche Ursprünge von der
strengungen »zugeschaltet« wird. Ulna im Bereich der Tuberositas ulnae und am Epicondylus ulnaris
humeri auf. Das Ursprungsgebiet von Flexor pollicis longus und
M. flexor digitorum profundus flexor digitorum profundus II sind von dem gemeinsamen Ur-
Der M. flexor digitorum profundus (FDP) hat einen knöcher- sprungsgebiet von Flexor digitorum profundus III–V getrennt.
nen Ursprung von den proximalen zwei Dritteln der Ulna, einen Der Ansatz der Sehnen liegt in der proximalen Hälfte beugesei-
oberflächlichen Ursprung von der Aponeurose des M. flexor carpi tig an der Endphalanx.
ulnaris und einen ligamentösen tiefen Ursprung von der Memb- Insgesamt ist der FDP etwa 50% stärker als der FDS, wobei die
rana interossea (⊡ Abb. 6.8). Die Sehnen-Muskel-Einheiten liegen relativen Spannungsverhältnisse (»relative Tension«) der gesam-
6.1 · Allgemeines
107 6
ten Unterarm- und Handmuskulatur nach Brand (1981) folgende
Werte ergeben: für den Zeigefinger FDS=2,0%, FDP=2,7%; Mittel-
finger FDS=3,4%, FDP=3,4%; Ringfinger FDS=2,0%, FDP=3,0%;
Kleinfinger FDS=0,9%, FDP=2,8%. Daraus folgt, dass die ober-
flächliche und die tiefe Beugesehne des Mittelfingers etwa gleich
»stark« sind und im Vergleich zu den anderen Fingern auch die
kräftigsten Beuger darstellen, der Zeigefinger aber beim Faust-
schluss schwächer ist als der Ringfinger.
Aus den unterschiedlichen stellungsabhängigen Funktionen durch die Ringbänder verstärkt wird. Phylogenetisch haben sich
der Ringbänder resultieren auch die verschiedenen Stabilitäten der die Sehnenscheiden aus palmaren Bursa-ähnlichen Strukturen
einzelnen Ringbänder (⊡ Abb. 6.12). Die Ringbänder, die bereits in entwickelt, die sich stark in die Länge über der Sehne und seitlich
Streckstellung des Fingers und bei leichter Beugung beansprucht um die Sehnen herum ausgebreitet haben, bis sie sich dorsal der
werden (A2 und A4), besitzen auch die größte Ausreißkraft. Sehnen an vielen Stellen wieder berührten (Mesotendineum) und
Aus den Stabilitäten der Ringbänder darf aber nicht einfach teilweise an den Kontaktstellen wieder aufgelöst haben. Ledig-
auf ihre Wertigkeit geschlossen werden. Die Änderung der Biome- lich die Blutgefäße zu den Sehnen blieben als Vincula erhalten
chanik und der Kraft bei der Fingerbeugung wird bei der häufig (⊡ Abb. 6.13).
vorgenommenen Spaltung des A1-Ringbandes funktionell von den Die Sehnenscheiden der einzelnen Finger sind voneinander
meisten Menschen nicht bemerkt, da das A2-Ringband und das isoliert. Vom Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger reichen die
Palmaraponeurosensystem die verloren gegangene Funktion des Sehnenscheiden von der Mitte der Endglieder bis etwa 1 cm proxi-
A1-Ringbandes weitgehend kompensieren. Dies ändert sich aller- mal der A1-Ringbänder und bilden an den Enden des Sehnenschei-
dings dann, wenn auch benachbarte Ringbänder mit zerstört sind. densackes jeweils kleine Verdickungen, die als »cul de sac« (Poiri-
Eine langstreckige Insuffizienz der Ringbänder führt zu einem er) bezeichnet werden. Kleinere Verdickungen der Sehnenscheiden
funktionell stark behindernden Bogensehneneffekt. finden sich auch an den proximalen und distalen Rändern der
Die eigentliche Sehnenscheide ist eine relativ dünne Memb- Ringbänder. Diese Bereiche sind auch sehr stark durchblutet und
ran, die die Sehnenscheidenflüssigkeit, die Synovia, umgibt und wahrscheinlich Produktionsorte für die Synovia.
110 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
Die Sehnenscheide des Kleinfingers reicht dagegen in der Regel Raszetta durch den Karpalkanal hindurch. Nicht selten findet
weit über das A1-Ringband nach proximal hinaus, ist etwa 13–14 sich unterhalb des Retinaculum flexorum noch eine eigenständige
cm lang und bildet unterhalb des Retinaculum flexorum eine große Sehnenscheide für die Beugesehnen des Zeigefingers. Über diese
synoviale Höhle, die Kontakt zu den meisten anderen Beugesehnen Sehnenscheide können der ulnare und der radiale Sehnenschei-
hat. Dieser ulnare Sehnenscheidensack reicht dann bis etwa 3cm densack miteinander kommunizieren. Bei Säuglingen soll eine
proximal der Raszetta. solche Verbindung kaum vorkommen, während im höheren Alter
Auch die Daumenbeugesehnenscheide ist länger als die der diese Verbindung in 50% der Fälle vorkommen kann. Klinische
benachbarten Finger und reicht bis etwa 2–3 cm proximal der Relevanz hat diese Verbindung nur bei Infektionen der Beuge-
sehnenscheide, wenn sich die Infektion vom Daumen auf den
Kleinfinger ausbreiten kann. Diese V-Infektionen sind aber sehr
selten geworden.
⊡ Abb. 6.14 Zoneneinteilung mit den Untereinteilungen nach Tang (Zone 2) und nach Moienem (Zone 1)
6.1 · Allgemeines
111 6
Sehnenheilung Entzündungsphase (0–7 Tage)
Grundkenntnisse der Physiologie der Sehnenheilung sind essenzi- Nach der Verletzung blutet es zunächst in den Defektbereich
ell für die stadiengerechte Behandlung und Betreuung nach Beuge- ein. Es bildet sich ein Wundhämatom und Blutplättchen binden
sehnenverletzungen. sich an das freiliegende Kollagen, schütten Phospholipide aus,
Trotz des relativ »einfachen« Aufbaus der Sehne ist es heute um den Verschlussmechanismus zu stimulieren und verschließen
bekannt, dass es nach einer Sehnenverletzung zu einem komple- schließlich die verletzten Gefäße. Aus den Thrombozyten werden
xen Heilungsprozess kommt. Eine Sehnenverletzung löst eine Kas- zahlreiche Zytokine wie PDGF und TGF-β freigesetzt. Innerhalb
kade von zellulären und molekularen Vorgängen aus, die durch einer Stunde kann ein Fibringerinnsel und Fibronektin im Ruptur-
die Freisetzung von Mediatoren aus dem Wundhämatom initiiert bereich gefunden werden. Die Verbindung der Fibringerinnsel mit
werden. Die zellulären Vorgänge sind typische Vorgänge, die bei den Kollagenfibrillen führt zur Bildung einer schwach klebrigen
einer Gewebeverletzung auftreten und umfassen die Zellprolife- Masse, die eine erste Abdichtung der Verletzungsregion bewirkt.
ration, die Zellmigration, die Synthese einer neuen Matrix und Innerhalb weniger Stunden wandern dann polymorphkernige Leu-
die Organisation der Matrix in ein spezialisiertes Gewebe. Die kozyten, Makrophagen und Monozyten in die Verletzungsregion
zellulären und molekularen Regulationen von Adhäsionen werden ein. Diese Einwanderung der Entzündungszellen geschieht inner-
durch die gleichen Grundmechanismen wie für die Sehnenheilung halb der ersten 24 h und hält einige Tage lang an. Die Einwande-
gesteuert. rung wird eingeleitet durch chemotaktische Substanzen, die im
Die Stadieneinteilung der Sehnenheilung ist bis heute nicht Rupturbereich freigesetzt werden. Hier sind Histamine, die z. B.
einheitlich definiert. In den verschiedenen Lehrbüchern und Zeit- aus den Blutplättchen freigesetzt werden, Fibronectin und Brady-
schriftenbeiträgen finden sich bisweilen stark unterschiedliche An- kinin zu nennen.
gaben. Auch die Anzahl der Stadien – drei oder vier – ist nicht Makrophagen und andere Leukozyten beginnen mit der Pha-
einheitlich. Die hier dargestellte Version ist eine stark vereinfachte gozytose des zerstörten Gewebsmaterials. Das nekrotische Gewebe
Zusammenstellung aus der Literatur. ist etwa am 5.–7. Tag nach der Verletzung abgeräumt.
Die Sehnenheilung verläuft in drei verschiedenen Stadien:
1. Entzündungsphase (Initialphase, inflammatorische Phase, ex- Reparationsphase (7–21 Tage)
sudative Phase) (1. Woche), In der Proliferationsphase kommt es zunächst zu einer Akkumula-
2. Proliferationsphase (2. Woche) und fibroplastische Phase tion von Fibroblasten, Myofibroblasten und Endotheliumzellen in
(3. Woche), der Verletzungszone. Die Migration und Proliferation dieser Zellen
3. Umbauphase (Reifungsphase, Remodeling-Phase) (4. Woche wird durch die Wachstumsfaktoren aus den Thrombozyten und
bis 1 Jahr). Makrophagen stimuliert. Neue Kapillaren entstehen und verbin-
den sich mit den existierenden Kapillaren. Die Fibroblasten und
Myofibroblasten zeigen eine hohe Syntheserate für Komponenten
der extrazellulären Matrix (Kollagene und Nichtkollagenproteine).
Dieses Gewebe wird als Granulationsgewebe bezeichnet. Der ur-
sprüngliche Fibrinblock wird durch andere Strukturen ersetzt. Die
Fibroblasten produzieren in dieser Phase Glykosaminoglykane der
extrazellulären Matrix, vor allem Hyaluronsäure und Kollagen III.
Die Kollagenfasern werden zunächst ungerichtet ausgebildet und
orientieren sich dann entlang der Zugachse. Kollagen III wird etwa
ab dem 12.–14. Tag durch das Kollagen I ersetzt. Der erhöhte Ge-
halt an DNS lässt auf aktive Zellteilungen (auch der Epitenozyten)
schließen.
Der »tumor growth factor« zeigt jetzt seinen höchsten Anstieg.
Im Rupturbereich zeigen sich dann auch Kollagenfaserbrücken
zwischen den Sehnenenden als fibrinöse Stränge. Etwa 2 Wochen
nach der Sehnennaht nimmt die Stabilität der Sehnennaht ab, steigt
dann aber wieder durch die zunehmende Kollagenproduktion. Die
Sehnenstärke ist aber immer noch in erster Linie abhängig von der
Nahttechnik und dem Nahtmaterial.
Das neu gebildete Sehnengewebe ist bereits nach wenigen Mo-
naten nicht mehr unter dem Mikroskop von dem ursprünglichen
Sehnengewebe zu unterscheiden, aber das neu gebildete Sehnenge-
webe besitzt auch nach 3 Jahren immer noch nicht den charakteris-
tischen Perlmutterglanz der normalen Sehne.
Bei der Sehnenheilung unterscheidet man eine extrinsische hindern. Daher sollte bei der Behandlung darauf geachtet werden,
und eine intrinsische Form. Bei der extrinsischen Form erfolgt die dass das extrinsische System gehemmt und das intrinische System
Sehnenheilung durch die Fibroblasten der Synovialis und des um- der Sehnenheilung gestärkt wird. Der wirksamste Mechanismus
gebenden Gewebes. Demgegenüber stehen die Fibroblasten aus der der Unterdrückung der extrinsischen Heilung ist die frühzeitige
Sehne selbst und aus dem Epitenonium, also der Sehnenoberfläche. Bewegung und Beübung der Sehne. Bereits wenige Millimeter
Die Fibroblasten aus der Umgebung der Sehne scheinen aktiver Bewegung der Sehne reichen aus, um entstehende narbige Verbin-
und schneller zu sein und dazu auch noch mehr Kollagen zu bilden dungen mit der Umgebung zu zerreißen und daher Gefäßeinspros-
als die Fibroblasten aus dem intrinsischen System. Eine Heilung sungen aus der Umgebung in die Sehne zu verhindern.
aus oder mit der Umgebung lässt dann die unerwünschten Adhäsi- ⊡ Abb. 6.16 zeigt die Sehnenheilung und das Verhalten der Seh-
onen und Vernarbungen entstehen, die die Sehne an der Bewegung nenzellen innerhalb der ersten 12 Tage.
6.1.4 Diagnostik
a
Das Schicksal von Patienten mit Handverletzungen und vor al-
lem solcher mit Sehnenverletzungen hängt entscheidend von der
frühzeitigen Diagnose und der darauf folgenden Behandlung des
Erstuntersuchenden ab. Eine verschleppte oder verpasste Diagnose
kann bei Beugesehnenverletzungen eine langwierige und aufwen-
dige Behandlung nach sich ziehen und eine komplette Wiederher-
stellung unmöglich machen.
Die Diagnostik bei frischen oder veralteten Verletzungen der
Beugesehnen kann unter Umständen sehr schwierig sein. Eine
genaue Kenntnis der speziellen Anatomie der Beugesehnen ermög-
licht ein gezieltes gewebeschonendes Vorgehen ohne unnötig lange
Hautschnitte und damit einen schnelleren Beginn der Übungsbe-
handlungen.
⊡ Abb. 6.22 Überprüfung der Kraft der tiefen Beugesehne. Differenzialdi- ⊡ Abb. 6.24 Bei einer isolierten Durchtrennung der oberflächlichen Beu-
agnostisch kann bei einer proximalen Ulnarisparese die Kraft bei der End- gesehne kann bei fixierten tiefen Beugesehnen der Nachbarfinger die FDP-
gelenkbeugung des Ring- und Kleinfingers, bei einer Interosseus-anterior- Sehne den Mittelfinger maximal in diese Position beugen
Parese die Kraft des Zeigefingers vermindert sein
⊡ Abb. 6.23 Apley-Test zur Überprüfung der oberflächlichen Beugesehne ⊡ Abb. 6.25 Das Endgelenk ist leicht gebeugt, aber die »harmonische Linie«
des Ringfingers. Hier komplett intakte FDS-Sehne der Fingerkuppen ist bei einer isolierten FDS-Sehnen-Durchtrennung gestört
Überprüfung der oberflächlichen Beugesehne Bei Verletzungen mit isolierter Durchtrennung der oberflächli-
Die Austestung der oberflächlichen Beugesehnen ist erheblich chen Beugesehne ist das Endgelenk meist noch etwas gebeugt, das
schwieriger, da ein Finger auch ohne oberflächliche Beugesehne Mittelgelenk im Vergleich zu den Nachbarfingern aber schwächer
durch die tiefe Beugesehne fast normal gebeugt werden kann. Zur gebeugt (⊡ Abb. 6.25).
Testung muss daher die tiefe Beugesehne »ausgeschaltet« werden. Am Kleinfinger und Zeigefinger haben wir dagegen Probleme
Dies geht an den Fingern DIII bis DV sehr gut, weil die tiefen Beu- mit dieser Untersuchung. Am Kleinfinger ist die oberflächliche
gesehnen dieser Finger am Unterarm eine gemeinsame Sehnenplat- Beugesehne oft sehr dünn ausgebildet oder in der Hohlhand in
te ausbilden. Wird eine der tiefen Beugesehnen in Streckstellung unterschiedlicher Weise mit der oberflächlichen Beugesehne des
fixiert, so sind auch die beiden anderen tiefen Beugesehnen fixiert. Ringfingers verwachsen, sodass von Natur aus keine volle Beugung
Soll daher die oberflächliche Beugesehne des Ringfingers getestet des Mittelgelenks bei in Streckstellung fixiertem Ringfinger mög-
werden, so braucht nur der Mittelfinger und Kleinfinger in voller lich ist. Hier sollte die Gegenseite mit getestet werden.
Streckung am Endglied fixiert werden. Durch die gemeinsame Seh- Am Zeigefinger ist die tiefe Beugesehne isoliert von denen
nenplatte kann am Ringfinger kein effektiver Zug auf die tiefe Beu- des Mittel- und Ringfingers. Daher kann die tiefe Beugesehne
gesehne aufgebaut werden und eine Beugung des Mittelgelenks ist des Zeigefingers noch relativ gut wirken, wenn Mittel- und Ring-
die reine Wirkung der oberflächlichen Beugesehne. Dies ist auch finger in Streckstellung fixiert werden und eine Beugung durch
am Mittelfinger gut möglich (Apley-Test; ⊡ Abb. 6.23). Zieht nur die oberflächliche Beugesehne vortäuschen. Hier bietet sich der
die tiefe Beugesehne, so ist die Flexion unvollständig (⊡ Abb. 6.24). Schaukeltest (Langer 2003, ⊡ Abb. 6.26) an. Dabei wird die Kuppe
116 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
6
⊡ Abb. 6.27 Bei der maximalen Beugung des Daumens bleibt das Endgelenk
gestreckt
Zone 2c, die Naht liegt beim gestreckten Finger aber auf Höhe des bezeichnet. Nach dem 14. Tag handelt es sich um eine sekundäre
A3-Ringbandes, also in der Zone 2b. Beugesehnennaht, wobei Nähte in der 3.–5. Woche als frühse-
Bei der Beschreibung der Verletzung sollte auch vermerkt kundäre Nähte und nach der 5. Woche als spätsekundäre Nähte
werden, ob es sich um eine Quer- oder Schrägdurchtrennung der bezeichnet werden. Bei Erwachsenen kann nach der 6. Woche in
Sehne handelt. Schnittverletzungen sind meist glatt, Säge- oder der Regel kein befriedigendes Ergebnis mehr erwartet werden.
Fräsverletzungen dagegen ausgefranst oder mit Defekten. Die Dis- Bei Kindern (s. unten) hat man dagegen teilweise auch noch nach
tanz der Defektstrecke sollte abgeschätzt werden. 12 Wochen gute Chancen auf ein gutes Ergebnis.
Neben den scharfkantigen Durchtrennungen durch Glas oder Beim Erwachsenen liegen die Probleme nach der 6. Woche
ein Messer finden sich auch Teildurchtrennungen, die man nach (modifiziert nach Geldmacher (1991) in:
der prozentualen Durchtrennung des Sehnenquerschnittes und ▬ Verwachsungen der Sehnenstümpfe,
dem Winkel bzw. der verletzten Strecke dokumentieren sollte. ▬ kolbigen Auftreibungen der proximalen Sehnenstümpfe,
Geschlossene Beugesehnenrupturen im Fingerbereich sind ▬ myostatischen Kontrakturen,
sehr selten, im Handgelenkbereich durch karpale Arthrosen (z. B. ▬ Inaktivitätskontrakturen der zugehörigen Muskeln,
Pseudarthrose des Hamulus ossis hamati) und in letzter Zeit durch ▬ dermatogenen Kontrakturen,
6 palmare Plattenosteosynthesen bei der distalen Radiusfraktur mit ▬ Teileinsteifungen der Gelenke,
deutlicher Überschreitung der »watershed line« deutlich häufiger ▬ und vernarbten Sehnenscheiden.
geworden.
Der Ansatz der tiefen Beugesehne kann mit oder ohne ein Patientenaufklärung
knöchernes Fragment vom Endglied abreißen, eine Avulsion der Die gesamte Beugesehnenchirurgie erfordert ein hohes Maß an
oberflächlichen Beugesehne vom Mittelglied ist extrem selten. aktiver Mitarbeit des Patienten. Daher muss die Aufklärung des
Die Avulsionsfrakturen werden nach Stamos und Leddy, in Er- Patienten bei den Beugesehnenverletzungen besonders intensiv
weiterung nach Al Qattan klassifiziert, wir verwenden eine eigene erfolgen. Der Patient sollte frühzeitig auf die Schwierigkeiten
Klassifikation. bei der Wiederherstellung von Beugesehnenverletzungen, deren
lange Behandlungsdauer, die Gefahren der Verwachsungen und
verbleibende Streck- und Beugedefizite hingewiesen werden. Er
6.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie braucht bereits vor der Operation genaue Anweisungen über Be-
wegungen, die er nicht aktiv durchführen darf (Faustschluss) und
Jede Beugesehnenverletzung bringt einen nicht unerheblichen Bewegungen, die er anschließend machen muss. Eine Anleitung
Kraft- und Funktionsverlust. Die Indikation zur Beugesehnennaht über die aktive Belastung an den anderen nicht betroffenen Fin-
ist daher bei jeder frischen Beugesehnenverletzung gegeben. gern muss der Patient erhalten. Er muss auch den genauen Bewe-
Bei den veralteten Sehnenverletzungen ist die Indikation zur gungsspielraum der einzelnen Finger und die Funktionsweise der
Operation wesentlich schwieriger zu stellen und vor allem die dynamischen Schiene kennen, um Funktionsstörungen frühzeitig
Differenzialtherapie wesentlich breiter gefächert. Bei den Entschei- zu erkennen und mitteilen zu können. Die Patientenaufklärung
dungen über die Indikation und das weitere Vorgehen sind viele umfasst aber auch die allgemeinen Risiken von Infektionen und
Faktoren wie Alter des Patienten, Alter der Verletzung, Bewe- Sehnenrupturen, die meist in der 2.–6. Woche auftreten können
gungsausmaß, Begleitverletzungen etc. so enorm wichtig, dass die und Möglichkeiten der Rekonstruktion, falls die Operation nicht
Abschätzung des zu erwartenden Ergebnisses sehr viel Erfahrung zum gewünschten Erfolg (Tenolysen, Arthrolysen, Arthrodesen,
verlangt. Diese Eingriffe sollten nur von erfahrenen Handchirur- Sehnenplastiken) führt.
gen durchgeführt werden.
Kontraindikationen für eine primäre Naht sind fehlende räum-
liche, instrumentelle und persönliche Voraussetzungen, Infektio- 6.1.7 Therapie
nen, ausgedehnte Quetschungen oder Weichteilverletzungen, die
nicht primär mit einem Lappen gedeckt werden können, instabile Konservative Therapie
(instabil versorgte) Frakturen und Gelenkschädigungen, die eine Eine konservative Therapie bei Beugesehnenverletzungen kann
sofortige Übungsbehandlung nicht zulassen. allenfalls nur bei geschlossenen Beugesehnenverletzungen vor-
kommen. Jede offene Beugesehnenverletzung muss operativ in
Zeitpunkt der Operation ausreichender Narkose und Blutleere revidiert und zumindest
Am leichtesten und besten gelingt eine schonende Präparation gesäubert werden, da immer die Gefahr einer Beugesehnenschei-
und gute Sehnennaht sowie eine gute Naht auch der begleitenden deninfektion besteht. Die Funktionsausfälle sind aber bis auf
verletzten Nerven, Gefäße und der Osteosynthese, wenn es sich um wenige Ausnahmen so groß, dass eine konservative Therapie nur
eine ganz frische Verletzung handelt. In vielen Fällen ist die notfall- ganz selten indiziert ist.
mäßige Versorgung auch nachts gerechtfertigt. Am nächsten Tag Die häufigste oder fast regelmäßige Indikation für eine Haut-
und in den darauf folgenden Tagen sind die Sehnenstümpfe häufig naht mit einem bewussten Verzicht auf eine Beugesehnennaht ist
bereits ödematös aufgequollen und das umliegende Gewebe einge- eine isolierte Verletzung der Palmaris-longus-Sehne am Unterarm.
blutet, sodass Gefäße und Nerven nicht mehr so einfach präpariert Seltener kann bei einer Durchtrennung der tiefen Beugesehne
werden können. in der Zone 1 bei älteren, multimorbiden Patienten bei intakter
Die Basler Handchirurgische Arbeitstagung um Henry Nigst oberflächlicher Beugesehne akzeptiert werden, wenn die Sehne
stellte 1976 eine Definition der Operationszeitpunkte und der Art nicht genäht wird, allerdings sollte das Endgelenk in einer leichten
der Versorgung auf, die von der IFSSH 1980 übernommen wurde. Beugestellung durch eine Tenodese stabilisiert werden.
Als primäre Naht wird der Zeitraum innerhalb der ersten 8 h Bei Teildurchtrennungen kann es manchmal besser sein, die
angesehen. Danach und noch bis zum 14. Tag wird eine Beuge- Sehne nur zu debridieren, als die Durchblutung der Sehne durch
sehnennaht als spätprimäre Naht oder verzögerte primäre Naht eine Naht zu stören. (s. unten).
6.1 · Allgemeines
119 6
Operative Therapie die Einzelheiten der Verletzung (Zone der Verletzung, Begleitver-
In den allermeisten Fällen von Beugesehnenverletzungen besteht die letzungen an Nerven und Ringbändern etc.) kennen. Ein erfahre-
Indikation zur Operation. Frische Verletzungen werden möglichst ner Therapeut wird dann nicht selten verschiedene Techniken aus
primär versorgt. Der operative Aufwand bei den Präparationen ist unterschiedlichen Protokollen kombinieren. Verfügt ein Therapeut
relativ niedrig, ebenso die Komplikationsrate und die Ergebnisse sind über weniger Erfahrungen mit der Behandlung von Beugesehnen-
besser als bei den sekundären Rekonstruktionen. Das Spektrum der nähten, ist es günstiger, wenn ein festes Protokoll befolgt wird. Der
sekundären Rekonstruktionsarten ist sehr groß und die Schwierigkeit Handtherapeut muss immer darauf achten, dass Verbände nicht zu
besteht meistens darin, das richtige Verfahren für den Patienten aus- eng angelegt sind und zu einem lymphatischen oder venösen Stau
zuwählen. Trotzdem sind diese sekundären Operationen meist nur mit entsprechenden Schwellungen führen, da diese dann Bewe-
Rettungsoperationen, um die funktionelle Behinderung zu minimie- gungseinschränkungen nach sich ziehen.
ren. Die Sehnenheilungszeit ist verantwortlich für die lange Behand- Grundsätzlich unterscheidet man zwischen passiven und akti-
lungsdauer, die bei Weitem mit der Operation nicht abgeschlossen ist. ven Übungsprotokollen.
Es folgt eine längere Phase der Weiterbehandlung, die für den Erfolg Das älteste passive Nachbehandlungsprotokoll die »controlled
der Sehnennaht mindestens so wichtig ist, wie die Operation selbst. active motion« stammt ursprünglich von Harold Kleinert (1967),
wurde allerdings mehrfach modifiziert, da die Endgelenkbeugung
Weiterbehandlung in der Originalmethode unzureichend war. Direkt nach der Ope-
Nach der Sehnennaht bestehen viele Risiken, die das Ergebnis ration wird eine dorsale Gipsschiene angelegt, die vom Unterarm
ungünstig beeinflussen können. Die verletzten Sehnen verkleben bis zu den Fingerspitzen reicht und das Handgelenk in etwa 35°
mit Umgebung, wenn die Sehnen nicht mobilisiert werden. Erfolgt flektiert, die Grundgelenke in etwa 55° flektiert und die Mittel- und
die Mobilisierung mit zu großer Kraft, reißen die Sehnen aus den Endgelenke in 0°-Position hält (⊡ Abb. 6.32). Am Nagel werden
Nähten wieder heraus und die Operation muss unter schwierigeren Befestigungen für die passive Flexion angebracht. Die Behandlung
Bedingungen erneut ausgeführt werden. Ziel der Nahtbandlung ist beginnt am 1.–3. Tag. Die Zugspannung durch die Gummibänder
eine möglichst vollständige Mobilisation der genähten Beugeseh- oder Stahlfedern an den Fingernägeln muss so eingestellt werden,
nen unter kontrollierten Spannungsverhältnissen, die der Stabilität dass vollständige Streckungen der Mittel- und Endgelenke noch
der Sehnennaht zu jeder Zeit entspricht. Die Mitarbeit des Patien- möglich sind und eine gute Beugung des Fingers erreicht wird. Die
ten ist enorm wichtig und kann nur dann richtig funktionieren, Zugrichtung sollte dabei dem natürlichen Verlauf des Fingers folgen
wenn der Patient die Nachbehandlung und die Probleme bei der (Zielpunkt etwa das Kahnbein auf Höhe der Handgelenkbeugefur-
Sehnenheilung verstanden hat. Direkt nach der Sehnennaht wird che). Um eine vollständige Beugung zu erreichen, ist eine kleine
fast immer eine Gipsschiene angelegt, die ein Überstrecken des Umlenkrolle auf Höhe der distalen Hohlhandquerfurche (Slattery-
Handgelenks und der Finger und damit eine zu große Spannung McGrouther) notwendig. Da die tiefen Beugesehnen einen gemein-
auf die Beugesehnen verhindert. Diese »Gipsschiene in Kleinert-
Position« verbleibt in der Regel für 3 Wochen. In den meisten Fäl-
len wird immer noch eine passive Mobilisierung der Beugesehnen
vorgenommen. Dies geschieht über eine passive Flexion der Finger
durch Gummizügel oder Stahlfedern, die an den Fingernägeln und
an der Beugeseite des Unterarmes befestigt sind. Da die Streck-
sehnen meist unverletzt sind, können die Finger aktiv gestreckt
werden, anschließend erfolgt wieder die Beugung der Finger durch
die Gummizügel oder die Stahlfedern. Die Spannung für die Fle-
xion darf dabei nicht zu groß sein, da sonst die Streckmuskulatur
zu stark beansprucht wird und eine reziproke nicht gewünschte
Mitinnervationen der Beugemuskulatur entsteht.
Die Stabilitäten der Sehnennähte ändern sich nach der Naht
von Tag zu Tag. Eine gerade fertig gestellte Sehnennaht hält durch-
a
schnittlich eine Spannung von etwa 30 N (etwa 3 kg) aus. Durch
die Störung der Sehnendurchblutung durch das Nahtmaterials
sinkt die Stabilität in den ersten Tagen deutlich ab und erreicht
nach etwa 5 Tagen einen Tiefpunkt von etwa 15 N. Durch die dann
einsetzenden Heilungsvorgänge steigt die Stabilität wieder, sodass
nach etwa 6 Wochen wieder 30 N erreicht werden. Eine 80–90%ige
Stabilität der Sehne ist nach etwa 12 Wochen erreicht, sodass hier
eine Vollbelastung erfolgen darf.
Bei Kindern unter 5 Jahren und Patienten mit einer deutlichen
kognitiven Einschränkung kann noch eine komplette Immobilisa-
tion der Hand ohne aktive oder passive Übungsbehandlung not-
wendig werden. In diesen Fällen sollte die Hand auch in Kleinert-
Position über 3–4 Wochen ruhiggestellt werden und anschließend
sollten gezielte handtherapeutische Übungen durchgeführt werden. b
Handtherapie nach Beugesehnenverletzungen ⊡ Abb. 6.32a,b a Typischer Kleinert-Gips mit Gummizügelung in der Phase
Die gewählte Handtherapie muss ähnlich wie die Operation indi- der aktiven Streckung, b moderne Kleinert-Schiene (vorgefertigt, schnell an-
viduell auf den Patienten abgestimmt werden. Der Therapeut sollte legbar, mit einstellbaren Spannungen und Gelenken) (OPED-VACOhand-flex)
120 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
samen Muskelbauch besitzen, sollten die beiden benachbarten Fin- ⊡ Tab. 6.1 Bewertungsschema für Beugesehnennähte nach Buck-
ger in das Übungsprogramm mit einbezogen werden. Der Patient Gramcko et al. (1976)
wird instruiert, den Finger bis zur Schiene aktiv zu strecken und
den Finger anschließend locker zu lassen, damit das Gummiband Punkte
den Finger wieder beugt. Eine passive Flexion des Grundgelenks Messung an den Fingern
kann bei der Übungsbehandlung die vollständige Streckung des
Mittel- und Endgelenks erleichtern. Der Patient darf aber auch mit FKHA/Gesamtbeugung 0–2,5cm/>200° 6
der anderen Hand die Spannung in den Gummizügeln lockern, um 2,5–4cm/>180° 4
eine leichte Streckung des Fingers zu ermöglichen. Die Übungen
sollten tagsüber etwa 5-mal pro Stunde ausgeführt werden. Die Po- 4–6cm />150° 2
sitionen sollten jeweils etwa 5 s gehalten werden. Zur Verbesserung >6cm/<150° 0
der Flexion kann der Patient mit seiner anderen Hand die Finger
Streckdefizit 0–30° 3
passiv in Richtung Faustschluss beugen, um eine möglichst große
Bewegung in den Gelenken zu erreichen. Nach 2 Wochen werden 31–50° 2
6 die Fäden entfernt. Sollten die Finger noch deutlich geschwollen
51–70° 1
sein, dürfen milde elastische Kompressionsverbände angelegt wer-
den, mit denen die Übungen noch weiter möglich sind. Wenn sich >70° 0
jetzt an den PIP- oder DIP-Gelenken Streckdefizite eingestellt ha- Bewegungsausmaß >160° 6
ben, sollte die Zügelung nachts aufgehoben werden und die Finger
nachts in Streckstellung an der Schiene fixiert werden. >140° 4
Nach der 3. Woche wird die Schiene abgenommen und das >120° 2
Handgelenk aufgerichtet. Die Gummizügel verbleiben, werden jetzt
aber an einer Handgelenkbandage oder einem Uhrenarmband be- <120° 0
festigt. Das Übungsprogramm wird bis zum Ende der 5. oder Beugung im Endgelenk 50–70° 6
6. Woche fortgesetzt. In dieser Zeit können erste aktive Haltever-
30–49° 4
suche (»place and hold«) vorgenommen werden. Dabei wird eine
passiv eingestellte Beugestellung vom Patienten aktiv gehalten. Ein- 10–29° 2
getretene Kontrakturen müssen auch jetzt schon behandelt werden.
<10° 0
Die Zügelung wird nach 6 Wochen komplett entfernt und der
Patient zu aktiven und passiven belastungsfreien Übungen der Messung am Daumen
Handgelenke und der Finger aufgefordert. Dabei sollte auch darauf Streckdefizit 0–10° 3
geachtet werden, dass die tiefe und die oberflächliche Beugesehne
isoliert beübt werden, um eine Verklebung dieser Sehnen mitein- 11–20° 2
ander zu verhindern. Nach der 8. Woche sind leichte Belastungen 21–30° 1
und Tätigkeiten erlaubt, aber noch keine Bewegungen, die einen
>30° 0
kräftigen Faustschluss erfordern. In dieser Phase kommen Thera-
pieknete und dynamische Schienen gegen Streckdefizite zum Ein- Bewegungsausmaß >40° 6
satz. Übungen im warmen Wasserbad können sehr angenehm sein
30–39° 4
und Narben lockern. Nach der 12. Woche kann eine zunehmende
Vollbelastung angestrebt werden. 20–29° 2
Das zweite wichtige Weiterbehandlungsprogramm stammt von <20° 0
Duran und Houser aus dem Jahre 1975 (»controlled passive mo-
tion«), die hier in der Modifikation von Cannon aus dem Jahre Bewertung: sehr gut: 14–15 Punkte, gut: 11–13 Punkte, befriedigend: 7–10
1986 dargestellt wird: Punkte, schlecht: 0–6 Punkte
Nach der Operation wird eine Gipsschiene in Kleinert-Position
angelegt und am 1. postoperativen Tag eine Zügelung angelegt. Die
Zügelung wird aber nachts und während der Übungen entfernt. here Stabilität der Naht für aktive Bewegungen der Finger zuzulas-
Die Übungen bestehen aus passiven Bewegungen der Finger mit sen. Die verschiedenen Protokolle sind teilweise sehr unterschied-
der anderen Hand. Die Endgelenke werden passiv vollkommen lich. Generell muss aber gesagt werden, dass die Spannungen auf
gestreckt und gebeugt, während die Grund- und Mittelgelenke zur die Sehnennaht bei der aktiven Beugung des Fingers häufig recht
Entspannung der Sehnennaht gebeugt sind. Bei voller Beugung des nahe an die Belastungsgrenze der Naht heranreichen können und
Grundgelenks wird auch das PIP-Gelenk passiv voll gebeugt und dass daher eine aktive Nachbehandlung nicht bei jedem Patienten
gestreckt. Das Grundgelenk wird, soweit es die Schiene zulässt, und noch nicht allgemein empfohlen werden kann.
bei gebeugten PIP- und DIP-Gelenken beübt. Diese Übungen
werden bis in die 4. Woche hinein täglich 8- bis 10-mal pro Stunde Untersuchung der Endergebnisse
ausgeführt. Nachts werden die Finger mit gestreckten PIP- und Die Ergebnisse nach verschiedenen Beugesehnennähten und Wei-
DIP-Gelenken an der Schiene angewickelt. Nach 5 Wochen wird terbehandlungsprotokollen müssen verglichen werden können.
die Schiene entfernt und die Übungen auf das Handgelenk und die Dazu sind einheitliche Bewertungskriterien und standardisierte
Grundgelenke in Streckstellung ausgeweitet. Messmethoden notwendig:
Eine frühzeitige aktive Nachbehandlung von Beugesehnen- Das am weitesten verbreitete Bewertungsschema stammt von
verletzungen wird in einigen Zentren ausgeführt. Die verwendete Buck-Gramcko et al. (1976) und zieht zur Bestimmung der Gesamt-
Nahttechnik ist hier immer eine Mehrstrangtechnik, um eine hö- funktion den Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand, die Gesamtbeuge-
6.2 · Spezielle Techniken
121 6
Punkte
Flexionsdefizit <1 cm 6
1–1,9 cm 5
2–2,9 cm 3
3–3,9 cm 3
4–4,9 cm 2
5–5,9 cm 1
≥6 cm 0
Streckdefizit <1 cm 4
1–1,9 cm 3
2–2,9 cm 2
ten können. Nach der Operation ist die übliche Nachbehandlung mit
⊡ Tab. 6.3 ASSH-TAM-System der kontrollierten Mobilisation unter Entlastung im Kleinert-Gips
bei Kindern unter 5 Jahren nicht möglich. Daher müssen die Kinder
Sehr gut normale TAM
für eine Phase von 3 Wochen im Oberarmgips immobilisiert werden.
Gut > 75% TAM der gesunden Gegenseite Der Oberarmgips ist notwendig, da der Unterarmgips bei kleinen
Kindern nicht stabil genug angebracht werden kann und meist schon
Befriedigend > 50% TAM der gesunden Gegenseite
nach wenigen Stunden verrutscht. Je nach Alter des Kindes kann
Schlecht < 50% TAM der gesunden Gegenseite aber mit passiven Übungsbehandlungen bei maximaler Flexion des
Beugung (MP + PIP + DIP) – Streckdefizit (MP + PIP + DIP) = Totale aktive
Handgelenks den Verklebungen entgegengewirkt werden.
Mobilität (TAM) Bleibt eine Beugesehne bei einem Kleinkind unversorgt, bleibt
auch das Knochenwachstum am betroffenen Finger zurück und der
Finger wird im weiteren Wachstum deutlich kürzer (⊡ Abb. 6.33).
⊡ Tab. 6.4 Strickland-System
Zugangsweg
Als Zugangsweg zu den Beugesehnen am Finger und an der Hohl-
hand hat sich seit Jahrzehnten der Zickzackschnitt nach Julian Bru-
ner (1967) bewährt. Zuvor war es üblich, die Beugesehnen durch
einen langstreckigen seitlichen Zugang (mittseitlicher Hautschnitt) ⊡ Abb. 6.35 Schräge Durchtrennung des Ringbandes und leicht versetzte
zu eröffnen. In einigen Fällen ist die Bruner‘sche Schnittführung Erweiterungsplastik
allerdings zu weitgreifend, sodass eine Halbierung der Schnittlänge
(Hemi-Bruner-Inzision) Vorteile bietet. Im Einzelfall müssen be-
stehende Wunden natürlich in die Planung der Hauteröffnung mit werden, so ist eine Erweiterungsplastik für die Ringbänder unaus-
einbezogen werden. Grundsätzlich ist der Zugangsweg allerdings weichlich. Wegen der enormen Bedeutung sollte zumindest ein
von untergeordneter Bedeutung, wenn folgende Dinge sicherge- etwa 6 mm breiter Streifen des A2-Ringbandes immer bestehen
stellt sind: bleiben. Die Ringbanderweiterungsplastik kann auf verschiedene
1. Die spätere Narbenbildung darf sich nicht ungünstig auf die Art und Weise erfolgen. Am günstigsten erscheinen eine alternie-
Fingerbewegung auswirken; dies ist regelmäßig der Fall, wenn rende türflügelartige Eröffnung und eine Rekonstruktion über eine
die Beugefurchen senkrecht durchschnitten werden. Naht der benachbarten Ringbandabschnitte (⊡ Abb. 6.34).
2. Gefährdete Bereiche mit mikrochirurgischen Nähten, Fraktu- Ein geschontes Ringband ist aber grundsätzlich stabiler als
ren oder Bereiche ohne Sehnenscheide müssen mit gut durch- ein rekonstruiertes Ringband. Die schräge Rekonstruktion eines
bluteter Haut abgedeckt sein. Schlecht durchblutete Hautare- Ringbandes bringt noch zusätzlich den Vorteil, dass eine wulstige
ale, insbesondere spitzwinkelig zugeschnittene Hautlappen, Naht eine Sehne nicht im Winkel von 90° auf ein Ringband aufläuft
können bei einer oberflächlichen Wundinfektion wichtige und hier hängen bleibt. Knotige Verdickungen der Sehnen gleiten
Strukturen nicht ausreichend schützen. besser unter schräg rekonstruierten Ringbändern. (⊡ Abb. 6.35)
Störende Narben finden sich später auch häufig im Bereich der Nahtmaterial
Interdigitalfalten. Die Bruner’sche Schnittführung, Z-Plastiken und Das Nahtmaterial, das heute für die Beugesehnennaht eingesetzt
andere Schnittführungen sollten diesen Bereich möglichst immer wird, ist sehr unterschiedlich und reicht von monofilen langsam
meiden. resorbierbaren Fäden der Stärke 5/0 bis 3/0 bis zu geflochtenen
nicht resorbierbaren Fäden. Auch der verwendete Nadeltyp ist
Eröffnung und Verschluss der Sehnenscheide und der unterschiedlich. Da der Abstand der Kernnahtverankerung von
Ringbänder der Rupturstelle mindestens 10 mm betragen sollte, sind Nadeln
Nach dem Hautschnitt wird man meist eine weitgehend intakte mit einem kleinen Durchmesser eher ungünstig. Gerade Nadeln
Beugesehnenscheide vorfinden. Diese Sehnenscheide mit den ver- wurden früher hauptsächlich für die Sehnennahttechnik nach Bun-
stärkenden Ringbändern sollte für eine gute Funktion der Beuge- nell gebraucht. Da gerade diese Nahttechnik mit den mehrfachen
sehnen ohne Verklebungen und ohne Bogensehneneffekten mög- Querstichen durch die Sehne die Durchblutungssituation der Seh-
lichst geschont werden. Um die Beugesehnen zu nähen, wird aber ne stört, werden gerade Nadeln zunehmend seltener eingesetzt.
auch Platz gebraucht. Zumindest partiell müssen die Sehnenschei- Bewährt haben sich 3/8-Nadeln mit einer punktförmigen oder nur
den und vor allem die Ringbänder dann inzidiert werden. Muss kurz angeschliffenen Spitze. Scharfe Nadeln können Sehnenfasern
die Beugesehnennaht unterhalb eines engen Ringbandes angelegt zerschneiden und die Sehne zusätzlich schädigen.
6.2 · Spezielle Techniken
123 6
Geflochtene Fäden haben den Vorteil des sicheren Knotensit- gefordert, dass die Sehnennaht nur in den palmaren Bereich der
zes, sind aber an der Oberfläche rauer und können beim Durchzug Sehne gelegt werden darf. Man sollte in diesem Zusammenhang
durch die Sehne Sehnenfasern mit sich reißen. aber beachten, dass bei der Übungsbehandlung der Finger stark ge-
Daher wurden geflochtene Fäden mit einer zusätzlichen glatten beugt wird, der palmare genähte Abschnitt der Sehne also wie bei
Umhüllung entwickelt, die die Vorteile beider Fadenarten mitein- einer gekrümmten Ziehharmonika fast komprimiert wird, wäh-
ander vereinigen sollen. rend der dorsale – nicht genähte Abschnitt – eher distrahiert wird.
Da die genähte Sehne erst 6 Wochen nach der Naht so stabil ist, Da der dorsale Bereich »blutreich« ist und normalerweise besser
dass das Nahtmaterial nicht mehr gebraucht wird, sind kurzfris- und schneller heilt, ist eine dorsale Instabilität der Sehnennaht
tig resorbierbare Fäden kontraindiziert. Bei nicht resorbierbaren für die Heilung eher störend. Eine dorsolaterale Stabilisierung der
Fäden bleibt das Fadenmaterial zeitlebens als Fremdkörper in der Naht kann auf verschiedene Arten erreicht werden.
Sehne. Größere Knoten eines nicht resorbierbaren Fadens inner- Die Durchblutung der Beugesehnen im Hohlhand-, Karpal-
halb der Sehne können eine bleibende Aufwerfung oder Instabilität und Unterarmbereich erfolgt nicht über Vincula, sondern über sy-
in der Sehne hervorrufen. noviale Anlagerungen, die sich über weite Strecken mit den Sehnen
Abhängig von der Nahttechnik und der Dicke der Sehne wer- bewegen. Eine streng palmare Lage der Naht ist nicht erforderlich.
den Fäden der Stärke 5/0 bis 3/0 für die Kernnaht und 5/0 bis 7/0 Hier muss individuell die beste Lage der Sehnennaht intraoperativ
für die feinadaptierende Ringnaht eingesetzt. bestimmt werden.
In unserer Klinik haben sich langsam resorbierbare monofile Die Sehnennaht besteht aus einer Kernnaht, die die Hauptlast der
para-Dioxanon-Fäden der Stärke 4/0 und 5/0 für die Kernnähte bei Sehnennaht trägt und mit stabilerem Nahtmaterial ausgeführt wird,
den Beugesehnen der Finger und 6/0-para-Dioxanon-Fäden für und einer feinadaptierenden Ringnaht, die mit sehr feinen Fäden
die Ringnaht durchgesetzt. die Rupturstelle verschließt. Die Ringnaht trägt zwar auch zusätzlich
noch zur Stabilität bei, Hauptaufgabe ist aber, die Sehnenenden glatt
Nahttechnik aufeinander zu bringen (und damit »unsatisfied fibers« nach Bunnell
Die Naht einer Beugesehne ist eine sehr anspruchsvolle chirurgi- zu vermeiden) und ein Aufschieben der Sehnenenden an den Ring-
sche Leistung. Die Sehne besteht aus parallel angeordneten Kol- bändern und damit eine Lückenbildung zu verhindern.
lagenfasern und einfache Nähte reißen sehr leicht aus. Techniken,
die eine Naht stabiler machen, führen fast regelmäßig zu knoten- Kernnahttechniken
förmigen Verdickungen, die ein Gleiten der Sehnen unterhalb der Wie Carl Nicoladoni bereits 1880 forderte, sollte die Verankerung
Ringbänder unmöglich machen. Die Naht muss daher ganz speziell der Kernnaht, bzw. der Querstich durch die Sehne mindestens
in der Sehne verankert werden, um eine Stabilität für eine frühe 10 mm von der Rupturstelle entfernt sein. Diese Feststellung von
Übungsbehandlung zu erreichen, und ohne knotenförmige Verdi- Nicoladoni hat bis heute ihre volle Gültigkeit, da bei einer 6 mm
ckungen glatt bleiben. Und dann darf die Durchblutung der Sehne starken Sehne die letzten 6 mm vor der Rupturstelle nach wenigen
kaum beeinträchtigt werden. Die Sehne muss auch überaus scho- Tagen so stark »aufweichen«, dass hier jede Naht unter geringer
nend behandelt werden, darf niemals gequetscht werden. Auch der Belastung ausreißt (s. oben).
oder die Knoten der Sehnennaht bilden auf der Sehnenoberfläche Von Nicoladoni stammen aus dem Jahre 1880 auch die ersten
ein Gleithindernis. Also ist es besser den Fadenknoten innerhalb brauchbaren Sehnennahttechniken, die mit einer geringen Varia-
der Sehne zu versenken. Verschiedene Studien haben auch gezeigt, tion einer Schlaufe beim Querstich des Kernnahtfadens 1917 durch
dass auch das längs gerichtete Nahtmaterial besser innerhalb der Ludwig Kirchmayr zur »Urmutter« der wichtigsten Sehnennaht-
Sehne verlaufen sollte, als auf der Sehnenoberfläche. technik wurde. Verändert von Max Lange, aufgegriffen und leicht
Die Nahttechnik muss sich streng genommen auch immer den modifiziert von Isidor Kessler und verfeinert von Zechner ist diese
lokalen Durchblutungs- und Belastungssituationen der jeweiligen Nahttechnik bis heute die am weitesten verbreitete Nahttechnik für
Sehnenabschnitte anpassen. Im Fingerbereich werden die Sehnen Beugesehnen und häufig auch Strecksehnen.
von dorsal über die Vincula breves und longa mit Blut versorgt Für eine stabile Schlaufenverankerung in der Sehne, ist es
und bei der Beugung des Fingers wird ein Druck gegen die palmar notwendig etwa 2 mm des Sehnenquerschnittes mit der Naht zu
abstützenden Ringbänder aufgebaut. Die Durchblutung der Sehne fassen. Auch wie die Schlaufe ausgeführt wird, ist nicht unwichtig.
ist daher im palmaren Bereich des Sehnenquerschnittes deutlich Pennington wies zuerst darauf hin, dass es offene und schließende
geringer. Die Ernährung der Sehne erfolgt im palmaren Druckbe- Schlaufen gibt (»grasping and locking sutures«). Die unterschlun-
reich der Sehne durch Diffusion aus der Synovia. Um die Sehnen- genen Nähte sind um etwa 5 N stabiler als die nicht unterschlunge-
durchblutung durch die Naht wenig zu stören, wurde daher früher nen Schlaufen (⊡ Abb. 6.36, ⊡ Abb. 6.37).
124 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
a b
a e
b f
c g
Die am häufigsten verwendeten Kernnahttechniken sind in ist sehr wichtig, da die weitgreifende Kernnaht die Lücke zwischen
⊡ Abb. 6.38 dargestellt. den Rupturenden nicht ausreichend genug – insbesondere bei
Mobilisation der Sehne – verschließen kann. Für diese Naht ist die
Ringnahttechniken Intaktheit des äußerst dünnen Epitenoniums sehr wichtig, da die
Eine feinadaptierende Naht direkt am Rupturrand wurde bereits parallel angeordneten Kollagenfasern der Sehne eine enggefasste
1887 von Witzel empfohlen, allerdings wurde diese Naht noch lange Naht nicht halten können. Daher müssen bei der Präparation der
Zeit als Einzelknopfnaht ausgeführt. Heute nicht mehr wegzuden- Sehne die Rupturränder besonders schonend behandelt werden.
ken, aber erst ab 1973 findet man in der Literatur Empfehlungen Die feinadaptierenden Ringnähte werden mit monofilem Fa-
für fortlaufende Ringnähte, die dann aufgrund unterschiedlicher den der Stärke 5/0 bis 7/0 angegeben, teilweise nicht resorbierbar,
Stabilitäten mehrfach modifiziert wurden. Diese zusätzliche Naht teilweise langsam resorbierbar. Wenn es geht, sollten auch die
6.2 · Spezielle Techniken
125 6
d
⊡ Abb. 6.39 Die wichtigsten Ringnahttechniken. a Kleinert, b Halsted-Wade,
c Silfverskiöld, d Strickland
Technik der primären Naht der oberflächlichen ⊡ Abb. 6.41 Naht der oberflächlichen Beugesehne in der Zone 2 nach Greu-
Beugesehne im Chiasmabereich lich oberhalb der tiefen Beugesehne
Bei der Naht der oberflächlichen Beugesehne im Chiasmabereich
kann die übliche Kernnahttechnik nicht angewendet werden, da
es sich in diesem Bereich um sehr platte Sehnen handelt. Bewährt ben, da es sonst zu einer Schwanenhalsdeformität kommen kann
haben sich hier kleine U-Nähte, Kreuzstich-Nähte und andere (⊡ Abb. 6.40, ⊡ Abb. 6.41).
Techniken, wobei in den meisten Fällen der Rupturabstand der
Nahtverankerung von 10 mm wie bei den Kernnähten nicht einge- Praktisches Vorgehen bei der primären
halten werden kann und nicht braucht. Beugesehnennaht
Die Sehnennaht darf in dieser Zone 2 aber nicht wulstig sein Der Patient sollte mindestens in i.v.-Regional- oder Plexusanäs-
und das Gleiten der tiefen Beugesehne behindern. thesie und in Oberarmblutleere unter Lupenbrillenvergrößerung
Da die tiefe Beugesehne den Finger weitgehend allein kom- operiert werden. Durch begleitende Verletzungen oder stark zu-
plett beugen kann, ist in manchen Fällen die Frage berechtigt, ob rückgezogene Sehnenstümpfe kann eine Eröffnung am Unter-
die oberflächliche Beugesehne überhaupt in der Zone 2 genäht arm (Venentransplantat, Sehnentransplantat, Nerventransplantat,
werden muss. Diese Fälle sind komplexe Grundgliedfrakturen, Hauttransplantat) jederzeit notwendig werden. Eine Operation in
Replantationen und andere komplexe Handverletzungen. Das Oberst-Anästhesie und Fingerblutleere ist strikt abzulehnen.
Sehnenmaterial der resezierten oberflächlichen Beugesehne kann Die Wunde sollte schmal exzidiert werden und der Haut-
dann für Ringbandrekonstruktionen, zur Abdeckung der Fraktur, schnitt nach Bruner nach proximal und distal weitergeführt wer-
für Bandplastiken und anderen rekonstruktiven Eingriffen ge- den (⊡ Abb. 6.42).
nutzt werden. Die Indikation zur Resektion der oberflächlichen Alle Gefäße, Nerven, Bänder und benachbarten Sehnen, die
Beugesehne sollte aber sehr gewissenhaft gestellt werden. Bei der verletzt sein könnten, müssen so weit freigelegt werden, dass sie
Resektion der oberflächlichen Beugesehne sollten die distalen sicher beurteilt und versorgt werden können. Verschmutzungen
15 mm des Ansatzes in situ als spontane narbige Tenodese verblei- in der Tiefe müssen ebenfalls exzidiert werden. Die Sehnenscheide
126 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
a b
c d
e f
g h
⊡ Abb. 6.42a–h Primäre Beugesehnennaht am Kleinfinger. a Präoperativer Zustand, b Bruner‘sche Schnittführung als Zugangsweg, c Eröffnung der
Beugesehnenscheide, d Hervorziehen der Sehnenstümpfe und Fixierung mit Kanülen, e Naht der oberflächlichen Beugesehne im Chiasmabereich,
f Kernnaht, g Ringnaht, h Verschluss der Sehnenscheide
6.2 · Spezielle Techniken
127 6
i j
k l
⊡ Abb. 6.42i–l Primäre Beugesehnennaht am Kleinfinger. i Hautnaht und Drainage, j Gipsverband in Kleinert-Stellung, k Streckung nach 8 Wochen, l Faust-
schluss nach 8 Wochen
wird noch so lange intakt gelassen, bis beurteilt werden kann, wo erscheint, kann der Unterarm von proximal nach distal »ausgemol-
der proximale und der distale Sehnenstumpf liegen und auf welcher ken« werden. Es sollte unbedingt vermieden werden mit Klemmen
Höhe die Beugesehnennaht zu liegen kommt. Wenn der Finger bei oder Pinzetten im Sehnenscheidenkanal zu stochern und den Seh-
der Verletzung stark gebeugt war, liegt die spätere Beugesehnen- nenstumpf brutal zu quetschen.
naht weiter distal als die Durchtrennungsstelle der Sehnenscheide. Der Stumpf der tiefen Beugesehne befindet sich meist auf Höhe
Wenn der Finger bei der Verletzung ganz gestreckt war, liegt die des A1-Ringbandes. Der Finger kann bis zu diesem Bereich eröff-
Naht der Beugesehne etwa auf gleicher Höhe wie die Schnittstelle net werden. Falls sich die oberflächliche und tiefe Beugesehne oder
in der Sehnenscheide. Meist liegt der distale Sehnenstumpf einige die langen Daumenbeugesehne immer noch nicht zeigen, sollte
Millimeter weiter distal und der proximale Sehnenstumpf durch nicht weiter gesucht werden, sondern gleich am distalen Unterarm
den Muskelzug erheblich weiter proximal in der Sehnenscheide eröffnet werden. Der herausgezogene Sehnenstumpf sollte nicht
zurückgezogen. Die Sehnen sind insbesondere dann sehr weit direkt auf die Haut gelegt werden, sondern auf eine feuchte Kom-
zurückgezogen, wenn der Muskel bei der Durchtrennung stark an- presse. Der Sehnenstumpf wird gereinigt und Reste der Vincula,
gespannt war. Die tiefen Beugesehnen werden durch die Mm. lum- die weit von der Sehne abstehen, werden reseziert. Diese Reste
bricales am weiten Zurückschnellen gehindert. Daher findet sich bieten sonst ungünstige Ausgangsstellen für Verwachsungen.
die tiefe Beugesehne bei einer Durchtrennung am Finger meist nur Die Sehnenenden müssen schonend unter den Ringbändern
2–3 cm weiter proximal. Die oberflächliche Beugesehne und die hindurch gezogen werden. Hier werden auch keine Klemmen be-
lange Daumenbeugesehne sind dagegen »nur« an den Vincula be- nutzt, um die Sehne direkt zu greifen und zu quetschen. Bei weiten
festigt und können hier abreißen und unter Umständen bis in den Strecken kann der Sehnenstumpf mit einer Kirchmayr-Naht fixiert
Unterarm zurückgezogen sein (⊡ Abb. 6.43). werden und die Sehne indirekt am Faden mit einer Sehnendurch-
Wenn die Sehnen weit zurückgezogen sind, sind die Vincula in zugsklemme nach Carroll gefasst werden.
der Regel mit abgerissen. Das Endergebnis kann dann bereits als Am Finger kann die Sehne mit Fäden oder verschiedenen wei-
schlechter prognostiziert werden. chen Kathetern unter den Ringbändern hindurch gezogen werden.
Um an den proximalen Sehnenstumpf zu gelangen gibt es ver- An dieser Stelle sollte das Handgelenk in Beugestellung bei-
schiedene Techniken. Zunächst sollte der Finger um etwa 2–3 cm spielsweise durch Unterlegen mit Tüchern fixiert werden, um von
weiter nach proximal eröffnet werden. Ist der proximale Stumpf Anfang an die Spannung von den Beugesehnennähten zu nehmen.
immer noch nicht zu sehen, können das Handgelenk und die Fin- Allenfalls kann das Sehnengewebe, das noch reseziert werden
gergrundgelenke maximal gebeugt werden und die benachbarten muss, mit Klemmen und Pinzetten gehalten und erst während oder
Finger gestreckt werden. Falls dann der Stumpf immer noch nicht am Ende der Sehnennaht abgeschnitten werden.
128 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
Die Sehnenscheide wird jetzt unter optimaler Schonung der der Sehnenscheide komplett aufgeschnitten werden, da die beiden
Ringbänder möglichst auf kurzer Strecke so eröffnet, dass eine Sehnenenden mobil sind und nach Bedarf in die manchmal nur
Rekonstruktion möglich werden kann. Der gesamte Bereich der 1 cm weite Öffnung der Sehnenscheide alternierend eingezogen
Sehnennaht, der über 2 cm in Anspruch nimmt, braucht nicht an werden können.
Ein teilweiser Erhalt oder eine gute Rekonstruktion der Ring-
bänder ist in den meisten Fällen möglich, aber eine Sehnennaht
unterhalb des sehr engen A4-Ringbandes erfordert fast immer
eine Erweiterungsplastik. Es ist immer sehr günstig, wenn vom
A2-Ringband wenigstens ein 5 oder 6 mm breiter Streifen erhalten
werden kann.
Dann folgt das Debridement der Sehnestümpfe. Gerade bei
Säge-, Fräs- oder Quetschverletzungen können die verschmutzten
Stümpfe in die Sehnenscheide gezogen worden sein. Die Sehnen-
scheiden sollten also gespült werden. Sämtliches verschmutztes
6 Sehnengewebe muss exzidiert werden. Dies muss aber sehr sorg-
sam durchgeführt werden, da ein zu großer Längenverlust der
Sehne eine primäre Naht unmöglich werden lässt oder schon
primär zu einem Streckdefizit führt, das durch die nachfolgenden
Übungen nur unzureichend ausgeglichen werden kann. Das De-
bridement muss also kompromisslos sauber, aber so sparsam wie
möglich erfolgen. Wenige Millimeter Verkürzung wirken sich nicht
a
wesentlich ungünstig auf die Funktion aus, mehr als 10 mm Ver-
kürzung können aus einem Finger einen »Haken« machen.
Der Umgang mit der Sehne ist jetzt besonders »atraumatisch«,
die Sehne wird nur sehr vorsichtig mit Pinzetten berührt. Damit sich
die Sehne nicht zurückziehen kann, wird sie mit dünnen Kanülen
fixiert, die durch die benachbarten Ringbänder gestochen werden.
Beim Anlegen der Kernnaht sollte auf die optimale Spannung
der Sehne geachtet werden. Ist die Spannung zu groß, wird die
Naht sehr wulstig und das Gleiten der Sehne unter den Ringbän-
dern wird erschwert, ist die Spannung zu gering, kann sich leicht
eine Lücke zwischen den Sehnenstümpfen bei der Übungsbehand-
lung bilden, was zu vermehrten Adhäsionen führen kann. Daher
sollte bei der Kernnaht nach den ersten Stichen immer noch eine
Korrektur der Nahtspannung möglich sein.
Um die Sehnennaht nicht zu wulstig werden zu lassen, ist es in
einigen Fällen erlaubt, an der Nahtstelle aus beiden Sehnenstümp-
b
fen zentral Sehnengewebe zu entfernen. Der Rupturbereich wird
dadurch etwas schmaler und kann besser unter den Ringbändern
gleiten.
Mit der Ringnaht wird die Sehne von der Oberfläche her noch
geglättet und die Sehnenstümpfe aneinandergelagert, sodass bei den
Übungsbehandlungen keine Lücke entstehen kann. Anschließend
sollte die Sehnenscheide möglichst wieder verschlossen werden und
Ringbandplastiken ausgeführt werden. Die Naht von benachbarten
Gefäß- oder Nervenverletzungen, falls diese vorgelegen haben, ist
selbstverständlich. Eine Redon-Drainage hat sich bewährt, sollte
aber nicht direkt neben einer Nervenkoaptation oder mikrochi-
rurgischen Arteriennaht zu liegen kommen. Der Hautverschluss
muss so erfolgen, dass kritische Areale (z. B. ohne Sehnenscheide,
Nervennähte, Gefäßnähte etc.) sicher und mit guter Haut bedeckt
werden. Die Beugefurchen dürfen keine senkrecht durchlaufende
Naht aufweisen, ggf. muss hier eine Z-Plastik angelegt werden.
Das Handgelenk, das sich immer noch in Beugestellung befin-
c
det, wird mit in den Verband einbezogen und der Verband bis zum
proximalen Drittel des Unterarmes erweitert. Bei der anschließen-
⊡ Abb. 6.43 Naht der Sehnen des M. flexor pollicis longus. a Präparation
den Gipsanlage ist es wichtig, dass alle Finger im Endgelenk und
der langen Daumenbeugesehne zunächst am Daumen selbst, wenn der
proximale Stumpf nicht gefunden wird, wird am Handgelenk eröffnet. Die
im Mittelgelenk vollkommen gestreckt sind. Um die Spannung
FPL-Sehne war sogar hier noch umgeschlagen. b Durchzug des proximalen von der Sehnennaht zu nehmen, müssen dann die Grundgelenke
Stumpfes durch den Karpalkanal innerhalb der Sehnenscheide der FPL- (was günstig ist) und das Handgelenk (was bei älteren Patienten
Sehne mithilfe der Sehnendurchzugszange nach Carroll. c Durchgezogener zu Karpaltunnelsyndrom-typischen Beschwerden führen kann) ge-
Sehnenstumpf im Nahtbereich beugt werden. Insgesamt ist die optimale Stellung des Gipses eine
6.2 · Spezielle Techniken
129 6
»Intrinsic-plus«-Stellung mit gebeugtem Handgelenk. Als grobe
Orientierung müssen der Unterarmschaft und die Finger senkrecht
zueinander stehen. Das Handgelenk ist meist etwa 35° und die
Grundgelenke sind etwa 55° gebeugt.
1a 2a 3a 4a 5a
(ohne Dislokation der Sehne)
scheint auch die erweiterte Klassifikation nicht ausreichend genug Schmerz verspürt haben und darauf das Endglied nicht mehr beu-
und ist auch nicht systematisch aufgebaut (⊡ Abb. 6.45). gen konnten. Am häufigsten finden sich komplett gestreckte oder
Die Schädigung des Endgliedknochens wird zunächst in die leicht überstreckte Endgelenke und Hämatome im Endgelenkbereich
Formen Typ 1 (kein knöcherner Ausriss), Typ 2 (knöcherner Aus- oder palmarseitig am Finger (⊡ Abb. 6.46). Eine aktive Beugung des
riss ohne Gelenkbeteiligung oder Schaftquerfraktur), Typ 3 (knö- Endgelenks ist nicht mehr möglich. In einigen Fällen kann das dislo-
cherner Ausriss mit Gelenkbeteiligung), Typ 4 (knöcherner Ausriss zierte palmare Fragment gut getastet werden (⊡ Abb. 6.47).
mit Schaftquerfraktur) und Typ 5 (Endgliedmehrfragment- oder Bei der Diagnostik ist ein seitliches Röntgenbild sehr wich-
Trümmerfraktur) eingeteilt. Diese Einteilung zielt auf die verschie- tig, da hier die Endgliedfraktur und die Position des dislozier-
denen Osteosynthesearten ab, die benötigt werden. Dann erfolgt ten Sehnenansatzes bestimmt werden können (⊡ Abb. 6.48). Ein
eine Zusatzbezeichnung »a« (ohne wesentliche Dislokation der disloziertes Knochenfragment findet sich häufig im Bereich des
Sehne) und Zusatz »b« (mit deutlicher Dislokation der Sehne). Ein A2-Ringbandes (⊡ Abb. 6.49), da hier die größte Engstelle im Ring-
weites Zurückziehen der Sehne mit oder ohne knöchernen Ansatz bandsystem vorliegt. Die Fragmente können aber auch ein Gelenk
bedingt immer ein Zerreißen der Vincula und bedingt dadurch blockieren und eine andere Verletzung vortäuschen.
eine schlechtere Prognose. Die Prognose ist auch entscheidend von Die Behandlung sollte so zügig wie möglich erfolgen, da die
der frühzeitigen Diagnose und Therapie abhängig. Ergebnisse bei verspäteten Operationen in der Regel deutlich
Im typischen Fall berichten die meist jüngeren Patienten (Durch- schlechter sind. Reine sehnige Ablösungen müssen mit transossä-
schnittsalter 22 Jahre, 80% Männer), dass sie bei einer sportlichen ren Nähten wieder an der Ansatzregion fixiert werden. Dazu eig-
Tätigkeit mit dem Ringfinger hängengeblieben sind, einen reißenden nen sich bei den Typen 1 und evtl. auch noch 2 transversal durch
6.2 · Spezielle Techniken
131 6
⊡ Abb. 6.46 Typisches klinisches Bild einer (selteneren) Avulsionsverletzung ⊡ Abb. 6.49 Der dislozierte Sehnenansatz bleibt meist auf Höhe des A2-
des Kleinfingers Ringbandes hängen
den Knochen geführte monofile langsam resorbierbare Fäden der Technik bei Spontanrupturen
Stärke 3/0. Ab dem Stadium 2 kann auch eine transunguale Fixati- Spontanrupturen der Beugesehnen sind selten und können sehr
on notwendig werden. Wenn die Gelenkfläche der Endgliedbasis unterschiedliche Ursachen haben. Die Bezeichnung »spontane
gebrochen ist, muss diese durch Drähte, Cerclagen oder Schrauben Beugesehnenruptur« wird auf die geschlossenen Sehnenrupturen
rekonstruiert werden. Bei einer zusätzlichen Schaftfraktur (Typ 4) angewendet, die unter physiologischen Muskelanspannungen auf-
müssen Kirschner-Drähte eingesetzt werden (⊡ Abb. 6.50). Bei den treten, unter denen eine »normale« Sehne nicht reißen würde.
132 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
a f l
6
b
g m
h n
i o
j p
M. extensor digit. longus der 2. Zehe 100% 31 cm (22-39 cm) 2,5 mm (2–4 mm)
a b
c d
e f
g h
⊡ Abb. 6.53 Ringbandplastiken. a A2 und A4-Ringband nach Bunnell mit freiem Sehnentransplantat, b Weilby-Kleinert-Technik, c Karev-Technik für Sehnen-
transplantate, d Widstrom-Technik, e Lister-Technik, f Gabl-Technik, g Michon-Merle-Technik, h Okutsu-Technik
6.2.4 Technik der A1-Ringband-Spaltung im Bei ausgeprägter Synovialitis kann eine Synovialektomie indiziert
Fingerbereich sein. Nach subtiler Blutstillung erfolgt der Wundschluss mit Ein-
zelknopfnähten. Ein immobilisierender Verband sollte vermieden
Der Eingriff erfolgt in Lokalanästhesie und mit Lupenbrille. Die werden, der Patient sollte so früh wie möglich frei bewegen. Ein
Anlage einer Blutsperre ist indiziert, durch die Lokalanästhesie, Hämatom in diesem Bereich ist sehr unangenehm, führt zu lang
kann sie aber nicht sehr lange von den meisten Patienten toleriert anhaltenden schmerzhaften Verhärtungen des Subkutangewebes.
werden. Nach Palpation der Beugesehne und der oft vorhande- Eine gute Blutstillung, ggf. Drainage und ein lokaler Druckver-
nen Verdickung erfolgt am günstigsten eine Inzision im Verlauf band sind immer günstig.
der distalen Hohlhandquerfurche für den Kleinfinger, Ringfinger
und Mittelfinger. Für den Zeigefinger im Verlauf der proximalen
Hohlhandquerfurche. Die Präparation erfolgt nach distal, das 6.2.5 Technik der A1-Ringband-Spaltung im
sensible Fettpolster, in dem sich reichlich große Vater-Pacini-La- Daumenbereich Kap. 21
mellenkörper befinden, kann so am besten geschont werden. Bei-
de Gefäß-Nerven-Bündel sollten dargestellt und sicher geschont 6.2.6 Technik der Tendolyse Kap. 14
werden. Das A1-Ringband wird unter Sicht gespalten. Da die
A1-Ringbänder des Zeigefingers und des Kleinfingers auch Um- 6.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
lenkfunktionen (Hypomochlion) besitzen, die erhalten werden
können, ist es günstig, wenn das A1-Ringband des Zeigefingers Ziel der Beugesehnenchirurgie ist die Wiederherstellung der Greif-
auf der Radialseite, das A1-Ringband des Kleinfingers dagegen funktion. Dies ist nur dann erfolgreich, wenn alle Gelenke frei und
auf der Ulnarseite gespalten wird. Zur Verringerung des Rezidiv- leicht beweglich sind und die Sehne störungsfrei gleiten kann.
risikos kann ein Streifen aus dem A1-Ringband entfernt werden.
Bei der Spaltung ist darauf zu achten, dass das Ringband komplett
»bis auf die letzte Faser« gespalten wird, was nach distal hin we- 6.3.1 Fehler bei der primären Naht
gen akzessorischer Ringbandstrukturen nicht immer ganz leicht
zu beurteilen ist. Das A2-Ringband, das etwa 8 mm proximal Die häufigsten Fehler bei der primären Naht sind:
der Grundgliedbeugefurche beginnt, muss unbedingt geschont ▬ Der Zugangsweg wurde falsch gewählt, die Beugefurchen wur-
werden. Zur Kontrolle auf vollständige Spaltung können die bei- den senkrecht oder nicht schräg genug durchschnitten und es
den Beugesehnen mit einem Sehnenhaken hervorluxiert werden. bildet sich eine Narbenkontraktur aus.
Ebenso sollte die Kontrolle der freien passiven und aktiven Fin- ▬ Die Ringbänder wurden nicht geschont und es entsteht ein
gerbeweglichkeit intraoperativ »unter Sicht« kontrolliert werden. Bogensehneneffekt.
Weiterführende Literatur
137 6
▬ Die Sehnennaht wurde zu wulstig angelegt und die Sehne Bunnell S (1922) Repair of tendons in the fingers. Surg Gynecol Obstet 35:
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entstehen vermehrt Adhäsionen.
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▬ Die Wunde wurde nicht gut genug debridiert und es entsteht Duran RJ, Houser RG. Controlled passive motion following flexor tendon
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▬ Die Naht wurde zu nah an die Rupturränder gesetzt und reißt A2 flexor pulley in the long finger. J Hand Surg Br 25: 98–101
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▬ Die Nachbehandlung wird nicht exakt ausgeführt, mit zu ge- tation. Chirurg 38: 327–328
ringem Bewegungsumfang, unzureichender Streckung oder zu Geldmacher J (1969) Die zweizeitige freie Beugesehnentransplantation.
früher aktiver Beugung. Handchirurgie 3: 109–120
▬ Der Patient macht die Übungen nicht vorschriftsmäßig, insbe- Geldmacher J, Köckerling F (1991) Sehnenchirurgie, Urban & Schwarzenberg,
sondere wenn noch Schmerzen bei der Bewegung bestehen. München
▬ Der Operateur kontrolliert die Funktionen bei der Nachbe- Greulich M, Lanz U, Göckeler J (1977) Sehnennaht im Bereich der Sehnen-
handlung nicht selbst scheide – Experimentelle Untersuchungen. Handchirurgie 9: 113–118
Hunter JM (1965) Artificial tendons. Early development and application. Am
J Surg 109:325–338
6.3.2 Fehler bei der sekundären Rekonstruktion Hunter JM, Schneider LH, Mackin EJ (1987) Tendon surgery in the hand.
Mosby, St. Louis
der Beugesehnen
Hunter JM, Schneider LH, Mackin EJ (1997) Tendon and nerve surgery in the
hand. A third decade. Mosby, St. Louis
▬ Die Operation für die sekundäre Rekonstruktion wird zu Josza L, Kannus P (1997) Human tendons. Human Kinetics. Champaigne
frühzeitig ohne vorherige ausreichende Handtherapie begon- Karev A (1984) The »belt-loop« technique for the reconstruction of the pul-
nen und die aktive Narbenbildung nach der Operation ist zu leys in the first stage of flexor tendon grafting. J Hand Surg 9A: 923–924
stark. Kessler I, Nissim F (1969) Primary repair without immobilization of flexor
▬ Der Silikonplatzhalter wird mit resorbierbarem Nahtmaterial tendon division within the digital sheath. An experimental and clinical
eingenäht und löst sich. study. Acta Orthop Scand 40: 587–601
Kirchmayr L (1917) Zur Technik der Sehnennaht. Zbl Chir 44: 906–907
▬ Die Ringbänder werden nicht ausreichend an Zahl und Quali-
Kleinert HE, Kutz JE, Ashbell TS, Martinez E (1967) Primary repair of lacerated
tät rekonstruiert.
flexor tendons in »no man’s land«. J Bone Joint Surg 49A: 577
▬ Die Narbenresektion unterhalb der Beugesehnen beim Bogen- Kleinert HE, Kutz JE, Atasoy E, Stormo A (1973) Primary repair of flexor ten-
sehneneffekt ist nicht ausreichend genug. dons. Orthop Clin North Am 4: 865–876
▬ Die Vorspannung der sekundären Rekonstruktion wird falsch Lamb DW (1984) A colour atlas of the surgery of flexor tendons of the hand.
gewählt und der Finger steht in permanenter Beugestellung Wolfe Medical Publishing, Weert
oder Streckstellung. Lange M (1929) Die Naht und das Nahtmaterial in der Orthopädie. Z Orthop.
▬ Eine Verlängerung der tiefen Beugesehne proximal der Zone 3, Chir 51 Beil.-Heft
also im Bereich des distalen Unterarmes, führt zu einer Dis- Langer M, Brug E (2001) Die zweizeitige freie Beugesehnentransplantation
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▬ Silikonplatzhalter, die sich beim passiven Bewegen aufbäumen,
73–83
können die Haut perforieren und zu einer Infektion der ge- Langer M, Meffert RH, Grünert J, Fischer G, Brug E (2003) Makroskopische
samten Pseudosehnenscheide führen. Anatomie der Beugesehnen und ihre Zoneneinteilung. Chir. Praxis 61:
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138 Kapitel 6 · Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen
Gefäßschäden an der Hand sind häufige Begleitverletzungen bei > An der Hand ist jede penetrierende Verletzung verdächtig auf
allen tief reichenden penetrierenden Gewalteinwirkungen. Die eine Mitverletzung von Blutgefäßen und Nerven. Damit sind
Einführung der mikrochirurgischen Technik in die Handchirurgie Gefäßschäden häufig, aber nicht alle verlangen eine Gefäß-
hat die Versorgungstaktik solcher Verletzungen grundsätzlich ge- naht, weil die Blutversorgung an der Hand an keiner Stelle
ändert: Mit der Wiederherstellung der Durchblutung können nicht von nur einem Gefäß abhängig ist.
nur Replantationen erfolgreich durchgeführt werden, sondern
diese Technik hat auch die Rekonstruktionsmöglichkeiten nach Penetrierende Gefäßverletzungen (»Schädigung von außen nach
Traumen erheblich erweitert sowie das Repertoire der sekundär re- innen«) entstehen meist durch Schuss- oder Stichverletzungen.
konstruktiven Chirurgie bereichert. Grundlage dieser Entwicklung Während Stichverletzungen fast immer zu einer glatten Durchtren-
ist die mikrochirurgische Gefäßnaht. nung der Gefäßwand führen, ist das Ausmaß der Schussverletzung
von mehreren Faktoren abhängig: Art der verwendeten Waffe, Pro-
jektilgeschwindigkeit, Masse und Form des Projektils, Mantelfes-
7.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie tigkeit des Projektils (Walterbusch 2002). Bei den penetrierenden
und Physiologie Gefäßläsionen unterscheidet man zwischen dem tangentialen Ein-
riss des Gefäßes, der Lazeration (⊡ Abb. 7.4a), und der kompletten
7 Für die allgemeine Darstellung der Behandlung von Gefäßverlet- Durchtrennung, der Transsektion (⊡ Abb. 7.4b).
zungen ist die Mikroanatomie der Gefäße von Bedeutung. Nicht penetriedende oder stumpfe Gefäßverletzungen (»Schä-
Der dreischichtige Gefäßwandaufbau aus Adventitia – Me- digung von innen nach außen«) entstehen durch stumpfe Kom-
dia – Intima (⊡ Abb. 7.1) ist an der Arterie (⊡ Abb. 7.2a) besser zu pression oder Zugschädigung, häufig im Zusammenhang mit
erkennen als an der Vene (⊡ Abb. 7.2b). Die aus glatten schrauben- Frakturen und Dislokationen. Die einzelnen Wandschichten wer-
förmig angeordneten Muskelfasern bestehende Media (blau) wird den unterschiedlich geschädigt. Während die Kontinuität der deh-
von je einer elastischen Membran eingegrenzt (orange) (Membrana nungsfähigen Adventitia selten unterbrochen wird (Gefäßruptur
elastica externa und interna). Diese sorgt dafür, dass eine durch- oder Lazeration), kommt es meist nur zu Einrissen der Intima-
trennte Arterie nach Aufdehnung (= Überwindung des Muskelto- media-Schicht mit konsekutiver Ausbildung einer sich dem Blut-
nus) offen stehen bleibt, während die Vene wieder kollabiert, weil strom entgegenstellenden Stufe. Die lokale Verletzung lässt in
bei dieser die Elastica nur sehr spärlich ausgebildet und die Mus- Kombination mit einer Strömungsverlangsamung eine intravasale
kelschicht viel dünner ist. Die Endothelzellen (blau), welche die Thromose entstehen, die sich in der Regel bis zum nächst höheren,
innerste Schicht der Tunica interna bilden, sind glatt und weisen einen ausreichend Blutfluss gewährleistenden Seitenast aufbaut
die korpuskulären Bestandteile des Blutes ab. (⊡ Abb. 7.5). Die Verletzung ist äußerlich nicht so offensichtlich,
Verletzungen der Intima erzeugen eine Thrombozytenan- wie bei einer Blutung. Gerade diese oftmals nicht in unmittelbarer
haftung, weswegen eine Hemmung der Blutplättchenadhäsion Umgebung des eigentlichen Traumas lokalisierten und noch dazu
bis zur Heilung der Endothelläsion bzw. der Gefäßnaht indiziert von außen nicht ohne Weiteres erkennbaren Verletzungen führen
ist (2–3 Monate). Diese Endothelzellen wachsen auch über die zu Misserfolg von Gefäßrekonstruktionen, indem sie durch Ge-
in das Lumen reichenden Mikrofäden, wie schon in den ersten rinnselbildung den primär in Gang gekommenen Blutstrom wieder
Arbeiten über die Mikrochirurgie gezeigt wurde (Biemer 1980; stoppen.
⊡ Abb. 7.3).
7.1.4 Diagnostik
7.1.2 Epidemiologie
Die Untersuchung der Durchblutung (Perfusion) der Hand er-
Gefäßschäden an der Hand sind häufige Begleitverletzungen bei folgt durch Anamnese (Unfallhergang), Inspektion (Hautläsion
allen tief reichenden penetrierenden Gewalteinwirkungen. im Bereich von Gefäßen, spritzende Blutung, Farbunterschiede
(Zyanose vs. weiße Finger), Pulspalpation (Aa. brachialis, radialis
et ulnaris), Funktionsprüfungen, wenn erforderlich zusätzliche ap-
parative Untersuchungen und schließlich durch die intraoperative
Adventitia Untersuchung.
Elastika externa Aus der Anamnese und der Kenntnis der Anatomie können
bei den meisten Verletzungen bereits wichtige Hinweise auf eine
Media mögliche Gefäßläsion gewonnen werden.
Die Bewertung der akralen Durchblutung erfolgt mit der Über-
Elastika interna prüfung der Rekapillarisierungszeit bei Raumtemperatur (Cave:
Intima Einfluss von Temperatur, Sympathikus, Alter, Medikamenten etc.).
Durch Druck auf den Fingernagel kann im Bereich des Nagelbet-
tes unterschiedlich schnell eine Rekapillarisierung eintreten (<1 s:
Erythrozyten normal; >1< 3 s: verlängert, >3 s: pathologisch). Nur in der Not-
fallsituation kann es notwendig werden, mit einer dünnen Kanüle
in die Fingerbeere zu stechen, um eine Blutung zu provozieren
(hellrote schnell auftretende Blutung: normal, langsam einsetzende
⊡ Abb. 7.1 Histologisches Präparat: Nierenarterie der Ratte mit einer Reaktiv- hellrote Blutung: verlängert, dunkelrote oder ausbleibende Blu-
Blaufärbung (Textilfarbstoff) tung: pathologisch).
7.1 · Allgemeines
141 7
Arterien
Intima Intima
Nerv
Membrana elastica
interna gewellt Tunica media einer V. comitans mit Vasa
Membran mit Poren vasorum, arterielles und venöses Capillarnetz
Tunica media
Sratum fibroelasticum
longitudinale
Stratum fibrosum
circulare (Scheide)
Conjunctiva vasorum mit Gefäßen und
Verspannungszügen zur Nachbarschaft
Venen
Tunica intima
Mithilfe des Allen-Test kann festgestellt werden, ob die Aa. ra- fäßstatus mithilfe der Farbdopplersonografie (⊡ Abb. 7.6) stellt die
dialis und ulnaris die Hand alleine ausreichend versorgen können. Mindestanforderung dar. Indem diese Technik zum universellen
Die andere Arterie sollte in gleicher Weise untersucht werden, Rüstzeug des handchirurgisch Tätigen geworden ist, hat sich aber
ebenso die kontralaterale Hand zum Vergleich ( Kap. 2). Der Al- auch der Fokus des anatomischen Interesses auf kleine und kleinste
len-Test kann auch im Fingerbereich durchgeführt werden. Gefäße konzentriert, welche vor dieser Ära weitgehend unbeach-
Aufgrund von Anamnese und klinischer Untersuchung kann tet geblieben waren. So ist nicht nur der ganze Körper neu nach
eine Arbeitsdiagnose aufgestellt werden, welche gezielt mit appa- anatomischen Möglichkeiten von Lappenbildungen durchforscht
rativen Untersuchungen untermauert werden muss. Ihre weitere worden – was insbesondere auch die gestielte Lappentechnik enorm
Bedeutung liegt im dokumentarischen Wert (medikolegaler As- befruchtet hat – auch die Gefäßanatomie von Hand und Arm ist
pekt). weit detaillierter untersucht und analysiert worden. So wurden
Bei vaskulären Beschwerden und unsicherem Allen-Test emp- viele neue Gefäßversorgungsmuster entdeckt, die zahlreiche neue
fiehlt sich eine erweiterte Gefäßdiagnostik. Die Erstellung des Ge- Lappenbildungen erlaubten. Für diese Verfahren erschwerend ist
⊡ Abb. 7.3 Von Endothelzellen überwachsener Faden einer Gefäßnaht. (Aus ⊡ Abb. 7.6 Abbildung und Lokalisation der Abzweigung des Perforatorgefä-
Biemer u. Duspiva 1980) ßes für einen Interosseuslappen (MC 3/4) mit Ultraschall
a b
⊡ Abb. 7.4 Arten der penetrierende Gefäßverletzungen (»Schädigung von außen nach innen«). ⊡ Abb. 7.5 Nicht penetrierende Gefäßverlet-
a Lazeration (Einriss des Gefäßes): Bei der Lazeration resultiert oft eine anhaltende Blutung, ggf. zung (»Schädigung von innen nach außen«).
mit Entwicklung eines großen Weichteilhämatoms und/oder aneurysma spurium. b Transsektion (Aus Nerlich u. Berger 2003)
(komplette Durchtrennung des Gefäßes): Bei der kompletten Durchtrennung kommt es aufgrund
der Eigenelastizität und reflektorischer Mechanismen häufig zu einer Retraktion der Gefäßstümpfe
in die Muskulatur und zum sistieren der Blutung. Im Vordergrund steht die Minderdurchblutung
der distal der Läsion gelegenen Extremitätenstrecke). (Aus Nerlich u. Berger 2003)
7.1 · Allgemeines
143 7
die Tatsache, dass individuelle Varianten bei kleiner werdenden den, abgetrennte Körperteile müssen von einer bestimmten Größe
Gefäßen immer häufiger werden, weswegen oft genau geprüft wer- an obligat mit Rekonstruktion von Zu- und Abfluss wieder an die
den muss, ob ein Verfahren bei diesem individuellen Patienten Blutzirkulation angeschlossen werden.
angewendet werden kann. Mit der Sonografie ist die Darstellung Damit hat die Mikrochirurgie mit der Möglichkeit, eine in-
der entscheidenden Gefäße oft möglich, sodass diese Überprüfung suffiziente Blutversorgung durch Mikrogefäßanastomosen zu ver-
schon präoperativ erfolgen kann. bessern und das Überleben des verletzten Handabschnittes zu
Für spezielle Fragestellungen kann eine MRI-Angiografie oder sichern.
schließlich eine digitale Subtraktionsangiografie durchgeführt wer-
> Es ist akut zu entscheiden, welche Handteile durch Re-
den. Zur Beurteilung von Wandunregelmäßigkeiten bleibt die DSA
konstruktion der Blutversorgung zu erhalten möglich,
der derzeitige »Goldstandard«.
notwendig und sinnvoll sind, um dann die Gefäßverbin-
Die intraoperative Untersuchung von Gefäßverletzungen er-
dungen so schnell wie möglich wiederherzustellen.
folgt zunächst mit angelegter Blutsperre. Da je nach Art der Ver-
letzung die Möglichkeit besteht, dass Gefäßschäden weiter nach
proximal reichen könnten, muss anschließend die Strombahn auch
funktionell geprüft werden, wofür die Blutsperre vorübergehend
geöffnet wird.
Auch bei der Beurteilung der Gefäßstümpfe ist zwischen schar-
fer und stumpfer Gewalteinwirkung zu unterscheiden, bei Verlet- äußere periphere
Blutung Ischämie
zungen an der Hand kommt noch als Besonderheit relativ häufig
eine Verletzung durch Überdehnung des Gefäßes (Ausrissverlet-
zung) hinzu.
1. Bei einer scharfen (Schnitt-)Verletzung sind auch die Blut-
gefäße scharf durchtrennt. Dies erzeugt kaum weiter nach
proximal oder distal reichende Schäden. Deswegen ist bei die- +++ (+)
sem Verletzungstyp keine weiterreichende Untersuchung der
Gefäße notwendig.
2. Bei stumpfen Verletzungen oder Zerreißungen muss nach
Schäden am Gefäß mitunter weit über die eigentliche Durch-
trennungsstelle hinaus (oft bis zur nächsten Gefäßverzwei-
gung) gesucht werden. Das erfordert eine genaue Inspektion
der weiteren Umgebung, unter Umständen sogar eine Funkti-
onsüberprüfung mit Öffnung der Blutsperre und Beobachten
++ +++
der Blutausstromqualität.
7.1.5 Klassifikation
(+)
Gefäßverletzungen können in penetrierende und nicht penetrie-
rende Verletzungen eingeteilt werden. Bei beiden Arten können
nach Vollmar (1996) unterschiedliche Schweregrade (⊡ Abb. 7.7)
+++
unterschieden werden. oder +
b
146 Kapitel 7 · Prinzipien der Behandlung von Gefäßverletzungen und -defekten
Spenderregion ist dann eine Defektdeckung mit Spalthaut oder ausreichend vermindern und den venösen Rückfluss wieder unge-
eine Sekundärheilung möglich, beides muss direkt über einer Ge- hindert ermöglichen, wenn diese Maßnahme schnell genug erfolgt.
fäßnaht unbedingt vermieden werden. Wenn dadurch nicht die Anastomose freigelegt wurde, kann in die
Auch um die Spannung zu reduzieren, kann in der Umge- jetzt klaffende Wundfläche Spalthaut oder vorübergehend bis zur
bung die Einfügung von Spalthaut günstig sein. Immer sollte man Abschwellung auch Kunsthaut eingefügt werden.
berücksichtigen, dass ein Lappen nach der freien Übertragung
anschwellen und sich beim zu dichten Hautverschluss selbst stran- Adjuvante Therapie
gulieren kann. Die temporäre Einfügung von Kunsthaut (bis zum Ob eine medikamentöse Schutztherapie wirklich erforderlich ist,
Abschwellen, also etwa 6–8 Tage) beugt dieser Komplikation vor. wird in der Literatur uneinheitlich beurteilt.
Auch eine solche Entlastung sollte aber nicht gerade genau über Eine Senkung des Fließwiderstandes durch Hydroxyaethyl-
der Gefäßanastomose platziert werden! stärke-Präparate ist weniger problematisch als der Einsatz von
Polydextranen (Reomakrodex), wodurch gefährliche Anaphylaxien
Drainage ausgelöst wurden.
Wundsekret und Blut muss aus einem Anastomosengebiet post- Die Läsion der Intima an der Gefäßanastomose kann ein
operativ abfließen können, entweder durch Easy-Flow-Drainagen Startpunkt für Thrombozytenanheftungen darstellen, was durch
(in den Verband) oder mit einem geschlossenen System als Redon- Minderung der Adhäsionsfähigkeit der Blutplättchen mit Azethyl-
drainage, wobei die Platzierung des Schlauches die unmittelbare salizylsäurepräparaten vermieden werden kann.
7 Anastomosennähe vermeiden soll. Man kann sich vorstellen, dass Die Senkung der Gerinnungsbereitschaft des Blutes ist mit
das Ansaugen der Anastomose durch den Redon-Unterdruck ge- einer geringen Dosis von Heparin zur allgemeinen Thrombose-
fährlich ist, auch wenn das konkret wohl eher selten die Ursache prophylaxe postoperativ sowieso indiziert, sodass bei Patienten
von Komplikationen ist. mit Mikrogefäßanastomosen eine Dosis von 10.000 E mit Perfusor
appliziert werden kann.
Verband und Lagerung Unerlässlich erscheint eine suffiziente Schmerztherapie, da eine
Der Verband soll locker und saugfähig sein. Günstig ist, eine Be- reflektorische Gefäßkontraktion damit verringert wird. Ebenso
obachtungsmöglichkeit (Fenster im Verband, aber Fensterödem- muss der Blutdruck postoperativ sorgfältig überwacht und Nieder-
bildung muss vermieden werden) vorzusehen, um die postopera- druckphasen vermieden werden. Selbstverständlich ist ebenso eine
tive Überwachung zu erleichtern. Eine Ruhigstellung der Hand/ Kälteexposition zu vermeiden – also alles, was eine Gefäßkontrak-
Extremität verringert die Komplikationsrate, ist aber nicht immer tion verursachen könnte.
möglich. Auf eine Lagerung über Herzniveau bei Rekonstruktion Dazu gehört auch die strikte Vermeidung von Nikotinzufuhr,
von Arterien und Venen (Replantationen) sollte geachtet werden. welches der wichtigste Beitrag ist, den der Patient selbst zum Erfolg
Wegen der höheren Komplikationsrate ist es wichtiger, das »Nie- einer Mikrogefäßanastomose leisten kann.
derdrucksystem« (also die Venenanastomose) durch die Lagerung
zu unterstützen, d. h. hoch zu lagern (auf Handkeil oder im Hand- Verbandwechsel
sack). Nur bei ausschließlich arterieller Rekonstruktion kann flach Hinsichtlich des ersten Verbandwechsels wird jeder Handchirurg
gelagert werden, allerdings nicht herabhängend, um Ödembildung sein eigenes Management entwickeln. Während einerseits der täg-
zu vermeiden. liche Verbandwechsel zum Vermeiden von blutverkrusteten harten
Bandagen empfohlen wird, ist andererseits auch die Ruhe im
Überwachung OP-Gebiet bis zur Stabilisierung der Zirkulation ein Argument,
In den ersten 24 Stunden postoperativ ist die klinische Überwa- den Verband bei intaktem klinischem Befund, und wenn eine
chung besonders wichtig, weil sich vor allem technische Fehler in repräsentative Beobachtung der fraglichen Handteile durch den
dieser Zeit bemerkbar machen und mit schneller Revision meist Verband möglich ist, für 5–7 Tage nicht anzurühren. Zudem ist
gut zu erkennen und zu beheben sind. täglicher Verbandswechsel für den Patienten belastend und mit
Bewährt hat sich deswegen, den Patienten am Folgetag der Schmerzen verbunden, die Wunde wird täglich irritiert, weswegen
Operation morgens nüchtern zu lassen, bis der Operateur die Si- ich die postoperative Ungestörtheit bei eindeutig funktionierender
tuation kontrolliert und eine intakte Zirkulation konstatiert hat, Perfusion bevorzuge. Am 1.–3. postoperativen Tag kann der erste
damit man im Falle eines Problems ohne Verzögerung die für die Wechsel meist völlig schmerzfrei vorgenommen werden. Es genügt
Revision nötige Narkose einleiten kann. auch, dann erst die Drainagen zu entfernen.
Bei der postoperativen Kontrolle hat sich der klinische Blick, Wie in der makroskopischen Gefäßchirurgie kann man wäh-
die Ermittlung der Rekapillarisierungszeit und eventuell die Beob- rend der Zeit bis zur vollständigen Endothelüberkleidung der
achtung von Blutungen nach einer kleinen Probe-Stichverletzung Anastomosen – also etwa 2–3 Monate – den Schutz vor Thrombo-
mit einer Kanüle am besten bewährt. Keine technische Überwa- zytenaggregation beibehalten (z. B. Aspirin cardio 100 mg 1-mal
chung kann den klinischen Blick des Erfahrenen ersetzen. 1 Tabl.).
Eine auffällige Blässe wegen postoperativer Blutarmut täuscht
dabei gelegentlich eine Drosselung der Blutzufuhr vor, bei in der
Tat völlig intakter Durchblutung (feststellbar mit einem Kanülen- 7.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
stich). Dagegen weist eine vermehrte Schwellung und ein Dunkler-
werden der Hautfarbe immer auf venöse Probleme hin. Im letzen Für die (Diagnostik und) Therapie von Gefäßverletzungen und
Fall ist die Entfernung des Verbandes, welcher mechanisch den -defekten im Kindesalter gelten im wesentlichen die gleichen Prin-
Blutrückstrom behindern kann, die erste Maßnahme, zusammen zipien wie beim Erwachsenen. Folgende Besonderheiten sind aber
mit betonter Hochlagerung. Wenn sich Hautfarbe und Füllungs- zu beachten:
zustand dann nicht bessern, sollte man mit der Revision nicht Die Elastizität der jungendlichen Gefäße ist deutlich größer als
zögern. Schon das Wegnehmen der Hautnähte kann die Spannung im Alter, weswegen eher eine Adaptation einer kleineren Defekt-
7.2 · Spezielle Techniken
147 7
strecke unter Ausnutzung der Gefäßdehnbarkeit möglich ist. Es
bleibt aber bei der Regel, dass ein einfacher Knoten der ersten Naht
in der Lage sein sollte, die Adapatation zu halten.
Ebenso ist die Ischämietoleranz bei kindlichen Geweben höher,
weswegen ein venöses Abflussproblem nach Replantation oder
nach freiem Lappentransfer schon nach 2–3 Tagen erfolgreich kon-
servativ behandelt werden kann (mit Heparinisierung und Dru-
ckentlastung durch mehrfaches Einstechen in das Replantat – was
ja schmerzfrei möglich ist – oder mit Ansetzen von Blutegeln)
( Kap. 39).
Beim Kind ist auch bei Anastomosen von Gefäßen mit grö-
ßerem Durchmesser auf eine fortlaufende Naht gänzlich zu ver-
zichten: Die Verwendung von Einzelknopfnähten ermöglicht eine
ungestörte Zunahme des Durchmessers mit dem Wachstum, was
bei der fortlaufenden Naht nicht gewährleistet wäre.
mit der Naht fasst, ist wegen der Mediabrüchigkeit die Anastomo- Nach dem Wenden der halb fertig gestellten Anastomose um
senherstellung besonders bei älteren Patienten erschwert. 180° wird mit dem Nadelhalter kontrolliert, ob nirgends die Hin-
Um die Naht der Hinterwand einwandfrei zu ermöglichen, terwand mit gefasst ist, und anschließend werden die Nähte für
ist es günstig, die Gefäßenden so weit frei zu präparieren, dass sie die Hinterwand angelegt. Die Klipps werden entfernt und meist ist
leicht um 180° gedreht werden können. Möglich, aber technisch dann trotz »Blutleere« zu beobachten, wie durch die Gefäßwand
schwieriger, ist die Hinterwandnaht auch, wenn das Gefäß nur 90° durchscheinend etwas Blut die Gefäße füllt und durch die Anasto-
oder wegen eines unmittelbar benachbarten Abganges, welcher mose läuft. Das bedeutet keine Gerinnselbildungsgefahr, da durch
nicht geopfert werden soll, gar nicht gedreht werden kann. die Spülung lokal genügend Heparin vorhanden ist und das Blut in
Die Gefäßlumina werden mit dem Mikronadelhalter etwas einer blutleeren Extremität nicht gerinnt. Zur Prüfung der Druch-
aufgedehnt und in die offen stehenden Gefäße wird Liquemin- gängigkeit der Anastomose erfolgt der Austreichtest. Dabei wird
Lösung eingespült. Hierzu eignet sich eine 2-ml-Spritze und eine das Versorgte Gefäß nach der Anastomose mit einer Mikropinzette
Plastikkanüle Größe Gauge 23 (blau) (entspricht 0,6 mm Außen- abgeklemmt und mit einer zweiten Mikropinzette nach peripher
durchmesser, Charrière 1,8). ausgestrichen. Nach Öffnen der ersten Mikropinzette muss sich
das Gefäß wieder füllen.
Die eigentliche Nahttechnik (⊡ Abb. 7.10)
Die Gefäßenden werden im Abstand von 10–15 mm mit je einer Technisches Vorgehen bei begrenzter Mobilität der
Mikrogefäßklemme verschlossen, die auch zur Stabilisierung der Gefäßenden (⊡ Abb. 7.11)
7 Lage – insbesondere nach Drehung – dienen. Am vom Operateur Wenn die Gefäßenden (oder eines) nicht drehbar sind, beginnt die
aus gesehen entfernteren Rand und gegenüber wird je eine Naht Naht in der Mitte der Hinterwand. Die Nadel wird »backhand«
gesetzt, von der ein Fadenende zur weiteren Manipulation länger eingespannt und von unten durch die Hinterwand ins Lumen des
belassen wird (ca. 1–2 cm). Der andere Faden und alle folgenden Gefäßes geführt, wo sie gegriffen und herausgezogen wird. Ge-
werden 1–2 mm lang abgeschnitten, sodass sich der Knoten nicht genüber wird die Nadel im Lumen angesetzt und zur Hinterwand
lösen kann, aber die Enden die nächste Naht nicht stören. Nach wieder herausgestochen, wo sie wieder gegriffen wird. Neben dem
Setzen der ersten beiden Fäden kann man abschätzen, ob dazwi- Gefäß wird geknotet, der Knoten gleitet dann beim Zuziehen unter
schen 2, 3 oder mehr Nähte erforderlich sind. Die Anastomose soll das Gefäß, wo die Fadenenden abgeschnitten werden. Die nächsten
primär dicht sein – Blutung und sekundäre Abdichtung bedeuten Nähte werden abwechselnd neben die erste Naht gesetzt und ober-
für das Lumen an der Anastomose immer eine Gefahr der Gerinn- halb bzw. unterhalb des Gefäßes geknotet. Wenn auf diese Weise
selbildung. Je erfahrener der Operateur ist, desto weniger Nähte die Hinterwand fertiggestellt ist, erfolgt die Naht der Vorderwand
braucht er für dieses Ziel. wie oben beschrieben.
⊡ Abb. 7.10 Technik der End-zu-End-Gefäßanastomose. a Resektion geschädigter Gefäßabschnitte bis ins Gesunde (evtl. bis erster Gefäßabgang im makro-
skopisch gesunden Gewebe) und Mobilisation der Gefäßstümpfe durch Ligatur von Gefäßabgängen, b partielle Adventitekomie, c Platzierung der Mikroge-
fäßklemmchen (Merke: ausreichend Platz für Manipulation und Drehung um 180°), d externe Dilatation der Gefäßstümpfe durch Zug an der Adventitia oder
interne Dilatation der Gefäßstümpfe durch vorsichtiges Aufdehnen mit einem stumpfen Mikroinstrument
7.2 · Spezielle Techniken
149 7
e f
k n
⊡ Abb. 7.10 Fortsetzung. Technik der End-zu-End-Gefäßanastomose. e »fischmaulartige« Erweiterung des kleinen Gefäßes bei Vorliegen einer Gefäßkalibe-
rinkongruenz bis zu 1:2, f Spülung des Gefäßlumens mit verdünnter Heparinlösung, g Annäherung der Gefäßstümpfe, h Technik bei Gefäßeinstich (durch
Gegenzug an der Adventitia wird beim Einstich ein Widerhalt geschaffen und die Vorderwand von der Hinterwand entfernt), i Technik bei Gefäßeinstich (die
Mikropinzette wird intraluminal vorsichtig eingeführt und dient als Widerlager und Schutz der Gefäßhinterwand; die Nadel wird mit der Mikropinzette gehal-
ten und nach Umsetzen des Nadelhalters entsprechend ihrer Krümmung aus der Gefäßwand gezogen, wobei die Pinzette als Widerlager dient), j mikrochirur-
gische Knotentechnik, k Schema: Nahtfolge bei der »180°-Technik«, l Schema: Nahtfolge bei der »120°-Technik«, m Nahtfolge bei der »Hinterwandtechnik«, n
Technik der vorgelegten Nähte für die letzten beiden Nähte der Anastomose. (Aus Berger u. Hierner 2002)
150 Kapitel 7 · Prinzipien der Behandlung von Gefäßverletzungen und -defekten
a
7 ⊡ Abb. 7.11 Nahttechnik bei nicht mobilen Gefäßenden. a Der erste Stich in
der Mitte der Hinterwand. Beim Knüpfen gleitet der Knoten hinter das Gefäß.
b Mit transluminärer Kontrolle werden die nächsten Stiche abwechselnd ge-
setzt und geknüpft, bis die Hinterwand fertig genäht ist
a b
c d e
⊡ Abb. 7.13 Technik der mikrovaskulären End-zu-Seit-Gefäßnaht. a Plazierung der Gefäßklemmen und Präparation des Gefäßabschnittes für eine End-zu-
Seit- (terminolaterale) Gefäßnaht, b Technik der Arteriotomie (Cave: Für einen funktionell ungestörten Blutfluss im distalen Segment der Spenderarterie darf
die Arteriotomie nicht mehr als ein Drittel des Gefäßkalibers ausmachen), c Technik der End-zu-Seit-Anastomose (Setzen der 1. Naht an der vom Operateur
entfernten Ecke), d Technik der End-zu-Seit-Anastomose (Naht der Hinterwand), e Technik der End-zu-Seit-Anastomose (Naht der Vorderwand, die letzen bei-
den Stiche können vorgelegt werden). (Aus Nerlich u. Berger 2003)
Sehr gut funktionieren kleine Gefäßstanzen, die über eine Stich- im Kaliber richtig gewählte Vene, welche eigentlich immer ausrei-
inzision mit dem Schneidekopf wie ein Knopf ins Knopfloch in das chend von der Beugeseite des Unterarms entnommen werden kann.
Gefäß eingeführt werden und bei Betätigung ein kreisrundes, sehr Auch zum Ausgleich unterschiedlicher Durchmesser ist ein Ve-
sauber begrenztes Loch erzeugen, welches durch Nachstanzen an ei- neninterponat geeignet, nimmt doch bei der Vene der Durchmes-
nem Ende in ein beliebig langes ovales Loch erweitert werden kann. ser in Strömungsrichtung zu, sodass zum Angleichen ein kleineres
Wenn man die seitliche Gefäßwandöffnung mit Schere und Gefäß über ein Veneninterponat gut an ein größeres angepasst
Pinzette herstellen muss, splittet die Wand der Arterie gern auf, die werden kann (s. oben).
Enden der Öffnung sind nicht leicht schön rund herzustellen. Wichtig ist, dass auch kleinste Venen Klappen haben können,
sodass die Durchgängigkeit in der geplanten Strömungsrichtung
2. Nahttechnik immer geprüft werden muss. Durch die Aufweitung unter der arte-
Auch bei ausgedehnter Mobilisierung des größeren Gefäßes gelingt riellen Druckwirkung werden die Venenklappen meist insuffizient.
selten die Wendung der Hinterwand nach vorn, so dass für die Dennoch sollte auch bei Verwendung von Aufzweigungen das
Naht in der Regel die Technik angewendet werden muss, die oben Veneninterponat in Flussrichtung des venösen Stromes eingenäht
für die nicht mobilen Gefäßenden beschrieben wurde. werden, um frühe Thrombosen durch Wirbelbildung an den Klap-
pen zu vermeiden.
3. Wahl des Abzweigwinkels Für ein Interponat sollten Venen benutzt werden, welche ein
Da sich der Druck im Gefäßsystem im Bereich der Gefäßdurch- etwas kleineres Kaliber als die zu ersetzende Arterie aufweisen,
messer, um die es bei der Hand und am Arm geht, gleichmäßig da die Vene sich unter dem arteriellen Druck immer ausdehnt
verteilt (man kann den Blutdruck an Oberarm, Handgelenk, sogar (⊡ Abb. 7.14).
Fingergefäßen korrekt messen), darf man, wie in einem statischen Auf die richtige Länge muss ebenfalls geachtet werden: Ganz
System, die Abzweigwinkel völlig frei wählen, es wird sich der spannungsfrei darf nicht rekonstruiert werden, sonst entsteht
Druck immer gleichmäßig verteilen. Nur bei den großen Gefäßen nach Freigabe des Blutstroms durch Längsdehnung des Interpo-
spielt der Winkel für die Strömung eine Rolle. Technisch am ein- nates unter dem arteriellem Druck ein »Kinking« (= Abknicken
fachsten ist die rechtwinklige Abzweigung. durch Überlänge) mit entsprechender Strömungsbehinderung
(⊡ Abb. 7.15). Als Regel kann gelten: Das Veneninterponat ist un-
Veneninterponat (⊡ Abb. 7.14, ⊡ Abb. 7.15) gedehnt so lang wie der Defekt minus 10%.
Das Veneninterponat dient in erster Linie zur Überbrückung von
Substanzdefekten. Nur selten steht hierfür aus nicht mehr verwend- Veneninterponat bei arteriosklerotischen Gefäßen
baren abgetrennten Teilen (z. B. nicht replantierbare Finger) eine Bei der Wiederherstellung kleiner Gefäße beim alten Patienten
genügend unbeschädigte gleichgroße Arterie zur Verfügung. Das kann die Mediasklerose so ausgeprägt sein, dass der Stich von
Arterientransplantat ist im Mikrobereich auch nicht besser als eine außen nach innen zur Wanddissektion, Aufsplitterung und Zer-
152 Kapitel 7 · Prinzipien der Behandlung von Gefäßverletzungen und -defekten
x-10%
7
⊡ Abb. 7.14 Technik der mikrovaskulären
Gefäßinterposition. a Mikrochirurgische b
Präparation des proximalen und distalen
Gefäßstumpfes und einbringen des in-
vertierten Veneninterponates in den De-
fektbereich: Die zu interponierende Vene
sollte etwas kürzer sein als der arterielle
c
Gefäßdefekt, da durch Füllung der Vene
eine Dehnung und eine Verlängerung auf-
tritt. b Z. n. Fertigstellung der proximalen
und distalen Gefäßnaht in End-zu-End-
Technik, c Z. n. Freigabe des Blutstroms
(man beachte die Zunahme von Gefäßka-
liber und Interponatlänge!)
störung der Anastomose führt. Die Nähte reißen unter diesen Vo-
raussetzungen leicht aus und sind kaum mehr abzudichten. Dann
hilft ein kurzes Veneninterponat, um den Stich in der brüchigen
Arterienwand immer von innen nach außen führen zu können,
was sehr viel sicherer ohne »Stichschaden« zu bewerkstelligen ist.
Die Venen sind auch beim alten Patienten nie »verkalkt«, sodass
mit dieser Technik immer ein Gefäßrand (nämlich die Vene) weich
und gefahrlos von außen nach innen gestochen werden kann.
Das gleiche Prinzip kann zur Anwendung kommen, wenn aus
einer stark sklerotischen Arterie ein Abzweig (End-zu-Seit-Ana-
stomose) hergestellt werden muss (z. B. zum Lappenanschluss).
Schon das Schneiden einer seitlichen Öffnung in eine sklerotische
⊡ Abb. 7.15 Entwicklung einer Abknickung bei zu langem Gefäß (»Kinking«) Gefäßwand ist außerordentlich heikel.
7.2 · Spezielle Techniken
153 7
a b
d
c
Schaltet man dagegen in eine entsprechend resezierte Strecke nanderreihung von Venenverzweigungen ein solcher »Verteiler«
ein Stück Vene dazwischen, lässt sich in diese völlig problemlos einfacher geschaffen werden. Mit 3 hintereinander geschalteten
eine End-zu-Seit-Anastomose herstellen. (⊡ Abb. 7.16) Y-förmigen Veneninterponaten können alle Interdigitalarterien an
Eine weitere Indikation für Veneninterponate ist die Notwen- ein Versorgungsgefäß angeschlossen werden. Dabei ist der freie
digkeit, multiple Abzweigungen wiederherzustellen, wie es bei Durchfluss in der geplanten Richtung immer zu prüfen, da Klap-
der Rekonstruktion des Hohlhandbogens vorkommen kann. Da pen diesen behindern können. Die Zuverlässigkeit auch mehrerer
die End-zu-Seit-Anastomose schwieriger ist, kann mit der Anei- Veneninterponate demonstriert das Beispiel in ⊡ Abb. 7.17.
154 Kapitel 7 · Prinzipien der Behandlung von Gefäßverletzungen und -defekten
Mögliche Fehler und Gefahren der mikrochirurgischen Gefäßana- Berger A, Hierner R (Hrsg) (2002) Plastische Chirurgie, Band I: Grundlagen,
stomose sind in ⊡ Tab. 7.1 zusammengestellt. Darüber hinaus spielt Techniken, Prinzipien. Springer, Heidelberg
die adäquate Nachbehandlung eine entscheidende Rolle. Die häu- Berger A, C Tizian (1985) Technik der Mikrochirurgie, Lehrbuch und Atlas.
Kohlhammer, Stuttgart
figste Ursache für eine Thrombose einer mikrovaskulären Gefäß-
Biemer E, Duspiva W (1980) Rekonstruktive Mikrochirurgie. Springer, Berlin
naht liegen neben Intimaschäden und unzureichender Nahttechnik
Carell A (1902) La technique opératoire des anastomoses vasculaires et de la
in der Hypovolämie des Patienten, gefolgt von der Hypothermie, transplantation des viscères. Lyon Med 98: 859
einem insuffizienten Verband (zirkulär komprimierend) und einer Jeger E (1913) Die Chirurgie der Blutgefäße und des Herzens. Hirschwald,
insuffizienten Lagerung. Berlin
Lanz T von, Wachsmuth W (1972) Praktische Anatomie, 1. Band, 4. Teil: Bein
und Statik, 2. Aufl. Springer, Berlin Nerlich M, Berger A (Hrsg) (2003)
Tscherne Unfallchirurgie, Band V: Weichteilverletzungen und -infektio-
⊡ Tab. 7.1 Schritte der mikrochirurgischen Gefäßnaht und mögliche
nen. Springer, Heidelberg
Gefahren und Fehler
Rollin KD, Terzis JK (1977). Reconstructive Microsurgery. Little, Brown & Co.,
Schritte der Mögliche Fehler und Gefahren Boston
mikrochirurgischen Vollmar J (1996) Rekonstruktive Chirurgie der Arterien, 4. Aufl. Thieme, Stutt-
7 Gefäßnaht gart
Weber U, Greulich M, Sparmann M (1993) Orthopädische Mikrochirurgie.
1. Debridement und Ungenügendes Debridement Thieme, Stuttgart
Nachresektion der
Gefäßstümpfe
Buchstaben Ziffern
5–15 30–70 Aβ II
2–10 15–30 Aγ
<3 3–15 B
0,3–1,3 0,7–2,3 C IV
8.1.3 Ätiologie
ZNS
peripheres Nervensystem
Rückenmark
peripherer Nerv
Haut
Muskel
⊡ Abb. 8.8 »Neurosensomotorische Funktionseinheit«. (Aus Berger u. Hierner 2009) Rezeptoren
8.1 · Allgemeines
161 8
Periphere Nerven reagieren auf verschiedenartige Noxen recht Eine periphere Nervenverletzung kann alleine oder in Kom-
gleichförmig (⊡ Abb. 8.9, ⊡ Abb. 8.10). Mononeuropathien verschie- bination mit einer ausgedehnten Knochen-Weichteil-Schädigung
dener Ätiologie unterscheiden sich aber in wichtigen Punkten (Typ-C-Defekt) auftreten. Eine weitere Sonderform stellt die peri-
hinsichtlich der Pathophysiologie, der klinischen Symptomatik, des phere Nervenläsion im Rahmen eines Polytraumas dar.
Verlaufs und auch der erforderlichen Therapie.
⊡ Abb. 8.9 Histologische Veränderungen der Degeneration und Regeneration nach Durchtrennung einer markhaltigen Faser des peripheren Nervs. a 1–4 Tage
nach der Durchtrennung: Im Bereich des distalen Stumpfes kommt es zur sog. Waller-Degeneration mit Zerfall der Markscheiden von proximal nach distal.
Die Markscheidenzerfallsprodukte liegen in Form von »Markballen« in den Schwann-Zellen, die sich bereits durch mitotische Teilung vermehren, vor. Im Be-
reich des proximalen Stumpfes kommt es ebenfalls zu einer retrograden Degeneration auf ein Markscheidensegment. Zusätzlich treten auch Zeichen einer
Degeneration (zentrale Chromatolyse) im Perikaryon auf. b 10–21 Tage nach Durchtrennung: Die Waller-Degeneration erreicht das distale Endorgan – die mo-
torische Endplatte. Die Muskelfaser zeigt eine beginnende Denervierungsatrophie. Durch Proliferation von Schwann-Zellen entsteht das sog. Bünger-Band, in
dem sich noch einige Axon- und Myelinabbauprodukte befinden. Makrophagen beteiligen sich am Abbau. Aus dem proximalen Wachstumskolben, der sich
an der Demarkationsstelle des proximalen Stumpfes gebildet hat, sind bereits multiple Axonsprosse (»sprouting«) ausgewachsen. Im Perikaryon hat die zent-
rale Chromatolyse das Maximum erreicht. c Mehrere Monate nach Durchtrennung: fortgeschrittene Regenerationsphase mit unterschiedlich schnell wachsen-
den Axonsprossen, die zum Teil wieder in die Bünger-Bänder vorgewachsen sind, ihr Zielorgan jedoch noch nicht erreicht haben. Die Denervierungsatrophie
des Skelettmuskels hat ihr Maximum erreicht. Im Bereich des Perikaryons zeigt sich eine Rückbildung der chromatolytischen Reaktion. d Reinnervation des
Endorgans: Der am schnellsten wachsende Axonspross erreicht die motorische Endplatte und reinnerviert die dazugehörige Muskelfaser. Die kollateralen
Aussprossungen, die kein Endorgan erreicht haben, bilden sich zurück. Der regenerierte Achsenzylinder ist von neu gebildeten, dünnen Markscheiden umge-
ben, die eine deutlich kürzere Segmentlänge aufweisen. Im Perikaryon ist die Nissl-Substanz wiederhergestellt. Die reinnervierte Muskelfaser hat annähernd
wieder die normale Dicke erreicht. e Untergang des Perikaryons: Bei sehr proximal gelegenen Schädigungen kann es auch zum Untergang des Perikaryons
kommen, eine Regeneration dieser markhaltigen Nervenfaser ist dann nicht mehr möglich. f Neurombildung: Können die aussprossenden Axone ihr Zielge-
biet durch z. B. Narbenbildung oder Verlust der Koaptation nicht erreichen, kommt es im Bereich des proximalen Stumpfes durch aberrierende Nervenfas-
erregeneration, Schwann-Zellen und Fibroblastenwucherung zur Ausbildung eines Neuroms. Das distale Bünger-Band wird nicht neurotisiert, bleibt jedoch
über Jahre erhalten. Atrophische Muskelfasern, die mehr als 2 Jahre denerviert bleiben, verlieren ihre strukturellen Merkmale und degenerieren allmählich. Es
kommt zu einer Endorganinsuffizienz. (Aus Nerlich u. Berger 2003)
162 Kapitel 8 · Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten
S0 Keinerlei Sensibilität
S4 Normale Sensibilität
⊡ Abb. 8.10 Biochemische Veränderungen der Degeneration und Regenera- ⊡ Tab. 8.3 Beurteilung der Muskelkraft gemäß Medical Research
8 tion nach Durchtrennung eines peripheren Nervs. (Aus Nerlich u. Berger 2003) Council. (Aus Berger u. Hierner 2002)
M0 Keine Muskelkraft
SCHMERZ-SKALA
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Ätiologie
– Mechanische Traumata (Schnittverletzung, Injektionsverletzung, Zug, Druck oder Kombinationen)
– Entzündung, Infektion
– Ischämie (z.B. Kompartment-Syndrom)
– Thermische Schädigung inkl. Elektroschaden
– Physikalische Schädigung inkl. Strahlenschäden
– Chemische Schädigung inkl. Säure – und Laugenverletzungen
– Immunologische bedingte Nervenschädigung
– Sonstiges
Grad der Schädigung
Klassifikation Morphologie Klinik EMG
Seddon Sunder- Myelin Axon Endo- Peri- Epi- Schematische Darstellung Progredientes Dener-
land neurium neurium neurium Hoffmann- vierungs-
Tinel-Zeichen zeichen
Neurapraxie I +/- – – – – + –
Axonotmesis II + + – – – + +
III + + + – – + +
IV + + + + + – +
Neurotmesis V + + + + + – +
8.1.5 Klassifikation Der Grad der Nervenschädigung kann oft erst aufgrund mehr-
maliger klinischer (und elektrophysiologischer) Untersuchungen
Im Hinblick auf das therapeutische Vorgehen hat es sich bewährt, angegeben werden. Es wir international eingeteilt nach Seddon
den Nervenschaden nach Ätiologie ( Abschn. 8.1.3), Grad der (1943) und Sunderland (1951): Darüber hinaus wurde von Dellon
Schädigung, Art des Nervendefektes, Lokalisation und Wundver- (Mackinnon u. Dellon 1988) der Begriff der kombinierten Nerven-
hältnissen zu klassifizieren (⊡ Abb. 8.12): läsion als Grad-VI-Schädigung der Klassifikation von Sunderland
164 Kapitel 8 · Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten
ergänzt. Eine zusätzliche Subklassifikation wurde für Läsionen bei Behandlungsergebnis kann nur dann erreicht werden, wenn alle
erhaltener Kontinuität von Millesi (1992) beschrieben. Mitglieder des Therapieteams lückenlos zusammenarbeiten. Be-
Bei Läsionen mit Kontinuitätsunterbrechung unterscheidet sonders muss auf die Bedeutung der prä- und postoperativen
man zwischen einem »scheinbaren« (durch die natürliche elasti- Physiotherapie hingewiesen werden. Für ein gutes Ergebnis ist es
sche Retraktion des Nerven) und einem »echten« (durch Verlust immer günstig, wenn der Patient vor der Operation gelernt hat,
von peripheren Nervengewebe bedingt) Nervendefekt. den ausgewählten Muskel bewusst isoliert anzuspannen. Darüber
Die Lokalisation der Nervenläsion hat entscheidenden Einfluss hinaus sollte immer ein spezielles Auftrainieren des zu transponie-
auf das zu erwartende Ergebnis und das Vorgehen bei der mikro- renden Muskels durchgeführt werden.
chirurgischen Rekonstruktion: Bei distalen Läsionen mit bereits
abgrenzbaren Faszikeln erfolgt einer interfaszikuläre Rekonstruk-
tion unter Berücksichtigung der anatomischen Verhältnisse. Zur Das »integrative Therapiekonzept« bei Läsionen
besseren Differenzierung zwischen motorischen und sensiblen Fa- peripherer Nerven
sern kann (intraoperativ) eine Azethylcholinesterasefärbung (Kar- Primäre Wiederherstellung der Nervenfunktion
nowsky) durchgeführt werden: Bei proximal gelegenen Läsionen ist ▬ Konservative Therapie
eine anatomische Rekonstruktion nur in geringem Maße möglich. – Intensive Physiotherapie, begleitende Maßnahmen usw.
Deshalb kann hier eine trunkuläre Rekonstruktion durchgeführt ▬ Operative Therapie
werden. – Neurolyse
Die Beurteilung der Wundverhältnisse im Hinblick auf eine – Primäre End-zu-End-Neuroraphie (Naht, Fibrinkleber)
Nervenrekonstruktion basiert auf anatomischen, physiologischen – Defektüberbrückung
8 und mikrobiologischen Kriterien. Für die anatomische Beurteilung – »nerve tubes« (Röhrchen)
wird das Ausmaß eines zusätzlichen fasziokutanen (Typ-A-Defekt), – Sonderform: »bioartifizielles lebendes Nerventrans-
Weichteil- (Typ-B-Defekt) oder kombinierten Knochen-Weichteil- plantat«
Schadens (Typ-C-Defekt) bestimmt. Wie eigene Studien mithilfe – autologe Nerventransplantation
des Auswertungsschemas nach Millesi gezeigt haben, sind die zu – Sonderform: vaskularisierte Nerventransplantate
erwartenden Ergebnisse nach Nervenrekonstruktion umso besser, – Neurotisation
je geringer eine zusätzliche Weichteil- oder kombinierte Weichteil- – End-zu-End-Technik
Knochen-Schädigung ist. Die physiologische Beurteilung umfasst – End-zu-Seit-Technik
die Vaskularisation der umliegenden Weichteile. Die mikrobiolo-
gische Beurteilung beinhaltet Schwere und Typ einer bakteriellen Sekundäre Nervenersatzoperation
Infektion: Für die Beurteilung der Lagerqualität hat sich die Klas- ▬ Motorisch
sifikation nach Lexer (1924) in »ersatzstark«, »ersatzschwach« und – Muskel-Sehnen-Transposition
»ersatzunfähig« bewährt. – monokular/bipolar
– monoartikulär/polyartikulär
– Freie mikrochirurgische funktionelle Muskeltransplantation
8.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie – einzeitig
– mehrzeitig
Für Diagnostik und Therapie von Läsionen im Bereich der Hirn- ▬ Sensibel
nerven und der peripheren Nerven (Plexus brachialis und dessen – Transposition
terminale Endäste) verwenden wir ein sog. »integratives Thera- – Freie mikrochirurgische neurovaskuläre Transplantation
piekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden Nerven-
rekonstruktion sekundäre Muskelersatzoperationen und (tertiäre) Adjuvante Maßnahmen
adjuvante Eingriffe umfasst. Die Therapiedauer beträgt unabhängig ▬ Botlinumtoxin
von der gewählten Primärtherapie (konservativ versus operativ) ▬ Tendodese
etwa 3–5 Jahre. Während dieser Zeit ist eine physiotherapeutische ▬ Kapsulodese
Basistherapie – in unterschiedlicher Form und Intensität – fort- ▬ Arthrodese
zuführen. Unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche ▬ Orthetische Hilfsmittel (Schienen, Hülsen, myoelektrische
primäre oder sekundäre Wiederherstellung der Funktion sind sta- Orthesen/Prothesen)
bile knöcherne Verhältnisse, ein »ersatzstarkes« Transplantatlager
und freie passive Gelenkbeweglichkeit. Nur durch eine intensive
interdisziplinäre Zusammenarbeit kann ein optimales Therapieer- Der nervalen Rekonstruktion durch spontane Regeneration oder
gebnis erreicht werden. Mitglieder des Therapieteams sind neben frühzeitige mikrochirurgische Rekonstruktion, wird höchste Pri-
dem Chirurgen (Plastische Chirurgie, Neurochirurgie, Orthopädie, orität gegeben. Bei Ausbleiben der Spontanregeneration oder in-
Unfallchirurgie) – oft in Verbindung mit dem Neuropathologen – adäquater Spontanregeneration können durch Neurolyse, direkte
der Hausarzt (»Drehscheibe«), der Physiotherapeut (Krankengym- spannungsfreie Koaptation (in seltenen Fällen) und Nerventrans-
nastik, Ergotherapie etc.), der Neurologe und in besonderen Fällen plantation in der Regel die besten funktionellen Ergebnisse erzielt
die anästhesiologische Schmerzambulanz (bei Deafferenzierungs- werden. Die wiedergewonnenen motorischen Funktionen werden
schmerzen oder Kausalgien), Sozialdienste/Arbeitsamt/Berufsge- umso besser eingesetzt, je besser die Sensibilität im Handbereich
nossenschaft (berufliche Rehabilitation bzw. Wiedereingliederung) (»taktile Gnosis«) rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus
Orthopädietechniker (Hülsen- und Schienenapparate), Psychothe- nimmt auch die Anzahl der für sekundäre motorische Ersatzope-
rapeuten und Patienten-Selbsthilfegruppen. Der stetige Informa- rationen zur Verfügung stehenden Muskeln signifikant zu. Liegt
tionsaustausch (Telefonate, Arztbriefe) innerhalb des Teams ist zum Zeitpunkt der Nervenläsion kein Nervendefekt vor, sollte,
von außerordentlicher Wichtigkeit ( Übersicht). Ein optimales vorausgesetzt der Allgemeinzustand des Patienten erlaubt es, wenn
8.1 · Allgemeines
165 8
immer möglich, eine spannungsfreie primäre Neuroraphie durch- geringgradige anatomische (Sunderland II und III) Nervenschä-
geführt werden. In allen anderen Fällen erfolgt die Versorgung der digung vor, kommt es nach Ablauf von 3–6 Monaten zu einer
Nervenläsion sekundär nach 3 bis maximal 6 Monaten mithilfe ausreichenden Regeneration. Während dieses Zeitraumes ist eine
einer Nerventransplantation. Da die funktionellen Ergebnisse nach Physiotherapie zur Aufrechterhaltung der passiven Gelenkbeweg-
Nerventransplantation 6 Monate nach Unfall aufgrund einer End- lichkeit konsequent durchzuführen. Kommt es zu keiner adäquaten
organschwäche in den reinnervierten Muskeln deutlich schlechter Regeneration muss ein höhergradiger struktureller Schaden (Sun-
werden, muss die nervale Rekonstruktion Priorität gegenüber se- derland IV oder V) angenommen werden und die Indikation zur
kundären traumatologischen Eingriffen haben. Eine nervale Re- Operation spätestens nach 6 Monaten gestellt werden.
konstruktion mit dem Ziel der Verbesserung der Motorik sollte
abhängig von der Entfernung zwischen Läsionshöhe und Muskel Operative Therapie
nicht später als 12 maximal 18 Monate (schulternahe Muskulatur) Die operative Therapie ist bei Funktionsausfall mit Kontinuitäts-
durchgeführt werden. Soll nur eine Verbesserung der (protekti- unterbrechung indiziert. Bei jeder Kontinuitätsunterbrechung ei-
ven) Sensibilität erreicht werden, kann eine nervale Rekonstruk- nes peripheren Nervs ist zu unterscheiden, ob ein »scheinbarer«
tion auch nach 24–36 Monaten noch durchgeführt werden. Nur (Gewebelastizität, Ödem) oder »echter« Nervendefekt vorliegt. In
ausnahmsweise wird primär eine Nerventransplantation durchge- der klinischen Praxis hat sich der »8×0-Naht-Test« bewährt. Lässt
führt, wenn Nerventransplantationsmaterial aus einem nicht mehr sich die Koaptation beider Nervenstümpfe mit einer epineural ge-
zu rekonstruierenden Körperabschnitt verwendet werden kann stochenen 8×0-Einzelknopfnaht aufrechterhalten, liegt keine über-
(»Gewebebankkonzept«). mäßige Spannung im Koaptationsbereich vor. Die weiteren Einzel-
Bei allen mikrochirurgischen Nervennähten ist eine postope- knopfnähte werden mit 10×0 monofilem Nahtmaterial ergänzt.
rative Ruhigstellung für 10 Tage obligat, weshalb nie gleichzeitig Liegt kein Nervendefekt vor, erfolgt die direkte Neuroraphie.
Sehnen- und/oder Gelenkeingriffe durchgeführt werden dürfen. Im Gegensatz zur Gefäßnaht ist eine »wasserdichte« Naht am Nerv
Übungsstabilität im Bereich der Nervennaht besteht nach 3 Wo- falsch. Deshalb sollte statt Nervennaht der Terminus Neuroraphie
chen, eine Belastungsstabilität nach 6–12 Wochen. oder Nervenkoaptation gebraucht werden. Die Anlage einer mik-
Durch einfache oder multiple Sehnenumsetzplastik(en) kann rochirurgischen Nervenkoaptation lässt sich in mehrere Schritte
eine spezifische Bewegungsform wiederhergestellt oder verstärkt unterteilen (⊡ Tab. 8.5).
(augmentiert) werden. Sehnentranspositionen können monopolar, Nach Bereitung, Approximation und Koaptation der Nerven-
d. h., nur eine Insertion wird verändert, und bipolar, d. h., Ansatz stümpfe erfolgt die Aufrechterhaltung der Koaptation mithilfe von
und Insertion werden abgelöst und neu inseriert, durchgeführt möglichst wenigen mikrochirurgischen Einzelknopfnähten (10×0
werden. Sie können ein (monoartikulär) oder mehrere (polyarti- monofiler Faden) zur Vermeidung einer übermäßigen Fibrose
kuläre) Gelenke bewegen. Sekundäre Ersatzoperationen werden durch Fremdmaterialreiz (Cave: Nahtgranulome). Alternativ ver-
i. Allg. 2–3 Jahre nach erfolgter Nervenrekonstruktion durchge- wenden einige Autoren auch Fibrinkleber alleine oder in Kombina-
führt. In seltenen Fällen kann die Sehnentransposition auch gleich- tion mit Einzelknopfnähten.
zeitig mit der Nervenrekonstruktion erfolgen. Vor allen im Bereich Vor dem Wundverschluss ist eine sorgfältige Blutstillung an-
des N. radialis (Oberarmsegment) hat sich ein derartiges Vorgehen zustreben. Der Wundverschluss erfolgt schichtweise. Die unmit-
bei Patienten älter als 50 Jahre bewährt. Stehen bei ausreichender telbare Schicht oberhalb der Koaptation sollte vom Operateur
Innervation keine Muskel-Sehnen-Gruppen für die Transposition selbst genäht werden. Als Drainage wird ein »easy flow«, abseits
zur Verfügung (direkte Muskelschädigung, Muskeldegeneration der Koaptationsstelle eingebracht. Sonst übliche Redon-Drainagen
bei Denervationszeit > 2 – 3 Jahre) kann eine freie mikrovas- sind aufgrund ihrer Sogwirkung kontraindiziert. Bei allen mikro-
kuläre funktionelle Muskeltransplantation durchgeführt werden. chirurgischen Nervennähten ist eine postoperative Ruhigstellung
Fehlt eine ausreichende Innervation kann mit Hilfe eines mehr- für 10 Tage obligat. Beim Säubern des Wundgebietes sowie bei Ver-
zeitigen Vorgehens ein Nerventransplantat vorgelegt werden um bandswechseln innerhalb der ersten 10 Tage ist darauf zu achten,
dann bei ausreichender Axonzahl im Bereich des distalen Trans- dass keine Scherkräfte im Koaptationsbereich auftreten. Bei Läsi-
plantatstumpfes eine freie mikrovaskuläre Muskeltransplantation onen peripherer Nerven spielt die adäquate Nachbehandlung eine
durchzuführen. entscheidende Rolle. Deshalb sollten Sehnen- und/oder Gelenkein-
Die bisher genannten Rekonstruktionsverfahren können durch griffe nicht gleichzeitig durchgeführt werden. Uneingeschränkte
adjuvante Eingriffe zu jedem Zeitpunkt der Therapie oft funktio- Übungsstabilität im Bereich der Nervennaht besteht nach 3–6 Wo-
nell deutlich verbessert werden. Neben der Möglichkeit der Teno- chen. Ein intensives physiotherapeutisches Therapieprogramm,
dese und Kapsulodese sollte auch die Arthrodese bedacht werden. mit Ergotherapie (Schienen, Sensibilisierung/Desensibilisierung)
Schließlich können auch orthetische Hilfsmittel und Hülsenappa- und Krankengymnastik ist notwendig.
rate eingesetzt werden, um die Funktionalität der gesamten Ext-
remität zu verbessern. Zur Optimierung der Nervenregeneration
und zur Therapie von Ko-Kontraktionen kann die intramuskuläre 8.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Injektion von Botulinustoxin erfolgreich eingesetzt werden.
Nervenverletzungen und -defekte bei Kindern, werden nach den
gleichen Prinzipien diagnostiziert und therapiert wie die des Er-
8.1.7 Therapie wachsenen ( Kap. 53). Folgende Besonderheiten ergeben sich:
1. Durch die geringeren Distanzen erreicht eine größere Anzahl
Konservative (nichtoperative) Therapie an Axonen die sensiblen und/oder motorischen Zielorgane,
Die konservative Therapie ist primär bei Funktionsausfall ohne sodass hier eine deutlich bessere funktionelle Prognose besteht
Kontinuitätsunterbrechung (z. B. Läsion des N. axillaris nach als beim Erwachsenen.
Schulterluxation, Läsion des N. radialis nach Oberarmschaftfrak- 2. Obwohl prinzipiell nur die gleiche Anzahl an Axonen über die
tur) indiziert. Liegt nur eine funktionelle (Sunderland I) oder Koaptation bzw. das Nerventransplantat wächst, ist das Gehirn
166 Kapitel 8 · Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten
des Kindes in der Lage durch adaptive Vorgänge – aufgrund die Klassifikation nach Millesi. Diese Klassifikation basiert auf der
der sog. »Plastizität des Gehirns« – mit der geringeren Infor- Beschreibung der anatomischen Veränderungen um und innerhalb
mation besser auszukommen als das Gehirn beim Erwach- eines peripheren Nervs sowie auf den Ergebnissen der direkten
senen ( Kap. 64). Über den Wert der wiederholten Botoxin- intraoperativen Nervenstimulation. Die operativen Schritte sind
jektionen bei der zentralen Bahnung von Bewegungsabläufen genau definiert und werden der individuellen Situation genau an-
liegen einige sehr vielversprechende Studien vor. gepasst (⊡ Tab. 8.4).
3. Bei der postoperativen Nachbehandlung können einige Tech- Als externe Neurolyse bezeichnet man die Präparation des
niken (Biofeedback etc.) vor allem bei Kindern unter 6 Jahren peripheren Nervs aus seinem umliegenden Gewebe, wobei die Prä-
nicht eingesetzt werden, da hierfür die Kooperation fehlt. Vor parationsschicht auf dem Paraneurium verläuft. Zeigt sich keine
allem bei Kindern unter 6 Jahren ist die Kreativität der Physio- Veränderung des Epineuriums sind keine weiteren operativen
therapeuten gefordert, um das Kind in Sinne einer »Spielthe- Schritte notwendig. Liegen jedoch Veränderungen des Nervenum-
rapie« zu den Bewegungen und Greifaktionen zu motivieren, fangs (z. B. sanduhrförmige Einziehung) vor, so sind weitere ope-
die spezifisch trainiert werden sollen ( Kap. 15) rative Maßnahmen indiziert. Alle operativen Schritte, die das Epi-
4. Bei der Planung von sekundären funktionsverbessernden neurium oder tiefer gelegene Strukturen betreffen, werden unter
Ersatzoperationen ist der Einfluss auf das noch zu erfolgende dem Begriff interne Neurolyse zusammengefasst. Zur Auflösung
Wachstum immer mit zu berücksichtigen. Ein zu großes der klassischen »sanduhrförmigen Einziehung« im Bereich einer
Kräfteungleichgewicht führt zu sekundären Fehlstellungen im Kompressionsstelle erfolgt zunächst eine longitudinale Inzision
Extremitätenbereich. Hier ist die dosierte Balancierung der von Paraneurium und Epineurium (epifasziale Epineurotomie).
Kräfte von entscheidender Bedeutung. Können sich alle Faszikel(gruppen) frei ausbreiten, liegt eine Fi-
8 5. Definitive Eingriffe an Knochen- und Gelenken im Sinne von brose Grad A nach Millesi vor. Eine weitere mikrochirurgische
Korrekturosteotomien und/oder Arthrodesen sollten so weit Intervention ist nicht mehr notwendig (⊡ Abb. 8.13).
wie möglich am wachsenden Skelett vermieden werden und, Kommt es zu keiner kompletten Expansion der Faszikel(gruppen)
wenn notwendig, dann so spät wie möglich durchgeführt muss eine Fibrose zwischen den Faszikel(gruppen) angenommen
werden. werden. Als nächster intraoperativer Schritt erfolgt die Epineurek-
tomie, wobei diese nicht komplett zirkumferenziell durchgeführt
Neurolyse
Die Neurolyse ist indiziert bei Läsion ohne Kontinuitätsunterbre-
chung (z. B. Kompressionssyndrom) und bei Läsionen mit Konti-
nuitätsunterbrechung im Rahmen der Stumpfvorbereitung.
Im Falle einer Läsion ohne Kontinuitätsunterbechung ist es
a
wichtig darauf hinzuweisen, dass das tatsächliche Ausmaß der
Schädigung erst während der mikrochirurgischen Exploration
durch differenzierte intraoperative Diagnostik bestimmt werden
kann. Deshalb muss jeder Patient, bei dem eine Neurolyse geplant
ist auch über die Notwendigkeit einer möglichen Nerventransplan-
tation – bei Vorliegen einer höhergradigen Nervenläsion – aufge-
klärt sein (wichtiger medikolegaler Aspekt).
Jede noch so kunstgerecht durchgeführte mikrochirurgische
Neurolyse führt zu einer Beeinträchtigung der externen und inter-
nen Blutversorgung des peripheren Nervs. Der Benefit der Neu-
rolyse, die Dekompression des Nervs für eine Verbesserung der
Vaskularisation (auf lange Sicht) und der Funktion, muss deshalb
der Schädigung des Gewebes durch Operation mit weiterer akuter
Reduktion der Durchblutung überwiegen. Um eine minimale ia-
trogene Schädigung zu bewirken muss jede Neurolyse mit feinen
mikrochirurgischen Instrumenten durchgeführt werden. Für alle b
Operationen an peripheren Nerven ist zumindest eine Lupenbrille
(4- bis 6-fache Vergrößerung), besser das Operationsmikroskop, ⊡ Abb. 8.13 Mikrochirurgische epifasziale Epineurotomie bei einem schwe-
notwendig. ren Karpaltunnelsyndrom. a Klinischer Aspekt vor Neurolyse (sanduhrförmige
Für die Klassifikation der intraoperativen Befunde bei mikro- Einengung im Bereich der Kompression), b klinischer Aspekt nach Neurolyse
chirurgischer Neurolyse eines peripheren Nervs, verwenden wir (frei expandierende Faszikelgruppen)
8.2 · Spezielle Techniken
167 8
werden soll, um eine unnötige Beeinträchtigung der Vaskulari- einem Fibrosegrad B II nach Millesi. In einigen Fällen kann das
sation des Nervs zu vermeiden. Kann eine freie Expansion der Faszikelmuster erhalten sein, jedoch die Faszikel sind fibrotisch
Faszikel(gruppen) erreicht werden, sind weitere mikrochirurgi- verändert, gewellt und/oder induriert. Falls bei intraoperativer
sche Operationsschnitte nicht mehr notwendig. Bei weiter beste- Nervenreizung keine adäquate Reaktion ausgelöst werden kann,
hender Kompression der Faszikel(gruppen) kann eine mikrochi- sollten diese veränderten Abschnitte »bis ins Gesunde« reseziert
rurgische Resektion des Bindegewebes zwischen den Faszikeln und sofort eine interfaszikuläre Nerventransplantation durchge-
notwendig werden. Dieser Schritt wird als interfaszikuläre Epi- führt werden. In anderen Fällen können Abschnitte vorliegen,
neurektomie bezeichnet. Es muss ausdrücklich darauf hingewie- die ihre Faszikelstruktur verloren haben (Neuroma in continuita-
sen werden, dass die interfaszikuläre Epineurektomie zu einer tem). Hier liegt eine Schädigung im Stadium Sunderland III–IV
Beeinträchtigung der Blutversorgung führt und dass im Rahmen vor. Bei Läsionen Sunderland IV ist zu unterscheiden, ob eine
der normalen Wundheilung nach Neurolyse erneut Narbenge- adäquate Antwort auf intraoperative direkte Nervenstimulation
webe zwischen den Faszikel(gruppen) zu liegen kommt. Ziel erzielt werden kann oder nicht. Bei adäquater Reizantwort erfolgt
der interfaszikulären mikrochirurgischen Neurolyse ist nicht die keine weitere operative Maßnahme. Bei inadäquater oder fehlen-
Separation aller Faszikeln voneinander, sondern deren möglichst der Antwort wird die Indikation zur interfaszikulären Nerven-
freie Expansion. Die interfaszikuläre Neurolyse ist indiziert ab transplantation gestellt.
⊡ Tab. 8.4 Klassifikation der intraoperativen Befunde nach Neurolyse bei Läsionen ohne Kontinuitätsunterbrechung nach Millesi.
(Aus Berger u. Hierner 2002)
Einteilung bez. Kontinuität Einteilung bez. Reaktion Aussicht auf spontane Diagnose Therapie
(1–5 nach Sunderland) (A, B, C, N, S) Regeneration
1A Leitfähigkeit verloren, Kontinuität Fibrose des epifaszikulären Gut nach D Elektrische Leitfähigkeit Epineuriotomie
der Axone erhalten Epineuriums (A) der NF trotz Lähmung
peripher erhalten
1B Leitfähigkeit verloren, Kontinuität Fibrose des interfaszikulä- Gut nach D Elektrische Leitfähigkeit Partielle Epi-
der Axone erhalten ren Epineuriums (B) der NF trotz Lähmung neuriektomie
peripher erhalten
2A Axonolyse, Endoneurium intakt Fibrose des epifaszikulären Gut nach D Keine elektrische Epineuriotomie
Epineuriums (A) Leitfähigkeit, spontane
Regeneration
2B Axonolyse, Endoneurium intakt Fibrose des interfaszikulä- Gut nach D Keine elektrische Partielle Epi-
ren Epineuriums (B) Leitfähigkeit, spontane neuriektomie
Regeneration
3A Axonolyse, Endoneurium zerstört, Fibrose des epifaszikulären Vorhanden nach D Operation Epineuriotomie
Perineurium intakt Epineuriums (A)
3B Axonolyse, Endoneurium zerstört, Fibrose des interfaszikulä- Vorhanden nach D Operation Partielle Epi-
Perineurium intakt ren Epineuriums (B) neuriektomie
3C Axonolyse, Endoneurium zerstört, Fibrose auch des Endoneu- Keine Operation Reaktion und
Perineurium intakt riums (C) NT
4N Kontinuität nur durch BG aufrecht- Narbe von Neurom durch- Schlecht Operation D durch NL
erhalten wachsen (N) oder
Resektion und
4S Kontinuität nur durch BG aufrecht- Nur Narbe zwischen den Keine Operation NT
erhalten Stümpfen (S)
Adjuvante Eingriffe nach Neurolyse Die Ziele der adjuvanten Eingriffe können wie folgt angegeben
Adjuvante Eingriffe nach Neurolyse sind Nerventransposition werden:
(z. B. Ventralverlagerung des N. ulnaris bei schwerer Kompression 1. Reduktion der erneuten Bindegewebsbildung im Rahmen der
im Bereich des Sulcus N. ulnaris) oder Deckung des Neurolysebe- Wundheilung auf ein Minimum,
reiches mithilfe von Lappenplastiken (⊡ Abb. 8.14, ⊡ Abb. 8.15). Die 2. Verbesserung der Durchblutung des umliegenden Gewebes im
intraoperative Applikation von Substanzen, die die postoperative Bereich der Neurolyse,
Bindegewebsbildung hemmen sollen ist beschrieben, hat sich in 3. mechanische Abpolsterung im Bereich der Neurolyse zur Ver-
unseren Händen jedoch nicht bewährt. ringerung von Neurombeschwerden.
e
a
b f
d h i
⊡ Abb. 8.15 Ulnodorsale Faszenlappenplastik zur Abpolsterung des N. medianus nach interfaszikulärer Neurolyse im Handgelenkbereich, a Anatomie und
Lappenplanung (Schema), b intraoperativer Aspekt: Lappenplanung, c intraoperativer Aspekt: Z. n. mikrochirurgischer interner Neurolyse des N. medianus,
d intraoperativer Aspekt: Lappenhebung, e intraoperativer Aspekt: Lappentransposition, f postoperativer klinischer Aspekt : Ansicht von ulnar, g klinischer
Aspekt 6 Monate postoperativ: Ansicht von ulnar, h klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Ansicht von palmar, i klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ:
Thenarfunktion
170 Kapitel 8 · Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten
a b
8 c
wohl im proximalen als auch im distalen Stumpfbereich ( Ab- Eine ausreichende Anzahl von Nerventransplantaten zur kom-
schn. 8.2.2). Die entnommenen Transplantate werden auf eine pletten Abdeckung des Nervenquerschnitts wird angehäuft. Im
Länge von 10% länger als der Defekt gekürzt und invertiert in Bereich beider Transplantatenden wird ein Plastikhintergrund un-
den Defektbereich eingebracht. Durch die Invertierung kann tergelegt. Im Bereich der Transplantatenden wird eine dreidimen-
ein Verlust von Axonen während der Regeneration verhindert sionale Anordnung der Nerventransplantate – für die Anschlüsse –
werden. Auf eine ausreichende Anzahl von Nerventransplantaten durchgeführt. Im Transplantatverlauf selbst wird eine hauptsächlich
ist zu achten. Ein sog. »Overgrafting«, d. h. ein Einbringen von zweidimensionale Anordnung, die eine Auffächerung der Nerven-
mehr Transplantaten als die Fläche des Nervenquerschnitt, sollte transplantate zulässt, gewählt. Durch die Auffächerung können die
wenn möglich, durchgeführt werden, da vor allem der N. suralis Nerventransplantate leichter aus der Umgebung re- bzw. neovas-
einen hohen Anteil an Bindegewebe zeigt. Für den Erfolg einer kularisiert werden. Im Bereich der Transplantatenden werden die
Nerventransplantation ist die Qualität des Transplantatlagers von Transplantate mittels Fibrinkleber miteinander verbunden. Nach
ausschlaggebender Bedeutung. Bei schlechtem Transplantatlager dreidimensionaler Anordung der Nerventransplantatenden erfolgt
ist dies durch eines »lagerverbessernden Eingriff« (z. B. Lappen- die Gabe von Fibrinkleber (⊡ Abb. 8.19a). Nun wird das Plastik
plastik) zu beheben oder es müssen längere Nerventransplan- um die Naht gerollt und mit 2 Mikropinzetten an das trunkuläre
tate und/oder ein extraanatomischer Verlauf (z. B. N. radialis Nerventransplantat gedrückt bis der Fibrinkleber abgebunden hat
im Oberarmbereich) gewählt werden. Bei »ersatzstarkem« Lager (⊡ Abb. 8.19b). Anschließend wird das Plastik entfernt. An der
spielt die Länge des Nerventransplantats nur eine untergeordnete Klebestelle liegt ein kegelförmiger Überschuss an abgebundenem
Rolle. Fibrinkleber vor. Das gleiche Vorgehen wird auch am Gegenüber-
Grundsätzlich können zwei unterschiedliche Techniken der liegenden durchgeführt. Vor der Koaptation wird an beiden Trans-
8 Nerventransplantation unterschieden werden; die trunkuläre plantatenden ein frischer Anschnitt mit Exposition von Nerven-
Transplantation und die interfaszikuläre Transplantation. gewebe im gesamten Querschnittsbereich erfolgen (⊡ Abb. 8.19c).
Das zusammengesetzte trunkuläre Nerventransplantat wird nun in
Interfaszikuläre Nerventransplantation. Die interfaszikuläre mikrochirurgischer Technik mittels weniger epineuraler Nähte mit
Nerventransplantation ist die Technik der Wahl, vor allem im 10×0 monofilem Faden in den Defekt eingebracht. Der Fibrinkle-
distalen (stammfernen) Abschnitt peripherer Nerven mit bereits ber an beiden Transplantatenden dient als »Neo-Epineurium« und
festgelegter intraneuraler Topografie (⊡ Abb. 8.17c). Die einge- stellt eine mechanisch belastbare Schicht für die Verankerung der
brachten Nerventransplantate werden zunächst für die Trans- Nähte dar. Abschließend ist darauf zu achten, dass im mittleren
plantation vorbereitet. Hier erfolgt das Rückschieben der äußeren Abschnitt des zusammengesetzten trunkulären Nerventransplan-
Bindegewebsanteile in der gesamten Zirkumferenz mit der gerill- tats die einzelnen Nerventransplantate möglichst breit aufgefächert
ten Mikroschere bei gleichzeitigem entsprechendem Gegenzug sind, um eine möglichst schnelle Revaskularisation zu erreichen
durch Anfassen des Nerventransplantats mit der Mikropinzette (⊡ Abb. 8.19d,e).
im perineuralen Bereich. Auch hier werden eventuell vorquel-
lende Myelinanteile mit der Mikroschere auf die Höhe des Epi- z Conduit
neuriums zurückgekürzt. Das gleiche Vorgehen erfolgt im dista- Nach anfänglichen Misserfolgen konnten kleine Nervendefekte
len Stumpfbereich des Nerventransplantats. Nervenstümpfe und zuverlässig mit Röhrchen überbrückt werden. Neben biologischen
Nerventransplantate sind nun für die Transplantation vorbereitet. Materialien wie Knochen, Gefäße (Arterie, Vene), Faszienschläu-
Mithilfe eines Nerventransplantats werden korrespondierende che, etc. wurden auch zahlreiche nicht biologische Substanzen
Faszikel(gruppen) miteinander verbunden. Durch Einstechen der erprobt.
Nadel unter das Epineurium und anschließendem Ausstechen In der klinischen Praxis konnten sich neben autologen Ve-
im Transplantatbereich, welches wieder unter dem Perineurium nen, Silikonröhrchen und biodegradable, teils auch semipermeable
bei gleichzeitiger Schonung des Myelins erfolgt, wird die erste Röhrchen etablieren. Eine weitere Möglichkeit stellt die Interposi-
Naht durch einen 3-fachen Knoten fixiert. Das gleiche Vorgehen tion eines Basalmembranconduits quergestreifter Muskulatur dar.
erfolgt auch im distalen Nahtbereich. Bei großen Faszikeln und Allerdings zeigte sich, dass eine den Ergebnissen nach autologer
vor allem bei der Fixierung des ersten dorsalen Faszikels, der als Nerventransplantation vergleichbare Regeneration nur bis zu einer
»dorsale Leitschiene« dient, können zwei Nähte für eine exakte Defektlänge von 2–3 cm zu erwarten war. Eine gute Indikation
Koaptation notwendig werden. Die weiteren Transplantate wer- für den Einsatz von autologen Conduits stellt die Rekonstruktion
den in gleicher Technik, wenn möglich mit jeweils einer Naht kleiner Substanzdefekte im Bereich rein sensibler Nerven, wie z. B.
pro Nahtstelle, fixiert. Eventuell noch vorquellende Myelinanteile N. digitalis proprius dar (⊡ Abb. 8.20).
werden durch entsprechend entgegengesetzten Zug mobilisiert Eine weitere Indikation ist die Conduitnaht nach Lundborg.
und durch glatte Durchtrennung auf Höhe des Perineurium Bei Substanzdefekten bis zu 0,5 cm erfolgt die Koaptation inner-
rückgekürzt. halb eines Conduits, welches als Wachstumskammer fungiert.
Bei Nervendefekten über 2–3 cm kommt es aufgrund der feh-
Trunkuläre Nerventransplantation. Die trunkuläre Nerven- lenden Schwann-Zellen und der von ihnen sezernierten Wachs-
transplantation kann bei proximalen (stammnahen) Nervendefek- tumsfaktoren zu einer deutlich schlechteren Nervenregeneration
ten eingesetzt werden, da hier eine eindeutige intraneurale Topo- als nach autologer Nerventransplantation. Durch Einbringen von
grafie noch nicht vorliegt. Die eingebrachten Nerventransplantate kleinen Nervenstücken mit lebenden Schwann-Zellen in ein langes
werden zunächst für die Transplantation vorbereitet. Im Gegensatz Röhrchen konnte tierexperimentell eine zufriedenstellende Rege-
zur interfaszikulären Transplantation müssen sie gering mehr als neration auch über längere Defektstrecken erzielt werden. Mithilfe
10% länger als der Defekt gewählt werden, da im Verlauf der moderner Methoden der Zellkultivierung ist es möglich Schwann-
Herstellung des trunkulären Nerventransplantats im proximalen Zellen-Kulturen anzufertigen, welche auf eine innere Matrix auf-
und distalen Transplantatbereich jeweils ein zusätzlicher Anschnitt gebracht und in ein bioresorbierbares Röhrchen eingebracht als
notwendig sind. lebendes künstlichen Nerventransplantat eingesetzt werden kön-
8.2 · Spezielle Techniken
175 8
a d
b e
nen. Die erfolgreiche klinische Anwendung steht jedoch noch in Eingriffe bei fehlendem proximalen Stumpf
weiter Zukunft. z Direkte neuronervale (extraanatomische) Neurotisation
Eine extraanatomische Neurotisation ist indiziert bei:
z Nervendistraktion 1. fehlendem proximalen Nervenstumpf wie z. B. Wurzelausriss
Obwohl Einzelbeschreibungen gewollter und nicht gewollter (Ver- bei Läsion des Plexus brachialis,
einigung von Sehnenstümpfen mit den Stümpfen des N. medianus) 2. Situationen, in denen die Regenerationsstrecke kurz gehalten
Distraktionen im Bereich peripherer Nerven existieren, hat sich werden soll, auch wenn dafür an der späteren Muskelaktion
dieses Verfahren derzeit nicht in der klinischen Praxis etablieren ein anderer Neuronenpool und ein anderes Hirnareal für die
können. Periphere Nerven können ohne klinisch sichtbare Funk- Bewegung beteiligt sind und damit ein Umlernen der Bewe-
tionseinbuße bis zu 20% ihrer Länge gedehnt werden. Dies ist gungsmuster für den Patienten verbunden ist.
hauptsächlich der Grund, warum bei Extremitätenverlängerungen
klinisch sichtbare nervale Defekte nicht regelhaft auftreten. Aller- Prinzipiell wird beim selektiven Nerventransfer nicht der Original-
dings führt die Extremitätenverlängerung zu signifikanten subkli- nerv verwendet, sondern ein anderer Axonspender »angezapft«.
nisch verlaufenden elektrophysiologischen Veränderungen. Dies kann über zwei Techniken erfolgen, zum einen als komplette
176 Kapitel 8 · Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten
⊡ Tab. 8.5 Schritte der mikrochirurgischen Neuroraphie und mögliche Fehlerquellen. (Aus Berger und Hierner 2002)
2. Approximation der Ungenügende Mobilsierung der Nervenstümpfe bzw. übermäßige Mobilisierung mit iatrogener Devaskularisierung
Stümpfe Approximation in schlechtem Lager (mit bestehendem Muskel-, Sehnen- und/oder Knochenschaden)
Die primäre Nervenrekonstruktion in traumatisch stark ver- Oberlin C, Beal D, Leechanvengvous S, Salon A (1994) Nerve transfer to the
schmutztem und geschädigtem Gebiet ist durch sekundäre In- bisceps muscle using a part of ulnar nerve for C5-C6 avulasion of the
fektionen und Hämatome hoch gefährdet und wird daher nicht brachial plexus: anatomical studiey and report of four cases. Hand Surg
empfohlen. Dies gilt umso mehr für den Einsatz von Nerventrans- 19A: 232
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sprouting into an end-to-side nerve graft. Reconstr Mircosurgery 13:
99–106
9
b c
⊡ Tab. 9.1 Klassifikation und klinische Bedeutung des Funktionszustandes der »Funktionseinheit Weichteil/Knochen« nach Hierner. (Aus Hierner u.
Berger 2002)
Knochendefekte können angeboren oder erworben sein. Bei den Geschlossene und offene Frakturen werden heute meist nach
erworbenen Knochenverletzungen und -defekten unterscheidet Tscherne/Oestern klassifiziert. Alternativ kann auch die Klassifika-
man hinsichtlich der Ätiologie nach Trauma, Infekt oder Tumor. tion der Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese angewendet werden.
Für die Klassifikation von offenen Frakturen hat sich auch die
Klassifikation nach Gustilo bewährt (⊡ Tab. 9.2).
9.1.4 Diagnostik Für die Klassifikation hinsichtlich der Bruchform (A–C) und
Bruchlokalisation (proximales Segment/Gelenk und Metaphyse,
Die Untersuchung beginnt mit der Inspektion der Hand, sodass diaphasäres Segment/Schaft, distales Segment/Gelenk und Meta-
der Untersucher einen Überblick über die Weichteilsituation, Sen- physe) hat sich die Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft Osteo-
sibilität und Durchblutung bekommt. Grobe Fehlstellungen der synthese bewährt. Für einzelne Lokalisationen können alternativ
Fingerachsen oder Luxationen werden selten übersehen. Typische auch andere Klassifikationen verwendet werden (s. in den jeweili-
Bruchformen sind durch die enge Verbindung mit dem umgeben- gen Kapiteln). Für die Klassifikation von Frakturen im Epiphysen-
den Kapselbandapparat sowie den Streck- und Beugesehnenansät- bereich beim wachsenden Skelett haben sich die Klassifikation nach
zen zu erklären ( Kap. 23, Kap. 24). Aitken (Typ I–III) sowie Salter und Harris bewährt (⊡ Abb. 9.6).
184 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
⊡ Tab. 9.2 Auflistung der international gebräuchlichsten Klassifikationen zur Beschreibung von geschlossenen und offenen Frakturen
0: Geringer Weichteilschaden, einfache Grad I: Bis 1 cm lange Wunde, saubere IC 1: Keine Hautverletzung
Bruchform Wundränder, Unfallmechanismus
im Sinne einer Durchspießung
eines der Fragmente
I: Oberflächliche Schürfung, einfache bis mit- Grad II: 1–3 cm lange Wunde, Unfallme- IC 2: Kontusion und Hauteröffnung
telschwere Bruchform chanismus Trauma von außen
nach innen, Wunde ohne ex-
tensiven Weichteilverlust, keine
Lappenbildung oder Weichteila-
vulsionen
II: Tiefe, kontaminierte Schürfung, lokalisierte Grad III: Alle Komplikationswunden IC 3: Umschriebenes Décollement
Haut- und Muskelkontusion, alle Bruch- >3 cm mit extensivem Weichteil-
formen schaden, häufige Gefäß-/Nerven-
beteiligung
III: Ausgedehnte Hautkontusion, Hautquet- Grad III A: Knochen von vitaler Muskulatur IC 4: Ausgedehntes geschlossenes
schung oder Zerstörung der Muskulatur, oder Periost umgeben Décollement
subkutanes Décollement, dekompensier-
9 tes Kompartmentsyndrom
Offene Frakturen Grad III B: Freiliegender Knochen, hochgra- IC 5: Nekrose aufgrund von tiefer
dige Kontamination Kontusion
I: Fehlende oder geringe Kontusion, unbe- Grad III C: Rekonstruktionspflichtiger Ge- Offene Hautverletzungen (IO)
deutende bakterielle Kontamination, einfa- fäßschaden
che bis mittelschwere Bruchformen
IO 5: Ausgedehntes Décollement
MT 1: Keine Verletzung
MT 2: Umschriebene Muskelverlet-
zung
MT 3: Ausgedehnte Muskelbeteiligung
NV 1: Keine Verletzung
NV 2: Isolierte Nervenläsion
NV 3: Umschriebene Gefäßverletzung
NV 4: Kombinierte neurovaskuläre
Verletzung
NV 5: Subtotale Amputation
9.1 · Allgemeines
185 9
AI A II A III
SI S II S III S IV SV
⊡ Abb. 9.6 Klassifikation der Frakturen im Bereich der Wachstumsfugen nach Salter (die korrespondierenden Einteilungen nach Aitken sind angegeben). Bei
Typ I und II besteht eine gute Wachstumsprognose, bei Typ III–V ist das Stratum germinativum mit betroffen, weshalb mit Wachstumsbeeinträchtigungen zu
rechnen ist. Typ I: reine Epiphysenlösung, Typ II: partielle Epiphysenlösung mit einem metaphysären Keil (entspricht Aitken I), Typ III: epiphysäre Fraktur, die
in eine partielle Epiphysenlösung ausläuft (entspricht Aitken II), Typ IV: epiphysäre Fraktur, die direkt oder über eine partielle Epiphysenlösung in eine meta-
physäre Fraktur ausläuft (entspricht Aitken III), Typ V: Crush-Verletzung der Epiphyse. (Aus Siewert u. Brauer 2010)
⊡ Abb. 9.7 Klassifikation der vaskularisierten Knochentransplantate im Hinblick auf ihre externe Gefäßversorgung nach Hierner. (Aus Berger u. Hierner 2002)
sorgung der ossären Komponente haben hautgestielte Knochen- Als klare Indikationen zur Osteosynthese gelten:
transplantate im Gegensatz zu muskelgestielten heute nur noch 1. alle Frakturen, die erfahrungsgemäß auf konservativem Wege
geringe Bedeutung. Pathophysiologisch gesehen stellt die Kallus- nicht knöchern ausheilen können, wie z. B. metakarpale V-
distraktion zur Extremitätenverlängerung nach Ilizarov oder zur Basis-Fraktur, oder Bennet-Fraktur;
Knochendefektdeckung durch Segmenttransport eine Sonderform 2. dislozierte Gelenkfrakturen, die sich nicht geschlossen repo-
der lokalen vaskularisierten Knochentransposition (Typ II) dar. Je nieren lassen; die exakte anatomische Gelenkrekonstruktion
nach Höhe der Osteotomie handelt es sich hier um ein gefäß- und/ ist als Prävention einer vorzeitigen posttraumatischen Arthro-
oder muskelgestieltes lokales vaskularisiertes Knochentransplantat. se anzustreben;
Im Gegensatz zu den zuvor genannten Transponaten besteht aber 3. Schaftfrakturen, die durch Osteosynthese rascher und sicherer
zusätzlich über den Kallusschlauch eine weitere vaskuläre Verbin- heilen;
dung. Gefäßgestielte Knochentransponate (Typ IIIa) haben eine 4. offene Frakturen;
makroskopisch definierte Blutzu- und -abfuhr, welche während 5. geschlossene Frakturen, die durch Gefäß- oder Nervenschädi-
Präparation und Schwenkung nicht beschädigt werden darf. Man gungen oder ein Kompartmentsyndrom kompliziert sind;
zählt beide deshalb zu den »axial pattern flaps«. Bei den frei vas- 6. Kettenfrakturen und gewisse Frakturen beim Polytraumati-
kularisierten Knochentransplantaten (Typ IIIb) wird die Blutver- sierten;
sorgung kurzzeitig unterbrochen und mithilfe mikrochirurgischer 7. bestimmte Frakturen im Kindesalter;
Techniken im Empfängerlager wiederhergestellt. 8. pathologische Frakturen.
Knochentransplantate
9.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Eine optimale Knochendefektdeckung kann nur erzielt werden,
wenn der »optimale Rekonstruktionszeitpunkt« (»Konzept der
Stabile knöcherne Verhältnisse sind unabdingbare Voraussetzung Einzeitigkeit« vs. »Konzept der Mehrzeitigkeit«) und das »optimale
9 für eine erfolgreiche Weichteildeckung. Liegt eine Fraktur vor, Rekonstruktionsverfahren« (Spongiosaplastik vs. vaskularisierter
muss sie stabilisiert werden, um die notwendige mechanische Knochentransfer vs. Kallusdistraktion, aber auch Amputation)
Stabilität zu erreichen und einen weiteren Weichteilschaden zu gewählt werden. Die Knochenrekonstruktion darf nicht vor der
vermeiden. Sanierung eines mitbestehenden Weichteildefektes erfolgen. Die
Die Methode der Frakturbehandlung wird dabei bestimmt heute am meisten eingesetzten Verfahren zur Rekonstruktion von
durch Ausmaß, Lokalisation sowie die beabsichtigte Therapie des Knochendefekten mit autologem Material sind die Spongiosaplas-
Weichteil- und Knochenschadens. Luxationen und stärkere Dis- tik, der vaskularisierte Knochentransfer in Form des vaskularisier-
lokationen sollten so schnell wie möglich (bereits am Unfallort) ten Beckenkamm- und Fibulatransfers und die Kallusdistraktion.
beseitigt werden und instabile Frakturen provisorisch geschient Es ist wichtig diese Verfahren nicht als konkurrierende, sondern
werden, um den Weichteilschaden und die Durchblutungsstörun- als sich ergänzende Techniken zu verstehen. Welches der drei
gen zu begrenzen. Falls keine Frühoperationen erforderlich sind genannten Verfahren zur Rekonstruktion eines Knochendefektes
oder aktuell wegen des Allgemeinzustandes des Patienten nicht herangezogen wird, ist abhängig von:
durchgeführt werden können, müssen alle konservativen Stabilisie- 1. Ursache des Knochendefektes (Trauma/Tumor/Osteomyelitis),
rungsmaßnahmen so durchgeführt werden, als handle es sich um 2. Defektgröße,
die definitive Versorgung. Bei fehlender oder geringer Weichteil- 3. Defektlokalisation (Metaphyse/Diaphyse) und
schädigung und einfachen Frakturformen ohne Kontinuitätsdefekt 4. Defekttyp (partiell, segmental).
kann die definitive Versorgung am Unfalltag durchgeführt werden.
Bei unklarer oder ausgedehnter Weichteilschädigung bei Frakturen Darüber hinaus beeinflusst die Erfahrung des behandelnden Chir-
und Kontinuitätsdefekten hat sich ein abgestuftes Verfahren der urgen die Verfahrenswahl entscheidend.
Osteosynthese bewährt. Am Unfalltag wird die Knochenverletzung
> Die Durchsicht der Literatur zeigt, dass an der oberen Extre-
mit einem Fixateur externe gestellt. Dieses Verfahren erlaubt eine
mität in den meisten Fällen der nicht vaskularisierte Kno-
angemessene Stabilität des Knochens und guten Zugang für die
chentransfer (Spongiosaplastik, kortikospongiöser Span) in
Diagnostik und Therapie eines mitbestehenden Weichteilschadens.
Verbindung mit einer technisch gut durchgeführten Osteo-
Zeitpunkt und Art der definitiven osteosynthetischen Versorgung
synthese zum Erfolg führt.
sind hauptsächlich abhängig von:
1. Ausmaß der Weichteilschädigung nach Demarkation, Indikationen für den vaskularisierten Knochentransfer bestehen bei:
2. Ausmaß des Knochenschadens, 1. Knochendefekten nach Trauma und Osteomyelitis >4 cm,
3. Infektsituation und 2. Knochendefekten nach Tumorresektion mit anschließender
4. der Defektlokalisation (Stamm versus Extremitäten versus Bestrahlung oder Chemotherapie,
Kopf, untere Extremität versus obere Extremität). 3. Knochendefekte <4 cm bei gleichzeitig bestehendem ersatz-
schwachem Lager,
Frakturen 4. gleichzeitig bestehender Gefäßdefekt und
Prinzipiell steht der Benefit der geringeren Immobilisation und 5. gleichzeitiger Radius und Ulnaknochendefekt.
damit der Verhinderung der Einsteifung der Hand gegen das
Operationsrisiko. Bei der Auswahl des für den individuellen Pati- Da innere Distraktionssysteme noch nicht routinemäßig eingesetzt
enten optimalen Therapieverfahrens – konservativ versus operativ werden können, führt eine Kallusdistraktion an der oberen Extre-
– müssen defektbedingte, therapiebedingte und patientenbedingte mität mit äußeren Systemen zu einer größeren Beeinträchtigung
Kriterien berücksichtigt werden ( Kap. 4). des Patienten im täglichen Leben. Darüber hinaus gestaltet sich
Gute Indikationen für eine konservative Therapie sind stabile eine krankengymnastische Übungsbehandlung zur Prophylaxe der
und wenig dislozierte Frakturen. Einsteifung angrenzender Gelenke – vor allem des Schulterge-
9.1 · Allgemeines
187 9
lenks – schwieriger. Die Kallusdistraktion sollte deshalb derzeit Sowohl der frei vaskularisierte als auch der gestielte Knochentrans-
im Bereich der langen Röhrenknochen der oberen Extremität nur fer zur Therapie einer Skaphoidpseudarthrose bleibt derzeit eine
dann angewendet werden, wenn Kontraindikationen für den mi- Ausnahmeindikation. Die Autoren weisen ausdrücklich darauf hin,
krovaskulären Knochentransfer bestehen. Für diaphysäre Defekte dass diese aufwendige Technik nur in ausgewählten Fällen, bei sehr
wird das vaskularisierte Fibulatransplantat eingesetzt, da die langen schlechten Durchblutungsverhältnissen bzw. kleinen Polfragmen-
Röhrenknochen der oberen Extremität einen annähernd gleichen ten und länger bestehender Pseudarthrose anzuwenden sei. Der
Durchmesser zeigen. Mithilfe der modernen Osteosynthesever- vaskularisierte Knochentransfer soll die knöcherne Konsolidierung
fahren ist es möglich, ein vaskularisiertes Fibulatransplantat nach beschleunigen oder überhaupt erst ermöglichen. Diese Methode
den Richtlinien einer Etagenfraktur übungsstabil zu integrieren. kann weder eine bereits bestehende Arthrose des Handgelenks
Die weitere Therapie erfolgt nach den Richtlinien der Frakturbe- noch eine manifeste Dekompensation des Karpus rückbilden. Sie
handlung. Darüber hinaus lassen sich gleichzeitig bestehende Kno- sollte aber vor allem bei jungen Patienten vor Durchführung einer
chensubstanzdefekte von Radius und Ulna sowie ein segmentaler Teilarthrodese im Karpusbereich oder der kompletten Handgelen-
Gefäßdefekt während der gleichen Operation rekonstruieren. Das karthrodese bedacht werden.
vaskularisierte Beckenkammtransplantat sollte eingesetzt werden Der gestielte Transfer des Os pisiforme ist indiziert bei Luna-
bei metaphysären Knochendefekten unter 10 cm. Vor allem bei tummalazie im Stadium II und III nach Decoulx. Im Stadium II ist
Arthrodesen nach Defektbrüchen mit Gelenkbeteiligung zeigt der definitionsgemäß die Schale des Os pisiforme noch intakt. Durch
kortikospongiöse Beckenkamm eine schnellere und stärkere Kno- Ausfräßen des nekrotischen Knochens und Zurechtformen des Os
chenbildung als die kortikale Fibula. pisiforme kann ein vaskularisierter Knochenblock in die Lunatum-
Bei der Therapie von avaskulären Knochennekrosen mit vasku- schale eingebracht werden. Dies hat den Vorteil, dass die intrin-
larisierten Knochentransplantaten zeigt sich, dass bei Therapiebe- sischen Bänder (skapholunär und lunotriquetral) und somit die
ginn in frühen Stadien, d. h. die subchondrale Knochenlamelle ist Architektur der proximalen Karpalreihe intakt bleiben. Dissoziative
noch intakt, die Gelenkfunktion zumindest temporär funktionell karpale Instabilitäten sind selten. Bei vielen Patienten im Stadium III
erhalten werden kann. Vor allem bei kortisoninduzierten Nekrosen besteht zwar ein Höhenverlust des Os pisiforme, die lateralen Veran-
scheint der vaskularisierte Knochentransfer im Gegensatz zu an- kerungen zu Skaphoid und Triquetrum sind aber noch weitgehend
deren Therapiemethoden den raschen devastären Verlauf am wir- intakt. Hier kann wie im Fall des Stadiums II vorgegangen werden.
kungsvollsten verhindern oder jahrelang hinauszögern zu können. Bei Frakturierung der Lunatumschale und/oder ausgeprägten arth-
Bei Stadien mit bereits strukturellen Gelenkveränderungen kann rotischen Veränderungen der Gelenkflächen (Stadium III und IV)
das Fortschreiten der Gelenkzerstörung nicht mehr aufgehalten bleibt nur deren Resektion. Eine Transposition des gesamten Os pi-
werden. Eine Osteotomie, Gelenkversteifung oder die Implantation siforme führen wir wegen der beträchtlichen sekundären Luxations-
einer Prothese sind unausweichlich. Zur Beurteilung der Knorpel- rate und der Neigung zum sekundären karpalen Kollaps nur selten
verhältnisse hat sich die Arthroskopie im Handgelenkbereich be- durch. Die STT-Arthrodese oder neuerdings die Kallusdistraktion
währt ( Übersicht). Derzeit werden Neovaskularisierungsoperati- des Os capitatum haben sich in dieser Situation bewährt.
onen meist erst nach Versagen aller anderen Techniken eingesetzt. Als allgemeine Kontraindikationen für den vaskularisierten
Ein frühzeitigerer Einsatz könnte hier noch zu einer zusätzlichen (vor allem freien mikrovaskulären) Knochentransfer gelten
Ergebnisverbesserung hinsichtlich der Gelenkerhaltung führen. 1. ausgeprägte Gefäßveränderungen im Spender- und Empfän-
gergebiet,
2. systemische Gerinnungserkrankungen und
Aktuelle Indikationen für den (freien mikrovaskulären) 3. fehlende Operabilität des Patienten.
Knochentransfer im Bereich der oberen Extremität
▬ Aktuelle Indikationen Aufgrund klinischer Studien, die zeigen konnten, dass Patienten
1. Knochendefekte >4 cm nach Trauma und Osteomyelitis über 65 Jahre kein signifikant erhöhtes transplantatspezifisches
2. Knochendefekte nach Tumorresektion mit anschließen- Risiko haben, stellt diese Gruppe keine strikte Kontraindikation für
der Bestrahlung oder Chemotherapie den mikrovaskulären Knochentransfer mehr dar. Auch Patienten
3. Knochendefekte <4 cm bei gleichzeitig bestehendem mit Diabetes mellitus, bei denen hauptsächlich nur mikroangio-
ersatzschwachem Lager pathische Veränderungen vorliegen, können ohne erhöhte Lap-
4. gleichzeitig bestehender Gefäßdefekt penverlustrate mikrochirurgischen Eingriffen zugeführt werden
5. gleichzeitiger Radius- und Ulnaknochendefekt (s. oben Übersicht).
6. Skaphoidpseudarthrose :
– länger bestehende Pseudarthrose
– schlechte Durchblutungsverhältnisse 9.1.7 Therapie
– letzte Therapiemöglichkeit vor Teilarthrodese
7. Revaskularisation des Os lunatum Stadium II und III > Sowohl für die konservative als auch für die operative The-
▬ Aktuelle Kontraindikationen rapie der Frakturen gelten folgende identische Grundregeln:
1. ausgeprägte Gefäßveränderungen im Spender- oder »Re-«position, »Re-«tention und »Re-«habilitation.
Empfängergebiet
2. systemische Gerinnungserkrankungen Die Umsetzung dieser Prinzipien erfolgt mit unterschiedlichen
3. fehlende oder eingeschränkte Operabilität des Patienten Mitteln. Während bei der operativen Osteosynthese die Reposition
4. Diabetes mellitus mit ausgeprägten makroangiopathi- in der Regel offen oder zumindest minimalinvasiv und nach Mög-
schen Veränderungen (nicht mehr mikroangiopathische lichkeit mittels indirekter Technik erzielt wird, stützt sich die kon-
Veränderungen) servative Behandlung auf gedeckte Techniken durch Einrichtung
5. Alter eines Knochenbruchbehandlungsprinzips von Zug und Gegenzug
mit oder ohne lokale Repositionsmanöver.
188 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
a b
c d e f g
⊡ Abb. 9.9 Entnahme von autologem spongiösem Knochen vom vorderen Beckenkamm. a Lagerung, Abdeckung und Hautschnitt, b Exposition des ventralen
Beckenkamms, c Eingehen mit dem Sauger zur Gewinnung von spongiösem Knochen: Insbesondere in der Nähe der Crista iliaca ist der Raum zwischen lateraler
und medialer Kortikalis relativ weit, sodass man tief in die Crista vordringen kann. d Heben eines Kortikalisdeckels mit medial belassenem »Periostscharnier« zur
Entnahme von Spongiosachips, e Entnahme kortikospongiöser Späne von der Innenseite des Beckenkamms mit einem Hohlmeißel, f Entnahme eines schmalen
trikortikalen Spans, g Entnahme eines großen bikortikalen Spans unter Belassung eines gestielten Beckenkammdeckels zur Defektüberbrückung
an der äußeren Kortikaliskante inzidiert, unter Verwendung eines 9.2.2 Technik der Entnahme des dorsoradialen
Meißels ein etwa 3 cm langer Kortikalisdeckel gehoben und zu- gestielten vaskularisierten Knochenspans
sammen mit dem Periost nach medial geklappt (⊡ Abb. 9.9). (A.-innominata-Lappenplastik nach
Ist nur spongiöser Knochen notwendig, kann dieser nun mit Zaidemberg)
einem scharfen Löffel zwischen beiden Kortikalislamellen entnom-
men werden (⊡ Abb. 9.9). Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Ober-
Soll ein kleiner kortikospongiöser Span (z. B. zur Therapie ei- armblutleere. Über einen dorsoradialen Zugang wird die A. radi-
ner Skaphoidpseudarthrose) entnommen werden, wird mit einem alis dargestellt und der Abgang der A. innominata präpariert. Die
scharfen Meißel ein überdimensionierter Span aus dem Oberrand sensiblen Äste des R. superficialis des N. radialis müssen dabei
der Crista iliaca gehoben. Die laterale Kortikalis sollte, wenn mög- geschont werden. Auf demselben Weg kann nach Eröffnung der
lich, geschont werden. Ist ein großer kortikospongiöser Span not- Kapsel das Os scaphoideum aufgesucht und die Pseudarthrose aus-
wendig, wird dieser mit der oszillierenden Säge oder dem Meißel geräumt werden. Die Korrektur der Pseudarthrose kann über einen
gewonnen (⊡ Abb. 9.9). zusätzlichen palmaren Zugang noch effektiver erfolgen, außerdem
Durch Komprimierung der Spongiosa und Einlage eines Kol- wird dabei die Blutversorgung noch mehr geschont. Im Weiteren
lagenvlieses kann die Blutungsneigung wirkungsvoll reduziert wer- wird das 1. Strecksehnenfach eröffnet; die Sehnen des M. extensor
den. Der Kortikalisdeckel wird nun zurückgeklappt und nach pollicis brevis und des M. abductor pollicis longus werden nach
Einlage einer Redon-Drainage erfolgt der schichtweise Wundver- palmar, die des M. extensor carpi radialis longus und des M. exten-
schluss (⊡ Abb. 9.9). Postoperativ empfiehlt sich für mindestens sor digitorum nach ulnar retrahiert. Damit wird die A. innominata
einen Tag Bettruhe. Die Mobilisierung sollte erfolgen, sobald es die nun auf der dorsoradialen Seite des Radius sichtbar (⊡ Abb. 9.10b).
Schmerzen im Entnahmebereich erlauben. Entsprechend der Größe des Skaphoiddefektes wird ein korti-
192 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
A. innominata
R. superficialis
des
9 N. radialis
b c
⊡ Abb. 9.10 A. innominata-Lappenplastik nach Zaidemberg zur Therapie einer teilweise avaskulären Skap-
hoidpseudarthrose. a Anatomie und Lappenplanung, b Präparation der A. innominata unterhalb der radia-
a len Strecksehnenfächer, c Zustand nach Lappenhebung und Einpassung in den Pseudarthrosenbereich
kospongiöses Knochentransponat auf dem periostalen Blutgefäß des Einsatzes von nichtferromagnetischem Osteosynthesematerial
zentriert. Aus Stabilitätsgründen sollte ein Abstand von etwa 1 cm – mithilfe der (Kontrast-) Kernspintomografie erfolgen.
von der radiokarpalen Gelenkfläche eingehalten werden. Nach
Einritzen des Periosts mit dem Skalpell wird das Knochentranspo-
nat mit einem scharfen Meißel gehoben. Dabei darf es zu keiner 9.2.3 Technik der Entnahme des gestielten
Abscherung zwischen Periost und darunter liegendem Knochen vaskularisierten Knochenspans vom
kommen. Der Gefäßstiel verbleibt auf dem Periost und kann nun Metakarpale II nach Brunelli
bis zur A. radialis präpariert werden. Gegebenenfalls kann ein von
dem Blutgefäß versorgtes Hautareal zur Erleichterung der postope- Nach Untersuchungen von Hoflehner et al. (1991) bzw. Pierer et al.
rativen Vitalitätsdiagnostik mitgehoben werden. (1992), die nur das am stärksten ausgeprägte Gefäß als versorgendes
Der vaskularisierte Knochenspan kann an seinem Schwenk- ansehen, wird das Os metacarpale II in 84,6% der Fälle von der ra-
punkt in der Tabatière zum Os scaphoideum verlagert werden dialen Seite her erreicht. Dieses Hauptgefäß entspringt entweder als
(⊡ Abb. 9.10c). Bei länger bestehender Pseudarthrose mit palmarem Radialis-Typ direkt aus der A. radialis oder als Metakarpal-Typ aus
Substanzdefekt muss nach Korrektur einer möglichen DISI-Fehl- dem Arcus palmaris profundus. Offenbar eignen sich beide Typen
stellung des Os lunatum mithilfe eines temporären radiokarpalen zur Transposition des Os metacarpale II, da selektive Injektionen
Kirschner-Drahtes ein entsprechend geformter kortikospongiöser des versorgenden Gefäßes trotz zahlreicher anatomischer Variatio-
Span eingebracht werden. Eine intraoperative Röntgenkontrolle zur nen in allen Fällen zu Anfärbungen des gesamten Knochens geführt
Dokumentation der Skaphoidkorrektur und der Lage des Knochen- haben. Ein bis zwei Vv. comitantes begleiten das versorgende Gefäß
transponates sollte generell durchgeführt werden. Nach Eröffnung und sichern den venösen Abfluss des Transplantates. Die Operation
der Blutleere erfolgen die Kontrolle der Durchblutung und eine erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Das
subtile Blutstillung. Das vaskularisierte Knochentransponat wird lokal gestielte Knochentransponat wird ähnlich der fasziokutanen
im Empfängergebiet mit Kirschner-Drähten oder einer Herbert- Hautlappenplastik als Cerf-volant-Lappenplastik nach Foucher und
Schraube fixiert. Nach lockerem Kapselverschluss und Einlage einer Braun (1980) gehoben ( Abschn. 34.2.4). Über einen doppel-S-för-
Redon-Drainage ohne Sog erfolgt der Wundverschluss, wobei darauf migen Zugang auf der dorsalen Seite des Intermetakarpalraumes I
geachtet werden muss, dass der Gefäßstiel nicht komprimiert wird. wird die A. radialis in der Tabatière aufgesucht. Da in manchen Fäl-
Postoperativ ist eine Immobilisierung in einem gespaltenen len der oberflächliche Stamm der A. metacarpalis dorsalis I fehlen
Unterarmgips mit Daumeneinschluss für 6(–12) Wochen erforder- kann, wird ein breiter Stiel mit Faszie und subkutanem Fettgewebe,
lich. Anschließend muss eine krankengymnastische Behandlung der beide Aa. metacarpales dorsales I und deren Anastomosen ent-
zur Verbesserung von Beweglichkeit und Kraft begonnen werden. hält, gehoben. Die Präparation des etwa 1,5 cm breiten Stieles geht
Eine Vitalitätskontrolle des vaskularisierten Knochentransponates vom Winkel der beiden ersten Ossa metacarpalia auf der radialen
kann entweder bis zum 5. postoperativen Tag durch eine Drei- Seite des Os metacarpale II nach distal. Dabei darf der Übergang
Phasen-Knochenszintigrafie oder nach 6–12 Wochen – im Falle von Faszie und Periost nicht verletzt werden, da dieser die versor-
9.2 · Spezielle Techniken
193 9
⊡ Abb. 9.11 Technik der Entnahme des gestielten vaskularisierten Knochen- ⊡ Abb. 9.12 Palmarer vaskularisierter Knochenspan nach Kuhlmann/
spans vom Metakarpale II nach Brunelli Mathoulin
genden Gefäße enthält. Die Eintrittsstelle der letzten Knochenäste am Rande der Flexor carpi radialis. Nach Darstellen der Flexor
des Gefäßes befindet sich im Bereich der proximalen Insertion des carpi radialis wird die A. radialis exakt präpariert. Von hier aus wird
radialen Kollateralbandes. Da dieses zur Sicherung der Stabilität des ein ca. 0,6 cm breiter Streifen perivaskulär präpariert, um entlang
MP-Gelenks erhalten bleiben muss, ergibt sich daraus die distale der Gefäße auf den beugeseitigen Radius zu gelangen. In leichter
Begrenzung des Transplantates. Ohne Stabilitätsverlust kann maxi- Beugung des Handgelenks können die Flexoren mit einem Haken
mal ein Drittel des Os metacarpale II gehoben werden. Dazu wird leicht angehoben werden, um eine gute Sicht auf den beugeseitigen
zuerst das kortikospongiöse Transplantat mit der oszillierenden Radius zu ermöglichen. Hier wird nun nach Retraktion des M. pro-
Säge und anschließend mit einem feinen Meißel freigelegt und die nator quadratus ein Streifen im Bereich des periostalen und kapsu-
Präparation anschließend nach proximal bis zur Basis des Os meta- lären Gewebes geschnitten, der den Gefäßstiel des Spanes beinhal-
carpale II fortgesetzt. Auch hier darf das Gelenk nicht verletzt wer- tet. Die weitere Präparation erfolgt subperiostal unter Hebung des
den (⊡ Abb. 9.11). Die Durchblutung des Transplantates wird nach Gefäßes zusammen mit periostalem Streifen bis zum Knochenspan.
Öffnen der Blutsperre überprüft. Mit einem Gefäßstiel von etwa Der Knochenspan wird in Höhe des distalen Radioulnargelenks mit
5 cm Länge kann das Transplantat leicht in die radialen Handwur- einem Meißel an der ulnaren, distalen und proximalen Begrenzung
zelknochen verlagert werden. Der Stiel kann gegebenenfalls in der geformt und abgegrenzt. Die radiale Spanseite muss unter dem
Technik des Décroisement unter den Strecksehnen des Daumens Gefäßstiel mit dem Meißel begrenzt werden, sodass die leichte
durchgezogen und dadurch verlängert werden. Wackelbewegung des kortikospongiösen Knochens mit reichlich
Spongiosa aus der Tiefe gehoben werden kann. Dabei muss insbe-
sondere auf den Erhalt der radiokarpalen und radioulnaren Gelenk-
9.2.4 Technik der Entnahme des gestielten fläche geachtet werden. Der kortikospongiöse Knochen mit langem
vaskularisierten Knochenspans vom Stiel des Gefäßes kann dann mit leichter Drehung im Bereich des
4./5. Extensor-Kompartment nach Moran Skaphoids angepasst oder im Bereich des Os lunatums eingepresst
Abschn. 29.2.2 werden. Der Gelenkverschluss soll ohne Einengung des Gefäßstieles
erfolgen. Postoperativ wird der Arm in einer Schiene dorsalseitig je
9.2.5 Technik des Os-pisiforme-Transfers nach Beck nach Erfordernis 4–6 Wochen ruhiggestellt (⊡ Abb. 9.12).
Abschn. 29.2.4
9.2.6 Technik der Entnahme des palmaren 9.2.7 Technik der Entnahme des freien
gestielten vaskularisierten Knochenspans mikrovaskulären Knochenspans von
nach Kuhlmann/Mathoulin der Skapula nach Teot
Die Operation erfolgt in Oberarmblutleere mithilfe eines Vergrö- Die Operation erfolgt in Bauch- oder Seitenlage und Vollnarkose.
ßerungsinstruments (Lupe) unter üblichem beugeseitigem Zugang Die obere Extremität sollte frei beweglich gelagert werden, um so
194 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
die Präparation des Gefäßstieles im Bereich des medialen Axil- gende Hautast der A. circumflexa scapulae, der mit den Ästen der
ladreiecks zu erleichtern. Eine Abduktion im Schulterbereich von A. suprascapularis anastomosiert, aufgesucht und ligiert werden.
mehr als 90° sollte vermieden werden, um den Plexus brachialis Zur Erleichterung der Präparation wird der M. deltoideus retra-
nicht durch Druck zu schädigen. Zur Verkürzung der Operations- hiert und damit die Sicht auf die mediale Achsellücke verbessert.
dauer können zwei Operationsteams parallel arbeiten. Der Austritt der A.circumflexa scapulae liegt im Winkel zwischen
Gleichzeitig mit der Lappenhebung wird das Empfängerlager M. teres major und dem lateralen Skapularand etwa 4–7,5 cm
vorbereitet; die Gefäßanschlüsse werden dargestellt. Als Referenz- oberhalb des Angulus inferior scapulae. Präpariert man nun den
punkte für die Paraskapular-Lappenplastik, die ellipsenförmig über Gefäßstiel bis zum Abgang aus der A. thoracodorsalis in die Tiefe,
dem absteigenden Ast der A. circumflexa scapulae angezeichnet so kann eine Länge bis zu 8 cm mit einem Gefäßdurchmesser von
wird, dienen Angulus, Spina und Margo lateralis der Scapula. Die 2–5 mm erreicht werden. Im Bereich des Margo lateralis befindet
mediale Axillalücke wird entweder durch bimanuelle Palpation sich ein dichtes Geflecht aus Venen und Arterien. Hier gibt die
oder mithilfe der Doppler-Sonografie lokalisiert und markiert. A. circumflexa scapulae zahlreiche kurze muskuläre Endäste und
Bei der Umschneidung der Hautlappenplastik wird die untere Äste direkt zur Skapula ab, die allerdings leicht abreißen, wenn
Lappenhälfte bis auf die Muskelfaszie durchtrennt. Durch einige die Muskeln zu weit auseinandergezogen werden. Bleiben die
Nähte wird die Faszie mit der Haut vorübergehend solidarisiert Muskeläste zum M. teres major sowie die osteoperiostalen Äste
und der Lappen von kaudal nach kranial gelöst. Die Präparation erhalten, die zum Margo lateralis scapulae ziehen, so kann man
verläuft in der Schicht zwischen oberflächlicher Rückenfaszie und den lateralen Skapularand vom Angulus scapulae bis unterhalb
der Faszie der Mm. latissimus dorsi und teres major. In der Nähe des Ansatzes des Caput longum des M. triceps brachii als vaskula-
der medialen Achsellücke stellt sich an der Lappenunterseite der risiertes Knochentransplantat heben. Das hauptsächlich kortikale
absteigende Ast der A. circumflexa scapulae mit seinen beiden Knochentransplantat kann bis zu einer Länge von 10–14 cm und
Begleitvenen dar. Nach Aufsuchen des Austrittspunktes der A. cir- einer Breite von 2–4 cm dimensioniert werden. Man beginnt mit
cumflexa scapulae aus der medialen Achsellücke wird der kraniale einer Inzision der Mm. teres major, minor und infraspinatus bis
9 Lappenteil umschnitten und abpräpariert. Hier sollte der aufstei- auf das Periost. Danach werden die Muskeln epiperiostal scharf
nach lateral abpräpariert, bis die Dicke der Skapula abnimmt. Das
vaskularisierte Knochentransplantat wird mit der oszillierenden
Säge entnommen. Um die Beweglichkeit der Skapula zu erhalten
und die Schulterfunktion nicht zu beeinträchtigen, müssen die ab-
gehobenen Muskeln reinseriert werden (⊡ Abb. 9.13).
Präpariert man weiter bis zur A. axillaris, so kann eine Stiel-
länge von bis zu 15 cm erreicht werden. Nach Anschlingen der
Gefäße, die hier einen Durchmesser von ca. 4–6 mm besitzen, mit
R. horizontalis einem »vessel loop« erfolgt die vollständige Lösung der Lappen-
A. circumflexa scapulae plastik.
Ein primärer Wundverschluss im Spendergebiet ist bis zu
M. teres minor
einer Lappenbreite von etwa 10 cm möglich. Die Hand wird
in Intrinsic-plus-Stellung auf einer palmaren Unterarmschiene
gelagert. Mit krankengymnastischer Behandlung der Hand und
der Schulter kann frühestens nach 2–3 Wochen begonnen wer-
den. Zur besseren Lappenformung wird nach etwa 4 Wochen
eine Kompressionsbehandlung für etwa 3 Monate empfohlen und
Lymphdrainage verordnet.
Eine möglicherweise notwendige Lappenausdünnung sollte
frühestens nach 6 Monaten durchgeführt werden. Mit der Auflö-
sung einer iatrogenen Syndaktylie nach Deckung von polydigitalen
Defekten im MP-Gelenkbereich kann erst nach 3 Monaten begon-
nen werden.
Der distale Humerus wird über periostale Gefäße, die über das
Septum intermusculare laterale verlaufen, und muskuloperiostale
Gefäße, die aus den umliegenden Muskeln in den Knochen ziehen,
versorgt. Ein bis zu 10 cm langes und 1,5 cm breites vaskularisiertes
Knochentransplantat kann im Bereich des Septums zwischen dem
M. triceps brachii, Ansatz des M. deltoideus und dem Epicondylus lateralis entnom-
Caput longum
M. teres maior
men werden. Zur Sicherung der periostalen Blutversorgung sollte
R. descendens
eine etwa 1 cm breite Manschette aus der Insertion des M. triceps
⊡ Abb. 9.13 Lappenplastiken aus dem Stromgebiet der A. circumflexa sca- brachii dorsal und der Mm. brachialis und brachioradialis ventral
pulae. (Aus Berger u. Hirner 2002) des Septums belassen werden. Nach Sicherung des N. radialis ist
9.2 · Spezielle Techniken
195 9
äußerste Vorsicht bei der Entnahme des Knochenspans mit der 9.2.10 Technik der Entnahme des freien
oszillierenden Säge angebracht. In Abhängigkeit von der Breite des mikrovaskulären vorderen
entnommenen Knochenstückes empfiehlt sich postoperativ ein Beckenkammspans nach Taylor
Oberarm-Brace für 4–6 Wochen ( Abschn. 34.2.12).
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Intubationsnarkose. Zur
besseren Exposition des vorderen Beckenkammanteiles wird ein
9.2.9 Technik der Entnahme des freien Sandsack unter das Gesäß geschoben (⊡ Abb. 9.15a). Bei Hebung
mikrovaskulären Knochenspans vom eines reinen Knochentransplantates wird die Inzision parallel ver-
distalen Radius setzt zu den Femoralgefäßen begonnen, entlang der oberen Be-
grenzung des Lig. inguinale bzw. der Crista iliaca fortgeführt und je
Wie in der in Abschn. 34.2.10 beschriebenen Operationstechnik nach Länge des benötigten Gefäßstieles nach lateral hin ausgedehnt
wird das Septum intermusculare laterale mit seiner Fixierung (⊡ Abb. 9.15b). Der M. obliquus abdominis externus wird etwa 1 cm
am Radius dargestellt. Entlang seiner Anheftung zwischen der oberhalb des Leistenbandes und parallel dazu von der Mitte des Leis-
Insertion des M. pronator proximal und der Insertion des M. bra- tenbandes bis zur Spina iliaca anterior superior durchtrennt. Nach
chioradialis distal kann ein kortikospongiöses vaskularisiertes Ra- Zurückdrängen des Ductus deferens bzw. des Lig. teres uteri wird
diusknochentransplantat gewonnen werden. Zur Verminderung die Hinterwand des Leistenkanals, die Fascia transversalis, sichtbar.
der Frakturgefahr ist darauf zu achten, dass nicht mehr als die Auf der posterolateralen Seite können nach Darstellung und An-
Hälfte der Radiuszirkumferenz entnommen wird (⊡ Abb. 9.14). Aus schlingen der Vasa iliaca interna meist A. und V. circumflexa iliaca
demselben Grund wird bei der Spanentnahme jeweils am proxi- profunda gefunden werden, die zwischen den Mm. obliquus abdo-
malen und distalen Ende ein Bohrloch angelegt. Das Knochen- minis internus und transversus abdominis etwa 1 cm oberhalb und
transponat wird unter Schonung der versorgenden Gefäße mit der medial der Spina iliaca anterior superior verlaufen. Nach Ablösung
oszillierenden Säge entnommen. Zur Deckung der Entnahmestelle der Fasern des M. obliquus abdominis internus und des M. trans-
können die Muskelbäuche des M. brachioradialis und/oder des versus abdominis vom Leistenband kann der Gefäßstiel präpariert
M. flexor carpi radialis über der Entnahmestelle vereinigt werden. und angeschlungen werden. Der N. cutaneus femoris lateralis, der
Wenn die osteofasziokutane A.-radialis-Lappenplastik zur Dau- gelegentlich in dieser Region unmittelbar unterhalb der Gefäße liegt,
menrekonstruktion vorgesehen ist, erfolgt die Osteosynthese im muss geschont werden (⊡ Abb. 9.15c). Zur weiteren Darstellung des
Daumenbereich mithilfe von Cerclagen oder Miniplatten. Wegen Gefäßstieles entlang der Innenseite der Crista iliaca müssen die drei
der ungenügenden Sensibilität ist eine zusätzliche, die Sensibilität Schichten der Bauchwandmuskulatur etwa 1–2 cm von ihrem Ur-
wiederherstellende Operation für den Neo-Fingerkuppenbereich sprung am Labium externum durchtrennt werden. Der R. ascendens
notwendig ( Abschn. 34.2.10). zum M. obliquus abdominis internus muss dabei doppelseitig ligiert
werden. Nach Durchtrennung der Fascia transversalis und Lösung
des extraperitonealen Fettgewebes vom M. iliacus mindestens 1 cm
unterhalb des Gefäßstieles kann die innere Oberfläche des Os ilium
freigelegt werden (⊡ Abb. 9.15d). Je nach Bedarf an Form und Größe
wird ein entsprechendes Knochentransplantat mit der oszillieren-
den Säge bzw. einem Meißel gehoben. Im dorsalen Schnittbereich
muss eine subtile doppelseitige Gefäßligatur erfolgen. Zur Vermei-
dung von funktionellen und ästhetischen Komplikationen sollte die
Spina iliaca anterior superior jedoch in situ belassen werden. Im
Allgemeinen reicht schon die innere Kortikalislamelle zusammen
mit der Spongiosa zur Deckung des Knochendefektes. Die äußere
Kortikalis sollte in situ belassen werden, um die Beckenkammkontur
zu erhalten und dadurch die Qualität des Verschlusses des Spender-
gebietes (Bauchdeckenschwäche bis Hernie) verbessern zu können
(⊡ Abb. 9.15e). Nach Beendigung der Transplantathebung erfolgt die
Kontrolle der Durchblutung des an seinem arteriovenösen Gefäß-
stiel hängenden, vaskularisierten vorderen Beckenkammtransplan-
tates. Nach Absetzen des Gefäßstieles und Einlage eines Hämostyp-
tikums erfolgt der schichtweise Bauchwandverschluss (⊡ Abb. 9.15f).
Dazu wird zuerst die Faszie des M. iliacus mit dem M. transversus
abdominis und der Fascia transversalis vernäht und hier die erste
Drainage ohne Sog platziert. Die Mm. obliqui internus und externus
abdominis werden dann entweder an der verbleibenden äußeren
Kortikalislamelle oder, wenn diese mitgehoben wurde, an der Glu-
tealmuskulatur und am M. tensor fasciae latae fixiert. Auch Leisten-
kanal und Leistenband müssen nach ihren anatomischen Schichten
verschlossen werden. Der schichtweise Hautverschluss erfolgt nach
Einlage einer zweiten Drainage.
Nach osteosynthetischer Fixierung des vaskularisierten Kno-
chentransplantates im Empfängergebiet, die mindestens zu Übungs-
⊡ Abb. 9.14 Freier mikrovaskulärer Knochenspan vom distalen Radius. (Aus stabilität führen sollte, und intraoperativer Röntgenkontrolle wer-
Mantkelow u. Zucker 1986) den die Mikroanastomosen mit der Lupenbrille unter 5,5-facher
196 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
b
a
e f
⊡ Abb. 9.15 Freier mikrovaskulärer Knochenspans vom vorderen Beckenkamm nach Taylor. a Patientenlagerung, b Planung des Hautschnitts bei osteoku-
taner Lappenplastik, c laterokraniale Präparation, d mediokaudale Präparation mit Darstellung des Gefäßstiels und Loslösung des M. iliacus, e unikortikale
Hebung, f schichtweise Rekonstruktion des Spendergebietes. (Aus Mantkelow u. Zucker 1986)
9.2 · Spezielle Techniken
197 9
Vergrößerung oder unter dem Operationsmikroskop durchgeführt. einer palmaren Kapsulotomie des Gelenks zwischen Kahnbein und
Gewöhnlich werden die arterielle Anastomose mit der A. radialis in Trapezoid erreicht. Die DISI-Fehlstellung wird korrigiert und mit-
End-zu-Seit-Technik, die beiden venösen Anastomosen in End-zu- hilfe eines Kirschner-Drahtes fixiert. Wird das Handgelenk exten-
End-Technik mit monofilem 8/0- oder 9/0-Nahtmaterial durchge- diert, so öffnet sich die Pseudarthrose sichtbar. Zum Anpassen des
führt. Vor dem endgültigen Wundverschluss werden ein oder zwei Empfängergebiets für das Transplantat können die Knochenränder
Easy-flow-Drainagen eingelegt. Die Hand wird auf einer Unterarm- mit einer oszillierenden Säge geglättet werden.
schiene für 10–14 Tage ruhiggestellt. Die weitere Vorgangsweise Die Darstellung des Kahnbeins wird nach proximal verlängert,
hängt vom gewählten Osteosyntheseverfahren ab. Bei nicht übungs- um die A. radialis und deren Venae comitantes zu identifizieren.
stabiler Osteosynthese ist bis zum Abschluss der Transplantatein- Das Transplantat wird in Form eines trapezförmigen Keils,
heilung für 4–6 Wochen eine Ruhigstellung in einem zirkulären d. h. die periostale Oberfläche palmar auf die Angulationsfehlstel-
Unterarmgips notwendig. Eine postoperative Vitalitätskontrolle des lung (»Humbpack-Deformität«) des Skaphoids eingesetzt, um die
vaskularisierten Knochentransplantates kann bis zum 5. postoperati- Länge und Geometrie des Kahnbeins wiederherzustellen.
ven Tag durch eine Drei-Phasen-Szintigrafie oder – im Falle des Ein- Je nach Größe des Fragments und des Transplantats können
satzes von nichtferromagnetischem Osteosynthesematerial – nach eine kanülierte Schraube oder Kirschner Drähte zur Fixierung
6–12 Wochen mithilfe der (Kontrast-) Kernspintomografie erfolgen. verwendet werden.
Abschließend müssen die umliegenden Gelenke sorgfältig un-
tersucht werden, damit die Einklemmung des Transplantats in der
9.2.11 Technik der Entnahme des freien Umgebung – vor allem der radiopalmaren Radiuskante – ausge-
vaskularisierten Knochentransplantats vom schlossen werden kann (⊡ Abb. 9.16c).
medialen Kondylus nach Masquelet Die A. radialis wird inzidiert und eine End-zu-Seit-Anastomose
mit 9/0 Nylonnähten durchgeführt. Die Vene des Transplantats wird
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Intubationsnarkose und an eine Vena comitantes angeschlossen. Durchgängigkeit der Gefäße
Oberschenkelblutsperre (400 mmHG). Der Hautschnitt verläuft und Durchblutung des Transplantats sind vor Wundverschluss zu
oberhalb des medialen Femurkondylus etwa 18–20 cm nach proxi- verifizieren (⊡ Abb. 9.16d). Die palmare Kapsel wird adaptiert, sofern
mal (⊡ Abb. 9.16a). Der M. vastus medialis wird nach ventral verla- dies ohne Einengung des Gefäßstils möglich ist. Abschließend er-
gert und die den medialen Kondylus versorgenden Gefäße aufge- folgt der schichtweise Wundverschluss nach Einlage einer Drainage.
sucht. Die absteigende A. genicularis entstammt der A. femoralis Als Wundverband wird ein dicker Watteverband mit Kompres-
superficialis proximal des Hiatus adductorius und mündet in einen sion gewählt. Das Handgelenk sollte mittels palmarer Schiene unter
Ast der A. saphena, der gemeinsam mit dem N. saphenus verläuft. Einschluss des Daumens in Neutralstellung ruhiggestellt werden.
Hierbei handelt es sich um einen tief muskulären Ast. Weiterhin Die operierte Extremität sollte über Herzniveau gelagert wer-
mündet sie in einen osteoartikulären Ast, der eine Anastomose mit den. Weiterhin sollte auf eine unverzügliche physiotherapeutische
der A. genicularis medialis superior bildet. Gemeinsam versorgen sie Beübung der Schulter und der Fingergelenke geachtet werden. Eine
den Kondylus femoralis medialis (⊡ Abb. 9.16b). Im Verlauf dieses Fadenentfernung kann 14 Tage postoperativ durchgeführt werden.
Präparationsabschnitts müssen diese Gefäße beurteilt werden. Sollte Die palmare Ruhigstellung unter Einschluss des Daumens sollte für
die A. genicularis medialis superior klein sein, wird diese ligiert und insgesamt 6 Wochen aufrechterhalten werden.
stattdessen die absteigende A. genicularis aufgesucht und aus dem In der Nachsorge sollten alle 3–6 Wochen Röntgenaufnahmen
umliegenden Gewebe nach proximal und distal herauspräpariert. durchgeführt werden, um den Grad der Knochenheilung bzw. -fu-
Nach Freilegen des Kondylus wird ein rechteckiger Bereich sion beurteilen und dokumentieren zu können.
über dem distalen ventralen Anteil angezeichnet. In diesem Be- Eine endgültige Fusion der Knochen sollte mittels Compu-
reich ist die Anzahl der Perforansgefäße am höchsten. Die Größe tertomographie dokumentiert werden. Ist die Knochenfusion
muss ausreichend gewählt werden, um den Defekt des Kahnbeins bzw. -heilung bestätigt, so können handtherapeutische Übungs-
ausfüllen zu können, in der Regel beträgt diese etwa 1×1 cm. behandlungen begonnen werden. Diese sollten nach Toleranz und
Das Periost wird scharf inzidiert, die Kortikales (Substantia Schmerzsymptomatik des Patienten angepasst werden.
compacta) mit einem kleinen Meißel oder einer oszillierenden
Säge senkrecht zu seiner Oberfläche durchtrennt. Ein zusätzlicher
Schnitt wird mit einer Neigung von 45° direkt distal des Trans- 9.2.12 Technik der Entnahme des vaskularisierten
plantats in der Spongiosa fortgeführt. Dies ermöglicht es das Fibuladiaphysentransplantats nach Ueba/
Transplantat zu heben, ohne den Gefäßstil zu verletzen. Nach dem Taylor
Öffnen der Blutleere können Blutungen aus dem Periost und der
Spongiosa beurteilt und unterbunden werden. Das Transplantat Der Patient wird in Rückenlage auf einer Wärmematte gelagert
kann nun geformt werden, um an die genauen Abmessungen des (adäquate Körpertemperatur zur Gefäßspasmusprophylaxe). Die
Kahnbeindefekts angeglichen zu werden. Operation erfolgt in Rückenlage und Oberschenkelblutleere. Eine
Nach Heben des Transplantats kann aus der Entnahmestelle Unterlage befindet sich unter dem ipsilateralen Gesäß.
weitere Spongiosa entnommen werden. Diese kann verwendet Für ein reines Knochentransplantat beginnt der Hautschnitt dor-
werden, um den proximalen Pol zu füllen. sal des Collum fibulae und verläuft entlang des hinteren Knochen-
Der Defekt im medialen Femurkondylus wird abschließend randes gerade nach distal. Die Länge des Hautschnittes ist abhängig
gründlich gespült und mit synthetischem Hydroxylapatit-Kno- von der Länge des zu entfernenden Knochens (⊡ Abb. 9.17a).
chenfüllmaterial aufgefüllt. Nach Einlage einer Redon-Drainage Die Fascia cruris wird zwischen dem M. soleus und den
erfolgt der schichtweise Wundverschluss. Als Verband genügt ein Mm. peronaei im Bereich des Septum intermusculare laterale er-
mäßig kompressiver Verband. öffnet. Die hier durchtretenden perforierenden fasziokutanen Äste
An der Hand wird der palmare Zugang zum Kahnbein ge- müssen subtil ligiert werden. Sie dienen als Leitschiene zum Aufsu-
wählt. Die Darstellung des Kahnbeins wird unter Durchführung chen der peronaealen Gefäße.
198 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
Wird nur ein reines Knochentransplantat gehoben, müssen Fibulatransplantat nach lateral geschoben, um die Membrana inter-
im proximalen Unterschenkeldrittel 2–3 neurovaskuläre Stiele am ossea zu spannen, die in kaudokranialer Richtung etwa 0,5 cm von
oberen Ende des M. soleus ligiert werden. Der M. soleus wird dann ihrem fibularen Ansatz durchtrennt wird. Als nächstes erfolgt die
unter dem Collum fibulae transversal eingeschnitten. Er lässt sich dorsale Präparation (⊡ Abb. 9.17c). Die Durchtrennung der dorsalen
nach dorsal wegklappen, wenn man die proximal entspringenden Muskulatur führt dazu, dass das Transplantat nur noch an seinem
Fasern spaltet. Die Peronealgefäße werden an jenen Stellen auf- Gefäßstiel mit dem Unterschenkel in Verbindung steht. Nachdem
gesucht, an denen sie unter den M. flexor hallucis longus ziehen. das Fibulatransplantat nach lateral weggehalten wurde, lässt sich der
Zu diesem Zeitpunkt sollte der N. tibialis posterior von dem Stiel Stiel bis zum Ursprung der A. peronaea darstellen (⊡ Abb. 9.17d).
weggedrängt sein. Als nächstes erfolgt die ventrale Präparation Nach Öffnen der Blutleere wird die Durchblutung des Fibulatrans-
(⊡ Abb. 9.17b). Der M. peronaeus longus wird von seinem Ursprung plantats überprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Nach
von der Fibula knochennah scharf abpräpariert. Bei der Entnahme Abschluss der Präparation des Empfängergebiets wird der Gefäß-
eines längeren Knochenstückes werden die Mm. peronaei und ex- stiel nach proximal hin ligiert und das Transplantat entnommen.
tensor digitorum longus ebenfalls knochennah abpräpariert. Die Nach Einlage einer tiefen (und oberflächlichen) Redon-Drainage
Septa intermuscularia anterius und posterius werden etwa 0,5 cm erfolgt der schichtweise Wundverschluss. Am Ende der Operation
von ihrem tibialen Ursprung gespalten. Der N. peronaeus superfici- wird eine dorsale Unterschenkelgipsschiene angelegt. Postoperativ
alis und seine Muskeläste werden von der Muskelschicht vorsichtig erfolgt eine Ruhigstellung auf einer dorsalen Unterschenkelgips-
getrennt. Das Tibialis-anterior-Gefäß-/Nervenbündel, welches hin- schiene für 7–14 Tage. Bleibt das proximale und distale Fünftel
ter der Membrana interossea liegt, wird nach medial weggehalten. der Fibula erhalten, besteht ausreichend Stabilität im Knie- bzw.
Danach lässt sich die Membrana interossea entlang ihrer gesamten Sprunggelenkbereich. Bei älteren Patienten erfolgt die Mobilisation
Länge darstellen. Das Periost wird 1 cm über bzw. unterhalb der nach 10–14 Tagen. Bei jungen Patienten wird eine Vollbelastung erst
proximalen bzw. distalen Osteotomiestelle gespalten und mit einem nach 6 Wochen empfohlen. Nach Entfernung der Fäden sollte eine
Rasperatorium scharf abgedrängt. Dieses Vorgehen lässt eine effek- krankengymnastische Begleittherapie mit Kompression der operier-
tive muskuloperiostale Blutversorgung an beiden Enden des Trans- ten Extremität – eventuell kombiniert mit einer standardisierten
plantates zu. Nach proximaler und distaler Osteotomie wird das Narbentherapie – und zur Gangschulung durchgeführt werden.
9.2 · Spezielle Techniken
199 9
dorsale
Präparation
von lateral
nach medial
Membrana
interossea
Haut-
lappen posteriore
Inzision
oder
b e
R. Haut-
schnitt
A./ v. peronea
medialer Aspekt
des nach ventral
rotierten Fibula-
transplantats
abschließende
Präparation von
c medial nach lateral
A. und Vv. peroneae am
f
distalen Ende ligiert
⊡ Abb. 9.17 Vaskularisiertes Fibuladiaphysentransplantat nach Ueba. a Lappenplanung (für die Präparation eines reinen Knochentransplantats erfolgt ein
gerader Hautschnitt am Hinterrand der Fibula, für ein osteokutanes Transplantat werden präoperativ die Hautperforatoren nach Doppler-Untersuchung
markiert und ein elliptisches Hautareal über diesen Perforatoren angezeichnet), b vordere Präparation, c hintere Präparation. d Kölinischer Aspekt nach Been-
digung der Präparation. Das vaskularisierte Knochentransplantat ist nur noch über seinen Gefäßstiel mit dem Spendergebiet verbunden. e Klinischer Aspekt
»segmentierte Fibula« (»double barell«): Durch Segmentierung können bis zu vier an den Peronealgefäßen vaskularisierte Knochenstücke gewonnen werden,
um gleichzeitig räumlich unterschiedlich angeordnete Knochendefekte rekonstruieren zu können. f Klinischer Aspekt nach Abschluss der Präparation eines
osteokutanen freien Fibuladiaphysentransplantats: Soll eine osteo(myo)kutane Lappenplastik gehoben werden, wird ein ellipsenförmiges Hautareal mit Zen-
trum etwa 2 cm oberhalb der Mitte einer Linie zwischen Caput fibulae und Malleolus lateralis mitsamt der darunter liegenden Faszie umschnitten. Wird ein
Areal kleiner 6×12 cm umschnitten, gelingt meist der spannungsfreie Primärverschluss des Spendergebietes. Nach Solidarisierung von Haut und Faszie mit
einigen Einzelknopfnähten wird der Hautlappen von ventral und dorsal auf das Septum intermusculare laterale mit den darin enthaltenen fasziokutanen Per-
foratoren hin präpariert. Nach Sicherung von 2–3 kaliberstarken fasziokutanen, septalen Hautästen erfolgt die weitere Präparation der Fibula nach den oben
beschriebenen Richtlinien. (Aus Hierner et al. 2009)
200 Kapitel 9 · Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten
9.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen Gustilo RB, Mendoza RM, Wiulliams DN (1984) Problems in the management of
type III (severe) open fractures: a new classification of type II open fractures. J
Trauma 24: 742–746
Prinzipiell ist bei der Operation der Benefit der geringeren Immo- Heberer G, Köle W, Tscherne H (1986) Chirurgie, 5. Aufl. Springer, Berlin
bilisation und damit der Verhinderung der Einsteifung der Hand Hertel R, Masquelet AC (1989) The reverse flow medial knee osteoperiosteal flap
gegen das Operationsrisiko – iatrogener Schaden durch den ope- for skeletal reconstruction of the leg: Description and anatomical basis. Surg
rativen Zugang, Wundheilungsstörung, Infektion, Gefühlsstörun- Radiol Anat 11(4): 257–262
gen, Durchblutungsstörungen – abzuwägen. Neben der inadäqua- Hierner R (1992) Der vaskularisierte Fibulatransfer- Literaturüberblick und tierexpe-
rimentelle Modifikation. Med. Diss. Ludwig-Maximilians-Univ. München
ten Patientenauswahl führt der Neglekt der Biologie gegenüber Hierner R, Berger A (2002) Prinzipien der Defektdeckung. In: Berger A, Hierner R
der Mechanik am häufigsten zu Komplikationen. Es ist nicht der (Hrsg) Plastische Chirurgie Band I Grundlagen, Prinzipien, Techniken. Springer,
Knochen auf dem Röntgenbild, welcher operiert wird, sondern Heidelberg, S 261–312
die Hand als komplexes Knochen-Weichteil-System in ihrer Ge- Hierner R, Husain N, Nast-Kolb D (2009) Möglichkeiten, Planung und Hebung des
samtfunktion. Neben der adäquaten Auswahl des Operationsver- vaskularisierten Fibulatransplantats. Unfallchirurg 112: 419–425
Heberer G, Köle W, Tscherne H (1986) Lehrbuch für Studierende der Medizin und
fahrens sind dann vor allem die fehlerlose Operationstechnik und
Ärzte. Springer Berlin
die postoperative Nachbehandlung wichtig. Die Immobilisation in Hirasé Y, Kojima T (1992) Vascularized bone graft pedicled on the dorsal innomi-
einer nicht korrekten Position ist hier hauptsächlich zu nennen. nate artery for scaphoid non-union. In: Nakamura R, Linscheid RL, Miura T
Der anfänglichen Euphorie, alle komplizierten Knochen-Weich- (Hrsg) Wrist disorders, current concepts and challenges. Springer: Tokyo, S
teil-Defekte jetzt mit einem frei vaskularisierten »composite flap« 187–191
decken zu können, folgte schnell die Ernüchterung durch Komplika- Ilizarov GA (1991) Transosseous Osteosynthesis- Theroretical and clinical aspects of
the regeneration and growth of tissue. Springer: Berlin
tionsraten von 40–60%. Die Auswertung der bisherigen Ergebnisse
Jupiter JB, Ring DC (2005) AO Manual of Fracture Management: Hand and Wrist.
und Komplikationen führte zu Änderungen in der Indikationsstel- Thieme, New York
lung. Da der vaskularisierte Knochentransfer von einem ersatzstar- Larson, AN, Bishop AT, Shin AY (2006) Dorsal distal radius vascularized pedicled
ken Lager profitiert, soll auch hier zuerst ein bestehender Weichteil- bone grafts for scaphoid nonunions. Tech Hand Up Extrem Surg 10(4): 212–223
9 defekt behoben werden. Eine einzeitige Rekonstruktion sollte der Lexer E (1924) Die freien Transplantationen.Enke, Stuttgart
Situation mit geringem Weichteildefekt vorbehalten sein. Manktelow R, Zucker R (1986) Microvascular reconstruction. Springer, Berlin
Müller ME, Nazarian S, Koch P, Schatzker J (1990) The Comprehensive classification
of fracutres of the long bones. Springer, Berlin
Östrup LT (1982) Free bone transfer, some theoretical aspects. Scand J Plast Recon-
Weiterführende Literatur
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10
10.1 Allgemeines Bei längerer Ruhigstellung des Gelenks verkürzen sich die Binde-
gewebsfasern, die Gelenkkapsel schrumpft und die Beweglichkeit
10.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und des Gelenks wird eingeschränkt. Oberflächlich gelegene, kräftige
Physiologie Züge der äußeren Faserschicht mit gleichartiger Verlaufsrichtung
der Fibrillen lassen sich präparatorisch als Gelenkbänder abgren-
Topografie des Gelenks zen, sie verstärken die Kapselwand.
Unabhängig von ihrer spezifischen anatomischen Konfiguration In der Membrana synovialis der Gelenkkapsel sind Zellar-
zeigen alle Gelenke ein einheitliches Bauprinzip, welches charakte- ten mit Phagozytoseeigenschaften und fibroblastenartige Zellen zu
risiert ist durch eine enge funktionelle Verflechtung von hyalinem unterscheiden, deren Funktion vorwiegend in der Synthese und
Gelenkknorpel, der Gelenkkapsel und der Synovialflüssigkeit. Sekretion von Bestandteilen der Synovialflüssigkeit (Synovia) – vor
Anforderungen an den hyalinen Knorpel sind reibungslose allem Hyaluronsäure – besteht. Bei überschießender Synovialpro-
Gleitfähigkeit, hohe Belastbarkeit und stoßdämpfend-elastische duktion kommt es zum Gelenkerguss. An schwachen Stellen der
Funktion. Der hyaline Knorpel besteht aus einem Kollagenfaser- Membrana fibrosa kann sich die Gelenkinnenhaut nach äußen
gerüst, einer homogenen Zwischensubstanz, den Proteoglykanen vorwölben, sodass ein Überbein, Ganglion, entsteht.
und den Chondrozyten. Der hyaline Knorpel ist gefäßlos. Die Die Synovialflüssigkeit sorgt einerseits für die Schmierung des
Chondrozyten sind metabolisch aktive Zellen, die die extrazellu- Gelenks und andererseits für die Ernährung (Substratzufuhr, Schla-
läre Matrix (Kollagenfasergerüst und Proteoglykane) synthetisieren ckenabtransport) des Gelenkknorpels (biologische Servoleistung
und katabolisieren. Sie haben im Erwachsenenalter die Fähigkeit der Chondroprotektion). Die Synovialflüssigkeitsverteilung erfolgt
verloren sich mitotisch zu teilen. im Gelenkraum durch die Gelenkbewegung (Umwälzprinzip), im
Die Intaktheit der Kollagenfaserstrukturen und das hohe hyalinen Knorpel durch Diffusion sowie nach dem Schwann-
Wasserbindungsvermögen der Proteoglykane bestimmen im We- Prinzip bei wechselnder Druckbelastung. Eine Ernährung durch
sentlichen das mechanische Verhalten des vor allem auf Druck das ossäre Gefäßsystem erfolgt nur unzureichend oder überhaupt
belasteten Knorpelgewebes. Fehlende Gefäßversorgung und Tei- nicht über die subchondrale Knochenlamelle, die beim erwachse-
lungsvermögen der Chondrozyten begrenzen die biologische Re- nen Skelett Gelenkknorpel und Röhrenknochen trennt. Das enge
10 aktionsfähigkeit des hyalinen Knorpelgewebes. Sie machen zu- funktionelle und nutritive Zusammenwirken der verschiedenen
gleich verständlich, warum die Einwirkung verschiedener Noxen Gelenkstrukturen erklärt die Tatsache, dass krankhafte Verände-
(Ruhigstellung, Überbelastung, Trauma, Entzündung, genetische rungen einzelner Strukturen zwangsläufig zu typischen Alteratio-
Faktoren, fehlerhafte Gelenkanlagen, Dysplasien usw.) zu relativ nen der anderen führen, was sich seinerseits wieder nachteilig auf
gleichartigen und einförmigen pathologisch-anatomischen Verän- den Ausgangsbefund auswirkt.
derungen führt (⊡ Abb. 10.1).
Die Gelenkkapsel schließt die Gelenkhöhle luftdicht ab. Man Physiologischer Alterungsprozess des Gelenkknorpels
unterscheidet eine äußere Faserschicht, Membrana fibrosa, und eine und Osteoarthrose
an den Gelenkspalt angrenzende Gelenkinnenhaut, Membrana sy- Im Alter kommt es im Gelenkknorpel zu einer Verminderung der
novialis. Die Gelenkkapsel ist bis in die tiefen Schichten der Ge- Zellzahl pro Volumeneinheit und zu einem Proteoglykanverlust mit
lenkinnenhaut sensibel reich innerviert, Verletzungen sind überaus gleichzeitiger Verschiebung des Verhältnisses der einzelnen Polysac-
schmerzhaft. In der Kapsel und in Kapselnähe liegen als Sinnesor- charidproteinkomplexstrukturen (Chondroitin-4-Sulfat, Chondroi-
gane kleine Lamellenkörperchen, Golgi-Mazzoni-Körperchen, die tin-6-Sulfat etc.). Das mit dem Proteoglykanverlust verminderte
über die Gelenkstellung informieren (mechanische Servoleistung der Wasserbindungsvermögen beeinträchtigt das mechanische Verhalten
Chondroprotektion durch ein neuromuskulär integriertes Gelenk). des Knorpels. Es kommt mit zunehmendem Alter zur Abnahme der
Die Membrana fibrosa besteht aus kollagenen Fibrillenbün- Permeabilität und zu einer Verminderung der Elastizität. Zusätzliche
deln, deren Verlaufsrichtung in den einzelnen Faserlagen wechselt. Erschwernisse in der synovialen Diffusionsstrecke der Gelenkkapsel
Tangentialfaserschicht
Übergangszone
Radiärfaserschicht
lokale Faktoren
und
10.1.2 Epidemiologie
Bedingungen
(Dysplasie?)
Jeder Mensch leidet während seines Lebens an Gelenkverände-
rungen. Die Osteoarthrose ist die häufigste Erkrankung des Bewe-
gungsapparates. Meist sind Frauen ab der Menopause betroffen.
Eine familiäre Häufung ist sicher gegeben. ⊡ Abb. 10.2 Ätiologische Faktoren der Osteoarthritis
Stadium Morphologie
I: Die Demaskierung der Kollagenfaserbündel durch Verlust an Proteoglykanen führt zur Aufrauung der Oberfläche mit
Primärläsion Fissuren. Kompensation durch Lubrikationsvermögen der Synovialflüssigkeit, so lange die korrespondierende Knorpel-
oberfläche noch gesund ist
II: Zähnelung an beiden Knorpeloberflächen und nicht mehr ausreichende Kompensation durch Synovialflüssigkeit führt zu
Knorpelein- und Knorpeleinrissen entlang der Kollagenarkaden bis zur subchondralen Knochenlamelle. Röntgenologisch sieht man eine
Abrisse Verschmälerung des Gelenkspalts
III: Fortschreitender Knorpelabrieb durch Scherkräfte, Abrieb bis auf den Knochen, Entstehung einer »Knorpelglatze«. Knöcherne
Knorpelabrieb, Umbauvorgänge mit subchondraler Sklerose als Antwort auf die ungedämpfte Lastübertragung, und kompensatorischer Os-
knöcherner Umbau teophytenanbau an den Randzonen bedeckt mit Faserknorpel als Versuch der Vergrößerung der lastübertragenden Fläche
IV: Abschliff der verdickten subchondralen Knochenlamelle mit Eröffnung des subchondralen Knochens und Entstehung von
Knochenabschliff sog. Geröllzysten (Knorpel-Knochen-Sequester, Fremdkörperriesenzellen, Granulozyten, Fibrin). Röntgenologisch zeigen
sich nun zusätzlich Geröllzysten sowie Randexophyten in den unbelasteten Zonen
V: Nach Eröffnung des Markraumes gelangen teilungsfähige Zellen und Gefäße an die Gelenkoberfläche. Es kommt zur
Remodellierung der Bildung von Faserknorpel. Bei eingeschränkter Beweglichkeit kann dieses Gewebe über den Zustand einer straffen Pseu-
Gelenkfläche/Ankylose darthrose schließlich verknöchern. Das Gelenk versteift (ankylosiert) spontan. Röntgenologisch zeigt sich eine vollständige
Gelenkdeformierung mit Fehlstellung, der Gelenkspalt ist verschwunden und aufgebraucht
204 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
10.1.4 Diagnostik
Viskosität ↓↓ Normal ↓↓ ↓
Kristalle – – + –
Rheumafaktor + – – –
Gesamteiweiß ↑↑ Normal ↑ ↓↓
Enzyme ↑↑ Normal ↑↑ ↑↑
Bakterien – – – +
10.1 · Allgemeines
205 10
chen) und Knochenveränderungen geben Informationen über den Basierend auf den Erfahrungen aus der Rheumachirurgie sollte das
Zustand des Knorpels und die jeweiligen spontanen Reparaturver- therapeutische Vorgehen primär aufgrund der klinisch prüfbaren
suche. Typische Zeichen sind die Verschmälerung des Gelenkspalts, funktionellen Beeinträchtigung festgesetzt werden. Oft liegt trotz
beginnende Strukturverdichtung im subchondralen Knochen, reak- deutlicher radiologischer Gelenkdestruktionen eine erstaunlich
tive Sklerosierung, Geröllzysten sowie Randexophyten und schließ- gute Mobilität vor. Solche Patienten stellen sich meist aufgrund
lich der aufgebrauchte oder verschwundene Gelenkspalt. von Schmerzen oder der Gelenkdeformität vor. Können die für
Die weitere apparative Diagnostik ist hauptsächlich abhängig den Patienten wichtigen täglichen Verrichtungen erfüllt werden
von der Ätiologie der Gelenkschädigung. und/oder besteht ein ausreichendes Bewegungsausmaß für die
Bei posttraumatischen Gelenkbeschwerden können mithilfe MP (61°), PIP (60°) und DIP (39°) sollten primär symptomatische
der diagnostischen Arthroskopie wichtige Informationen für das Therapiemaßnahmen, wie die systemische Gabe von nichtste-
weitere therapeutische Vorgehen gewonnen werden. roidalen Antireumatika oder die operative Fingergelenkdener-
Bei oligo- und polyartikulären Gelenkbeschwerden können vierung erwogen werden. Bei ausgeprägter Synovialitis bringt in
zahlreiche laborchemische Parameter die Differenzialdiagnose er- geeigneten Fällen eine Synovialektomie Schmerzerleichterung. Bei
leichtern. gut erhaltenem Kapsel-Band-Apparat und knöchernen Gelenk-
anteilen können bei jüngeren Patienten knorpelrekonstruktive
Eingriffe mithilfe von Pridie-Bohrungen und/oder Perichondri-
10.1.5 Klassifikation umtransplantaten und/oder Matrix-Chondrozytentransplantaten
(»tissue engineering«) angewendet werden. Erst wenn diese The-
Bei den Gelenkveränderungen unterscheidet man im deutschen rapiemöglichkeiten nicht erfolgreich oder möglich sind, sollten
Sprachraum in Osteoarthrose und Arthritis ( Abschn. 10.1.3): eingreifendere operative Maßnahmen durchgeführt werden. Bei
▬ Die Osteoarthrose geht vom Gelenkknorpel aus. Erst sekundär der Knorpel-Knochen-Transplantation (KKT) handelt es sich um
kann es zu einer reaktiven Synovialitis kommen. eine direkte Knorpeltransplantation von eigenem unbeschädig-
▬ Die Arthritiden sind Ausdruck einer primären Entzündung tem Knorpel, der an Stellen, wo er physiologisch nicht gebraucht
der Synovialmembran. Sekundär kommt es zu den Knorpel- wird, z. B. am Rand des Oberschenkelknorpels entnommen und
Knochen-Veränderungen. als Ersatz für zerstörten Knorpel in das Gelenk eingesetzt wird.
Mit dieser Methode werden kleinere Defekte des Gelenkknorpels
mosaikartig behandelt. Die Entnahme des Knorpels erfolgt in
10.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Zylinderform von bis zu 1 cm Durchmesser. Diese werden dann
in gleich groß ausgestanzte Öffnungen im beschädigten Knor-
Daumen- und Fingergelenke pelbereich eingefügt (⊡ Abb. 10.8). Resektions-Interpositions-
Die Gelenkzerstörung im Daumen und Fingerbereich führt zu Arthroplastiken und Silikonprothesen sind nur dann indiziert,
einer funktionellen Beeinträchtigung (durch Schmerzen, Bewe- wenn die Gelenkstabilität durch einen noch suffizienten Kapsel-
gungs- und/oder Kraftverlust und Wachstumsbeeinträchtigung bei Band-Apparat erhalten ist oder sekundär rekonstruiert werden
Kindern) und ästhetischen Beeinträchtigung der globalen Hand- kann. Jede übermäßige Beanspruchung (Handarbeit) führt zu
funktion. einer vorzeitigen Schwächung der Gelenkführung mit sukzessi-
Anforderungen an jede gelenkrekonstruktive Technik sind des- ven Funktionsverlust. Eine gleichzeitig bestehende Knochen- und
halb: Weichteilinsuffizienz im Gelenkbereich kann beim Erwachsenen
1. Schmerzreduktion- bis freiheit, mit einer Fingergelenkprothese therapiert werden. Basierend auf
2. ein funktionell ausreichendes Bewegungsausmaß, den Erfahrungen des prothetischen Gelenkersatzes ist auch an
3. ausreichende Stabilität bei Bewegung und Belastung, den Fingergelenken mit einer höheren Komplikationsrate nach
4. bei Kindern normales Wachstumspotenzial. septischer Gelenkzerstörung zu rechnen. Trotz einer stetigen Ver-
besserung bestehen bei den derzeitigen Fingergelenkprothesen si-
Therapeutische Möglichkeiten bei Gelenkzerstörung im Finger- gnifikante Probleme bezüglich aktiver Beweglichkeit, Haltbarkeit
bereich sind Fingergelenkdenervierung nach Wilhelm, Rekons- und Auslockerung (Problem Interface Knochen/Prothese) und
truktion der Knorpelglatze mithilfe von Pridie-Bohrungen und/ Stabilität. Aufgrund der fehlenden Wachstumspotenz nach pro-
oder Perichondriumtransplantate bzw. Matrix-Chondrozyten- thetischem Gelenkersatz sind sie bei Patienten im Wachstumsalter
transplantate (»tissue engineering«), nicht vaskularisierte Knorpel- kontraindiziert.
Knochen-Transplantate ( Abschn. 10.2.2), Resektions-Interposi- Arthrodesen im Fingerbereich stellen in Situationen, bei denen
tions-Arthroplastiken, Fingergelenkprothesen, die vaskularisierte die Gelenke so stark geschädigt sind, dass eine stabile Rekonstruk-
Gelenktransplantation aus dem Hand- oder Fußbereich, die Ge- tion mit schmerzfreier Beweglichkeit nicht mehr möglich ist, die
lenkversteifung und in Ausnahmefällen auch die Finger(strahl) Ultima Ratio für eine Verbesserung der Handfunktion dar.
amputation (⊡ Abb. 10.4). Kein Verfahren kann jedoch alle Anfor- Allgemeine Indikationen für Gelenkarthrodesen gelten auch
derungen gleichzeitig befriedigend erfüllen. Allein die vaskulari- für den Fingerbereich. Hierzu zählen Schmerzen, Instabilität, Ver-
sierte Gelenktransplantation ermöglicht eine Anpassung während lust von gelenkübergreifenden Muskeln und Sehnen und vorausge-
des Wachstums. gangene erfolglose gelenkerhaltende Operationen.
Die Wahl des therapeutischen Vorgehens ist hauptsächlich ab- Spezielle Indikationen für den Handbereich sind:
hängig von folgenden Faktoren: ▬ posttraumatische Gelenkzerstörungen und Arthrosen,
1. Allgemeinzustand des Patienten, ▬ mutilierende Arthritiden des rheumatischen Formenkreises,
2. funktionelle Beeinträchtigung, Verbrennungskontrakturen,
3. Ausprägung und Lokalisation der Destruktion, ▬ Zustände nach schweren Infektionen,
4. Ursache der Destruktion, ▬ ausgeprägte oder rezidivierende Dupuytrenkontrakturen sowie
5. Alter des Patienten. ▬ Paresen peripherer Nerven.
206 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
vaskularisierter Gelenk-Transfer
Gelenkersetzende Therapie
Amputation
Arthrodese
Gelenkzerstörende Therapie
Perichondrium-TX
Tissue Engineering (Matrix Chondrozyten-Konstrukte, ....)
Knorpelrekonstruktive Therapie (subchondrale Knochenlamelle intakt)
2) Schmerzen und funktionelle Beeinträchtigung, aber adäquate Gelenkweichteile
Erhebliche Bewegungseinschränkungen bis Versteifungen an be- Gelenken auch bei Kindern (Chondrodese) eingesetzt werden.
nachbarten Gelenken des zu versteifenden Fingergelenks stellen Wegen der großen funktionellen Beeinträchtigung der globalen
eine relative Kontraindikation dar, da hierdurch kompensatorische Handfunktion ist die Arthrodese im Metakarpophalangealbereich
Bewegungen unmöglich werden. Die Arthrodese führt zu einer der Finger und bei polydigitaler Zerstörung der PIP-Gelenke kont-
Schmerzreduktion – nicht zu einer kompletten Schmerzfreiheit – raindiziert. Im Bereich der PIP-Gelenke können monodigitale PIP-
bei guter Kraft jedoch auf Kosten der Mobilität. Beim Erwachsenen Gelenk-Defekte oft für den Patienten gewinnbringend mit einer
stellt die Gelenkversteifung eine gute Indikation bei (isolierter) Gelenkverblockung therapiert werden. Die vaskularisierte Gelenkt-
Gelenkzerstörung im Bereich des CMC- und MP-Gelenks des ransplantation sollte nur aus der Kenntnis über Indikationen bzw.
Daumens dar. Nur bei isoliertem Gelenkflächenverlust mit Erhalt Kontraindikationen und Ergebnisse aller therapeutischen Möglich-
der Wachstumsfugen kann die Arthrodese in den oben genannten keiten bei MP- und PIP-Gelenk-Defekten im Fingerbereich einge-
10.1 · Allgemeines
207 10
setzt werden. Sie ergibt sich bei Kindern aus Mangel an anderen 4. kombinierte vaskularisierte Transplantation von zwei MTP-
vernünftigen Therapieoptionen aufgrund fehlender Wachstumspo- Gelenken als Ersatz für zwei benachbarte MP-Gelenke,
tenz, beim Erwachsenen aus den Kontraindikationen für den pro- 5. kombinierte vaskularisierte Transplantation der PIP-Gelenke
thetischen Gelenkersatz und/oder der Arthrodese. Als vaskulari- der 2. und 3. Zehe als Ersatz für zwei benachbarte PIP-Finger-
sierte Gelenktransplantate bezeichnet man Gelenke, die ihre eigene gelenke und
Blutver- und -entsorgung in den Empfängerbereich mitbringen. 6. vaskularisierte Zehen-MTP-Gelenk-Transplantation zum Er-
Bei vaskularisierten Gelenktransplantaten unterscheidet man Ei- satz des CMC-Gelenks des Daumens.
gen- (autologe) und Fremdtransplantate (allogen, xenogen). Der
Einsatz von allogenen vaskularisierten Gelenktransplantaten bietet
theoretisch die Möglichkeit der fehlenden Spenderstellenmorbidi- Klassifikation der vaskularisierten Gelenktransplantate
tät sowie der unbegrenzten Verfügbarkeit. Experimentelle Studien ▬ Handbereich
zeigen, dass allogene Gelenktransplantate unter kontinuierlicher 1. Heterodigitaler Gelenktransfer
systemischer Immunsuppression den vaskularisierten autologen – DIP – PIP
Gelenktransplantaten analoge, gute Ergebnisse erzielen können. – PIP – PIP
Ohne Immunsuppression verlieren sie jedoch ihre Funktion nach – PIP – MP
6–8 Monaten. Ihr klinischer Einsatz ist jedoch wegen der mögli- – MP – MP
chen Patientengefährdung aufgrund der Immunsuppression und – Gefäßgestielte mikrochirurgische Transplantation
Übertragung von Infektionen bei fehlender vitaler Bedrohung un- bzw. Transposition
serer Meinung nach aus ethischer Sicht nicht gerechtfertigt. 2. Homodigitale Gelenktransposition
Bei den autologen vaskularisierten Gelenktransplantaten unter- – DIP – PIP
scheidet man partielle und komplette Gelenktransplantate, welche – (PIP – MP)
in gestielter oder mikrochirurgisch reanastomosierter Form ver- ▬ Bereich der 2. und 3. Zehe
pflanzt werden können. Die partielle Gelenktransplantation, d. h. 1. PIP (Zehe) – PIP (Finger)
die Transplantation nur eines Gelenkanteils ist prinzipiell tech- 2. MTP (Zehe) – MCP (Finger)
nisch möglich und klinisch beschrieben. Als Hauptnachteile der 3. MTP/PIP (Zehe) – MCP/MCP (Finger)
partiellen Gelenktransplantation gelten die Gelenkinkongruenz, 4. PIP/PIP (Zehe) – PIP/PIP (Finger)
Schädigung der Synovia mit subsequenter Funktionsminderung 5. MTP/MTP (Zehe) – MP /MP (Finger)
und die postoperative Gelenksteifigkeit durch Vernarbungen im 6. 6) MTP (Zehe) – CMC I (Daumen)
Kapsel-Band-Apparat. Aufgrund der geringen Beweglichkeit und
der vorzeitigen Arthrose erscheint die vaskularisierte partielle Ge-
lenktransplantation als ein aufwendiges Verfahren mit keinen sig-
nifikanten Vorteilen gegenüber der nicht vaskularisierten partiellen Wegen der identischen anatomischen Verhältnisse stellen vasku-
Gelenktransplantation. Indikationen für die vaskularisierte parti- larisierte Fingergelenktransplantate den idealen Ersatz bei Finger-
elle Gelenktransplantation bestehen heute nur noch im Rahmen gelenkdefekten dar. Ein heterodigitaler vaskularisierter (gestiel-
eines traumatischen Gelenkdefektes mit Erhalt einer Gelenkfläche ter oder mikrochirurgisch reanastomosierter) Gelenktransfer ist
oder bei angeborenen Fehlbildungen in Ausnahmefällen. In der aufgrund des großen Spenderdefektes nur dann gerechtfertigt,
Notfallsituation kann im Rahmen einer heterotopen Replantation wenn der Spenderfinger amputiert ist oder werden soll. Durch die
mit Rekonstruktion der Gelenkkapsel (Gewebebankkonzept nach Anwendung des Gewebebankkonzeptes, d. h. Verwendung von
Chase) ein Erhaltungsversuch des betroffenen Gelenks unternom- funktionell nicht mehr wichtigen Fingeranteilen zur funktionellen
men werden, um noch eine geringe Restbeweglichkeit zu erhalten. Rekonstruktion anderer geschädigter Finger, entsteht kein zusätzli-
Wenn immer möglich, sollte das komplette Gelenk transplan- cher Spenderdefekt und noch funktionierende Gewebeanteile kön-
tiert werden. Der Ersatz von Fingergelenken umfasst eine Reihe nen optimal eingesetzt werden. Vor allem in der Akutversorgung
von unterschiedlichen partiellen und kompletten Gelenktransplan- bei komplexen polydigitalen Handverletzungen sollte vermehrt
taten aus dem Hand- und Fußbereich ( Übersicht). Vaskularisierte an die Möglichkeit der heterodigitalen Transplantation von Am-
Gelenktransplantate aus dem Fingerbereich können in zwei For- putatteilen oder ganzer Fingern zur Verbesserung der globalen
men transplantiert werden: Handfunktion ohne zusätzliche Spendermorbidität gedacht wer-
1. Heterodigitale gestielte oder mikrochirurgisch reanastomo- den (⊡ Abb. 10.5). In Abhängigkeit von der Amputationshöhe kön-
sierte Gelenktransplantation unter Anwendung des Gewebe- nen bei Kindern und Erwachsenen DIP-, PIP- und MP-Gelenke
bankkonzeptes und alleine oder in Kombination als Spendergebiet verwendet werden.
2. homodigitale gefäßgestielte DIP-auf-PIP-Gelenk-Transposition. Nach Foucher et al. (1990) kann bei heterodigitaler Gelenktrans-
plantation im Rahmen einer polydigitalen Handverletzung nach
Wegen der ähnlichen anatomischen Verhältnisse können auch mi- vaskularisierter MP-Gelenk-Transplantation ein mittleres aktives
krochirurgisch transplantierte Gelenktransplantate vom Fuß zum Bewegungsausmaß von 45° und nach vaskularisierter PIP-Gelenk-
Ersatz von Fingergelenken eingesetzt werden. Folgende Techniken Transplantation von 42° erreicht werden.
werden beschrieben: Vaskularisierte Gelenktransplantate aus dem Bereich der 2. Zehe
1. vaskularisierte Zehen-PIP-Gelenk-Transplantation zum Ersatz sind indiziert bei bestehender Indikation zur vaskularisierten Ge-
eines Finger-PIP-Gelenks, lenktransplantation und fehlender Möglichkeit der heterodigitalen
2. vaskularisierte Zehen-MTP-Gelenk-Transplantation zum Er- und/oder homodigitalen vaskularisierten Gelenktransplantation.
satz eines Finger-MP-Gelenks, Bei Kindern ist die vaskularisierte Gelenktransplantation indiziert
3. Kombinierte vaskularisierte Transplantation der MTP- und bei kongenitalen Gelenkdefekten ohne zusätzliche Weichteilano-
PIP-Gelenke der 2. Zehe als Ersatz für zwei benachbarte MP- malien (vor allem Beugesehnendefekte), und für alle traumatisch
Fingergelenke, bedingten Gelenkdefekte im Bereich der MP-Gelenke aller Finger
208 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
a b c d
⊡ Abb. 10.5 Gestielte partielle Gelenktransplantation aus dem Handbereich nach komplexer Handverletzung unter Ausnutzung des Gewebebankkonzeptes:
Bei Amputation des Zeigefingers im Grundgliedbereich und Zerstörung des MP-III- und PIP-III-Gelenks im Mittelfingerbereich, wird das MP-II-Gelenk mit lan-
gem Metatarsalknochen und fast komplettem Grundglied des 2. Strahls für die Wiederherstellung der Gelenkbeweglichkeit im MP-Bereich des Mittelfingers
verwendet. a Klinischer Befund präoperativ, b radiologischer Befund 2 Jahre nach Rekonstruktion: dorsale Ansicht, c klinischer Befund 2 Jahre postoperativ:
Fingerstreckung (Ansicht von dorsal), d klinischer Befund 2 Jahre postoperativ: Fingerbeugung (Ansicht von lateral): Im MP-III-Gelenk-Bereich kann eine aktive
Bewegung von Ex/Flex 0–10–80° erreicht werden
10
und des Daumens, sowie der PIP-Gelenke, wenn im Hinblick auf stellen die allgemeinen Kontraindikationen für die Anwendung
zusätzliche Weichteilschädigungen die Möglichkeit der Rekons- mikrochirurgischer Techniken dar.
truktion eines »funktionellen Fingers« besteht. Bei Defekten im Die Fingeramputation stellt eine Ausnahmeindikation dar. Sie
Bereich der MP-Gelenke sollen nur MTP-Gelenk-Transplantate kann im Fingerbereich erwogen werden, wenn aufgrund einer
eingesetzt werden, da deren Wachstumspotenz aufgrund der bei- zusätzlichen Knochen-Weichteil-Schädigung des gleichen Fingers
den Epiphysenfugen größer ist als jene der PIP-Gelenke mit nur keine Aussicht auf eine »funktionelle Rekonstruktion« besteht.
einer Epiphysenfuge. Defekte im Bereich der PIP-Gelenke werden
mit PIP-Gelenk-Transplantaten versorgt. Beim Erwachsenen ist die Handgelenk
vaskularisierte Gelenktransplantation im Bereich des CMC- und Bei Schmerzzuständen, die vor allem von älteren Luxationen und
MP-Gelenks des Daumens nur ausnahmsweise bei bestehender Frakturen, aber auch von arthrotischen Veränderungen der Inter-
Kontraindikation zur Arthrodese dieser Gelenke indiziert. Im Be- karpalknochen herrühren, kann die partielle Arthrodese der Kar-
reich der Finger-MP-Gelenke sollten vaskularisierte Gelenktrans- palknochen gute Dienste leisten. Hierbei wird nach Entfernung der
plantate aus dem Fußbereich nur bei bestehender Kontraindikation Gelenkknorpel der benachbarten Karpalknochen und Spongiosa-
zum prothetischen Gelenkersatz erwogen werden. Ein vaskulari- auffüllung eine feste Fusion der karpalen Knochen herbeigeführt.
sierter Gelenkersatz sollte besonders erwogen werden bei Die Indikationsstellung kann aufgrund von Veränderungen im Be-
1. jungen, motivierten Patienten mit handwerklicher Tätigkeit, reich eines oder mehrerer Handwurzelknochen gegeben sein bei:
2. Zustand nach Gelenkinfektion mit erhaltenem Kapsel-Band- 1. schweren Veränderungen des Kahnbeins mit Pseudarthrose,
Apparat, 2. Veränderungen des Mondbeins,
3. zusätzlicher Schädigung des Kapsel-Band-Apparates, 3. Mondbeinnekrosen,
4. zusätzlichem Knochendefekt und 4. SLAC-Wrist Arthrosestadium II,
5. nach Zustand nach fehlgeschlagenem prothetischem Gelen- 5. SLD Grad II und III.
kersatz mit ausgedehntem Knochendefekt.
Die komplette Handgelenkarthrodese ist indiziert bei:
Wegen der besseren funktionellen Ergebnisse im Handbereich und 1. ausgeprägter gleichzeitig bestehender radiokarpaler und
der komplikationsreichen Rekonstruktionsversuche im Bereich der midkarpaler Arthrose,
2. Zehe sollten für die MP-Rekonstruktion MTP-Gelenke verwen- 2. fehlgeschlagener partieller Arthrodese mit Beeinträchtigung
det werden. Bei gleichzeitig bestehendem Weichteil-Gelenk-Defekt des Patienten,
sollte ein zweizeitiges Vorgehen gewählt werden. Bei Hautdefek- 3. Schmerzen und/oder Kraftlosigkeit mit signifikanter Bewe-
ten bis 2 cm Breite kann zusätzlich zu dem Gelenk ein kleiner gungseinschränkung (Ex/Flex <20°–0–20°)
Hautlappen im Sinne eines osteokutanen Dorsalis-pedis-Lappens 4. Instabilität und Fehlstellung,
gehoben werden. Indikationen für den vaskularisierten Gelenker- 5. nach schweren Infektionen,
satz im Bereich der PIP-Gelenke ergeben sich aus den Kontrain- 6. nach schwerer Luxation und Trümmerbruch.
dikationen zur Arthrodese oder zu prothetischem Gelenkersatz in
diesem Bereich. Die vaskularisierte Gelenktransplantation sollte Nur bei nicht handwerklich tätigen Patienten kann in dieser Gruppe
besonders erwogen werden bei polydigitaler Schädigung, wobei noch die komplette Handgelenkarthroplastik erwogen werden. Lie-
hier vermehrt an das Gewebebankkonzept gedacht werden sollte. gen arthrotische Veränderungen entweder nur im radiokarpalen
Kontraindikationen für die vaskularisierte Gelenktransplantation oder im midkarpalen Gelenkspalt vor, stellt die komplette Handge-
10.1 · Allgemeines
209 10
lenkversteifung eine Alternative zu den partiellen Handgelenkarth- bestimmte ärztliche Maßnahmen aufbringt. Darüber hinaus sind
rodesen dar. Für die Differenzialtherapie entscheidende Kriterien Vermeidung einseitiger beruflicher und sportlicher Belastungen,
sind die klinische Symptomatik (Schmerzen, Kraftlosigkeit, Bewe- Gewichtsreduktion, Bewegung, Muskeltraining zur Vermeidung
gungseinschränkung), Beruf (Handarbeiter versus Kopfarbeiter), von Muskelatrophien und Kontrakturen wichtige weitere Punkte.
Händigkeit (dominante versus nichtdominante Hand befallen), Bei der medikamentösen Therapie muss unterschieden werden
Zustand der vorgeschalteten Gelenke (Ellenbogen, Schulter), Ge- zwischen
schlecht, Alter, Freizeitverhalten, Allgemeinzustand und subjektive ▬ symptomatischer Schmerztherapie,
Wünsche des Patienten. Bei Lunatumnekrose im Rahmen einer ▬ Therapie der Entzündung der Synovialitis,
zerebralen Erkrankung mit Spastik kann die Handgelenkarthro- ▬ Therapie zur Beeinflussung des Knorpelstoffwechsels,
dese auch schon in früheren Stadien diskutiert werden, wenn keine ▬ Therapie gegen Muskelverspannung bei Tonuserhöhung.
Möglichkeit der Funktionsverbesserung durch Sehnentransfer be-
steht und durch die Handgelenkverblockung ein deutlicher Funkti- Wichtiges frühes Therapieziel ist die adäquate Schmerztherapie.
onsgewinn erwartet werden kann. Nur so kann eine notwendige Compliance für die folgenden the-
Kontraindikationen für die komplette Handgelenkverblockung rapeutischen Schritte erreicht werden. Zur suffizienten Schmerz-
bestehen bei Stadium I und II der Lunatumnekrose und tetraplegi- therapie stehen eine Vielzahl von Antiphlogistika in Kombination
schen Patienten, die ihre Hand für Greif- und Transportfunktionen mit Analgetika zur Verfügung. Bei der Schmerztherapie ist zu
benötigen. Darüber hinaus ist die Implantation einer Osteosynthe- beachten, dass nichtsteroidale Antirheumatika in hohen Dosen
seplatte kontraindiziert bei noch offener Radiusepiphyse, persistie- sowie intraartikuläre Kortisonapplikationen zwar die Entzündung
rendem Infekt sowie schlechten Weichteilverhältnissen im Hand- hemmen, jedoch auch knorpelschädigend wirken. Eine kausale
gelenkbereich. Zur Verbesserung der postoperativen Ergebnisse medikamentöse Therapie eines eingetretenen Knorpelschadens ist
nach Handgelenkarthrodese muss routinemäßig nach zusätzlichen derzeit noch nicht möglich.
potenziellen Ursachen einer Funktionsbeeinträchtigung der Hand Physikalische bzw. physiotherapeutische Maßnahmen zielen
gesucht werden. Vor allem bei länger bestehenden ausgepräg- neben der Schmerzlinderung und Entzündungshemmung vor
ten arthrotischen Veränderungen mit karpalem Kollaps muss ein allem auf die Förderung der Durchblutung, Muskeltonisierung,
Karpaltunnelsyndrom ausgeschlossen werden. Bei bestehendem Verbesserung der Beweglichkeit und Kontrakturbeseitigung oder
Karpaltunnelsyndrom kann die Spaltung vor oder gleichzeitig -prophylaxe hin. Die verschiedenen und mannigfaltig kombinier-
mit der Arthrodese durchgeführt werden. Auf der routinemäßig baren Applikationsformen hydro- oder elektrotherapeutischer Ver-
durchgeführten Röntgenuntersuchung des Handgelenks in d. p. ordnungen und krankengymnastischer Behandlungen lassen sich
(Supination) und seitlichem Strahlengang ist zusätzlich besonders durch Badekuren (Moor-, Schwefel-, Thermalbäder, Radonapplika-
auf das distale Radioulnargelenk sowie das Lunotriquetralgelenk tion etc.) wirkungsvoll ergänzen.
zu achten. Veränderungen im Bereich des distalen Radiokarpalge- Durch orthopädische Hilfsmittel wird versucht, die eingetretene
lenks mit Beeinträchtigung der Pronosupination müssen getrennt Fehlstatik auszugleichen und schmerzhafte Bewegungsausschläge
therapiert werden. Bei degenerativen Veränderungen im Bereich oder Instabilitäten auszuschalten. Im Handbereich müssen sie aber
des Lunotriquetralgelenks muss dieses nur optional zu versteifende sehr restriktiv verschrieben werden. Sie sollten nur in Kombination
Gelenk angefrischt und mit verblockt werden. mit einem intensiven handtherapeutischen Programm angewendet
Wichtig ist es, in der präoperativen Planung auch die Funktion werden, denn durch das alleinige Tragen einer Handgelenkorthese
von Ellenbogen- und Schultergelenk(en) zu prüfen, da diese den werden die muskulären Handgelenkmotoren geschwächt und ein
Funktionsverlust durch die Handgelenkarthrodese für die gesamte Circulus vitiosus in das Gegenteil beginnt.
obere Extremität teilweise kompensieren können (müssen). Zur
Festsetzung der individuell optimalen Stellung der Arthrodese Operative Therapie
kann diese präoperativ mit Schienen oder Gipsverbänden simuliert Bei der operativen Therapie unterscheidet man gelenkerhaltende
werden. und gelenkersetzende Eingriffe.
Bei den gelenkerhaltenden Eingriffen differenziert man zwi-
schen Bandrekonstruktionen und Knochen-Knorpel-Rekonstruk-
10.1.7 Therapie tionen. Ligamentäre Verletzungen müssen so früh wie möglich und
so exakt wie möglich rekonstruiert werden. Die Rekonstruktionen
Die Therapie ist abhängig von der Ätiologie. Für osteoarthrotische chronischer ligamentärer Instabilitäten werden immer schlechtere
Veränderungen besteht bis dato keine Möglichkeit der Restitutio Ergebnisse erzielen als die der Instabilitäten nach Versorgung in
ad integrum. Hier ist es vorrangiges Therapieziel, die Degeneration der Akutsituation. Bei den Knochen-Knorpel-rekonstruktiven Ein-
so lange wie möglich hinauszuzögern. Das gleiche Ziel wird bei griffen müssen zwei unterschiedliche Ausgangssituationen betrach-
der Therapie der chronischen Polyarthritis verfolgt. Bei der bakte- tet werden, die »Knorpelglatze« und der partielle Gelenkdefekt. Je
riellen Arthritis besteht die Therapie in der sofortigen operativen jünger der Patient, desto größere Anstrengungen sollten unter-
Gelenksanierung. Je früher die adäquate Infektsanierung erfolgt, nommen werden, ein funktionelles Gelenk mit primär gelenk-
desto geringer ist der Restschaden im Gelenk. erhaltenden Maßnahmen wiederherzustellen. Für die Therapie der
»Knorpelglatze« stehen neben den Pridie-Bohrungen und/oder
Konservative Therapie Perichondrium-Transplantaten Matrix-Chondrozytentransplantate
Die konservative Therapie stellt die Basis aller therapeutischen (»tissue engineering«) zur Verfügung. Über den therapeutischen
Maßnahmen dar. Sie umfasst allgemeine Verhaltensregeln, me- Wert der bioartifiziellen Matrix-Chondrozytentransplantate kann
dikamentöse Therapien, physikalische und physiotherapeutische noch keine abschließende Wertung erfolgen. Die Transplantation
Maßnahmen und orthopädische Hilfsmittel. von Teilen eines Gelenkpartners bzw. des gesamten Gelenkpart-
Die allgemeinen Maßnahmen beginnen mit der Aufklärung ners im Sinne einer partiellen Gelenktransplantation ist prinzipiell
des Patienten über die Art seines Leidens, damit er Verständnis für technisch möglich und klinisch beschrieben. Als Hauptnachteile
210 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
hierdurch im weiteren Verlauf eine kutan bedingte Gelenkkontrak- zept, aus dem lateralen Femurkondylenrand oder aus dem Fuß-
tur entsteht, die sich durch das Wachstum noch verschlimmert. In bereich, gedacht werden. Die Entnahme des Knorpel-Knochen-
Gelenknähe müssen alle Inzisionen optimalerweise im 90°-Winkel Transplantats erfolgt in Zylinderform von bis zu 1 cm Durchmes-
angelegt werden. Bezüglich der Behandlung von Gelenksteifen sei ser (⊡ Abb. 10.8c). Entscheidend für den Operationserfolg ist eine
auf Kap. 14 verwiesen. möglichst exakte, stufenlose Einpassung des Knorpel-Knochen-
Chips und eine möglichst übungsstabile Osteosynthese, um eine
frühzeitige Bewegung zu ermöglichen (⊡ Abb. 10.8).
10.2 Spezielle Techniken
a d
10
c e
⊡ Abb. 10.8 Technik der autologen nicht vaskularisierten Knorpel-Knochen-Transplantation. a CT-Befund präoperativ, b intraoperativer Befund nach Zu-
richtung des Empfängerlagers, c intraoperativer Aspekt nach Entnahme des zylinderförmigen Knorpel-Knochen-Chips (OATS), d intraoperativer Aspekt nach
passgenauer, stufenloser Einbringung des Knorpel-Knochen-Transplantats im Bereich des Trapezium, e CT-Befund postoperativ
arbeiten. Wird die Lappenplastik von nur einem Operationsteam A. radialis und ein Ast der V. cephalica in der Tabatière aufgesucht
durchgeführt, so wird zunächst das Empfängergebiet vorbereitet. und für den mikrochirurgischen Anschluss des Transplantates
Zur Entfernung des funktionslosen Gelenks im Empfängerge- vorbereitet. Dies gilt auch für den kleinen Ast des R. superficialis
biet wird eine S-förmige Inzision auf der dorsalen Seite des Fingers des N. radialis, der sich in der Regel dorsal des Handgelenks vom
durchgeführt, die auf einer der beiden Seiten am MP-Gelenk Stamm löst.
vorbeizieht. Sie reicht durch das subkutane Fettgewebe bis auf die Für die Transplantatentnahme am Fuß werden zuerst die Äste
tiefe Faszie, die ebenfalls durchtrennt wird, sodass in der nächsten der V. saphena magna, die A. dorsalis pedis und die A. metatarsalis
Schicht präpariert werden kann. Zur Darstellung des MP-Gelenks dorsalis I dargestellt. Um in der postoperativen Phase die Kontrolle
wird die Streckaponeurose auf der ulnaren Seite inzidiert und der Durchblutung zu ermöglichen und den Wundverschluss zu
nach radial weggezogen. Nun wird das funktionslose Gelenk mit erleichtern, wird eine kleine Hautinsel dorsal des Zehengrundge-
dem Köpfchen des Os metacarpale und der Basis der Grundpha- lenks umschnitten (⊡ Abb. 10.9a). Da das Transplantat im Empfän-
lanx entfernt. Anschließend werden über eine zweite Inzision die gergebiet um 180° gedreht wird, sollte diese Hautinsel zur Erhal-
10.2 · Spezielle Techniken
213 10
a b c
⊡ Abb. 10.9 Freie mikrovaskuläre Metatarsophalangeal-(MTO-)II-Zehengelenk-Transplantation zur Rekonstruktion eines funktionslosen Zeigefingergrundge-
lenks. a Anatomie und Lappenplanung, b Drehung des vaskularisierten Gelenktransplantats um 180° und Platzierung des Hautlappens
tung der dorsalen Konvexität des MTP-Gelenks etwas exzentrisch der Präparation der plantaren Seite beginnt mit der Darstellung der
angelegt werden (⊡ Abb. 10.9b,c). Ist eine größere Hautinsel zur Sehnenscheide, weil dadurch die plantaren Gefäße nicht verletzt
Defektdeckung erforderlich, kann auch ein eigener, über den dor- werden können. Falls erforderlich, kann das A1-Ringband zur Sta-
salen Ast zur Großzehe versorgter Hautlappen entnommen werden bilisierung eines Sehnentransplantates auf der konvexen Seite des
(⊡ Abb. 10.9a). zu rekonstruierenden MP-Gelenks benutzt werden.
Unabhängig davon, ob ein dorsaler oder ein plantarer Ver- Bei der Präparation der dorsalen Seite ist auf die Endäste des
sorgungstyp vorhanden ist, müssen zur Erhaltung der Zuflüsse N. fibularis profundus sorgfältig zu achten.
in das Gefäßnetz um das MTP-Gelenk beide Gefäßsysteme dar- In einem nächsten Schritt werden beide Zügel der Strecksehne,
gestellt werden. Dies gilt auf der plantaren Seite vor allem für die das Os metatarsale, die Grundphalanx sowie das Lig. metatarsale
A. metatarsalis plantaris II. Ist die A. metatarsalis dorsalis I von transversum profundum durchtrennt. Die Höhe der Osteotomien
ausreichendem Kaliber, kann die Durchblutung des Transplantates ergibt sich aus den Anforderungen im Empfängergebiet. Im Ide-
auf diese Arterie sowie auf die A. metatarsalis plantaris II gestützt alfall sollte sie so gewählt werden, dass das künftige MP-Gelenk
werden. Eine ausreichende Verbindung der beiden Arterien be- in der anatomisch korrekten Position zu den benachbarten MP-
steht über den proximalen R. perforans zur A. plantaris profunda Gelenken der Hand zu liegen kommt. Ist allerdings am Hals des
im Bereich des 1. Intermetatarsalraumes und des Arcus plantaris Os metatarsale ein Gefäßnetz vorhanden, so muss die Osteotomie
(⊡ Abb. 10.9a). zwangsläufig weiter proximal ausgeführt werden. Sie darf grund-
Die weitere Präparation der A. metatarsalis dorsalis I erfolgt sätzlich auch nicht zu nahe am MTP-Gelenk liegen, da das hier
entlang des M. interosseus dorsalis I, wobei der Ast zum MTP-II- unbedingt zu erhaltende Gefäßnetz beschädigt werden könnte.
Gelenk geschont werden muss. Anschließend kann das Lig. meta- Nach Resektion der Strecksehne sind das MTP-Gelenk der 2. Zehe
tarsale transversum profundum durchtrennt und der arterielle Ast und die dorsale Hautinsel nun nur noch an ihrem Gefäßbündel
zur Großzehe unterbunden werden. Wegen seiner Bedeutung für gestielt.
die Verbindung der beiden Gefäßsysteme und die Speisung der Nun wird die Blutsperre des Beines geöffnet und die Perfusion
medialen Äste zum MTP-II-Gelenk muss auch der distale Perfo- des Gelenktransplantates in situ kontrolliert. Der Fuß kann in
ransast zwischen dorsalem und plantarem Gefäßsystem unbedingt warme Tücher eingewickelt und etwas tiefer gelagert werden. Ohne
erhalten bleiben. ausreichende Perfusion verbietet sich die Transplantation unter
Liegt nur eine schwach ausgebildete A. metatarsalis dorsa- allen Umständen.
lis I vor (Typ III nach Gilbert), so sollte das Transplantat an der Der Verschluss des Hebedefekts wird durch Entfernen des
A. metatarsalis plantaris I oder II gehoben werden. Die frühzeitige größten Teiles des Os metatarsale II erleichtert. Der Rest der bei-
Osteotomie des Os metatarsale II erleichtert dies. Die sicherste Art den Ligg. metatarsalia transversa profunda wird mit nichtresor-
214 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
bierbarem Nahtmaterial fixiert, um die Ossa metatarsalia I und III ermöglicht die Vorbereitung der Gefäßanschlüsse an die A. radialis
einander anzunähern. Nach Einlage einer Drainage ohne Sog wird und an einen Ast der V. cephalica. Zwischen beiden Inzisionen
die Haut spannungsfrei direkt verschlossen. Die Immobilisierung wird die Haut untertunnelt und so ein ausreichend großer Kanal
erfolgt in einem gespaltenen Unterschenkelgips für 4 Wochen. Mo- für das Gefäßbündel des Transplantates geschaffen.
bilisierung ohne Bodenkontakt ist nach 3–7 Tagen möglich. Eine In der Mehrzahl der Fälle wird nach Entnahme des Transplan-
orthopädische Versorgung der Entnahmestelle, wie das Tragen von tates von vornherein die Amputation des 2. Strahles geplant, wes-
Einlagen, ist ratsam. halb der gesamte Hautmantel um das PIP-Gelenk der 2. Zehe mit
Als nächstes wird das Transplantat an die Hand verlagert und dem Transplantat entnommen werden kann. In der Regel ist ein
dort fixiert. Wegen des größeren Bewegungsumfanges für die Hautlappen dorsal des PIP-Gelenks, vom DIP-Gelenk distal bis auf
Extension und des geringeren Bewegungsumfanges für die Fle- den Vorfuß proximal, ausreichend (⊡ Abb. 10.10a). Die Entnahme
xion (Extension/Flexion: 45/0/30) sollte das MTP-II-Gelenk um des PIP-Gelenks der 2. Zehe erfolgt ausschließlich von dorsal.
180° in der Längsachse gedreht implantiert werden. Lediglich bei Nach Aufsuchen und Präparation der A. dorsalis pedis und der
Kleinkindern ist eine anatomische Implantation sinnvoll, da mit V. saphena magna wird die Präparation von proximal nach distal in
weiterem Wachstum des Transplantates die Beweglichkeit im Beu- den 1. Intermetatarsalraum fortgeführt, wo die A. metatarsalis dor-
gebereich deutlich zunimmt. In diesem Fall kann eine Beugesehne salis I oberflächlich des Lig. metatarsale transversum aufgesucht
zusätzlich in das Transplantat eingeschlossen werden. Die Osteo- werden kann. Die Auswahl des Gefäßstieles hängt davon ab, ob ein
synthese wird mit Kirschner-Drähten, mit einer Drahtcerclage plantarer oder ein dorsaler Versorgungstyp des Fußes vorliegt, also
oder einer Platte erreicht, wobei die Durchblutung der transplan- von der Ausprägung der A. metatarsalis dorsalis I. Besitzt die vor-
tierten Skelettanteile möglichst wenig gestört werden darf. Ziel handene A. metatarsalis dorsalis I einen größeren Durchmesser als
ist eine möglichst hohe Stabilität, die eine frühzeitige Beübung 1 mm (dorsaler Versorgungstyp), so ist eine Darstellung der A. me-
des Transplantates zulässt, was entscheidenden Einfluss auf das tatarsalis plantaris I nicht notwendig, da über den distalen R. per-
funktionelle Ergebnis hat. Nach Öffnen der Blutleere werden die forans die für die Durchblutung der 2. Zehe ausschlaggebende
Strecksehnen versorgt, auf eine Rekonstruktion der Beugesehnen A. plantaris propria ausreichend versorgt wird. Zeigt die A. meta-
wird beim Erwachsenen verzichtet. Die Mikroanastomosen mit tarsalis dorsalis I einen kleineren Durchmesser als 1 mm, so muss
10 der A. radialis werden in End-zu-Seit-Technik, die mit der V. ce- die A. metatarsalis plantaris I bzw. die A. metatarsalis plantaris II
phalica in End-zu-End-Technik angelegt. Der Hautnervenast wird als Gefäßstiel für das vaskularisierte PIP-Gelenk-Transplantat ver-
mit dem R. superficialis des N. radialis koaptiert. Nach Öffnen der wendet werden. Dazu wird der Streckapparat längs inzidiert, das
Blutleere wird die Lappendurchblutung kontrolliert, eine subtile Os metatarsale II proximal osteotomiert und mit einem Haken
Blutstillung durchgeführt und die Haut nach Einlage von Draina- leicht angehoben (⊡ Abb. 10.10c). Die frühzeitige Osteotomie bietet
gen locker verschlossen. den Vorteil eines großzügigeren Zuganges und Überblickes auf das
Die Hand wird auf einer palmaren Unterarmgipsschiene oder plantare Gefäßsystem und erleichtert später den Verschluss des
in einem Replantationsverband für 10 Tage ruhiggestellt. Rheo- Hebedefektes. Wenn weder die beiden plantaren Arterien noch die
logische Maßnahmen können eingeleitet werden. Anschließend beiden dorsalen Arterien einen ausreichenden Gefäßdurchmesser
wird vorsichtig mit passiver krankengymnastischer Behandlung für eine alleinige Durchblutung des Transplantates besitzen, sollten
begonnen. Nach 4–6 Wochen ist in der Regel eine ausreichende 2–3 der kleineren Arterien im Empfängergebiet reanastomosiert
knöcherne Konsolidierung erreicht, sodass nach radiologischer werden.
Kontrolle mit aktiven und passiven krankengymnastischen und er- Die 2. Zehe wird nun distal im DIP-Gelenk durchtrennt. Eine
gotherapeutischen Übungen begonnen werden kann. Eine Nacht- mediane plantare Längsinzision bildet zwei laterale Hautlappen,
schienenversorgung zur Prävention einer Beuge- oder Streckfehl- die nach proximal bis zum Gefäß-Nerven-Bündel präpariert wer-
stellung kann für etwa 6 Monate notwendig sein. den. Anschließend erfolgt die Eröffnung der Beugesehnenscheide
in Längsrichtung und die Resektion der Sehnen. Dabei dürfen die
feinen retrotendinösen Gelenkäste, die die Durchblutung der plan-
10.2.5 Technik der freien mikrovaskulären taren Platte gewährleisten, nicht verletzt werden. Zum Schluss wird
PIP-Gelenk-Transplantation aus dem die Grundphalanx in der benötigten Höhe osteotomiert.
Bereich der 2. Zehe Sobald das Transplantat nur noch am Gefäßbündel gestielt
ist, wird die Blutsperre eröffnet, der Fuß mit warmen Tüchern
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Intubationsnarkose. Am umwickelt und tiefer als die Körperebene gelagert. Die endgültige
Oberarm wird eine Blutleere (Kinder 200 mmHg, Erwachsene Transplantation sollte niemals vor Wiederherstellung der Durch-
300 mmHg) angelegt. Die Entnahme vom Fuß erfolgt in Ober- blutung des Transplantates, die bis zu 30 Minuten benötigen kann,
schenkelblutsperre (Kinder 300 mmHg, Erwachsene 500 mmHg). erfolgen.
Im Idealfall sollten zwei Operationsteams gleichzeitig arbeiten. Lu- Sobald das Empfängergebiet vorbereitet ist, wird der Gefäßstiel
penbrillenvergrößerung ist zur Präparation des Transplantates wie in der für einen direkten mikrochirurgischen Anschluss benötigten
auch zur Vorbereitung der Empfängerstelle anzuraten. Länge durchtrennt und das Transplantat an die Hand verlagert.
Zunächst wird die Empfängerstelle für die Transplantation Gleichzeitig mit der Fixierung des Transplantates im Handbereich
vorbereitet. Dazu wird eine longitudinale dorsale Inzision angelegt wird der Hebedefekt verschlossen.
und vernarbtes Gewebe von Haut, Sehnen oder Knochen entfernt, Der Verschluss des Spendergebietes erfolgt durch einen er-
um die Möglichkeit einer gleichzeitigen Rekonstruktion dieser An- fahrenen Operateur nach den gleichen Prinzipien wie bei der
teile sicherzustellen. Die Beugesehnenscheide wird abgetrennt und freien mikrovaskulären Transplantation der 2. Zehe nach Yang
die verbleibende palmare Platte verschmälert. Nach Resektion des ( Kap. 39).
funktionslosen Gelenks werden die beiden Knochenenden und der Grund- und Mittelphalanx des Empfängergebietes werden so
Streckapparat vorbereitet. Ein zweiter Zugang, der im Idealfall ho- geformt, dass das PIP-Gelenk der Zehe in die beiden Knochen-
rizontal an der Basis des 1. Intermetakarpalraumes angelegt wird, enden gesteckt werden kann. Diese Art der Fixation ermöglicht
10.2 · Spezielle Techniken
215 10
b c
⊡ Abb. 10.10 Freie mikrovaskularer PIP-Gelenk-Transplantation der 2. Zehe nach Foucher zur Rekonstruktion
eines funktionslosen PIP-Gelenks des Mittelfingers. a Anatomie und Lappenplanung, b postoperativer Zustand
a im Fingerbereich (Ansicht nach lateral), c postoperativer Zustand im Handbereich: Ansicht von dorsolateral
zusammen mit einer temporären Kirschner-Draht-Osteosynthese Anschließend werden die Gefäße unter Vermeidung jeglicher
eine bessere Stabilität des Gelenks. Um eine postoperative Beuge- Torsion durch den vorbereiteten Tunnel in die Tabatière verlagert.
kontraktur des Fingers zu vermeiden, ist es ratsam, eine geringe Die Arterien werden in End-zu-Seit- bzw. End-zu-End-Technik
Längenverkürzung einzukalkulieren. Schließlich werden die Reste (T-förmig) an die A. radialis, die Vene in End-zu-End-Technik an
der Beugesehnenscheide der Zehe mit der vorbereiteten Beuge- die V. cephalica anastomosiert.
sehnenscheide des Fingers vernäht, um einen Bogensehnen-Effekt Nach Öffnen der Blutleere wird die Durchblutung des Trans-
(»bow stringing«) zu vermeiden (⊡ Abb. 10.10b). plantates geprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Die
Wird gleichzeitig ein Beugesehnendefekt behandelt, so ist die Nerven des Transplantates werden mikrochirurgisch an die Äste
transplantierte lange Beugesehne der 2. Zehe als nicht vaskula- des R. superficialis des N. radialis koaptiert. Der Hautverschluss
risiertes Transplantat anzusehen, da im PIP-Gelenk-Bereich nur sollte in jedem Fall spannungsfrei erfolgen, um eine Kompression
wenige ernährende Vincula vorhanden sind. In diesem Fall sollte des Gefäßstieles zu vermeiden. Falls erforderlich, sollten freie
die kurze Beugesehne der 2. Zehe möglichst weit proximal durch- Hauttransplantate großzügig eingesetzt werden (⊡ Abb. 10.10c).
trennt werden, um sie in der Hohlhand mit der oberflächlichen Die Hand wird für 3 Wochen auf einer palmaren Gipsschiene
Beugesehne des Fingers besser vernähen zu können. Damit kann ruhiggestellt und postoperativ leicht hochgelagert. Die Hautinsel
die Beugemöglichkeit des rekonstruierten Gelenks verbessert wer- erlaubt eine Überwachung der Durchblutung des Transplantates.
den (⊡ Abb. 10.10b). Die Strecksehnen des Fingers werden mit den Eine systemische rheologische Therapie wird für 5 Tage durch-
Zehenstreckern in voller Extensionsstellung vereinigt. Die lange geführt. Nach 3 Wochen wird mit aktiven Bewegungsübungen
Strecksehne der Zehe wird dabei mit dem medialen Sehnenzug begonnen, die durch eine dynamische Schienenbehandlung unter-
der Streckaponeurose, die kurze Strecksehne der Zehe mit einem stützt werden können. Eine nächtlich anzulegende Lagerungsschiene
intrinsischen Muskel verbunden. Die Sehnennähte sollten jeweils wird ab der 5. Woche vorgeschrieben. Die Kirschner-Drähte können
so weit als möglich proximal bzw. distal und damit außerhalb des entsprechend der radiologisch zu beurteilenden Knochenkonsoli-
Narbengewebes zu liegen kommen (⊡ Abb. 10.10c). dierung nach 4–6 Wochen entfernt werden.
216 Kapitel 10 · Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten
10.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen ist in solchen Fällen umso strenger zu stellen und eine sinnvolle
Kombination mit arthroplastischen Methoden zu suchen.
An Komplikationsmöglichkeiten sind bei Arthrodesen im Finger-
bereich die üblichen postoperativen Komplikationen nach Kno-
chen- und Gelenkeingriffen zu beobachten. Weiterführende Literatur
Früh postoperativ können Durchblutungsstörungen der Finger,
insbesondere nach Korrektur starker Flexionskontrakturen, eine Baumbach K, Petersen JP, Ueblacker P, Schröder J, Göpfert C, Stork A, Rueger
vitale Bedrohung des Fingers mit Notwendigkeit einer operativen JM, Amling M, Meenen NM (2008) The fate of osteochondral grafts after
Revision bedeuten und langfristig zu anhaltender Kälteintoleranz autologous osteochondral transplantation: a one-year follow-up study
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chen, insbesondere bei transkutan eingebrachten K-Drähten oder Buncke HJ, Daniller AI, Schulz WP, Chase RA (1967) The fate of autogenous
vermehrt bei Arthrodesen nach infektbedingter Gelenkzerstörung whole joints transplanted by microvascular anastomoses. Plast Reconstr
gehören zu den am häufigsten auftretenden Komplikationen. Surg 39: 333–341
Die Pseudarthrosenrate wird in der Literatur je nach ange- Buncke HJ, Valauri FA (1991) Vascularized toe-joint transplantation. In: Bun-
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Lea & Febiger, 102–110
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Chase RA (1967) Expanded clinical and research use of composite tissue
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zurückzuführen. Für die Hand ist jedoch anders als bei Pseudarth- Chase RA (1968) The damaged index finger: A source of components to res-
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Gesichtspunkte und nicht anhand von Röntgenbefunden gestellt urgie
werden darf. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich mit einer Re- de la Main, Tome II. Masson, Paris, S 531–539
arthrodese die Rate sämtlicher hier aufgeführter Komplikationen Comtet JJ, Monatte JP, Machenaud A (1975) Utilisation des implants de
Swanson au niveau des articulations interphalangiennes proximales
10 weiter erhöht.
dans les séquelles de traumatisme: voie d`abord, résultats, indications.
Insbesondere bei Perforation von Strecksehnen durch Bohr-
Ann Chir 29: 471–474
drähte oder Verwendung von auftragenden Kompressionsplatten Condamine JL, Benoit JY, Comtet JJ, Aubriot JH (1988) Proposition pour une
werden Strecksehnenadhäsionen beobachtet, die eine intensive arthroplastie digitale. ètude clinique des premiers résultats.Ann Chir 7:
physiotherapeutische Nachbehandlung oder auch sekundäre Te- 282–297
nolysen notwendig machen. Hierdurch kann es zu bleibenden Dautel G (1993) Le doigt-banque. In: Merle M, Dautel G (Hrsg) La Main trau-
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einträchtigen kann. Iatrogene Verletzungen des Mittelzügels durch (Hrsg) La Main traumatique, Tome 2 Chirurgie secondaire. Masson, Paris,
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Die häufigsten technischen Fehler sind Achsenfehlstellungen,
Eades JW, Peacok EE (1966) Autogenous transplantation of an interphalan-
Rotationsfehler, die Nichtbeachtung der funktionell empfehlens- geal joint and proximal phalangeal epiphysis. Case report and ten-year
werten fingerspezifischen Arthrodesenwinkel, nicht kongruente follow-up. J Bone Jt Surg 48A: 775–778
Resektionsflächen und knöcherne Diastasen sowie eine ungenü- Ellis PR, Tsai TM, Kutz JE (1991) Joint transplantation with microvascular
gende Gelenkflächenresektion im nichtspongiösen Knochen mit anastomoses. In: Meyer VE, Black MJM (Hrsg) Microsurgical Procedures.
verzögerter oder ausbleibender Konsolidierung. Churchill Livingstone, Edinburgh, S 172–184
Hinzu kommen aus der allgemeinen operativen Frakturbe- Entin MA, Alger JR, Baird RM (1962) Experimental and clinical transplantation
handlung bekannte Fehler in der technischen Anwendung von of autogenous whole joints.J Bone Jt Surg 44: 1518–1536
Osteosynthesematerialien, insbesondere von Zugschrauben und Erdelye R (1963) Experimental autotransplantation of small joints. Plast Re-
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Kompressionsplatten mit folglich früher Auslockerung und Pseu-
Foucher G, Merle M (1976) Transfert articulaire au niveau d’un doigt en mi-
darthrosenbildung.
crochirurgie. In: Lettre d’information du GAM, N° 7
Eine durch eine schonende Präparation (evtl. unter Lupenbril- Foucher G, Braun F, Merle M, Michon J (1980) Le »doigt-banque« en trauma-
lenbedingungen) vermeidbare Gefahr ist insbesondere im MC-I- tologie de la main. Ann Chir 34: 693–698
Bereich die Verletzung von Fingernerven. Foucher G, Denuit P, Braun FM, Merle M, Michon J (1981) Le transfert total ou
Eine nicht zu unterschätzende Gefahr besteht darin, zu viele partiel du deuxième orteil dans la reconstruction digitale. A propos de
Arthrodesen an einer Hand durchführen zu wollen. Die oben 32 cas. Acta Orthop Belg 47: 845–866
genannten Indikationen und Darstellungen der unter Funktionsge- Foucher G, Hoang P, Citron N, Merle M, Dury M (1986) Joint reconstruction
sichtspunkten optimalen Arthrodesenwinkel sind für die Planung following trauma: Comparison of microsurgical transfer and conventio-
eines einzelnen oder weniger zu versteifender Gelenke gedacht. Bis nal methods: A Report of 61 Cases. J Hand Surg 11B: 388–393
Foucher G, Sammut D, Citron N (1990) Free vascularized toe joint transfer
auf funktionell kaum störende multiple DIP-Arthrodesen verlieren
in hand econstruction: A series of 25 patients. J. Reconstr Microsurg 6:
diese Empfehlungen bei multiplen geschädigten Fingergelenken
201–207
ihre relative Bedeutung. Bei gleichzeitiger Versteifung von Gelen- Foucher G, Lenoble E, Sammut D (1990) Transfer of a composite island ho-
ken des Daumens und von Fingern kommt es beispielsweise zu ei- modigital distal interphalangeal joint to replace the proximal interpha-
ner sich potenzierenden Funktionsminderung, sodass bei solchen langeal joint. Ann Chir Main 9: 369–375
Patienten von vornherein ein gedankliches Durchspielen der re- Foucher G, Citron N, Sammut D (1991) Compound vascularized island joint
sultierenden Handgesamtfunktion erforderlich ist. Die Indikation transfer in hand surgery. Orthop Surg 5: 32–39
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11
Moderne Silikonprothesen
Mitte der 80er Jahre wurde als Alternative zur geraden Swan-
son-Prothese die Sutter-Prothese als leicht vorgebogene Vari-
ante vorgestellt. Im Weiteren wurden diverse Varianten dieses
neuen Designs von verschiedenen Anbietern entwickelt (Avanta-
Prothese, Neuflex-Prothese, Ascension-Silikon-Prothese). Diese
neuen Designs zeigen alle eine weitgehend identische Form, die
sich von der alten Form der Swanson-Prothese folgenderma-
ßen unterscheidet: Im Gegensatz zur geraden Swanson-Prothese
sind diese Prothesen im Scharnier um ca. 30° vorgebogen, was
die Beugung im Gelenk erleichtern soll (⊡ Abb. 11.5). Weiter-
hin liegt das Scharnier palmar, was dem Rotationszentrum des
natürlichen Gelenks näher kommt und die Kraft der Strecker
gegenüber den Beugesehnen begünstigt. Zwischen Scharnier und
dem rechteckigen Schaft finden sich proximal und distal große
breite Abstützplatten, die ein »pistoning« der Prothese bei der
Bewegung reduzieren sollen. Zudem ist die Prothese durch den
breitflächigen Kontakt besser gegen scharfe Knochenkanten ge-
schützt. In verschiedenen klinischen Untersuchungen, die teil-
weise auch prospektiv und als Blindversuch durchgeführt wur-
den, finden sich jedoch nur geringgradige bis keine Unterschiede
zur Swanson-Prothese. In der Regel wird die Beugung des Fingers
mit dem neuen Design jedoch leicht verbessert. Schmerz, Kraft
und Zufriedenheit der Patienten zeigen dagegen keinen signi-
fikanten Unterschied zur Swanson-Prothese. Da mit den neuen
Designs bislang noch keine Langzeitergebnisse vorliegen, kann
über die bei der Swanson-Prothese beobachteten Komplikationen
⊡ Abb. 11.4 Gleiten der Prothese im Markkanal (»piston effect«). Bei der wie Bruch der Prothese, Sinterung, Osteolysen oder den wieder-
Fingerbeugung gleitet die Prothese nach distal, bei der Extension schiebt es kehrenden Ulnadrift der Finger bei der rheumatoiden Arthrits
das Implantat nach proximal noch keine sichere Aussage gemacht werden.
222 Kapitel 11 · Prinzipien der Arthroplastik im Fingerbereich
bis heute nur in wenigen Publikationen Erwähnung gefunden. Für Schiene) angepasst. Ziel dieser Schiene ist eine aktive Beugung
diesen Zugang ist eine komplette Durchtrennung mindestens eines in den Fingergelenken mit passiver Extension und Radialduk-
Seitenbandes nötig, weshalb er wahrscheinlich keine Vorteile ge- tion durch Gummizügel zum Schutz des rezentrierten Streck-
genüber dem dorsalen oder palmaren Zugang aufweist. apparates (⊡ Abb. 11.8). Diese Schiene wird am Tag während
6 Wochen durch den Patienten selbst angelegt und zur Nacht auf
Nachbehandlung nach Arthroplastik eine Fingerschiene in Extensionsstellung gewechselt. Diese wird
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk zusätzlich bis 3 Monate postoperativ getragen. Da das Anlegen
Die Nachbehandlung eines isolierten Gelenkersatzes im Falle einer der Schiene durch den Patienten selbst gelegentlich Probleme
Arthrose gestaltet sich in der Regel einfacher als bei der rheuma- bereiten kann, haben wir in Einzelfällen mit Erfolg auch primär
toiden Arthritis mit gleichzeitig vorliegender Luxation, Instabilität eine palmare Cock-up-Schiene mit Einschluss der MCP-Gelenke
und ulnarem Drift der Gelenke. angepasst (s. oben).
Beim Gelenkersatz eines isolierten Gelenks hat sich eine Obwohl in der Literatur auch über gute Resultate nach primä-
palmare Cock-up-Schiene mit Ausleger für das betroffene Grund- rer Immobilisation der Gelenke bis 4 Wochen berichtet wird, stre-
gelenk und dem ulnaren Nachbarstrahl bewährt (MCP-Schulthess- ben wir zur Verhinderung von Sehnenverklebungen die primäre
Splint). Durch Einschluss des Grundgelenks in 0°–10°-Extensions- Mobilisation mithilfe der oben beschriebenen dynamischen und
stellung kann die Naht des Streckapparates entlastet werden und statischen Schienen an.
umgehend in der Schiene die PIP- wie auch DIP- Gelenke aktiv
mobilisiert werden. So wird eine Verklebung des Sehnengleitgewe- Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk
bes verhindert. Nach 2–3 Wochen kann dann zusätzlich mehrmals Die postoperative Nachbehandlung sollte individuell angepasst
täglich aus der Schiene heraus auch das MCP-Gelenk aktiv und werden und richtet sich hauptsächlich nach dem gewählten Zu-
passiv mobilisiert werden. Pro Woche kann das aktive Bewegungs- gangsweg. Im Falle einer stabilen Refixation des Streckapparates
ausmaß um 20° gesteigert werden. Auf die Cock-up-Schiene wird beim dorsalen Zugang kann bedenkenlos in den ersten postopera-
nach 6 Wochen verzichtet, und eine Vollbelastung ist 8 Wochen tiven Tagen mit geschützten Beuge- und Streckübungen begonnen
postoperativ möglich (⊡ Abb. 11.7). werden. Im Falle einer zusätzlichen Korrektur einer Deformität
Bei der rheumatoiden Arthritis mit multiplem Ersatz der (Schwanenhals/Knopfloch) muss je nach Verfahren das postopera-
MCP-Gelenke wird nach einer ersten Phase der Abschwellung tive Protokoll angepasst werden.
und Immobilisation ca. 8–10 Tage postoperativ eine dynamische Der palmare Zugang erlaubt nach stabiler Refixation des Beu-
11 Extensionsschiene (Swanson-Schiene bzw. »reversed« Kleinert- gekanals eine relativ aggressive Rehabilitation. Dies ermöglicht
a a
b b
⊡ Abb. 11.7 Schulthess-Splint zur Nachbehandlung von isolierten MCP- ⊡ Abb. 11.8 Dynamische Extensionsschiene zur Nachbehandlung von MCP-
Arthroplastiken. Aktive Mobilisation der PIP-/DIP-Gelenke in extensionsnaher Arthroplastiken bei rheumatoider Arthritis. Durch die radiale Montage der
Lagerung der MCP-Gelenke zur Verhinderung von Strecksehnenadhäsionen Zügel kann der ulnare Drift ausgeglichen werden
11.1 · Allgemeines
225 11
ein frühfunktionelles Beüben der Beugung und Streckung in den Funktionelles Ergebnis und Revisionshäufigkeit hängen eng
ersten postoperativen Tagen. Zum Schutz sollte eine palmare La- mit dem Verlauf der Grunderkrankung zusammen. Mit Silikon-
gerungsschiene in Intrinsic-plus-Stellung für ca. 4–6 Wochen ge- implantaten entstehen Bindegewebsmembranen, welche an der
tragen werden. Aus dieser heraus müssen jedoch mehrmals täglich rheumatoiden Entzündungsaktivität teilhaben und erneuten Kno-
Bewegungsübungen durchgeführt werden, um eine postoperative chenverlust mit Rezidivdestruktion zur Folge haben können. Des-
Einsteifung durch Narbengewebe zu verhindern. Bei kooperativen halb kommt der Behandlung der Grunderkrankung entscheidende
Patienten kann eine frühfunktionelle Mobilisation im Zwillings- Bedeutung zu.
verband (8er-Schlinge) erlaubt werden. Da die Beugung an den Auch bei stabilen Arthrosen der MCP-Gelenke können güns-
ulnaren Strahlen von größerer Bedeutung ist als die Streckung, tige Langzeitergebnisse mit Silikonimplantaten erzielt werden.
sollte die Indikation zu Flexionszügeln großzügig gestellt werden. Oberflächenprothesen neuerer Bauart weisen vergleichbare Frü-
Um langfristig eine gute Stabilität beim Schlüssel- und Spitzgriff zu hergebnisse auf. Langfristig sind Variabilität der Ergebnisse und
erzielen, kann an den radialen Strahlen die Indikation zu länger- Revisionsrate für uns aber nach wie vor zu hoch, um von unserer
fristiger Immobilisation des PIP-Gelenks, z. B. in einer U-Schiene, bisherigen Implantatwahl abzuweichen.
in Erwägung gezogen werden. Im Zeitraum von 1998 bis 2008 wurden an unserer Klinik
Die Arthrose der Mittelgelenke (Bouchard-Arthrose) neigt in 580 MCP-Silikon-Arthroplastiken bei 169 Patienten durchgeführt.
ihrem Verlauf zur Einsteifung und in einzelnen Fällen zur voll- In der Mehrzahl waren dies Patienten mit einer rheumatoiden Ar-
ständigen knöchernen Ankylose in Streckstellung. Auch nach einer thritis, bei denen in der überwiegenden Zahl der Fälle ein multip-
Arthroplastik der PIP-Gelenke besteht im Langzeitverlauf eine ler Gelenkersatz zur Korrektur der Coupe-de-vent-Deformität nö-
Tendenz zur Streckkontraktur. Deshalb ist es sinnvoll, die Pati- tig war. Im gleichen Zeitraum musste dagegen nur bei 27 Patienten
enten auf diese Gefahr aufmerksam zu machen und sie zu einem eine Revision mit Implantatwechsel durchgeführt werden. In allen
langfristigen und regelmäßigen Übungsprogramm zur Verbesse- Fällen haben wir gebrochene Silikonprothesen entfernt und durch
rung und Erhaltung der Beugefähigkeit zu ermuntern. neue Silikonimplantate ersetzt (insgesamt 52 Silikonprothesen).
a b
11
der Hauptgrund für die große Streubreite der funktionellen Ergeb- 11.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
nisse mit solchen Gelenken. Der palmare Zugang eignet sich auch
zur Implantation von Oberflächenersatzprothesen und ermöglicht Die Behandlung von Zerstörungen der Fingergelenke im Wachs-
eine frühfunktionelle Rehabilitation, welche sich günstig auf die tum unterscheidet sich wesentlich von der Behandlung Erwachse-
Vorhersehbarkeit der Ergebnisse auswirken dürfte. ner. Im Vordergrund stehen bei Kindern eher posttraumtische Zu-
Im Zeitraum von 1998 bis 2008 habe wir bei 326 Patienten eine stände und weniger Destruktionen im Rahmen von entzündlichen
Silikonarthroplastik am PIP-Gelenk aufgrund einer degenerativen Gelenkerkrankungen wie z. B. die juvenile rheumatoide Arthritis
Gelenkzerstörung durchgeführt. Dabei wurden bei einem Drittel ( Abschn. 51.1.8). Durch den Einsatz von modernen Basisthera-
aller Patienten aufgrund der hohen primären Zufriedenheit im peutika können heute schwere Gelenkzerstörungen oft ausreichend
gleichen Zeitraum zusätzlich ein oder zwei Gelenke ersetzt. Somit hinausgezögert werden, wobei Langzeiterfahrungen gerade bei
wurden insgesamt 550 primäre PIP-Arthroplastiken an den Fin- Kindern und Jugendlichen noch ausstehen.
gern in 10 Jahren durchgeführt. Auch an diesen Gelenken stellt Posttraumatische Destruktionen von Fingergelenken sollten in
die Revisionschirurgie nur ein kleines Problem dar, denn nur bei jedem Fall individuell behandelt und der Grad der Behinderung
30 Patienten musste eine Revision mit Wechsel auf ein neues Im- berücksichtigt werden. Da das Remodelingpotenzial gerade im
plantat während des gleichen Zeitraumes durchgeführt werden. Wachstum nicht zu unterschätzen ist, sollte eine operative Therapie
Die Patientenzufriedenheit ist als sehr hoch einzustufen. kritisch beurteilt werden. Eine operative Behandlung sollte erst
11.2 · Spezielle Techniken
227 11
dann erfolgen, wenn an den radialen Strahlen eine schwere Instabi- durchgeführt werden. Beim gekreuzten Intrinsic-Transfer wird die
lität oder insgesamt eine vollständige Inkongruenz mit Einsteifung distal abgelöste ulnare Interosseussehne in den radialen Streckap-
der Gelenke vorliegt. Sollte eine operative Therapie bei vollstän- parat des benachbarten Fingerstrahles eingeflochten (Zancolli).
diger Gelenkdestruktion und funktioneller Behinderung nicht zu In mehreren Studien konnte jedoch der gekreuzte intrinsische
umgehen sein, sollten im Wachstumsalter eher rekonstruktive Ein- Transfer keine eigentlichen Vorteile gegenüber dem alleinigen
griffe oder komplexe mikrovaskuläre Rekonstruktionen (z. B. freier Release zeigen.
Gelenktransfer) zum Erhalt von Wachstumsfugen geplant werden Findet sich eine langjährige Deformität mit weitgehender Ein-
( Abschn. 10.2.3, Abschn. 10.2.4). steifung des Gelenks und somit sehr kontrakten Weichteilverhält-
nissen muss zusätzlich distal die palmare Platte an der Grund-
phalanx abgelöst werden. Dabei ist auf eine Schonung des Beuge-
11.2 Spezielle Techniken kanales zu achten. Nur ein ausreichendes Release der Weichteile
ermöglicht langfristig ein spannungsfreies Gleiten des Implantates
11.2.1 Technik des queren dorsalen Zugangs am und schafft damit auch die Voraussetzung für einen adäquaten
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk funktionellen Bewegungsumfang und verhindert ein frühzeitiges
Implantatversagen.
Beim Rheumatiker kann über einen dorsalen queren Zugang Nach Eröffnung des Markraumes und Präparation mit dem
knapp proximal der Metakarpaleköpfchen eine gute und ausrei- entsprechenden Instrumentarium kann nach der Probeprothese
chende Übersicht über alle vier Gelenke erzielt werden. Dabei die Originalprothese eingesetzt werden. Der Verschluss des Ge-
sollten die dorsalen Gefäßnervenbündel der Kommisuren ge- lenks und die abschließende Rezentrierung der Finger erfolgt dann
schont werden. Der Zugang zum Gelenk erfolgt durch eine radial- direkt über die Doppellungsnaht der Streckerhaube radialseitig
seitige Längsinzision der synovitisch ausgeweiteten Streckerhaube, (⊡ Abb. 11.11).
damit diese am Ende der Operation wieder durch eine geraffte
Doppelungsnaht zur Rezentrierung der Strecksehnen beitragen
kann. Da zur Korrektur einer Coupe-de-vent-Deformität prak- 11.2.2 Technik des longitudinalen dorsalen Zugangs
tisch immer ein »intrinsic release«, d. h. eine Durchtrennung der am Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk
ulnaren Interosseusinsertion, notwendig ist, um ein korrektes
Alignement des Fingerstrahles nach der Arthroplastik zu erzie- Im Fall einer isolierten primären oder sekundären Arthrose kann
len, wird die ulnare Interosseussehne vom Streckapparat längs auch eine Längsinzision direkt über dem betroffenen Gelenk
abgelöst und an den Fingerstrahlen III und IV distal durchtrennt. gewählt werden. Der Zugang durch den Streckapparat erfolgt
Am Kleinfinger erfolgt das gleiche Vorgehen mit der Insertion bei zentriertem Gelenk zentral durch die Strecksehne, die in
des Abductor digiti minimi. Der kurze Beuger ist zu schonen, um den meisten Fällen sorgfältig von der Gelenkkapsel abpräpariert
die Flexion im Kleinfingergrundgelenk nicht zu schwächen. Die werden kann. Die Kapsel kann dann ebenfalls längs eröffnet und
Interosseussehne strahlt auch in das ulnare Grundglied ein. Auch das Gelenk dargestellt werden. Nach Implantation der Prothese
diese Insertion ist zu durchtrennen, um die nach ulnar ziehenden wird dann die Gelenkkapsel und anschließend der Streckapparat
Kräfte zu verringern. vernäht. Wir verwenden hierfür resorbierbares monofiles Naht-
Am Zeigefingerstrahl muss die Interosseussehne lediglich längs material.
von der Streckerhaube getrennt werden, um die Strecksehne nach
radial rezentrieren zu können. Eine Durchtrennung würde eine
spätere Pronationsdeformität des Zeigefingers verursachen, welche 11.2.3 Technik des dorsalen Zugangs am
sich sehr nachteilig auf den Spitzgriff auswirken würde. proximalen Interphalangeal-(PIP-)Gelenk
Selten findet sich noch eine suffiziente Gelenkkapsel, weshalb
diese im Sinne einer ausgedehnten Synovektomie der Gelenke Verschiedene Techniken zur Darstellung des Gelenks wurden be-
reseziert werden kann. Nach Darstellung der Gelenke werden schrieben. Swanson wählte einen geraden Zugang mit Durchtren-
die Köpfchen der Metakarpalia knapp distal des Seitenbandur- nung des Streckapparates in der Mittellinie. Dieser Zugang macht
sprungs reseziert. In fortgeschrittenen Fällen mit vollständiger die Ablösung des zentralen Streckzügels an der dorsalen Mittel-
Destruktion und palmarer Luxation der Grundphalanx unter den gliedbasis mit entsprechenden Konsequenzen für die Nachbehand-
Metakarpalekopf muss sogar der gesamte Kopf reseziert werden, lung notwendig. Um diesen Nachteil zu vermeiden bevorzugen die
um die Grundphalanx wieder korrekt reponieren zu können. Autoren eine Methode, die bereits von Chamay 1988 beschrieben
Meist ist eine Resektion der Grundgliedbasis nicht notwendig, wurde. Hier wird ein V-förmiger Lappen des Streckapparates mit
um die Prothese distal verankern zu können. Bei fortgeschrittener der Basis distal präpariert. Hierdurch kann das Gelenk sehr gut
Destruktion und langjähriger palmarer Subluxation kommt es oft dargestellt werden und nach Refixation ergibt sich wieder eine sta-
zu ausgedehnten Defekten an der dorsalen Grundgliedbasis, wel- bile Nahtlinie, die eine frühfunktionelle Mobilisation des Gelenks
che eine Resektion palmar erfordern, um eine Auflagefläche und ermöglicht.
sichere Verankerungsmöglichkeit für das Implantat auch distal zu Nach Eröffnung des Gelenks wird der V-förmige Sehnen-
schaffen. lappen nach distal mobilisiert und das Gelenk dargestellt. Dann
Auf eine Schonung der Seitenbänder kann verzichtet werden, werden die Kollateralbänder proximal an ihrem Ursprung dorsal
da diese in fortgeschrittenen Fällen nur noch residuell vorhan- abgelöst, um das straffe Gelenk für eine gute Übersicht darstellen
den sind. Da die Stabilität der Gelenke in solch fortgeschrittenen zu können. Normalerweise liegt die Resektionslinie des Köpfchens
Fällen erheblich eingeschränkt ist, empfiehlt sich der Einsatz von der Grundphalanx auf der Höhe des Ursprungs der Kollateralbän-
Silikon-Spacern. Zusätzlich muss neben der knöchernen Korrek- der, wobei der palmare Hauptanteil dieser lateralen Stabilisatoren
tur auch eine Rezentrierung des nach ulnar luxierten Streckap- geschont werden muss. Die Basis der Mittelphalanx sollte eine
parates und auch ein intrinsisches Release wie oben beschrieben flache Oberfläche aufweisen und Osteophyten sollten vorsichtig
228 Kapitel 11 · Prinzipien der Arthroplastik im Fingerbereich
entfernt werden, um einerseits die Seitenbänder und andererseits Rahmen der Grunderkrankung insuffizient, so werden transossäre
die Insertion des Streckapparates zu erhalten (⊡ Abb. 11.12). Nähte vorgelegt, um nach Implantation der definitiven Prothese
Anschließend wird der Markraum mit entsprechenden Form- eine Reinsertion zu ermöglichen. Vor allem die radiale Seite sollte
raffeln bis zur gewünschten Implantatgröße präpariert. Ist die Größe dabei korrekt rekonstruiert werden, da das radiale Kollateralband
eines Implantates nicht ganz eindeutig zu bestimmen, sollte ein grö- beim Spitzgriff als Hauptstabilisator wirkt. Nach Einsetzen des
ßeres Implantat gewählt werden, um ein knöchernes Impingement definitiven Implantats werden die Seitenbänder refixiert und der
in Beugung zu verhindern. Sind die Seitenbänder zerstört bzw. im Strecksehnenlappen zweireihig mit fortlaufenden Nähten refixiert.
a d
11
b
a b c
a b c
⊡ Abb. 11.13 Palmarer Zugang zum PIP-Gelenk. a Winkelförmige Inzision nach Bruner mit Basis radialseitig, b Präparation auf den Beugekanal (das radiale
Gefäß-Nerven-Bündel verbleibt im Lappen; quere Inzision auf Höhe der C2-Fasern und Längsinzision des Beugekanals radial und ulnar), c Seitansicht auf den
Beugekanal mit Inzisionslinie (akkzessorisches Seitenband muss radial und ulnar durchtrennt werden), d Köpfchenresektion des Grundgliedes, e nach Aufbe-
reitung der Markräume von Grund- und Mittelglied Einbringen der Prothese und Kontrolle des Prothesensitzes (Rotationsstabilität), f nach Prothesenimplan-
tation Refixation und Naht des Beugekanals. (Aus Simmen 1993)
230 Kapitel 11 · Prinzipien der Arthroplastik im Fingerbereich
11.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen frühe Revisionseingriffe selten durchgeführt werden. Wie bereits
an anderer Stelle erwähnt sind Revisionseingriffe nach primärer
Die Arthroplastik der Fingergelenke unterliegt nur wenigen Gefah- Silikonarthroplastik auch im Langzeitverlauf selten. Obwohl der
ren und stellt daher auch ein Verfahren dar, welches ein geringes Prothesenbruch langfristig bei einer zunehmenden Insuffizienz
Komplikationsrisiko aufweist und bei entsprechender Aufklärung der stabilisierenden Weichteile zu einer Instabilität am entspre-
auch eine hohe Patientenzufriedenheit erwarten lässt. Unter Be- chenden Gelenk führen kann, muss der alleinige Prothesenbruch
rücksichtigung von verschiedenen Einflussgrößen auf das post- einer Silikonprothese nicht unbedingt eine operative Revision nach
operative Ergebnis kann dies in einem hohen Prozentsatz sehr gut sich ziehen. Brüche von Silikonprothesen sind aufgrund einer
vorhergesagt werden. An den PIP-Gelenken sollte der individuelle natürlichen Degradation des Materials über die Jahre häufig, aber
Schmerz im Vordergrund stehen und präoperativ die Beweglich- in den meisten Fällen asymptomatisch. Sollte ein Revisionseingriff
keit durch eine deutliche Einschränkung gekennzeichnet sein. Da aufgrund eines klinisch symptomatischen Versagens der Prothese
in der Regel die postoperative Beweglichkeit eine wesentliche nicht zu umgehen sein, so kann nach einer Silikonarthroplastik
Einschränkung zur gesunden Hand aufweist sollte jeder Patient ein erneutes Silikonimplantat eingesetzt werden. Die zusätzliche
darauf hingewiesen werden. Hinzukommt, dass das postoperative Behandlung der Weichteile richtet sich dann wie bei der primären
Bewegungsausmaß stark mit der individuellen Bereitschaft zu ei- Prothesenimplantation nach der entsprechenden Fehlstellung oder
ner aktiven Mobilisation und Mitarbeit des Patienten korreliert. Achsabweichung. Grundsätzlich sollte versucht werden über einen
Intraoperativ ist auf eine sorgfältige Präparation der einzelnen identischen Zugangsweg das Gelenk zu erreichen. Eine Implan-
Strukturen zu achten, sodass Verletzungen der Gefäß-Nerven-Bün- tation von Oberflächenprothesen, sog. Gleitprothesen, im Revi-
del, Beuge- oder Strecksehnen und Ligamente vermieden werden. sionsfall ist schwierig. Da der zur Verfügung stehende Knochen
Um eine massive postoperative Schwellung und Hämatombildung nach Prothesenimplantation sowohl gelenknah wie auch intrame-
zu vermeiden, die eine postoperative Mobilisierung des Gelenks dullär in der Regel nur eingeschränkte Qualität besitzt, ist ein sol-
beeinträchtigt, sollte auf eine sorgfältige Blutstillung geachtet wer- ches Prothesenmodell weniger geeignet. In Einzelfällen kann nach
den. Am PIP muss weiterhin berücksichtigt werden, dass die meist entsprechendem Knochenaufbau ein Oberflächenersatz diskutiert
palmar liegenden Osteophyten vollständig abgetragen werden, da werden. In der Regel kommt im Revisionsfall sowohl am PIP- wie
ansonsten ein ossäres Impingement das Bewegungsausmaß negativ auch am MCP-Gelenk eine Silikonprothese zum Einsatz.
beeinflusst. Der palmare Zugang hat hier sicher einen Vorteil, da
von dorsal die beugeseitigen Osteophyten schlechter einzusehen
11 sind. An den MCP-Gelenken stellt dies weniger ein Problem dar, da Weiterführende Literatur
palmar liegende Osteophyten seltener und aufgrund der geringeren
Weichteilspannung besser erreichbar sind. Beevers DJ, Seedhom BB (1995) Metacarpohalangeal joint prosthesis. A re-
view of the clinical results of past and current designs. J Hand Surg (Br),
> Ein weiterer intraoperativer Fehler ist ein Overstuffing des 20-B(2): 125–136
Resektionsspaltes durch eine zu sparsame Knochenresektion Bravo CJ, Rizzo M, Hormel KB, Beckenbaugh RD (2007) Pyrolytic carbon pro-
oder durch die Wahl eines zu großen Implantates. ximal interphalangeal joint arthroplasty: results with minimum two-year
follow-up evaluation. The J Hand Surg Am 32 (1): 1–11
Da durch postoperative Narbenbildung und Schrumpfung des Gewe- Chamay A (1988) A distally based dorsal triangular tendinous flap for direct ac-
bes die Elastizität des Kapselgewebes zusätzlich abnimmt, kann dies cess to the proximal interphalangeal joint. Ann Chi Main 1988: 7: 179–183
zu einer erheblichen Kompromittierung der Beweglichkeit führen. Chamay A, Meythiaz A-M (1995) Proximal interphalangeal joint replacement
Bei der rheumatoiden Arthritis ist an den MCP-Gelenken zusätzlich with Swanson implant or DJOA prosthesis: a comparative study. In:
auf ein sorgfältiges Weichteilrelease zu achten, da das postoperative Schuind F, An KN, eds. Recent Advances in Upper Extremity Arthroplasty.
Alignement vor allem durch die Rezentrierung der Weichteilstruktu- Work Scientific 1995: Brussels: 91–98
ren beeinflusst wird. So sollte ein intrinisches Release an den Strah- Chung KC, Burns PB, Wilgis EF, Burke FD, Regan M, Kim HM, Fox DA (2009)
A multicenter clinical trial in rheumatoid arthritis comparing silicone
len 3–5, wie auch ein ausreichendes palmares Release in jedem Fall
metacarpophalangeal joint arthroplasty with medical treatment. J Hand
die Arthoplastik mit einem Implantat begleiten. Werden die Regeln Surg Am, 34 (5): 815–823
der modernen Asepsis befolgt sind perioperative Infektionen selten. Condamine JL, Fourquet M, Marcucci L (1997) Primary and proximal inter-
Oberflächliche Wundinfektionen sollten jedoch ernst genommen phalangeal arthrosis of the hand. Indications and results of 27 DJOA
werden und frühzeitig einer resistenzgerechten antibiotischen The- arthroplasties. Ann Chir Main 16(1): 66–78
rapie zugeführt werden. Hämatogen bedingte Spätinfektionen nach Cook SD, Beckenbaugh RD, Redendo J, Popich LS, Klawitter JJ, Linscheid RL
Monaten oder Jahren, wie sie gelegentlich an den großen Gelenken (1999) Long-term follow up of pyrocarbon metacarpophalangeal im-
auftreten, sind noch seltener. Auch Prothesenluxationen sind selten plants. J Bone Joint Surg (Am)81A: 635–48
Daecke W, Veyel K, Wieloch P, Jung M, Lorenz H, Martini A-K(2006) Osseo-
und können durch radiologische Kontrollen ausgeschlossen werden.
integration and mechanical stability of pyrocarbon and titanium hand
Beim zementierten und zementfreien Oberflächenersatz sollte durch implants in a load-bearing in vivo model for small joint arthroplasty. J
regelmäßige radiologische Kontrollen eine Lockerung der Kompo- Hand Surg Am 31(1): 90–97
nenten ausgeschlossen werden. Da nicht alle Werkstoffe eine osteoin- Delaney R, Trail IA, Nutall D (2005) A comparative study of outcome between
tegrative Eigenschaft aufweisen, ist in Fällen mit guter Beweglichkeit the Neuflex and Swanson metacarpophalangeal joint replacements. J
ein erhebliches Stress-Shielding am Interface Implantat/Knochen zu Hand Surg (Br), 30(1): 3–7
erwarten und somit eine Lockerung mit Osteolysen wahrscheinlich. Escott BG, Ronald K, Judd M GP, Bogoch ER (2010) NeuFlex and Swanson me-
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Da Komplikationen bei der primären Prothesenimplantation so- view of the literature regarding long-term complications. J Hand Surg
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12
M. flexor carpi ulnaris 2,0 N. ulnaris M. abductor pollicis longus 0,4 R. profundus ni. radialis
M. flexor pollicis longus 1,2 N. medianus M. extensor pollicis longus 0,1 R. profundus ni. radialis
M. flexor carpi radialis 0,8 N. medianus M. extensor indicis 0,1 R. profundus ni. radialis
M. flexor carpi radialis 0,1 N. medianus
M. abductor pollicis longus 0,1 R. profundus ni. radialis
Sämtliche Radialabduktoren 2,1
(M. palmaris longus)
Sämtliche Volarbeuger 13,4
a 168°
d –27° 54°
+27°
168°
+27°
54°
–27°
f
⊡ Abb. 12.1 Muskuläre Stabilisierung des Handgelenks. a Flexion,
b Extension, c Ulnarduktion, d Radialduktion, e Pronation, f Supination.
(Lanz u. Wachsmuth 1959)
236 Kapitel 12 · Endoprothetik des Handgelenks
rechts und 96,7% links war nach 11–12 Jahren erreicht. Für ra- Die Prothesen für das Handgelenk waren im Wesentlichen den
diologische Symptome war sie geringer und betrug nach 2 Jahren Silikon-Fingerimplantaten nachempfunden und aus einem flexi-
43,7% rechts und 38,0% links mit einem maximalen Endpunkt blen Stück mit einem in der Mitte gelegenem Scharnier gefertigt.
von 88,7% rechts und 85,9% links nach etwa 15–16 Jahren. Die Ein Dacronkern sollte der in 5 Größen verfügbaren Prothese
Folgen der degenerativen Weichteilveränderungen sind eine Ver- eine zusätzliche axiale Stabilität und Torsionssteife vermitteln.
lagerung des Rotationszentrums und eine Fehlpositionierung der Der proximale Schaftanteil wurde in den Markraumkanal des
Sehnen mit sekundärer Verlagerung der Muskelkräfte. Weichteil- Radius, der distale durch das Kapitatum in den Schaft des Os
kontrakturen oder Ulnardeviationen sind deshalb nicht selten. metacarpale III eingebracht. Die Beweglichkeit wurde nicht nur
Mit Fortschreiten der Erkrankung tritt zusätzlich ein Verlust durch die Biegung im zentralen Scharniersegment allein, sondern
der Willkürmotorik der Handgelenkextensoren ein. Dies hat zur zu einem gewissen Grad auch durch ein Gleiten der Prothese im
Folge, dass die Patienten Gegenstände mit einem synergistischen proximalen und distalen Anteil, dem sog. Pistoning, erreicht.
Einsatz von Finger- und Handgelenkflexoren greifen. Eine Vor- Die Prothese agierte als Spacer zwischen dem Radius und den
dehnung der Fingerflexoren durch den Tenodeseeffekt, an dem verbliebenen Handwurzelknochen und diente als Support für die
die Handgelenkextensoren beteiligt sind und der Voraussetzung umgebende Kapsel. Das Grundprinzip der Silikonprothese war
für den kraftvollen Faustschluss ist, bleibt aus. Eine dynamische demnach, die Gelenkhöhe zu erhalten, während im Rahmen ei-
Imbalance zwischen Handgelenkextensoren und -flexoren auf- ner Fremdkörperreaktion auf das Material eine Fibrosierung der
grund attritiver und nutritiver Extensorenrupturen infolge einer Handgelenkkapsel (Enkapsulation) auftrat, die eine Sekundärsta-
Synovitis der dorsalen Strecksehnenkompartimente muss eben- bilität gewährleistete. Das ursprünglich verwendete Silikonmate-
falls angenommen werden. Das Resultat ist eine kritische Schwä- rial wurde im Jahre 1974 gegen ein High-Performance-Elastomer
chung des Extensorenapparates, die sekundär die Feinmotorik der ausgetauscht, zusätzlich wurden sog. Grommets entwickelt, die
Finger und den Kraftgriff beeinträchtigt und im Endstadium auch eine Arrosion des Implantates an den Knochenrändern verhin-
zu Flexionskontrakturen führen kann. dern sollten. Die frühen Resultate des Verfahrens waren zunächst
erfreulich und mit einer guten Schmerzreduktion und Hand-
Geschichte der Handgelenkprothetik gelenkbeweglichkeit verbunden, jedoch blieb sowohl der Erhalt
Im Jahre 1890 führte Themistocles Gluck die erste Prothesenim- der karpalen Höhe als auch die Handbalance unvorhersehbar.
plantation am Handgelenk mit einem Elfenbeinimplantat durch. Studien mit einem längeren Nachuntersuchungszeitraum zeig-
Seit dieser Zeit wurden unzählige Prothesenmodelle vorgestellt, die ten zusätzlich eine hohe Inzidenz von Implantatbrüchen mit bis
zwar häufig sehr gute Frühresultate zeigten, deren initiale Euphorie zu 52% innerhalb von 6 Jahren und Osteolysen aufgrund von
aber meist durch ernüchternde oder schlechte Spätresultate ge- Fremdkörperreaktionen im Verlauf von durchschnittlich 15 Jah-
12 schmälert wurde. Die heute verwendeten Prothesenmodelle profi- ren. Silikonsynovitiden stellten eine weitere Komplikation dar,
tieren von einem langjährigen Entwicklungsprozess und den damit die aber im Vergleich zu den Fingergelenken aus Silikon am
verbundenen klinischen Erfahrungen und Rückschlägen, aber auch Handgelenk deutlich seltener auftraten.
von mittlerweile gut dokumentierten kinematischen Studien.
Die im Verlauf dieser Zeit entwickelten Implantate lassen sich Prothesen der 2. Generation
grundlegend in drei Generationen einteilen, von denen hier die Im Gegensatz zu den Silikonprothesen wurden die Implantate
wichtigsten Modelle kurz erläutert werden sollen. der zweiten Generation grundsätzlich aus einem proximalen und
distalen Schaft mit einem zentralen Gelenkstück konstruiert. Mo-
Prothesen der 1. Generation delle hierfür waren vor allem die Volz-Prothese (AMC) und die
Dem maßgeblichen Einsatz Alfred B. Swansons ist es zu verdan- Meuli-Prothese, beide wurden nahezu zeitgleich in den 70er Jahren
ken, dass der erstmals 1967 von ihm vorgestellte Silikonspacer entwickelt. Die Prothesen der 2. Generation waren vor allem mit
im Jahre 1973 auch für den prothetischen Ersatz des Handge- Problemen der Balance behaftet, stellten aber aufgrund ihrer Ar-
lenks Verwendung fand. Die Silikonprothese (⊡ Abb. 12.2) stellte tikulationsfläche trotz der deutlich erschwerten Revisionssituation
damit die erste Prothesengeneration für das Handgelenk dar. eine Entwicklungsverbesserung zur Silikonprothese dar.
12
gung der metakarpalen Stifte konnten die Zentrierungsprobleme und Weichteilkontrakturen (12,1%). 75% der Revisionseingriffe
zwar vermindert werden, die Komplikationsraten blieben jedoch erfolgten in den ersten 3 Jahren mit einer steigenden kumulativen
hoch, es gelang nicht, das natürliche Rotationszentrum zu repli- Wahrscheinlichkeit für eine Revisionsoperation über die Zeit. Bei
zieren. Nach einer Lernkurve konnte die Revisionsrate reduziert distalen Lockerungen kam es häufig zu einer palmaren Dislokation
werden, in einer Untersuchung an 140 Meuli-Prothesen betrug der Pfannenkomponente, was beim Faustschluss zu einer Attri-
sie aber dennoch durchschnittlich 33%. Die häufigsten Gründe tion der Beugesehnen und konsekutiven Sehnenrupturen sowie zu
waren dabei Dislokationen (8,6%), Prothesenlockerungen (2,9%) Kompressionen des N. medianus führte.
12.1 · Allgemeines
239 12
Prothesen der 3. Generation Zunahme des Kraftarmes für die Handgelenkflexoren und ulnare De-
Alle Prothesen der 3. Generation verwendeten ein in zwei Ebe- viationen verhindern und somit die Weichteilbalance verbessern.
nen dezentriertes Design der Gelenkflächen. Hierzu gehören die
Trispherical-Prothese, die Universal-Prothese, die Biaxial-Prothese Biaxial-Prothese
und die MWP-III-Prothese, welche die 3. Generation der Meuli- Die Biaxial-Prothese (⊡ Abb. 12.7) wurde zwischen 1978 und 1982
Prothese darstellte. an der Mayo Clinic in Rochester entwickelt. Die distale Kom-
ponente bestand aus einem langen, porös beschichteten Schaft
Trispherical-Prothese und einem elliptisch geformten Kopf. Die tragende Polyethylen-
Die Trispherical-Prothese stellte ein teilgekoppeltes Implantat dar Gelenkfläche lag auf einer ebenfalls porös beschichteten radialen
und war eine neue Art des Pfannengelenks. Die Komponenten Komponente. Die ungekoppelte ellipsoide Artikulation war nach
bestanden aus Titan mit einer ultrahochmolekularen Polyethylen- ulnar und palmar versetzt.
oberfläche (UHMWPE). Die metakarpale Komponente besaß einen
größeren Schaft für die Fixation im Os metacarpale III und einen MWP-III-Prothese. Die 3. Generation der Meuli-Prothese (MWP III)
versetzten kleineren Schaft für den zweiten Mittelhandknochen und wurde 1986 auf den Markt gebracht. Die Prothese bestand aus einer
das Skaphoid; er sollte einer Torsion entgegenwirken. Das Polyethy- Titanlegierung mit einer aufgerauten Oberfläche, die sowohl für die
lenlager war in die metakarpale Komponente einpasst und sollte Zementierung als auch für den unzementierten Einsatz in Press-
eine Radial- und Ulnardeviation von 15°, eine Flexion von 90° und fit-Technik verwendet werden konnte. Die Verankerungsstifte der
eine Extension von 80° erlauben. Die radiale Komponente wurde karpalen Komponente waren 15° nach dorsal und zur medianen
zwar zentral in den Radius eingebracht, hatte aber einen versetzten Achse angewinkelt. Aufgrund signifikanter Lockerungen bei Patien-
Schaft, wodurch das Artikulationszentrum auf Höhe des Kapita- ten mit schlechten Knochenverhältnissen wurde eine Prothese mit
tumkopfes zu liegen kam. Ein palmarer Tilt von 12° gegenüber der zwei Stielen entwickelt. Die distale Komponente wurde dahingehend
radialen Komponente erzeugte einen palmaren Shift in der Rotati- modifiziert, dass ein längerer Schaft für das Metakarpale III und ein
onsachse und sollte damit den Kraftarm der Extensoren stärken. zusätzlicher Schaft für das Metakarpale II geschaffen wurde.
Unabhängig aller Resultate sind gewisse Trends für die unter-
Universal-Prothese schiedlichen Prothesen ersichtlich. Die Swanson-Prothese zeigte
Die Menon-Prothese, auch als Universal-Total-Wrist-Implantat be- Frakturen und Revisionsraten in jeder publizierten Studie. Eine
kannt, wurde 1980 entworfen und sollte, wie alle ihre Vorgänger exponentielle Erhöhung der Revisions- und Frakturrate trat nach
im Übrigen auch, die Schwächen früherer Prothesen beheben. Das durchschnittlich 55 Monaten, der Bruch der Prothese in nahezu
Implantat stellte ein ungekoppeltes Gelenk dar, bestehend aus einer allen Fällen an der Verbindung zwischen dem metakarpalen
radialen CoCr-Komponente und einer karpalen Titan-Komponente. Stamm und dem Scharniergelenk auf. Zusammenfassend zeigten
Die konkave Gelenkfläche des radialen Anteils hatte eine radiale In- die Silikonprothesen initial gute Resultate, die aber mit längerer
klination von 20° und war somit der ursprünglichen Gelenkfläche des Nachbeobachtungszeit nachließen. Bei den folgenden Prothesen-
Radius nachempfunden. Die Befestigungsmethode der distalen Kom- generationen wurden Implantatbrüche zwar nicht berichtet, jedoch
ponente war neu. Sie bestand aus einem kurzen zentralen Schaft, der traten gerade bei den Meuli-Prothesen hohe Revisionsraten auf.
ins Kapitatum eingebracht wurde und zwei langen Schrauben für den Sie lagen bei bis zu 30% und wurden mit einer fehlerhaften Posi-
radialen und ulnaren Support. Die Fixation wurde mit einer inter- tionierung in Verbindung gebracht. Auch die Volz-Prothese zeigte
karpalen Fusion kombiniert, die eine Sinterung verhindern und die immer wieder Dislokationen, obgleich hier alles in allem bessere
Langzeitresultate verbessern sollte. Die radiale Komponente wurde Resultate vorlagen. Die frühen Handgelenkimplantate waren par-
parallel zu der existierenden Gelenkfläche angesetzt. Dies sollte eine tiell gekoppelt und hatten Lager mit kleinen Gelenkflächen. Ihr
240 Kapitel 12 · Endoprothetik des Handgelenks
12.1.5 Klassifikation Kap. 10 > Das bisher nicht vollständig gelöste Problem bei der Endo-
prothetik des Handgelenkes ist immer noch die Lockerung
12.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie der distalen Komponente.
Ebenfalls kontraindiziert ist ein Handgelenkersatz bei Patienten mit
Die Indikationen für den bewegungserhaltenden Ersatz des Hand- chronisch rezidivierenden Infektionen, neurologischen Funktions-
gelenks entsprechen weitestgehend denen der Handgelenkverstei- störungen der Hand, Rupturen der radialen Handgelenkextensoren
fung und bestehen aus der Kombination von Handgelenkschmer- und unkooperative Persönlichkeitsstrukturen. Zurückhaltung in
zen und einer sekundären Handgelenkdestruktion, die durch be- der Indikationsstellung sollte auch bei Handgelenken mit multip-
12.1 · Allgemeines
241 12
⊡ Abb. 12.11 Operationstechnik. a Operativer Zugang durch eine gerade Hautinzision mit Eröffnung des Retinaculum
extensorums und der dorsalen Handgelenkkapsel sowie Resektion des Ulnaköpfchens, b Präparation der radialen Kompo-
nente durch Aufbringen einer Zielvorrichtung über einen zentriert eingesetzen Draht, c Einsetzen eines Führungsstabes
und Vorformen des Markraums mit einem Raspatorium, d Präparation der distalen Komponente durch Vorbohren des Ka-
pitatums über eine Zielvorrichtung, e Belassen der Sägevorrichtung nach Resektion der karpalen Ebene, f Aufbringen der
distalen Probekomponente und radiale Bohrung über die Zielvorrichtung, die dem Os metacarpale II aufgesetzt wird f
Verfahren eine Resektion nach Darrach oder eine Hemiresektionsar- Kurette oder einem Pfriem erweitert. Es folgt das Einbringen
throplastik erfolgen. Den gleichzeitigen Gelenkersatz des Ulnakopfes eines Führungsstabes in den Markkanal, über den zunächst eine
führen wir nicht durch, ist aber prinzipiell möglich. Führungsrinne, dann ein Resektionsblock aufgesetzt wird, der als
Das weitere Vorgehen unterscheidet sich je nach Verwendung Führung für die proximale Resektion dient (⊡ Abb. 12.11b). Der
des jeweiligen Prothesenmodells. Als Beispiel soll hier die Implan- Resektionsblock wird mit zwei oder drei Kirschner-Drähten fixiert,
tation einer Universal2-Prothese beschrieben werden: wofür drei Lochreihen, die jeweils 2 mm voneinander entfernt
Die Präparation der radialen Komponente beginnt mit einer sind, vorgegeben sind. Beim Besetzen der mittleren Reihe, kann
Anbohrung der distalen Radiusgelenkfläche. Hierzu wird mit ei- jeweils nach proximal oder distal korrigiert werden. Der Führungs-
ner Ahle ca. 5 mm unterhalb der dorsalen Radiuskante, direkt stab und die Führungsrinne werden nun entfernt und die Enden
radial des Lister-Tuberkels ein Loch gesetzt und dieses mit einer der Kirschner-Drähte über dem Resektionsblock gekürzt. Nach
244 Kapitel 12 · Endoprothetik des Handgelenks
nochmaliger Kontrolle der Position erfolgt nun die Resektion der Kirschner-Drähte erfolgt das Einsetzen der radialen Komponente,
Radiusgelenkfläche mit einer oszillierenden Säge. Die Zielinstru- zuletzt das Aufsetzen der Polyethylenkomponente, die unter Druck
mente werden entfernt und überschüssige Osteophyten reseziert. einschnappt. Nach Reposition wird abschließend nochmals die
Nach erneutem Einsetzen des Führungsstabes kann nun mit ei- Beweglichkeit und Stabilität überprüft.
nem Raspatorium der Markkanal vorgeformt (⊡ Abb. 12.11c) und Die Kapselreadaptation erfolgt mit langsam resorbierbarem
danach die radiale Probekomponente eingesetzt werden. Für die monofilen Nahtmaterial (z. B. PDS 4/0), gleiches mit dem Reti-
Entfernung steht ein spezieller Extraktor zur Verfügung. naculum extensorum nach Rückverlagerung der EPL-Sehne. Der
Die Präparation der karpalen Komponente beginnt mit der Wundverschluss wird mit lockeren Einzelknopfnähten erreicht.
Exzision des Lunatums. Über eine modulare Zielvorrichtung, de- Die Nachbehandlung erfolgt in Abhängigkeit von der intraope-
ren Bohrhülse gegen den Kapitatumkopf gedrückt und deren Sat- rativen Stabilität des Handgelenks und der Fixation der Prothesen-
tel auf das Metakarpale III aufgelegt wird, kann nun ein Draht komponenten. Bei subjektiv unauffälligen Stabilitätsverhältnissen
durch das Kapitatum in das 3. Metakarpale vorgeschoben werden kann nach einer kurzfristigen Immobilisation von 2–3 Wochen mit
(⊡ Abb. 12.11d). Nach Entfernung der Zielkomponenten wird der einer aktiv-assistiven Mobilisation aus der Schiene heraus begon-
Draht mit einem kanülierten Bohrer überbohrt. Auch hier wird nen werden. Bei eher instabilen Verhältnissen empfiehlt sich eine
ein Führungsstab und hierüber die karpale Schneidevorrichtung konsequente Immobilisation über den Zeitraum von 4–5 Wochen.
eingebracht. Sie wird so positioniert, dass die Schnittebene durch
den proximalen Millimeter des Hamatums, den Kapitatumkopf,
die Skaphoidtaille und durch die Mitte des Triquetrums verläuft. 12.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
Insbesondere bei instabilen knöchernen Verhältnissen müssen die
verbleibenden Karpalknochen durch Kirschner-Drähte miteinan- Gründe für ein Implantatversagen sind mannigfaltig und nicht sel-
der fixiert werden. Nun wird die metakarpale Sägevorrichtung mit ten eine Kombination aus mehreren Faktoren, bei denen auch das
Kirschner-Drähten gesichert und die Resektion der karpalen Ebene Fortschreiten der Erkrankung eine Rolle spielen kann. Die bei der
mittels oszillierenden Säge vorgenommen. Im Gegensatz zur Präpa- Implantation kritischen Punkte bestehen vor allem aus der Zent-
ration der radialen Komponente verbleibt die Sägevorrichtung zur rierung des Implantats, der Prothesenfixierung und der Weichteil-
Stabilisierung der weiteren Präparation (⊡ Abb. 12.11e). Nach Er- balance. Subjektive Parameter einer Handgelenkinstabilität sind
weiterung des Bohrloches im Kapitatum und Einsetzen der Probe- meist schwer als Implantatversagen zu interpretieren und können
komponente wird die modulare Bohrführung im radialen Loch der daher nicht zu den Hauptfaktoren gezählt werden.
Probekomponente platziert, der Sattel auf das zweite Metakarpale Implantatlockerungen stellen trotz neuer Entwicklungen im-
aufgelegt und ein Bohrloch durch Skaphoid, Trapeziodeum und mer noch das größte Problem nach endoprothetischer Versorgung
12 Os metakarpale II gesetzt (⊡ Abb. 12.11f). Als Hilfe dient dabei eine des Handgelenks dar. Hiervon ist vor allem die distale Komponente
Markierung. Da diese Bohrung normalerweise nicht senkrecht zur betroffen. Während die Komplikationen mit den ursprünglich ver-
karpalen Komponente verläuft, sind die Plattenbohrungen für Win- wendeten flexiblen Silikonimplantaten auf eine Silikonsynovitis
kelverschraubungen ausgelegt. Danach kann eine selbstschneidende zurückzuführen waren, stehen heute andere Ursachen im Vor-
Schraube eingebracht werden, die aber noch nicht festgezogen wer- dergrund. So ist die Implantatlockerung heute vor allem von der
den sollte. In gleicher Technik wird nun mit der ulnaren Bohrung Knochenqualität, dem Implantatdesign, der Ausrichtung des Im-
verfahren, die durch das Hamatum verläuft. Bei der Bohrung muss plantats beim Einbau und dessen Fixation im Knochen abhängig.
das Os metacarpale IV angehoben werden, um eine palmare Bohr- Ob der Polyethylenabrieb und die daraus resultierenden Partikel
richtung zu vermeiden, die eingebrachte Schraube darf das sehr die gleiche Bedeutung haben wie bei der Prothesenversorgung an
mobile Karpometakarpalgelenk nicht kreuzen. der unteren Extremität, ist nicht klar. Beobachtungen bei Revisi-
Nun wird die radiale Komponente erneut eingebracht und zu- onsoperationen lassen jedoch vermuten, dass die Veränderungen
sätzlich eine Probe-Polyethylengelenkfläche aufgesetzt, beginnend am Polyethylen eher sekundärer Natur sind und durch die Pro-
mit der Standarddicke. Das Handgelenk wird reponiert und das thesendislokation entstehen. Je nach grundlegender Erkrankung
Bewegungsausmaß und die Stabilität überprüft. Normalerweise kann deren Fortschreiten zu einer Verschiebung des verbliebenen
zeigt sich eine stabile Situation mit einem Bewegungsausmaß von Karpus und hierdurch zu Mikrobewegungen und Lockerungen an
je etwa 50–60° Extension und Flexion. Sollte die palmare Kapsel der Zement-Knochen-Verbindung führen. Auch repetitiver Stress
zu straff sein und die Extension einschränken, ist ggf. eine Nach- auf die Komponenten kann Mikrofrakturen in diesem Bereich
resektion des Radius notwendig, häufig sind hierfür nur wenige verursachen, deren Folge Resorptionszonen und Sinterungen sind.
Millimeter erforderlich. Im Falle einer starken präoperativen Fle- Kinematische Studien zur Restbeweglichkeit des verbliebenen Kar-
xionskontraktur ist für eine bessere Balance und Beweglichkeit des pus und der Karpometakarpalgelenke gaben daher Empfehlungen
Handgelenks ggf. eine Verlängerungstenotomie der Flexor-carpi- zu einer interkarpalen oder karpometakarpalen Fusion aus. Der
ulnaris-Sehne notwendig. Bei einer palmaren Instabilität erfolgt Nachweis einer Prothesenlockerung ist oft nicht leicht. Ein Kli-
eine Inspektion der palmaren Kapsel. Sollte sie abgesetzt sein, wird cken oder Schnappen kann zwar auf eine Subluxation oder ein
eine Readaptation an die Radiuskante durchgeführt. Bei intakter Impingement hindeuten, diese Zeichen sind aber bei der passiven
Kapsel kann die Spannung durch den Wechsel auf eine dickere Testung meist unauffällig und lediglich im aktiven Gebrauch der
Polyethylenkomponente verbessert werden. Zeigt die Testung le- Hand demonstrierbar. Gegebenenfalls sind spezielle Röntgenun-
diglich eine milde Instabilität, reicht der alleinige Kapselverschluss tersuchungen notwendig, um eine klinisch vermutete Lockerung
in der Regel aus, um das Problem zu beheben. der Prothese nachzuweisen. Neben einer CT-Untersuchung kann
Nach Entfernen der Probekomponenten werden drei hori- auch eine Szintigrafie gute Dienste erweisen. Auch spezielle semi-
zontale Matratzennähte durch die dorsale Radiuskante vorgelegt, dynamische CT-Untersuchungen, bei denen nacheinander zwei
um den späteren Kapselverschluss zu gewährleisten. Die karpale Scans unter fixierter Pro- und Supination angefertigt und mit einer
Platte wird nun auf den Impaktor gesetzt und distal eingebracht, Fusionssoftware übereinander abgebildet werden, wurden zu die-
danach mit beiden Schrauben befestigt. Nach Entfernung der sem Zweck beschrieben.
12.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
245 12
Verhältnismäßig häufig und klinisch eindeutiger zu diagnosti- Resektionsarthroplastiken, wie sie früher vorgeschlagen wurden,
zieren ist eine statische Deformität. Sie tritt in den meisten Fällen in kommen heutzutage in der Regel kaum mehr zur Anwendung.
Form einer Flexions- oder Deviationskontraktur auf. Die Zentrie- Eine der möglichen Therapieoptionen ist die Prothesenrevi-
rung der Prothese ist häufig der schwierigste Teil der Implantation, sion und Reimplantation. Handgelenkprothesen sind in der Regel
vor allem bei Patienten mit einer rheumatoiden Arthritis, deren von einer festen Bindegewebskapsel umgeben. Bei noch fest sit-
Knochenstruktur je nach Verlaufstyp mehr oder weniger verändert zenden Implantatanteilen kann es schwierig sein, die in der Regel
ist. Ein zusätzlicher karpaler Kollaps kann Muskelverkürzungen, zementierten Komponenten zu entfernen (⊡ Abb. 12.12). Durch
Sehnenrupturen, Weichteilkontrakturen und eine ulnare Fehlstel- sorgfältiges Lösen des Zementes vom Knochen wird versucht die
lung nach sich ziehen, was die Zentrierung zusätzlich erschwert. Implantatfixation so zu schwächen, dass ein Herauslösen des Im-
Bei diesen Patienten ist das Rotationszentrum des Handgelenks plantates samt Zementmantel möglich wird. Selten ist es notwen-
häufig versetzt, was eine sehr genaue Platzierung des Implantates dig, die Kortikalis zu spalten um sie dann vom Zementmantel zu
erfordert. Die Prothese sollte daher distal in einer Linie mit dem lösen. Löst sich der Schaft separat vom Zement, kann versucht
Os metacarpale III liegen, proximal mit dem ulnaren Rand des werden, den Zement mit einer hochtourigen Fräse herauszulösen.
Radius. Tendenziell ist eher ein distales, ulnares und palmares Ro- Hierbei wird der Zement bis zum Schmelzpunkt erhitzt, sukzessive
tationszentrum zu wählen. herausgeschliffen und die verbliebenen Reste dann herausgespült.
Protheseninfekte am Handgelenk sind selten und werden in der Falls eine erneute Implantation geplant ist, sollten sämtliche Ze-
Literatur mit 1–5% angegeben. Grundsätzlich ist das Management mentreste entfernt werden, da eine spätere Zement-Zement-Ver-
solcher Infekte mit Protheseninfekten anderer Lokalisationen ver- bindung wesentlich weniger stabil ist als eine Implantation in einen
gleichbar. Bei Frühinfekten, die rasch erkannt werden, können die wieder adäquat aufbereiteten Markraum. Im Falle eines vorher
Implantatkomponenten unter Umständen nach Debridement belas- verwendeten Silikonimplantates sollte das gesamte pseudomem-
sen werden. Bei modularen Prothesen kann es sinnvoll sein, das Po- branöse Material, das sich um den Schaft gebildet hat, debridiert
lyethlyen als größten Fremdkörper auszuwechseln. Bei aggressiveren werden. Eine der Revisionsstrategien ist hier das erneute Einbrin-
Infektionen ist es sinnvoll, die Prothese ganz auszubauen und das gen einer Swanson-Prothese, was angesichts der oft vorgefundenen
Handgelenk temporär mit einem Fixateur externe zu stabilisieren. Osteolysen eine mögliche und vor allem relativ einfache Revisions-
Je nach Verlauf und Gesamtsituation kann über diesen Fixateur eine möglichkeit darstellt.
Pseudoarthrosesituation im Sinne einer Resektionsarthroplastik er- Der zweithäufigste Grund einer Prothesenrevision ist die Dys-
reicht werden. Nach Abklingen des Infektes ist ein Wiedereinbau ei- balance des Handgelenks (⊡ Abb. 12.13). Dabei ist es bereits beim
ner Prothese zwar grundsätzlich denkbar, in den meisten Situationen Einbau der Prothese äußerst wichtig, die Weichteilbalance adäquat
allerdings nicht sinnvoll, da mit einer formellen Handgelenkarthro- herzustellen, was bereits beim Ersteingriff häufig entsprechende
dese funktionell befriedigende Resultate erreicht werden können. Sehnentransfers notwendig macht. Möglichkeiten der Stabilisie-
rung wurden bereits erwähnt und umfassen die Tenotomie des
Flexor carpi ulnaris (FCU), den FCU-Transfer, die Tenotomie der
12.3.1 Revisionseingriffe Palmaris-longus-Sehne und eine Schienentherapie. Bei modularen
Prothesen besteht zudem die Möglichkeit, die Spannungsverhält-
Treten klinisch relevante Komplikationen ein, bleiben in der Regel nisse der Weichteile am Handgelenk mit einem Wechsel der Poly-
drei Möglichkeiten der Therapie: ethylenkomponente zu verändern.
1. die Revision und Reimplantation einer neuen oder einer Revi- Hauptgründe für eine sekundäre Arthrodese des Handgelenks
sionsprothese, sind neben der Prothesenlockerung vor allem Infektionen und
2. eine Weichteilrekonstruktion oder chronische Instabilitäten (⊡ Abb. 12.14). Aufgrund der fehlenden
3. die Arthrodese des Handgelenks. Knochensubstanz erfordert sie in der Regel die Verwendung von
a a
12
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13
Die Diagnostik bzw. Dokumentation der Befunde ist nicht nur aus
juristischen Gründen notwendig.
Die Demonstration der Befunde mit einem Videoprinteraus-
druck ist für den Patienten von nicht zu unterschätzendem Wert.
Die Transparenz der ärztlichen Arbeit erhöht die Compliance und
die Motivation des Patienten. Auch die direkte Demonstration der
Befunde intraoperativ sind für den Patienten, der dies wünscht,
meist immer positiv besetzt. Neuerdings ist auch eine sofortige di-
gitale Speicherung der Bilder möglich. Zur standardisierten Doku-
mentation hat sich ein Handgelenkprotokoll (⊡ Abb. 13.2) bewährt.
Hier werden die wichtigsten Vorbefunde, die arthroskopischen
Befunde und die arthroskopische Therapie eingetragen und im
Krankenblatt abgeheftet.
Chronische Handgelenkbeschwerden
Chronische Handgelenkbeschwerden mit und ohne vorangegan-
genes Handgelenktrauma sind eine Indikation zur Arthroskopie.
Wegweisend sind eine genaue klinische Untersuchung (Watson-
Skaphoid-Test, lunotriquetraler Ballotement-Test, ulnokarpales
Impingement) und das MRT. In den meisten Fällen finden sich
Knorpelschäden, extrinsische und intrinsische Bandverletzungen
sowie TFCC-Verletzungen. Ein therapeutisches arthroskopisches
Vorgehen ist in den meisten Fällen möglich.
Neben den SL-Dissoziationen haben sich in den letzten Jahren
die Verletzungen des TFCC als Hauptindikationen zur Hand-
gelenkarthroskopie erwiesen. Meist kommen die Patienten erst
nach Monaten zur Arthroskopie; die primäre Diagnostik und
Therapie von TFCC-Läsionen bleibt der Ausnahmefall. Im eigenen
Krankengut hat sich durch die athroskopisch kontrollierte Frak-
turversorgung an Radius und Skaphoid die primäre Entdeckung
von TFCC-Läsionen vervielfacht. Die Arthroskopie ermöglicht
hier nicht nur die exakte Diagnose, sondern auch hervorragende
therapeutische Möglichkeiten, die der Meniskuschirurgie am Knie-
gelenk vergleichbar sind.
Die Indikation zur Arthroskopie des Mediokarpalgelenks be-
steht in Zweifelsfällen bei Verdacht auf SL- oder LT-Dissoziation
sowie bei Skaphoidfrakturen, außerdem bei unklaren chronischen
Handgelenkbeschwerden. Eine Arthroskopie des distalen Radioul-
nargelenks (DRUG) ist nur selten indiziert. Der radiologisch nicht
zu verifizierende Verdacht auf Arthrose oder Chondromalazie des
DRUG ist zu nennen.
13.1.7 Therapie
Anästhesie
⊡ Abb. 13.2 Dokumentationsbogen zur Handgelenkarthroskopie. (Schmit- Für die Handgelenkarthroskopie werden alle üblichen Narkosever-
Neuerburg et al. 2001) fahren eingesetzt. Die Intubationsnarkose empfiehlt sich für den
252 Kapitel 13 · Technik der Arthroskopie im Bereich der Hand
Instrumentarium
Die Handgelenkarthroskopie erfordert eine Reihe von Instrumen-
ten, die für andere Gelenke in dieser Form nicht notwendig sind,
ert daher einigen Investitionsbedarf. Eine 30°-Optik mit einem
Außendurchmesser von 2,4 mm hat sich bei uns bewährt. Andere
Autoren empfehlen 1,9- oder 2,7-mm-Optiken. Eine 1,9-mm-Op-
tik hat den Vorteil, dass damit auch kleinere Gelenke (Daumen-
sattelgelenk, Grundgelenke) arthroskopiert werden können. Der
Nachteil liegt in der Instabilität des Arthroskopschaftes, der leicht
zu knicken ist und daher eine hohe Schadenshäufigkeit hat. Der
13 2,4-mm-Schaft hat den Vorteil von größeren Bildern und einer ge-
ringen Schadenshäufigkeit, sodass sich in unseren Augen der 2,4- b
mm-Schaft bewährt. Der 2,4-mm-Schaft ist auch zur Arthroskopie
des Sattelgelenks geeignet. Zur Arthroskopie der Grundgelenke
sollte aber immer ein 1,9-mm-Schaft benutzt werden.
Ein der Optik angepasster Arthroskopschaft mit Anschluss
für die Spüllösung (NaCl) und Absaugung (Dreiwegehahn) sowie
stumpfem Trokar ergänzt das System (⊡ Abb. 13.3). Nötig ist ein
kompletter Arthroskopieturm (⊡ Abb. 13.4), wie er auch für andere
Gelenke gebräuchlich ist, mit Kamera, Kaltlichtquelle, Monitor,
Videoprinter und Shaversystem. Ideal ist ein wie in der Abbildung
dargestellt vollständig digitales integriertes Bildverarbeitungssys-
tem, das die Foto- und Videodokumentation online zum Klinik-
managementsystem erlaubt und Live-Übertragungen von Operati-
onen ermöglicht. Zusätzlich sollte für die Handgelenkarthroskopie
eine Roller-Pumpe vorhanden sein, damit durch konstanten Druck
eine Aufweitung des engen Gelenkspalts erfolgen kann. Der Spül- c
druck sollte dabei im Regelfall nicht über 130 mmHg liegen, da
es sonst zu einer massiven Einschwemmung der Spüllösung ins ⊡ Abb. 13.3 Instrumententisch. a Arthroskop mit Zubehör, b mechanische
Gewebe kommen kann. Instrumente, c Shaversystem. (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Zum Absaugen empfiehlt sich entweder eine separat ins Gelenk
eingebrachte Kanüle (vor allem bei frischen Verletzungen besser für
die Sichtverhältnisse), die an ein Absauggerät angeschlossen wird ponente erwiesen, es gehört zur Grundausstattung. Ohne Anwen-
oder die Verwendung eines Dreiwegehahns (⊡ Abb. 13.3a) am Ar- dung eines Shavers sind oft die Sichtverhältnisse so schlecht, dass
throskopschaft zum intermittierenden Spülen/Absaugen während eine normale Anatomie nicht darstellbar ist. Wichtig sind verschie-
der Arthroskopie. Bei Verwendung eines Shavers (⊡ Abb. 13.3c) dene Aufsätze wie Weichteilresektoren (»full radius«, »aggressive cut-
wird am Shaver die Absaugvorrichtung angeschlossen. ter«), Fräser (»abrader«) zur Bearbeitung von Knorpel und Knochen.
Zur arthroskopischen Chirurgie empfehlen sich außer einem Zusätzliche technisch aufwendige Geräte wie Hochfrequenzchirur-
Tasthaken noch weitere mechanische Miniinstrumente ( Übersicht giegerät oder Lasergeräte sind sicherlich hilfreich und praktisch, nach
und ⊡ Abb. 13.3b). Das Shaversystem hat sich als unabdingbare Kom- unserer Erfahrung allerdings nicht unbedingt notwendig.
13.1 · Allgemeines
253 13
a b
Zugangswege
Radiokarpalgelenk
Die Zugänge für die Standardarthroskopie am Handgelenk befin-
den sich alle dorsal (⊡ Abb. 13.7).
Sie werden nach den Strecksehnenfächern benannt. Für den
Ungeübten hat es sich als nützlich erwiesen, die Lage der Streck-
sehnenfächer sowie von verschiedenen Landmarken (Tuberculum
Lister, Ulnakopf) vor Beginn der Arthroskopie auf der Haut zu
markieren (⊡ Abb. 13.8). Ebenso ist zu empfehlen, dass der Unge-
übte bei den ersten Handgelenkarthroskopien die Punktion der ⊡ Abb. 13.8 Punktion des Radiokarpalgelenks über das 3/4-Portal. (Schmit-
Gelenke unter Bildverstärkerkontrolle vornimmt, da so größerer Neuerburg et al. 2001)
Schaden vermieden wird.
Der erste Zugang zum Radiokarpalgelenk erfolgt über das
3/4-Portal, das zwischen dem 3. und dem 4. Strecksehnenfach auf Nun wird Spülflüssigkeit ins Gelenk instilliert. Besteht keine
Höhe des Gelenkspalts liegt. Das 3/4-Portal lässt sich als Vertiefung karpale Instabilität und keine artikuläre distale Radiusfraktur, so
ca. 1 cm distal des Tuberculum Lister tasten. Mit einer mit Spül- spürt man nach 3–5 ml einen Widerstand. Das Gelenk ist mit
flüssigkeit gefüllten Spritze wird das Radiokarpalgelenk punktiert Spülflüssigkeit aufgefüllt. Bei karpaler Instabilität besteht eine
(⊡ Abb. 13.8). Dabei ist auf die Inklination der Gelenkflächen zu Kommunikation zwischen Radiokarpalgelenk und Mediokarpal-
achten (⊡ Abb. 13.9). gelenk, sodass eine größere Menge Spülflüssigkeit ins Gelenk ein-
13.1 · Allgemeines
255 13
⊡ Abb. 13.9 Richtige Neigungswinkel zur Punktion des Radiokarpal- und ⊡ Abb. 13.11 Stumpfe Präparation mit feiner Schere bis ins Gelenk. (Schmit-
des Mediokarpalgelenks. (Schmit-Neuerburg et al. 2001) Neuerburg et al. 2001)
⊡ Abb. 13.10 Positiver 2-Kanülen-Test bei distaler Radiusfraktur mit SL- ⊡ Abb. 13.12 Einbringen des Arthroskopschaftes mit stumpfem Trokar.
Dissoziation. (Schmit-Neuerburg et al. 2001) (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
gebracht werden kann. Dies kann gleich diagnostisch genützt verhältnissen bringen wir die Absaugung oder die Spülung über
werden, indem man bei in beiden Gelenken liegenden Kanülen eine Kanüle durch das 6-U-Portal an. Damit ist eine kontinuierli-
durch eine der beiden Kanülen Flüssigkeit instilliert (2-Kanülen- che Spülung/Absaugung möglich.
Test). Bei SL-Dissoziation fließt die Flüssigkeit durch die 2. Kanüle Die Anlage der weiteren Zugänge erfolgt auf die gleiche Weise.
ab (⊡ Abb. 13.10). Bei karpaler Stabilität (intaktes SL- und LT-Band) Zur Vereinfachung kann die Punktion des Gelenks und das wei-
ist dies nicht möglich. tere Vorgehen unter arthroskopischer Sicht (zuerst Kanüle, dann
Nach Entfernen der Kanüle aus dem ¾-Portal wird eine ca. Inzision und Instrument) durchgeführt werden, was eine optimale
2–3 mm große Stichinzision der Haut mit spitzem Skalpell durch- Lage der Zugänge begünstigt. Als 2. Standardzugang hat sich der
geführt. Die Skalpellklinge wird mit der schneidenden Seite nach 4/5-Zugang bewährt; über diesen Zugang wird der Tasthaken
distal gehalten und die Haut leicht angehoben. Dadurch wird die eingeführt. Durch Wechseln der Optik in den 4/5-Zugang und des
Wahrscheinlichkeit der Nervenverletzung minimiert. Anschlie- Tasthakens in den 3/4-Zugang kann das ganze Gelenk eingesehen
ßend wird mit einer feinen stumpfen Schere (⊡ Abb. 13.11) oder und beurteilt werden. Der Wechsel wird erleichtert, indem man
einer feinen Klemme eine stumpfe Präparation bis in das Gelenk einfach den Arthroskopschaft über den im 4/5-Zugang befind-
durchgeführt. Beim Spreizen der Schere tritt jetzt Spülflüssigkeit lichen Taststab schiebt, sodass man nicht erneut den stumpfen
aus dem Gelenk aus. Trokar zu Hilfe nehmen muss.
Dann wird der Arthroskopschaft mit dem stumpfen Trokar Bei arthroskopischen Operationen am TFCC hat sich zusätz-
ins Gelenk eingebracht (⊡ Abb. 13.12). Nach Entfernen des Tro- lich der 6-R- und in seltenen Fällen der 6-U-Zugang als günstig
kars und Einführen der Optik sowie Anschluss von Lichtquelle, erwiesen.
Spülflüssigkeit und Absaugung kann die Arthroskopie beginnen
(⊡ Abb. 13.13). Aus unserer Erfahrung hat sich der Anschluss von ! Cave
Spülflüssigkeit und Absaugung über einen Dreiwegehahn zum in- Durch die Gefährdung des oberflächlichen Astes des N. ulna-
termittierenden Spülen/Absaugen bewährt. Bei schwierigen Sicht- ris ist der 6-U-Zugang nur für Ausnahmefälle zu empfehlen.
256 Kapitel 13 · Technik der Arthroskopie im Bereich der Hand
Grundgelenke
Zur nur selten indizierten (z. B. Synovektomie) Arthroskopie der
Fingergrundgelenke haben sich dorsal gelegene Portale bewährt,
die seitlich neben den Strecksehnen gelegen sind. Hierzu ist unbe-
dingt ein kleines Arthroskop (1,9 mm oder kleiner) notwendig, da
mit größeren Arthroskopen diese Gelenke nicht penetrierbar sind.
⊡ Abb. 13.14 Intakte Ligg. radioscaphocapitatum (RSC) und radiolunotriquet- ⊡ Abb. 13.16 Trampolineffekt bei intaktem Discus articularis (L Lunatum,
rum (RLT) bei C3-Radiusfraktur (S Skaphoid, R Radius. (Schmit-Neuerburg et D Diskus). (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
al. 2001)
Distales Radioulnargelenk
Im distalen Radioulnargelenk wird die Knorpelbeschaffenheit des
Ulnaköpfchens sowie die proximale Oberfläche des Discus articu-
laris beurteilt. Bei zentraler Perforation des Diskus gelingt dies auch
durch das 4/5-Portal, sonst durch das DRUG-Portal (⊡ Abb. 13.7).
13.2.1 Synovia
⊡ Abb. 13.17 Dorsoulnare hyperämische Synovitis (Sy Synovitis, L Lunatum). ⊡ Abb. 13.18 Typ-I-Knorpelschaden bei fehlendem radiologischem Fraktur-
(Schmit-Neuerburg et al. 2001) nachweis (R Radius, K Knorpelschaden). (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Eine lokale Synovitis muss von einer generalisierten Synovitis Typen 1–4 sind traumatische Läsionen, die oft bei Arthroskopien
unterschieden werden. Lokale Synovialitiden sind meist Ausdruck von Radiusfrakturen als Begleitverletzungen zu finden sind. Die
von TFCC-Verletzungen, extrinsischen und intrinsischen Band- Typen 5–6 sind degenerative Läsionen.
verletzungen, lokalisierten degenerativen Veränderungen (SLAC- Zur Behandlung von Knorpelschäden kommen die am Knie-
[»scapholunate advanced collapse«-]Wrist) oder fehlverheilten Ra- gelenk bewährten Techniken in Frage. Typ-1- und Typ-2-Läsionen
diusfrakturen. Lokale Synoviahypertrophien können zu Einklem- werden belassen. Bei Typ-3-, Typ-4-, Typ-5- und Typ-6-Läsionen
mungserscheinungen führen, die durch Resektion behandelbar werden instabile Knorpelareale entfernt. Bei Typ-4-, Typ-5- und
13 sind. Generalisierte Synovialitiden sind meist Ausdruck schwerer Typ-6-Läsionen kommen Verfahren zur Knorpelinduktion in
degenerativer Veränderungen (Radiokarpalarthrose) oder rheu- Frage. Hier stehen 3 Verfahren zur Auswahl, deren Wertigkeit am
matischer Erkrankungen. Unbedingt muss nach den ursächlichen Handgelenk noch nicht aussagekräftig untersucht wurde. Sowohl
Faktoren der Synovitis geforscht werden, da diese in erster Linie die Pridie-Bohrung als auch die subchondrale Abrasionschon-
behandelt werden müssen. droplastik nach Johnson und die Microfracture-Technik lassen
Schon zur diagnostischen Arthroskopie sind häufig partielle sich gut arthroskopisch durchführen. In unserer Erfahrung haben
Synovektomien notwendig. Therapeutisch können partielle und sich die subchondrale Abrasionschondroplastik nach Johnson und
totale Synovektomien arthroskopisch im Radiokarpalgelenk durch- die Microfracture-Technik bewährt, die in vielen Fällen gute Er-
geführt werden. Im Gegensatz zur offenen Synovektomie besteht gebnisse brachten. Allgemeine Empfehlungen lassen sich daraus
eine bessere Übersichtlichkeit, alle Recessus können arthrosko- und aus der Literatur nicht ableiten. Andere Verfahren wie Chon-
pisch erreicht werden. Die minimalinvasive Vorgehensweise er- drozytentransplantation oder osteochondrale Transplantation sind
laubt eine schnellere Rehabilitation des Patienten. Diese Tatsachen am Handgelenk bis jetzt nicht üblich und arthroskopisch nicht
begründen die Überlegenheit der Arthroskopie bei Synoviaopera- durchführbar.
tionen im Handgelenk. Die Grenzen der Knorpelbehandlung sind im Radiokarpalge-
lenk in bestehenden Instabilitäten (SL-Dissoziationen, SLAC- oder
> Partielle und totale Synovektomien am Handgelenk sind eine
SNAC-Wrist) oder Deformitäten (Ulna-Impaction-Syndrom, Lu-
Domäne der arthroskopischen Chirurgie und dem offenen
natummalazie) zu sehen. Hier ist eine alleinige Knorpelbehand-
Vorgehen vorzuziehen.
lung nicht sinnvoll, allenfalls in Kombination mit weitergehenden
operativen Maßnahmen, die die Grundkrankheit kausal angehen.
Freie Knorpelfragmente im Handgelenk sind selten und kön-
13.2.2 Knorpelpathologie nen sehr gut arthroskopisch entfernt werden.
⊡ Abb. 13.19 Einteilung der Knorpelschäden nach Bauer und Jackson. (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
der arthroskopisch dargestellt werden, zum anderen fehlt auch später im mediokarpalen Gelenk. Dieser sog. SLAC-Wrist läuft in
der Beweis einer resultierenden Instabilität nach isolierten Verlet- charakteristischer Weise ab:
zungen der extrinsischen Bänder. Nur die Kombination von ex- ▬ Im 1. Stadium kommt es zur Arthrose zwischen Processus sty-
trinsischer und intrinsischer Verletzung führt zur Instabilität. Bei loideus radii und distalem Skaphoid.
der Arthroskopie von chronischen Handgelenkbeschwerden sehen ▬ Im 2. Stadium hat die arthrotische Veränderung das gesamte
wir häufig ins Gelenk eingeschlagene Bandreste, die zu Einklem- radioskaphoidale Gelenk erfasst.
mungserscheinungen führen. Am häufigsten betroffen ist das Lig. ▬ Im 3. Stadium wird auch das kapitolunäre Gelenk von den ar-
radioscapholunatum (Testut) sowie die zum TFCC gehörenden ul- throtischen Veränderungen betroffen.
nokarpalen Bänder (UL und UT) und das Meniskoid. Die arthro-
skopische Resektion dieser Bandreste mit partieller Synovektomie Die Arthroskopie wird allgemein als Goldstandard der Diagnostik
führt meist zur Symptomfreiheit. Deswegen führen wir auch bei der karpalen Instabilitäten anerkannt. Weder Arthrografie noch
frischen Radiusfrakturen ein arthroskopisches Débridement von MRT sind der Arthroskopie ebenbürtig. Die MR-Arthrografie als
eingeschlagenen Band- und Synovialstrukturen durch. neueres Verfahren scheint wesentlich genauere Aussagen zu er-
lauben als MRT oder Arthrografie alleine. Neuere 3-Tesla-MRT
können sicher die MRT-Diagnostik verbessern, neuere Studien ha-
13.2.4 Intrinsische Bandverletzungen und karpale ben dies gezeigt. Die Arthroskopie hat den Vorteil, dass außer der
Instabilitäten direkten Visualisierung der Läsion (⊡ Abb. 13.20) dynamische Tests
durchgeführt werden können. Die direkte Untersuchung mit dem
Unter dem intrinsischen Bandsystem versteht man die Bänder, die Tasthaken ist essenziell (⊡ Abb. 13.21). So können partielle intrinsi-
die Handwurzelknochen untereinander verbinden. Am häufigsten sche Rupturen ohne dynamische Instabilität gefunden werden.
ist eine Verletzung des skapholunären intrinsischen Bandes. Diese Lässt sich der Tasthaken durch ein zunächst homogen erschei-
führt unbehandelt zur skapholunären Dissoziation mit dynami- nendes SL-Band in den Gelenkspalt einbringen und können die
scher und im weiteren Verlauf statischer Instabilität mit typischer beiden Knochen voneinander distanziert werden, dann ist eine dy-
DISI-Fehlstellung (»dorsiflexed-intercalated-segment-instability«) namische SL-Dissoziation erwiesen. Ein zusätzlicher dynamischer
der 1. karpalen Reihe. Das Skaphoid folgt seiner natürlichen Be- Test vom mediokarpalen Gelenk mit dem Tasthaken ist oft aussage-
wegungstendenz nach Ruptur der skapholunären Verbindung und kräftiger als der Test von radiokarpal. Ein weiterer dynamischer Test
macht eine Palmarflexion durch, das Lunatum geht in Dorsalfle- kann durch Manipulation von außen durchgeführt werden. Manuelle
xion. Die karpalen Winkel verändern sich in charakteristischer Distraktion am Daumen oder Druck von palmar auf das Tuberculum
Weise, der wichtige skapholunäre Winkel wird >60°. Besteht die scaphoideum können eine dynamische Instabilität beweisen. Bei sta-
DISI-Fehlstellung über mehrere Jahre, so kommt es durch die un- tischer Instabilität kann von radiokarpal oft durch den weit offenen
physiologische Belastung zu einer Arthrose im Radiokarpal- und SL-Spalt direkt auf das Os capitatum geblickt werden (⊡ Abb. 13.22).
260 Kapitel 13 · Technik der Arthroskopie im Bereich der Hand
13
d
b
⊡ Abb. 13.25 Arthroskopische Therapie der Typ 1B-Verletzung. a Typ-1B-Verletzung (D Discus, U Ulna), b Schema der Outside-inside-Naht der 1B-Verletzung
in der 2-Nadel-Technik, c Verknoten des Fadens am Boden des 6. Strecksehnenfachs, d arthroskopischer Endbefund. (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Schmerz ausgelöst werden, wenn man die leicht dorsal flektierte muss der Discus articularis refixiert werden. Die »Outside-inside«-
und ulnarduzierte Hand mit axialem Druck pro- und supiniert. Technik nach Stanley u. Saffar (1994) mit 2 Kanülen (ein Faden
Die Untersuchung des Diskus mit dem Tasthaken führt schnell zur wird direkt und ein Faden in Form einer Schlinge durch die Kanüle
Diagnose. Instabile Anteile des Diskus werden mit einem Punch gelegt – zum Ausziehen des 1. Fadens) ist wohl am gebräuchlichs-
und dem Shaver reseziert (⊡ Abb. 13.24). Eine Ruhigstellung des ten. Anschließend wird der Faden (PDS 3/0) in der Regel am Boden
Handgelenks postoperativ erfolgt nicht. des 6. Strecksehnenfachs verknotet, das über eine kleine Inzision
exploriert wird (⊡ Abb. 13.25). Damit wird eine Vernähung mit der
Typ-1B-Verletzung Extensor-carpi-radialis-Sehne vermieden. Bei Abrissfrakturen des
Die 1B-Verletzung ist der ulnarseitige Abriss des Diskus, der meist Processus styloideus ulnae ist es auch möglich, einen Faden palmar
dorsoulnar gelegen ist (⊡ Abb. 13.25, ⊡ Abb. 13.26). Die Häufigkeit und einen Faden dorsal des Processus auszuleiten und den Pro-
wird von Preißler u. Feldkamp (1996) mit 46% angegeben. Er kann cessus so zu fixieren. Aber auch Inside-outside-Techniken sind in
mit einer Fraktur des Processus styloideus ulnae im Sinne eines der Literatur beschrieben. Ideal wäre wie im Kniegelenk eine »All-
knöchernen Ausrisses kombiniert sein. Klinisch zeigt sich eine inside«-Technik zur Refixation. Eine All-inside-Technik wurde von
Druckempfindlichkeit im Bereich des Processus styloideus ulnae. uns entwickelt, die jedoch wegen der fehlenden speziell der Größe
Die arthroskopische Diagnose ist mitunter erschwert. Nicht vorhan- des Handgelenks angepassten Implantate nicht durchsetzungsfähig
dene Spannung des Diskus beim Trampolineffekt ist wegweisend. war. Neuerdings wird von Poehling eine All-inside-Technik auf den
Das Arthroskop sollte ins 4/5-Portal umgesetzt werden und der Markt gebracht, die mit kleineren Implantaten bestückt ist und hier
Tasthaken vom 6-R- oder 6-U-Portal eingeführt werden. Lässt sich sicher besser durchsetzungsfähig ist.
der Discus articularis von seiner dorsoulnaren Fixation entfernen Die Nachbehandlung besteht in der Ruhigstellung im Ober-
und wird der Blick auf das Ulnaköpfchen frei (⊡ Abb. 13.26a), ist armcast in Supinationsstellung zur Entlastung der dorsalen Dis-
die Diagnose klar. In vielen Fällen ist der Befund nicht so eindeutig kusanteile mit dem Lig. radioulnare dorsale und der Naht für
und erfordert dann eine subtile Stabilitätsprüfung. Therapeutisch 4–6 Wochen.
13.2 · Spezielle Techniken
263 13
Typ-1C-Verletzung
Die 1C-Verletzung stellt einen Abriss der ulnokarpalen Ligamente
(UT und UL) vom Karpus dar (⊡ Abb. 13.23). Die Häufigkeit wird
von Preißler und Feldkamp (1996) mit 26% angegeben. Klinisch
zeigt sich ein Druckschmerz über der palmaren Seite der distalen
Ulna und dem ulnaren Karpus. Therapeutisch wird ein arthrosko-
pisches Débridement mit dem Shaver durchgeführt. Eine Ruhig-
stellung ist nicht notwendig.
Typ-1D-Verletzung
Die 1D-Verletzung ist der Abriss des Diskus von seinem radialen
Ansatz in der Sigmoid Notch. Die Häufigkeit wird von Preißler
u. Feldkamp (1996) mit 34% angegeben. Klinisch zeigt sich ein
Schmerz bei dorsopalmarer Bewegung der distalen Elle sowie bei
axialem Druck auf das Handgelenk bei Dorsalflexion und Ulnar-
duktion. Lange Zeit galt der radiale Abriss des Diskus als nicht für ⊡ Abb. 13.26 T-Fix-System zur radialseitigen Refixierung des Diskus.
eine Rekonstruktion geeignet. Untersuchungen haben aber gezeigt, (Schmit-Neuerburg et al. 2001)
dass auch im radialen Teil des Diskus kleine Gefäßnetze bestehen,
sodass eine transossäre Refixation sinnvoll ist.
Technisch gut durchführbar und ohne zusätzliches Instrumen-
tarium kostengünstig ist die Methode nach Fellinger. Diese Methode
hat sich auch im eigenen Krankengut bewährt. Unter arthroskopi-
scher und BV-Kontrolle wird ein K-Draht von der Sigmoid Notch
durch den Radius schräg retrograd eingebracht. Dann wird mit dem
kanülierten Bohrer antegrad auf 2,5 mm aufgebohrt. Ein T-Anker-
System, das von der Meniskuschirurgie bekannt ist, wird dann von
antegrad durch das Bohrloch eingeführt, der Diskus mit der Nadel
aufgespießt und der T-Anker entfaltet und zurückgezogen. Über ein
zweites Bohrloch (eigene Technik) kann dann der Faden am proxima-
len Radius radialseits gespannt und geknotet werden (⊡ Abb. 13.26).
Postoperativ führen wir eine Ruhigstellung für 6 Wochen im Ober-
armcast in Neutralstellung (0°-Supination/Pronation) durch.
13.3 Fehler und Gefahren Poehling GC, Siegel DB, Koman LA, Chabon SJ (1993) Arthroscopy of the
wrist and elbow. In: Green DP (Hrsg) Operative hand surgery, vol. 1, 3rd
edn. Churchill Livingstone, New York, S 189–214
Viele verschiedene Komplikationen sind bei der Handgelenkar-
Preißler P, Feldkamp G (1996) Das arthroskopische Erscheinungsbild ulnarer
throskopie beschrieben, allerdings sind diese nicht sehr häufig. Handgelenkinstabilitäten. Handchir Mikrochir Plast Chir 28: 233–238
Im eigenen Krankengut sind in den letzten 15 Jahren bei über Ruch DS, Bowling J (1998) Arthroscopic assesment of carpal instability. Arth-
1.000 Arthroskopien des Handgelenks keine wesentlichen Kompli- roscopy 14: 675–681
kationen wie Nerven- oder Gefäßverletzungen, Infektionen oder Schädel-Höpfner M, Böhringer G, Lemke T, Gotzen L (1998) Zur Häufigkeit
Kompartmentsyndrome aufgetreten. In der Literatur wird von der scapholunären Dissoziation bei distalen Radiusfrakturen. Aktuelle
Lagerungsschäden bei Verwendung des Traction Tower berichtet. Traumatol 28: 71–73
Geringgradige Verletzungen von Nerven und Sehnen durch die Scheck RJ, Kubitzek C, Hierner R et al. (1997) The scapholunate interosseous
Zugänge sowie Knorpelschäden durch zu heftiges Manipulieren ligament in MR arthrography of the wrist. Skeletal Radiol 26: 263–271
Schmit-Neuerburg KP, Towfigh H, Letsch R (Hrsg) (2001) Tscherne Unfallchir-
werden berichtet.
urgie, Band VIII/2: Hand. Springer, Berlin
Ein vorsichtiges Vorgehen bei Anlage der Zugangsportale ist
Schütz K, Middendorp J, Meyer VE (1996) Ulnodorsales Impingementsyn-
wichtig. Stumpfes Präparieren mit Schere oder Klemme vor Ein- drom: Die Meniskusläsion des Handgelenks. Handchir Mikrochir Plast
führen des Arthroskops mit stumpfem Trokar minimiert Weich- Chir 28: 227–232
teil- und Knorpelverletzungen. Bei Schwierigkeiten empfiehlt sich Seibert FJ, Peicha G, Grechenig W, Schippinger G, Passler JM (1998) Radius-
die BV-Kontrolle, die dem Anfänger bei Anlage der Zugänge gene- fraktur loco typico -- Arthroskopisch assistierte Versorgung. Arthrosko-
rell zu empfehlen ist. Die weiteren Zugänge sollten arthroskopisch pie 11: 259–270
kontrolliert angelegt werden. Besonders bei der blinden Anlage des Shionoya K, Nakamura R, Imaeda T, Makino N (1998) Arthrography is superior
6-R-Portals kann es durch zu proximales Anlegen des Portals zu to magnetic resonance imaging for diagnosing injuries of the triangular
Schäden am Diskus kommen. Die Wechselstabtechnik erleichtert fibrocartilage. J Hand Surg (Br) 23: 402–405
Strobel M (1998) Arthroskopische Chirurgie. Springer, Berlin Heidelberg
den Wechsel zwischen den Portalen und minimiert Schäden durch
Warhold LG, Ruth RM (1995) Complications of wrist arthroskopy. Hand Clin
erneutes Einführen des Arthroskops. Gefühlvolles Hantieren der
11: 81–89
Instrumente verhindert mehrmaliges gefahrenträchtiges Einführen Whipple TL (1995) Stabilization of the fractured scaphoid under arthroscopic
der Instrumente. Durch zu hohen Spüldruck entsteht ein Ödem, control. Orthop Clin North Am 26: 749–754
das allerdings schon nach einem Tag in der Regel verschwunden Whipple TL, Cooney WP, Poehling GG et al. (1991) Intraarticular fractures. In:
ist. Ein Kompartmentsyndrom haben wir deswegen nie bemerkt. McGinty JB, Caspari RB, Jackson RW, Poehlin GG (Hrsg) Operative arth-
roscopy. Raven, New York, S 651–654
Weiterführende Literatur
⊡ Abb. 14.1 Intrinsic-plus-(Bunnel-Littler-)Test. a Physiologischer Befund: Bei passiver Streckung im Grundgelenk des
betroffenen Fingers ist die passive Beugung in den Interphalangealgelenken leicht möglich. b Pathologischer Befund:
Bei passiver Streckung im Grundgelenk des betroffenen Fingers ist die passive Beugung in den Interphalangealgelenken
stark erschwert oder unmöglich. Ursachen sind entweder kontrakte Handbinnenmuskeln oder eine Kapselschrumpfung
im MP-Gelenk. c Kontrakte Handbinnenmuskel: Bei leichter Beugestellung im MP-Gelenk kann das PIP-Gelenk vollständig
gebeugt werden. d Beugehemmung durch Kapselschrumpfung: Bei leichter Beugestellung im MP Gelenk kann das PIP-
Gelenk nicht vollständig gebeugt werden. (Aus Berger u. Hierner 2009)
14
Brüser (2004) unterscheidet in einer Klassifikation periartiku- flusst. Sicher ist eine Blutstillung notwendig, sie sollte aber so ge-
läre und komplexe periartikuläre Kontrakturen der Mittelgelenke. zielt erfolgen, dass es nicht durch ungezielte Koagulation zu Nekro-
sen kommt. Nekrosen fördern Infektionen. Schlecht durchblutetes
Gewebe muss daher zugunsten der Beweglichkeit entfernt werden.
14.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Auch die Dauer der Operation hat einen Einfluss auf die postope-
Abschn. 14.1.7 rative Infektion. Präzises Operieren ist aber nur unter optimalen
Bedingungen möglich.
14.1.7 Therapie Auch wenn dieser Satz banal klingt, so ist eine nicht unerheb-
liche Anzahl an Komplikationen auf die Nichtbeachtung dieser
Wesentlich sinnvoller als die Therapie von Bewegungseinschrän- Grundsätze zurückzuführen.
kungen ist sicher deren Vermeidung. Es werden hier nur einige Frühzeitige Mobilisation und gezielte »Belastung« vermindert
prinzipielle Ansätze zur Vermeidung angeführt, auf spezielle Vor- Verwachsungen und fördert die Knochen- und Sehnenheilung.
gehensweisen wird verwiesen. Um diese Ziele zu erreichen, sind eine Vielzahl an Maßnahmen
»Prima nil nocere« (»zuerst einmal nicht schaden«) ist ein erforderlich, die in den einzelnen Kapiteln ausführlicher erläutert
wichtiger Grundsatz zur Vermeidung von Problemen. Dies erfor- werden. Trotzdem sollen sie hier im Kontext der steifen Hand noch
dert präzise Kenntnisse der Anatomie und Biomechanik der Hand. einmal erwähnt werden:
Korrekte an die Beugefurchen der Hand angepasste Schnittführun- ▬ übungsstabile Osteosynthese,
gen zur Vermeidung von Hautnekrosen und Narbenkontrakturen ▬ Vermeidung von übervorsichtiger Ruhigstellung,
sind notwendig. Schon Bunnell betonte die Bedeutung des atrau- ▬ frühzeitige geführte Mobilisation durch den Handtherapeuten,
matischen Operierens, um die Gewebe zu schonen. ▬ »stabile« Sehnennähte und angepasste postoperative Konzepte.
Atraumatisches Operieren geht nur unter optimalen Bedin-
gungen (Blutleere, ausreichende Analgesie, Lupenbrille). Infektio- Einen ganz besonderen Stellenwert nimmt in diesem Zusammen-
nen, Nekrosen und Hämatom sind drei wichtige Faktoren, die sich hang die Handtherapie ein. Die frühzeitig, 1. bis 2. postoperativer
negativ auf die Beweglichkeit auswirken. Diese Faktoren werden Tag, einsetzende Handtherapie ist essenzieller Bestandteil jedes
wesentlich von der Sorgfalt und Umsicht des Operateurs beein- Therapiekonzeptes. Eine qualifizierte Handtherapie ist aber nur
14.1 · Allgemeines
271 14
machbar, wenn der Patient keine Schmerzen hat. Daher ist die > Die konservative Therapie sollte so lange fortgeführt werden,
angepasste postoperative Schmerztherapie mit Stufenanalgesie und wie noch messbare Verbesserungen nachzuweisen sind.
ggf. Handblock oder Plexuskatheter eine Conditio sine qua non für
alle handchirurgischen Eingriffe. Gilt dies im Allgemeinen für Pri- Kommt es zu einem Stillstand der Verbesserungen sollte über
märeingriffe, so ist sie im Besonderen für Revisionseingriffe, wie operative Maßnahmen nachgedacht werden. Tenolysen und Ar-
Teno- und Arthrolysen, besonders wichtig. throlysen sollten nach Verletzungen und Operationen frühestens
Die für Revisionseingriffe erforderliche Analgesie und Hand- nach 4 Monaten und nach Infektionen frühestens nach 6 Monaten
therapie lässt sich in der Regel nur unter stationären Bedingungen durchgeführt werden.
etablieren. Um für den Patienten optimale Bedingungen zu schaffen,
ist eine tägliche Kommunikation zwischen Patient, Chirurg, Thera- Medikamentöse Unterstützung der Tenolyse
peut und Anästhesist notwendig. Eine Kondition die bei ambulanten Eine Vielzahl von Medikamenten und Verfahren wurde ange-
Patienten nur schwer oder überhaupt nicht zu erreichen ist. wandt, um die Ergebnisse der Tenolyse zu verbessern. Neben
Auf die negative Auswirkung von Schwellung auf die Bewe- Kortisoninjektionen sind Gelapplikationen und Silikonfolien zu er-
gung sind wir bereits weiter oben eingegangen. Die Ödemprophy- wähnen. Die Ergebnisse dieser Versuche sind nicht eindeutig. Man
laxe und -therapie muss daher auch dem Patienten immer wieder muss insbesondere bei allen diesen Verfahren die erhöhte Gefahr
erläutert werden. Ausreichende Hochlagerung ist theoretisch ein- der Infektion durch die Fremdmaterialien im Auge behalten. Jede
leuchtend, aber in der Praxis häufig nur schwer zu realisieren. Infektion macht aber das gewünschte Ergebnis zunichte.
Die korrekte Lagerung des Armes ist nicht gerade einfach. Als
gutes Hilfsmittel hat sich ein doppelt genähtes Laken, das an einem Nachbehandlung
Infusionsständer befestigt werden kann, erwiesen. Dieses hindert Die Nachbehandlung nach Tenoarthrolysen stellt neben der sorg-
den Arm am Umfallen, wenn der Ellbogen auf dem Bett aufliegt. fältigen Operation den entscheidenden Faktor auf dem Weg zum
Die Patienten vergessen das Hochhalten des Armes spätestens, Erfolg dar. Schlüssel ist eine sofort einsetzende Handtherapie bei
nachdem der Arzt das Krankenzimmer verlassen hat. Der Arm sollte ausreichender Analgesierung und ggf. dem Einsatz von statischen
jedoch nicht in einer Schlinge gelagert werden, um Bewegungsein- oder dynamischen Schienen.
schränkungen im Schultergelenk zu vermeiden. Günstiger ist es, die Noch im Operationssaal muss die Hand so geschient werden,
Patienten in einer aktiven Benutzung aller nicht immobilisierten dass das funktionelle Ergebnis gehalten wird. So werden Grundge-
Gelenke durch spezifische regelmäßige Übungen anzuleiten. lenke nach Arthrolyse durch eine dorsale Gipsschiene in maximaler
Ubiquitäre Hinweisschilder für Hochhalten und Armübungen Flexion fixiert. Mittelgelenke nach Tenoarthrolyse in Extension.
auf Station und in der Ambulanz erhöhen den Lerneffekt bei Pati- Die Physiotherapie sollte spätestens am 1. postoperativen Tag
ent und Personal. beginnen. Für eine erfolgreiche Physiotherapie ist Schmerzfreiheit
Verbände und Schienen erfüllen wichtige Funktionen. Insbe- entscheidend. In komplexen Fällen erfolgt die Behandlung daher
sondere in der frühen postoperativen Phase kann eine gezielte Kom- unter Einsatz eines Plexuskatheters. In einfachen Fällen kann neben
pression Hämatome verhindern. Trotzdem muss auf ausreichende der Gabe von Analgetika eine lokoregionäre Anästhesie durch ei-
Polsterung geachtet werden. Auf keinen Fall soll der Verband durch nen Handblock sinnvoll sein, wie bereits weiter oben erwähnt. Die
proximale Kompression eine Schwellung verursachen. Gerade in Handtherapie sollte initial mindestens 2-mal täglich erfolgen. Der
den ersten Stunden nach der Operation kann ein ursprünglich gut Erfolg der Therapie hängt wesentlich von der Kommunikation zwi-
angelegter Verband durch die Schwellung zu eng werden und die schen Patient, Arzt und Therapeut ab. Die Fortschritte, aber auch
Schwellung verstärken. Daraus kann ein fataler positiver Rückkop- die Rückschritte gegenüber dem intraoperativen Befund müssen
pelungsmechanismus bis hin zur ischämischen Kontraktur entste- regelmäßig vom Operateur zusammen mit dem Physiotherapeuten
hen. Es soll daher die Regel sein, bei Schmerzen oder Schwellung als kontrolliert und dokumentiert werden. Diese Forderungen sind
erstes den Verband bis auf die letzte Faser zu öffnen. aber häufig nur unter stationären Bedingungen zu erfüllen. Aus
unserer Sicht stellen Tenolysen und Arthrolysen daher weiterhin
Konservative (nichtoperative) Therapie eine Indikation für eine stationäre Therapie dar. Zur Vermeidung
Bevor operative Maßnahmen geplant werden, ist nahezu in jedem von erneuten Kontrakturen kann die Anpassung einer statischen
Fall eine konservative Therapie erforderlich. Diese verfolgt ver- oder aber auch dynamischen Orthese in Einzelfällen sinnvoll sein.
schiedene Ziele. Die konservative Behandlung wird von Handthe- Dies gilt besonders wenn der Schutz von rekonstruierten Struktu-
rapeuten vorgenommen. ren mit Bewegung kombiniert werden muss. Spezielle Vorgehens-
Schwellungen müssen soweit als möglich beseitigt werden. weisen werden im Folgenden aufgezeigt.
Hierzu kommen verschiedene Verfahren wie Lymphdrainage, elas-
tokompressive Wickelung, Kompressionshandschuhe oder -finger- Operative Therapie der steifen Hand
linge und Bewegungsübungen der Hand in Erbsen- oder Bohnen- Bestehen Bewegungseinschränkungen auch nach dem Akutsta-
bädern zum Einsatz. Die Narbensituation muss verbessert werden. dium, sind abhängig von der Lokalisation und der Art der Störung
Neben den oben aufgeführten Kompressionsverfahren helfen hier unterschiedliche Therapien notwendig ( Abschn. 14.2).
Narbenmassage und Silikongelfolie. Zur Verbesserung der Beweg-
lichkeit tragen die handtherapeutischen Übungen bei. Diese kön-
nen durch statische oder dynamische Schienen unterstützt werden 14.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
( Kap. 15).
Schon zu Beginn der Therapie sollte ein Karpaltunnelsyndrom Für die Therapie von Steifigkeiten im Handbereich im Kindesalter
klinisch oder neurologisch ausgeschlossen werden. Viele Patienten gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende
leiden posttraumatisch unter starken Schmerzen und daraus resul- Besonderheiten sind zu beachten:
tierenden Bewegungseinschränkungen, die sich nach Dekompres- Die Vermeidung von Bewegungseinschränkungen spielt bei
sion des N. medianus schnell bessern. Kindern eine herausragende Rolle. So erfordert die postopera-
272 Kapitel 14 · Therapie der »steifen Hand«
tive Therapie nach Verletzungen eine erhöhte Aufmerksamkeit Tractus intermedius Lamina intertendinea
Tractus lateralis Pars medialis Pars obliqua
von Arzt und Handtherapeuten. Insbesondere Schwellungen und Pars lateralis Pars lateralis Pars transversa
trophische Veränderungen müssen wesentlich engmaschiger kon- Pars terminalis M. extensor dig.
trolliert werden, da das Kommunikationsvermögen der Kinder je
nach Alter sehr eingeschränkt ist. In diesem Zusammenhang seien
die lebensverändernden Folgen einer Volkmann-Kontraktur nach
suprakondylären Humerusfrakturen ( Kap. 47) erinnert. Lig. retinaculare
Lig. retinaculare
Die Therapie der steifen Hand setzt eine hohe Kooperations- obl. (Landsmeer)
transvers. M. lumbricalis Mm. interossei
bereitschaft vonseiten des Patienten voraus. Pauschale Regeln, ob a (Landsmeer)
M. extensor dig.
ein Kind für eine der operativen Maßnahmen geeignet ist, lassen
sich nicht aufstellen. Bereits während der immer notwendigen
konservativen Behandlung kann der Arzt einen Eindruck gewin- Tractus lateralis
nen, ob Kind und Eltern für die anstrengenden und zeitraubenden Mm. interossei
Pars terminalis
postoperativen Maßnahmen geeignet sind. Die Rolle der Eltern für Pars lateralis
Lamina triangularis Pars medialis M. lumbricalis
den Erfolg darf nicht unterschätzt werden. Die meisten Probleme Pars lateralis
und Fehlschläge treten aus unserer Erfahrung bei »überbehüteten« b Tractus intermedius
Kindern auf.
Die Dynamik des noch im Wachstum befindlichen Gewe-
bes kann sich sowohl positiv als auch negativ auf das Ergebnis
auswirken. Einerseits toleriert das Kind manche Verletzungen Tractus lateralis
und Veränderungen ohne große Funktionseinschränkungen und Pars terminalis
regeneriert schneller. Auf der anderen Seite kann aber die erhöhte Lamina triangularis
Proliferationsbereitschaft auch zu hochgradigen Narbenbildungen Pars lateralis
führen.
Abgesehen von Ausnahmen sollte die Phase der konser-
vativen, handtherapeutischen Maßnahmen länger sein als bei Pars medialis
Erwachsenen. Lig. retinaculare obliquum
(Landsmeer)
14.2.3 Technik der Tenolyse der Strecksehnen Während einer Beugesehnentenolyse muss man auf zusätzliche
am Handrücken und Handgelenk Eingriffe wie Ringbandrekonstruktionen, Nerven- und Gefäßnähte
oder aber auf Beugesehnentransplantationen vorbereitet sein. Der
In diesem Bereich finden sich »echte« Strecksehnen (im Ver- Patient ist vorher über die Möglichkeiten aufzuklären. Als Inzision
gleich zum Finger), die über dem Handrücken flächig und am hat sich eine palmare Bruner-Inzision bewährt. Begonnen wird die
Handgelenk dann typisch oval angelegt sind. Bei Verwachsungen Tenolyse im Bereich proximal und distal der Verwachsungen. Im
am Handgelenk müssen die verschiedenen Strecksehnenfächer ge- Operationsfeld wird die Palmaraponeurose entfernt. Bei der Frei-
schont werden. Die Verwachsungen können sehr ausgedehnt sein. legung der Sehne muss neben Schonung der Gefäße und Nerven
Manchmal ist die dorsale Handgelenkkapsel mit beteiligt. Intra- auf eine Schonung der Ringbänder geachtet werden. Anatomische
operativ ist eine genaue Analyse der Beweglichkeit erforderlich. Variationen können die Beugesehnentenolyse erschweren. Die Seh-
Werden Verwachsungen distal des Retinaculum extensorum gelöst, nenscheide wird durch quere Inzisionen zwischen den Ringbändern
kann die Grundgelenkbeugung in Handgelenkextension gut sein, eröffnet. Die beiden Sehnen werden dann sorgfältig teils scharf, teils
bei Handgelenkflexion besteht aber weiter eine Beugehemmung stumpf vom umgebenden Narbengewebe gelöst. Altes Nahtmaterial
14 im Grundgelenk (Tenodeseeffekt). Dies ist ein Zeichen für weiter sollte entfernt werden. Insbesondere unter den Ringbändern kann
proximal gelegene Verwachsungen. Die Operation muss dann nach dies schwierig sein, da Hebelbewegungen mit dem Instrument
proximal ausgedehnt werden. leicht zu Zerreißungen der Ringbänder führen können. Nach jedem
Abhängig von der Lokalisation und der Ausdehnung kann Schritt muss geprüft werden, ob die Sehne sowohl nach distal als
neben der Physiotherapie der Einsatz von Schienen sinnvoll sein. auch nach proximal ausreichend gleitet. Wenn narbige Überbrü-
Diese halten das Handgelenk und/oder die Grundgelenke in maxi- ckungen der tiefen Beugesehnen bestehen oder der Knochen relativ
mal möglicher Flexion. zur Sehne verkürzt ist, kann diese zu lang sein, was die Ausbildung
eines Lumbrikalis-plus-Syndroms fördern kann.
einen besseren Überblick und eine Erweiterung zur langstreckigen 14.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
Tenolyse ist einfacher. Wenn ausgedehnte Hautkontrakturen oder
relative Hautverluste bestehen, ist eine Querinzision mit der Bildung Auf Fehler, Gefahren und Komplikationen wurde bereits intensiv
eines lateralen Transpositionslappens zur Defektdeckung sinnvoll. in den Abschnitten zur Diagnostik und Therapie eingegangen. Die
Die Präparation erfolgt schrittweise. Nach jedem Schritt wird operative Therapie der steifen Hand sollte in der Hand eines erfah-
die passive Streckung des Gelenks geprüft. Nach Hautinzision renen Handchirurgen erfolgen.
erfolgt die Durchtrennung der Grayson-Ligamente und Freilegung
der Beugesehnenscheide. Diese wird danach zwischen A2- und
A3-Ringband quer eröffnet. Zug an den Beugesehnen zeigt, ob Weiterführende Literatur
diese an der Kontraktur beteiligt ist.
Einfache Fälle einer isolierten Kontraktur des Mittelgelenks Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten.
mit erhaltener aktiver Beugung des Fingers sind häufig an diesem Springer, Heidelberg
Punkt beendet, da sich der Finger nach diesen Schritten frei stre- Brand PW, Hollister A, Ryan JD, Thorp D (1993) Clinical mechanics of the
hand, second edition. Mosby, St Louis
cken lässt. Ist dies nicht der Fall, erfolgt die weitere Präparation
Brüser P (2004) Beugekontrakturen der Mittelgelenke: Pathogenese, Klassifi-
der Cleland-Ligamente und deren Lösung. Danach werden die
kation und Ergebnisse nach Arthrolysen. Handchir Mikrochir plast Chir
Check-Rein-Ligamente und die palmare Platte abgelöst, danach die 36(4): 218–223
akzessorischen Kollateralbänder inzidiert. Insbesondere nach den Goldberg E, Unglaub F, Kneser U, Horch RE (2009) Intraartikuläre Mittelge-
letzten Schritten ist, beim Versuch das Mittelgelenk zu strecken, lenkfrakturen: Dynamische, frühfunktionelle Therapie mit einem gelenk-
darauf zu achten, dass es nicht zu einer Überstreckung des Gelenks distrahierenden Fixateur externe. Unfallchirurg 112(3): 337–245
kommt, da dies zu einem irreversiblen Schaden führt. Hahn P, König S, Weihs N (2003) Rehabilitation of extensor tendon injuries.
Orthopäde. 32(5): 370–373
Hahn P, Jacobs C, Müller-Zimmermann A (2003) Rehabilitation after flexor
14.2.8 Technik der totalen anterioren tendon surgery. Orthopäde. 32(5): 365–369
Tenoarthrolyse (TATA) Hahn P, Lanz U (1996) Die Ringbänder der Fingerbeugesehnen. Anatomie,
Biomechanik, Rekonstruktion. Handchir Mikrochir Plast Chir 28(5):
265–270
In einzelnen Fällen mit ausgedehnter Kontraktur aller Strukturen auf Hahn P, Krimmer H, Müller L, Lanz U (1996) Ergebnisse der Beugesehnente-
der Beugeseite kann eine totale anteriore Tenoarthrolyse (TATA) als nolyse bei Verletzungen in Zone 2. Handchir Mikrochir Plast Chir 28(4):
Ultima Ratio eingesetzt werden. Die Operation erfolgt in Plexusan- 198–203
ästhesie. Unter Bildung eines lateralen Transpositionslappens wird Hasselbacher K, Bleuel S, Landsleitner B (2002) Langzeitergebnisse nach beu-
der Schnitt auf die komplette Mediolaterallinie vom Grundgelenk geseitiger Mittelgelenkarthrolyse. Handchir Mikrochir Plast Chir 34(6):
bis zum Endgelenk erweitert. Dorsal des Gefäß-Nerven-Bündels 355–362
wird dann der komplette Beugesehnenapparat scharf vom Knochen Haussmann P, Das Gupta K (2003) Synovialektomie der Fingergrundgelenke
gelöst. Die Gefahr besteht bei dieser Operation in einer irreversiblen bei chronischer Polyarthritis. Oper Orthop Traumatol 15(3): 237–253
Hintringer W (2002) Arthrotenolyse der Fingermittelgelenke (PIP). Technik
Schädigung des Fingers mit der Gefahr des Verlustes (⊡ Abb. 14.6).
und Ergebnisse. Handchir Mikrochir Plast Chir 34(6): 345–351
14 Huffaker WH, Wray RC Jr, Weeks PM (1979) Factors influencing final range of
motion in the fingers after fractures of the hand. Plast Reconstr Surg.
63(1): 82–87
Lorea P, Medina Henriquez J, Navarro R, Legaillard P, Foucher G (2007)
Anterior tenoarthrolysis for severe flexion contracture of the fingers
(the »TATA« operation): a review of 50 cases. J Hand Surg Eur Vol. 32(2):
224–229
Martini AK (2008) Orthopädische Handchirurgie. Steinkopf, Heidelberg
Richter M (2008) Die Arthrolyse der Fingermittel- und Fingergrundgelenke.
Enteilung, Technik und Ergebnisse. Orthopäde 37: 1171–1179
Saffar P, Rengeval JP (1978) Total anterior tenoarthrolysis. Treatment of the
bent fingers (author’s transl). Ann Chir. 32(9): 579–582
Schmit-Neuerburg KP, Towfigh H, Letsch R (Hrsg) (2001) Tscherne Unfallchir-
a
urgie, Band VIII/2: Hand. Springer, Berlin
Towfigh H, Gruber P (2005). Tractus-intermedius-Durchtrennung über dem
Fingermittelgelenk (sog. Knopflochdeformität). Oper Orthop Traumatol
17(1): 66–78
IV Handrehabilitation
15.1 Allgemeines es der genauen Kenntnis des Schadensausmaßes und des voran-
gegangenen Eingriffes. Daher ist eine kontinuierliche Kommuni-
Nachdem 1977 die amerikanischen Therapeuten die American So- kation zwischen dem Ärzte- und Therapeutenteam unabdingbar
ciety of Hand Therapists (ASHT) gründeten, folgten 1981 die bel- (⊡ Abb. 15.1). Dies kann mittels schriftlicher Berichte, Telefonate
gischen Handtherapeuten (BHT.BE), 1984 die British Association oder E-Mails kurzfristig und zeitnah erfolgen.
of Hand Therapists (BAHT) und die französische Société Francaise
> Handrehabilitative Maßnahmen können vorbereitend-
de Rééducation de la Main (SSRM), 1990 die Schweizerische
präoperativ und/oder nachsorgend-postoperativ eingesetzt
Gesellschaft für Handtherapie und 1995 schließlich die Deutsche
werden.
Gesellschaft für Handtherapie die (DAHTH).
Als internationaler Dachverband der Gesellschaften entstand So sind freie Gelenkbeweglichkeit, ausreichende präoperative Mus-
1985 die International Federation of Societies for Hand Therapy kelkraft und vorhandene Gleitkapazität der Sehnen eine wichtige
(IFSHT) und 1989 die European Federation of Societies for Hand Voraussetzung für operative Eingriffe, z. B. bei einer Muskel-Seh-
Therapy (EFSHT). nen-Transposition.
Handrehabilitation fasst ergo- und physiotherapeutische Maß- Postoperativ können durch den Einsatz begleitender Maßnah-
nahmen des Gesamtbehandlungsplans für die obere Extremität men Schwellneigungen oder Schmerzen deutlich verringert wer-
zusammen. Sie kann bereits präoperativ einsetzen und mit ihren den, wodurch eine effiziente, frühzeitige Nachbehandlung möglich
verschiedenen Wirkungsfaktoren Patienten bis zum Therapieende wird, die wiederum Gelenkeinsteifungen vorbeugt und zu einer
begleiten. Mit Handrehabilitation kann in der Initialphase anti- deutlichen Verbesserung der Gelenkknorpelversorgung führt.
phlogistisch und schmerzlindernd gearbeitet werden. Sie ist unent- Aber nicht nur das »bloße« Funktionieren der Extremität ist in
behrlich, wenn die Leistungsfähigkeit (Bewegung, Kraft, Ausdauer der Handrehabilitation von Bedeutung. Ebenso werden ganzheitli-
und Funktion) einer betroffenen Extremität verbessert, erhalten che begleitende Maßnahmen angeboten, die über die zu therapie-
oder wiederhergestellt werden muss. renden Körperabschnitte hinaus den Patienten mit Hilfsmitteln für
Um aus der Vielzahl des therapeutischen Angebotes die ge- die Aktivitäten des täglichen Lebens versorgen. Weiterhin werden
eigneten Maßnahmen für die Patienten herauszufinden, bedarf Schienen hergestellt und Beratungen angeboten, wenn Einschrän-
Handchirurgie
Anästhesie Handtherapie
Intensivmedizin Physiotherapie
Schmerztherapie Ergotherapie
Thermo- und Kryotherapie
Massage
Elektrotherapie
15 Neurologie
PFLEGE
Sozialdienst
Mikrobiologie Versicherungen/DRG
HAUSARZT
Verwaltung Grundlagenforschung
Fakultative Team-Mitglieder
Onkologie
Psychologie/Psychiatrie
Pathologie
sonstige……..
»gemeinsame Sprache«
15.1.1 Anamnese
lung oder die neutrale Ausgangsstellung dar. Kann eine Ausgang- Die Bewertungsskala reicht dabei von normal (5), gut (4), ausrei-
stellung nicht eingenommen werden, wird diese mit 0° angegeben. chend (3), schwach (2), Muskelkontraktion (1) bis keine Kontrak-
Die manuell durchgeführte und standardisierte Muskelfunkti- tion (0).
onsprüfung nach Highet (1934) beruht auf dem Bewertungssystem Für eine zuverlässige Bewertung ist eine manuelle Fixierung
▬ des Widerstandes eines Muskels oder der benachbarten Gelenke durch den Prüfer erforderlich, um das
▬ der Fähigkeit des Muskels oder einer Muskelgruppe, sich ge- jeweilige Gelenk auf ein gewünschtes Bewegungsausmaß zu be-
gen die Schwerkraft in seinem gesamten Bewegungsausmaß zu schränken. Eine gelenkübergreifende Muskeleinwirkung soll damit
bewegen. vermieden werden ( Übersicht, ⊡ Abb. 15.8).
1 Abduktion/Seitheben 4
2 Außendrehung/-rotation 4
1 5
3
3 Streckung/Retroversion 5
2 6 Adduktion/Heranführen
6
⊡ Abb. 15.3 Bewegungen und Bewegungsumfang im Bereich der Schulter. (Aus Tillmann 2004)
15
a b Umwendbewegung:
Supination
Pronation
Flexion Extension
⊡ Abb. 15.4 Bewegungen und Bewegungsumfang im Bereich des Ellbogens. a (Extension/Flexion), b (Pronation/Supination). (Aus Tillmann 2004)
15.1 · Allgemeines
283 15
Extension
Extension
Extension
⊡ Abb. 15.6 Bewegungen und Bewegungsumfang im Bereich der Finger. (Aus Tillmann 2004)
284 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
1 Beugung 4 Abspreizung/Abduktion
4
1
2 Streckung (Extension) 2
5 5
3 Adduktion (Heranführen)
3
6
1 Beugung/Flexion
Streckung/Extension
3 Beugung/Flexion 4 2
4 Streckung/Extension
⊡ Abb. 15.7 Bewegungen und Bewegungsumfang im Bereich des Daumens. (Aus Tillmann 2004)
15
a b
links palmar rechts palmar
rechts dorsal links dorsal
Standardisierte Tests
»Mapping«
Zu Beginn jeder Sensibilitätsbehandlung steht die Untersuchung
zur Eingrenzung des behandlungsbedürftigen Hautareals. Durch
das sog. »Mapping« wird eine optische Darstellung der sensiblen
Ausfälle erstellt. Die Testung kann sowohl vom Therapeuten als ⊡ Abb. 15.12 Semmes-Weinstein-Monofilamenttest
auch vom Patienten vorgenommen werden.
Dabei führt der Therapeut einen Stift auf der Hand des Pro-
banden, vom gesunden Bereich bis zum sensibilitätsgestörten.
Markierungen werden an den Stellen gesetzt, an denen der Pro- von leichter Berührung bis hin zum starken Druck kann hiermit
band Veränderungen wahrnimmt. Von allen Seiten (distal, proxi- ermittelt werden. Mittels Farbcodes, welche mit den Filamenten an
mal, ulnar und radial) wird das Untersuchungsgebiet eingegrenzt. dem Untersuchungsstab übereinstimmen, werden die Ergebnisse
Die Markierungen werden auf ein Handschema eingetragen. So auf ein Formblatt übertragen. Testwiederholungen im Laufe der
können Veränderungen jeglicher Art bei Kontrolluntersuchungen Behandlung geben einen Überblick über die Regeneration des be-
verifiziert werden (⊡ Abb. 15.11). troffenen Areals (⊡ Abb. 15.12).
e e m
Naomrnamtsdatuks
V ebur s/Lin
G echt
R atum
D
1 2 3 4 5
⊡ Abb. 15.18 Jamar-Kraftmessung
Zum Beispiel:
rechts links
c 1. Messung 17,5 kg 31,0 kg
2. Messung 17,0 kg 28,5 kg
⊡ Abb. 15.16 Ninhydrintest. a Darstellung der Schweißsekretion durch das 3. Messung 17,0 kg 27,5 kg
Abdruckverfahren, b Ergebnis des Ninhydrintests bei einer Durchtrennung Durchschnittswert 16,7 kg 29,0 kg
des N. medianus, c Vergleich mit der nicht betroffenen Hand. (Aus Waldner-
Nilsson 2008)
Den Unterschied zwischen dominanter und nicht dominanter Seite
gibt Bechtold mit circa +5–10% für die dominante Seite an. Für
männliche und weibliche Personen werden je nach Betätigung
und Alter unterschiedliche Normen angegeben. Diese liegen bei
erwachsenen, weiblichen Probanden bei ca. 24–38 kg und bei
männlichen Probanden zwischen 30–70 kg.
Pinch-Gauge-Test
Drei Greiffunktionen werden hiermit bewertet: Der 2-Punkt-Griff
testet die Kraft zwischen Daumen und Zeigefinger. Dieser wird
überwiegend für leichtere, feinmotorische Tätigkeiten benötigt.
Der 3-Punkt Griff weist die Gegenüberstellung des Daumens zu
Zeige- und Mittelfinger auf. Der kräftigste der drei Griffe ist der
Lateralgriff, auch als Schlüsselgriff bezeichnet. Hierbei kommt der
Daumen radialseitig auf dem Zeigefinger zu liegen ( Kap. 2). Um
ein einheitliches Messergebnis zu erhalten, wird der Ellbogen auf
einer festen Unterlage aufgestützt, um kompensatorische Kraftein-
wirkung aus dem Oberarm zu verhindern. Der Durchschnittswert
⊡ Abb. 15.17 Moberg-(Pick-up-)Auflesetest wird nach drei abwechselnden Rechts-links-Messungen errechnet
(⊡ Abb. 15.19).
Einige dieser Messungen lassen sich bequem mit dem E-Link
hydraulische Dynamometer kann in 5 Positionen eingestellt wer- Biometrics, einem computergestützten System, durchführen.
den und ermittelt damit aussagekräftige Handkraftdaten, welche Handkraftmessung, Krafttest der Finger sowie Messung des Bewe-
sowohl in Kilogramm als auch in Pounds angegeben werden. Die gungsausmaßes können evaluiert und zu Vergleichsmessungen he-
Messung wird nach einheitlichem Verfahren durchgeführt und rangezogen werden. Damit ist eine kurzfristige und umfangreiche
ermöglicht dadurch eine vergleichbare Datenerfassung. Dazu soll Dokumentation möglich, die zudem eine automatische Kalkulation
der Arm am Oberkörper adduziert (Anweisung: »Ellbogen an den der Funktionseinschränkung ermöglicht. Entsprechend der Mess-
Körper«) und in 90°-flektiertem Ellbogen gehalten werden. Das ergebnisse können dann am PC therapeutische Spiele durchgeführt
288 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
Phalen-Test
Der Phalen-Test, in zwei Varianten durchführbar, gibt Auskunft
über mögliche Störungen des Karpaltunnels am Handgelenk. In
der ersten Variante wird der Test mit zwei in Maximalflexion
gehaltenen Handgelenken durchgeführt, in der zweiten Variante
werden beide Handgelenke in maximaler Handgelenkstreckung,
dem »umgekehrten Phalen-Test«, gehalten. Bei Eintritt von Miss-
empfindungen binnen 20 s kann der Test als positiv gewertet
werden und lässt Rückschlüsse auf eine N.-medianus-Schädigung
zu (⊡ Abb. 15.22).
Froment-Zeichen
Eine N.-ulnaris- Schwäche wird durch das Froment-Zeichen ver-
⊡ Abb. 15.20 Biometrics PC-Messung
deutlicht: Ein flacher Gegenstand (z. B. ein Blatt Papier) soll zwi-
schen Daumen und Zeigefinger gehalten werden. Die Testperson
15 zieht nun den Gegenstand zurück. Bei einer vorliegenden Beein-
werden. Durch das computerbasierte Assessment dieses Gerätes trächtigung kann das Papier durch die Adduktionsschwäche des
lassen sich zur optischen Darstellung der Übungsergebnisse Grafi- M. Adduktor pollicis longus nicht gehalten werden (⊡ Abb. 15.23).
ken erstellen, die auch zu Dokumentationszwecken herangezogen
werden können. Damit können Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer, Temperaturdiskriminationstest
Beschleunigung der Bewegung, Fein-/Grobmotorik und Koordina- Um sich einen Eindruck über die Perzeption und die Differenzie-
tion trainiert werden (⊡ Abb. 15.20). rung des Temperaturempfindens zu schaffen, ist der Temperatur-
diskriminationstest eine sinnvolle Unterstützung. Hierfür werden
Sollermann-Test Metallröhrchen mit unterschiedlich temperierter (kalter und hei-
Alltagshandlungen werden mit dem »Sollermann Grip Function ßer) Flüssigkeit gefüllt. Die Testperson gibt nach Umfassen der
Test« abgefragt. 20 Aufgaben, nach 7 Grund-Greiffunktionen sor- Röhrchen Rückmeldung über die jeweilige Wahrnehmung der
tiert, sind entsprechend ihrer Anwendungshäufigkeit in dem Test Temperatur.
vertreten. Alltagsrelevante Gegenstände, Werkzeuge und Griffe
! Cave
werden getestet. Vorliegende normative Werte geben Aufschluss
Der Test ergibt keine differenzierte Aussage über das
über das Testergebnis. Studien über die Häufigkeit von Alltags-
Empfinden.
handlungen gingen der Testentwicklung voraus.
⊡ Abb. 15.23 Froment-Zeichen ⊡ Abb. 15.25 Valpar Upper Range of Motion Box
Vertiefungen gesteckt. Der Test kann bei exakter Vorgehensweise Selbsteinschätzung der Testperson bezogen auf ihre Leistungsfä-
als objektiv gewertet werden. Die Reliabilität des Testes wurde higkeit in der vergangenen Woche und in den vergangenen 4 Wo-
mehrfach geprüft und bestätigt (⊡ Abb. 15.24). chen. Der Test bezieht sich dabei auf Fragen nach
▬ Arbeit und Beruf (4 Fragen),
Valpar Upper Extremity Range of Motion Box ▬ Beschwerden (6 Fragen),
Die »Valpar Upper Extremity Range of Motion Box« gibt Auf- ▬ Sportausübung (4 Fragen),
schluss über die Bewegungsfähigkeit der oberen Extremität, vor- ▬ Musizieren (4 Fragen) und
wiegend jedoch die der Feinmotorik und Sensibilität der Hand- ▬ Funktionsfähigkeit (23 Fragen).
funktion. Das An- und Abschrauben von Muttern verschiedener
Größe nach standardisierter Vorgehensweise mit und ohne Au- Der Test wurde 1997 von Germann et al. übersetzt und von der
genkontrolle liefert Informationen über die Fähigkeit, die Hand AAOS (American Academy of Orthopedic Surgeons) zertifiziert
in Pro- und Supination, in Extension und Flexion einzusetzen, und akkreditiert. In Deutschland ist der Test auch als »Quick-
dabei Kraft aufzuwenden und die Zirkumbewegung durchzufüh- DASH Fragebogen« in Kurzversion erhältlich.
ren (⊡ Abb. 15.25).
ICF-Klassifikation zur Funktionsfähigkeit, Behinderung und
DASH-Test (Disability of Arm, Shoulder and Hand) Gesundheit (WHO)
Mit dem DASH-Test werden die Globalfunktionen der oberen Die ICF (International Classification of Functioning, Disability
Extremität erfasst. Die Testperson beantwortet darin Fragen zur and Health) dient als länder- und fachübergreifende Sprache zur
Funktionsfähigkeit aus dem Lebensalltag, zu Routinetätigkeiten, Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behin-
zu Themen aus dem familiären, sozialen und beruflichen Umfeld derung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umge-
sowie zu Fragen nach dem persönlichen Befinden (z. B. Schlaf, bungsfaktoren einer Person. Die Bedeutung und Anwendung der
Schmerz). Die Erfassung beruht dabei auf der Wiedergabe einer ICF sind in den Richtlinien über Leistungen zur medizinischen Re-
290 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
habilitation des gemeinsamen Bundesausschusses geregelt. Die ICF Sensomotorisch-perzeptive Übungen finden Anwendung bei
wird seit dem 1.4.2007 angewendet. Sie klassifiziert nicht die Per- neurologischen, sensiblen und wahrnehmungsbedingten Störun-
son, sondern beschreibt die Situation einer Person im Zusammen- gen, während die psychisch-funktionelle Verordnung bei geistigen
hang mit der gesundheitsbezogenen Domäne und umwelt- und Störungen, Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsverände-
personenbezogenen Faktoren. Ziel ist eine gemeinsame Sprache in rungen verordnet wird.
einheitlicher und standardisierter Form bei der Beschreibung von Bei Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) werden Hand-
Gesundheits- und mit der Gesundheit zusammenhängenden Zu- lungsabläufe aus dem normalen Lebensalltag geübt. Gegenstände
ständen. Dazu gehören Körperfunktionen, Körperstrukturen wie werden genutzt, um Aktivitäten aus dem realen Alltag zu trainie-
auch Aktivitäten und die Teilhabe am sozialen und beruflichen ren, oder es werden Werkzeuge eingesetzt, um gezielte Tätigkeiten
Leben. Diese Sprache ermöglicht eine weltweite Kommunikation wieder zu erlernen, zu erhalten oder den veränderten Bedingungen
über Gesundheit und gesundheitliche Versorgung in verschiede- anzupassen.
nen Disziplinen und Wissenschaften. Der spezielle Bereich der Schienenherstellung mittels thermo-
Hinweis: Gesundheitsprobleme werden mit der ICD-10 klas- plastischer Materialien stellt eine vorwiegend ergotherapeutische
sifiziert, Gesundheitszustände mit der ICF-10. Beide ergänzen »Disziplin« in der Nachbehandlung dar, die als »Heilmittel« zusätz-
einander und betrachten einerseits die Leistungsfähigkeit und an- lich zur üblichen Therapie verordnet werden kann. Nicht zuletzt ist
dererseits die Leistung und deren Beeinträchtigung. Die ICF ist als die Beratung zum Schutz der Gelenke, beispielsweise bei rheuma-
PDF auf den Internetseiten des Deutschen Instituts für Medizini- tischen Erkrankungen, ein wesentlicher Bestandteil der Patienten-
sche Dokumentation und Information (DIMDI) kostenfrei abruf- versorgung und rundet damit das ganzheitliche Konzept ab.
bar unter: http://www.dimdi.de. Die psychosozialen Hintergründe eines Patienten wirken sich
massiv auf jede Therapiemaßnahme aus. Insbesondere Handver-
letzungen sind vielgestaltiger Natur und können oft nur schwer
15.1.3 Therapie verborgen werden. Sie sind in aller Regel sichtbar und stellen
für manche Patienten eine Störung des körperlichen Aussehens
Der nachfolgende Abschnitt befasst sich mit der Handrehabilita- und eine erhebliche Beeinträchtigung des Selbstwertempfindens
tion als ganzheitliche Versorgung bei Verletzungen, Erkrankungen dar. Selten ist es »nur« der Funktionsverlust, der im Mittelpunkt
oder Fehlbildungen der oberen Extremität. Beginnend mit der der Besorgnis steht. Kulturelle Hintergründe und soziale Aspekte
präoperativen Versorgung bis hin zur postoperativen Behandlung spielen hier eine wichtige Rolle. Nicht immer entspricht die Verlet-
werden therapeutische Maßnahmen, die in der Handrehabilitation zung dem Ausmaß der individuellen Reaktion des Betroffenen. So
zur Anwendung kommen, aufgeführt. können insbesondere in der heutigen schnelllebigen Zeit und den
Spezialisierte Einrichtungen verfügen über ein umfassendes, immer unsicherer werdenden Arbeitsbedingungen
übergreifendes Therapieangebot, das dem Patienten dahingehend ▬ Ängste,
zu Gute kommt, dass nötige Anwendungen sofort und individuell ▬ Aggressivität,
zugeschnitten zum Einsatz kommen können und der Patient somit ▬ Furcht vor Ausgrenzung,
nicht mit zusätzlichen Wegen und aufwendigem Zeitmanagement ▬ Absonderung,
belastet wird. Außerdem wird der interdisziplinäre Kommunikati- ▬ Abhängigkeit und
onsweg erheblich verkürzt. Da diese Einrichtungen bislang nicht ▬ Depression
flächendeckend angeboten werden, wird in den nachfolgenden erschwerend auf die Behandlung einwirken.
15 Ausführungen zur besseren Therapiezuordnung verschiedentlich Es ist von großer Bedeutung, diese Aspekte in jeder Behand-
die jeweilige Therapierichtung genannt. lung zu berücksichtigen und sich ein Bild von der Motivation des
Die klassische Unterscheidung zwischen Ergotherapie und Phy- Patienten zu verschaffen.
siotherapie wird teilweise nach wie vor dahingehend vorgenom- Negativ beeinflussende Faktoren können sein:
men, dass die Ergotherapie mehr den ganzheitlichen, funktionellen ▬ mangelnder familiärer Rückhalt,
und praktischen Therapieinhalten sowie der Schienenversorgung ▬ Arbeitsplatzverlust oder die Sorge darum,
zugeordnet wird. Isometrische, passive, aktive, dehnungs- und ▬ dauerhafte Einschränkungen in der Freizeitgestaltung und
gelenkmobilisierende und kräftigende Maßnahmen der Physio- Sport,
therapie. ▬ Intelligenzgrad des Patienten,
▬ Compliance,
> Durch sich annähernde Ausbildungskonzepte und indivi-
▬ sprachliche Verständigungsschwierigkeiten.
duelle behandlungsspezifische Fortbildungen der Ergothe-
rapie und Physiotherapie wird die Differenzierung immer
Mit einem gut strukturierten Therapievorgehen besteht die Mög-
schwieriger.
lichkeit, die genannten therapeutischen Besonderheiten und Er-
Die moderne Handrehabilitation bietet neben der isolierten ma- schwernisse zumindest teilweise auffangen zu können. Durch ein
nuellen Beübung zur Strukturverbesserung (Sehnengleiten, Mus- vertrauensvolles Verhältnis zwischen Patient und Therapeut kann
kelmobilisation, Narbenbehandlung) auch praktische Maßnahmen eine Basis geschaffen werden, die es ermöglicht, die Sorgen des
(Beübung komplexer Bewegungsabläufe und deren funktioneller Patienten einerseits zu objektivieren und andererseits auch auszu-
Einsatz im Alltag) an, um eine bessere Reintegration in den Le- räumen. Erfolgserlebnisse in der Therapie, die Ergebnis einer jeden
bensalltag zu erreichen. guten Behandlung sein sollten, können eine moralische Unterstüt-
Mittels motorisch-funktioneller Übungen werden Gelenke zung darstellen und das Durchhaltevermögen steigern. Realistische
sequenziell trainiert, indem z. B. Widerstandsklammern unter- Zielsetzungen in der Behandlung und ausführliche Informationen
schiedlicher Stärke bei einem Spiel zur Kräftigung der Handmus- über den allgemeinen Krankheitszustand schaffen Klarheit und
kulatur und zur Funktionsverbesserung im Bewegungsablauf, zum ermöglichen es dem Betroffenen eigeninitiativ zu werden. Die In-
Einsatz kommen. tegration der Familienangehörigen nimmt eine zentrale Rolle ein.
15.1 · Allgemeines
291 15
Durch sie kann die Fähigkeit, mit einer veränderten Lebenssitua- Situation ist erforderlich. Ein initial erstelltes Trainingsprogramm,
tion umzugehen, unterstützt werden. welches kontinuierlich angepasst wird, lässt die besten Ergebnisse
erwarten.
Behandlungsaufbau
Während einer therapeutischen Sitzung werden nicht nur einzelne Therapiedauer. Es wird empfohlen, Kontrollen bei kongenitalen
Behandlungselemente aneinandergereiht. Die Struktur und der Fehlbildungen über einen langen Zeitraum, weit über die unmittel-
Aufbau einer Behandlungseinheit basieren einerseits auf medizi- bare Behandlung hinaus, zu erstrecken, um das Einschleichen von
nisch-physikalischen Grundlagen, andererseits berücksichtigen sie Ausweichbewegungen zu verhindern. Dies kann vonseiten eines
psychosoziale Aspekte und ermöglichen so, die Persönlichkeit des spezialisierten Arztes oder auch von entsprechend geschulten The-
Patienten ganzheitlich zu erfassen. Damit werden die besten Vor- rapeuten übernommen werden. Assessments werden jährlich emp-
aussetzungen für eine optimale Rehabilitation geschaffen. fohlen, können in besonderen Fällen jedoch auch auf 2–3 Jahre
Wesentliche Bestandteile des medizinisch-physikalischen Be- ausgedehnt werden. Diese können persönlich, ggf. aber auch fern-
handlungskonzeptes sind daher: mündlich stattfinden.
1. Vorbereitung des Gewebes mittels geeigneter Massagetechni-
ken, Therapieparameter. Unmittelbar nach der Geburt sollte sich
2. Gelenkmobilisation zur Verbesserung des Bewegungsausma- ein gesamttherapeutisches Team bilden, welches eine gemeinsame
ßes, pädiatrische Beurteilung vornimmt und nachfolgend einen Be-
3. Durchführung funktioneller oder sensomotorisch-perzeptiver handlungsplan erstellt, der sowohl kurzfristige, mittel-, aber auch
Übungen, langfristige Aspekte berücksichtigt. Sollte der kleine Patient über-
4. apparative Behandlung, um die angebahnten Bewegungsabläu- wiegend in seiner häuslichen Umgebung leben, besteht das Erfor-
fe passiv oder passiv assistiert zu unterstützen, dernis, die Familie dahingehend zu unterstützen, ein ambulantes
5. abschließende Muskelentspannung; vorzugsweise thermische Therapienetzwerk aufbauen zu können.
und physikalische Maßnahmen mit entsprechender Wärme-
oder Kälteapplikation. Therapieinhalte. Die Inhalte der Therapie berücksichtigen die
Gesamtentwicklung des Kindes. Im Detail sind dies:
▬ Auge-Hand-Koordination,
15.1.4 Therapeutische Besonderheiten ▬ Greif- und Loslassfunktion,
▬ Objekttransfer und vergleichbare Funktionen,
Besonderheiten bei der Behandlung in der Pädiatrie ▬ ADL (Aktivitäten des täglichen Lebens) wie An- und Ausklei-
Entgegen bestehender Annahme, dass Kinder die Therapie nicht den (⊡ Abb. 15.26), Nahrungsaufnahme etc.
begreifen und es deshalb unnötig ist, für diese Patientengruppe ein
strukturiertes Nachbehandlungsprogramm zu konzipieren, zeigt Das Programm kann aktiv, assistiert oder passiv aufgebaut werden.
sich, dass gerade diese Patientengruppe von einer Kind-adaptierten Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Übungen vorsichtig, langsam
Handtherapie sehr profitieren kann. und ruhig dem Kind entsprechend stattfinden, um es nicht zu
Deshalb kommt der Handrehabilitation bei der Therapie mit ängstigen oder zu beunruhigen.
Kindern eine besondere Bedeutung zu. Pädiatrische Krankheits-
bilder, wie z. B. bei kongenitale Fehlbildungen, bedürfen einer sen-
siblen Behandlung und spezifischer Kenntnisse des Therapeuten
( Kap. 20).
Zudem hat es sich als sehr sinnvoll erwiesen, das Betreu-
ungsteam durch die Hinzunahme der Angehörigen zu erweitern.
Denn neben spezialisierten Ärzten, Handchirurgen, Gefäßspezi-
alisten, Neurologen, verschiedenen Therapeuten, Betreuungsper-
sonal und dem betroffenen Kind selbst spielen hier die Eltern
und der Personenkreis des häuslichen Umfeldes (Lehrer, Trainer,
Freunde) eine wichtige Rolle.
Das gesamte Behandlungsteam wird sich daher grundsätzlich
mit folgenden Themen beschäftigen:
▬ Ist eine normale Entwicklung des Kindes mit kongenitaler
Fehlbildung möglich?
▬ Gibt es Adaptationsmöglichkeiten und/oder Modifikationen
in der Entwicklung?
▬ Inwiefern stellen Schienen- und ggf. Prothesenversorgung eine
adäquate Unterstützung dar?
▬ Welche operativen Rekonstruktionen sind möglich?
Hierfür sind Spiele, spielerische Techniken und speziell modi- bei Kindern. Die angefertigten, passgerechten und faltenfrei sit-
fizierte Gebrauchsgegenstände geeignet. Um die Aufmerksamkeit, zenden Kompressionshandschuhe üben konstanten Druck, bis zu
die Freude und die Kooperation des Kindes aufrechtzuerhalten, 24 h täglich, aus. Zur Anwendung kommen sowohl Kurzzug- (z. B.
ist es erforderlich, die Übungssequenzen abwechslungsreich und Jobskin von Smith & Nephew) als auch Langzugmaterialien (z. B.
zeitlich begrenzt, nicht länger als 5–20 min, je nach Aufmerksam- Cicatrec der Fa. Thuasne). Regelmäßige Kontrollen, insbesondere
keitsdauer, zu halten. in den ersten Monaten, sind notwendig, da aufgrund von Muskel-
Weiterhin sind die medizinischen Aspekte hinsichtlich des zuwachs und Rückgang der Schwellung mit ständiger Veränderung
Wachstums bei Kindern und der verlängerten Dauer der Heilpha- der Passform zu rechnen ist. Um an Problemzonen (z. B. Handflä-
sen (Narbenbildung bis zu 18–36 Monate) zu berücksichtigen. chen, Zwischenfingerfalten) ausreichende Kompression zu erhalten,
Ein psychologisch wichtiger Aspekt ist, das Therapieziel für ist es zweckmäßig, mit individuell formbaren Einlegematerialien
das Kind dahingehend auszurichten, dass es aus seinen Erfolgen wie Elastomer oder mit Silikonfolien zu unterstützen. Silikonbe-
Nutzen für die häusliche Umgebung ziehen kann, um in Familie handlungen sind ohne geklärten Wirkungsmechanismus, jedoch
und Freundeskreis Akzeptanz zu finden, um in ein möglichst »nor- mit Wirksamkeitsnachweis durch Fulton in verschiedenen Studien
males« Umfeld integriert werden zu können. erbracht. Unverträglichkeiten werden selten beobachtet.
Im Kasten ist beispielhaft das Kleinert-Konzept (Controlled Active z Behandlung 11. bis 12. Woche postoperativ
Motion) zur Veranschaulichung dargestellt: ▬ Übungen gegen Widerstand zur Verbesserung des Seh-
nengleitens und der Kraft bilden den Schwerpunkt der
Behandlung
Kleinert-Konzept (Controlled Active Motion) ▬ Nach ca. 12 Wochen können i. Allg. sämtliche Restriktionen
z Schiene aufgehoben werden, da die Reißfestigkeit der Sehne ver-
▬ Unmittelbar postoperativ wird eine dorsale thermoplastische mehrter Belastung standhält
Schiene vom proximalen Unterarm bis distal zu den Finger-
spitzen angefertigt. Ein 4/0-Nylonfaden wird am Fingernagel
des betroffenen Fingers befestigt. Die Fixierung kann auch Besonderheiten bei Nervenverletzungen Kap. 8
mittels Öse auf den Nagel geklebt werden Abhängig von der Dauer der erforderlichen Ruhigstellung der betrof-
▬ Handgelenk 20–30° flektiert fenen Extremität, welche durch die Art der Verletzung, der Begleit-
▬ MCP-Gelenke in 50–70° Flexion immobilisiert verletzungen und der Operation der Nervennaht (Spannung der Ner-
▬ IP-Gelenke müssen vollständig streckbar sein vennaht) bedingt ist, sind folgende therapeutische Ziele anzustreben:
1. Schmerzreduktion und -vermeidung,
z Behandlung 1. bis 7. Tag postoperativ 2. Ödemresorption und -verhinderung,
▬ Behandlungbeginn 1. Tag postoperativ 3. Fehlstellungen vermeiden,
▬ Ödembehandlung 4. Überdehnung der Weichteilstrukturen und der Muskulatur
▬ Schienenbehandlung verhindern,
▬ Übungsprogramm mit Schiene: aktive Extension des Fingers 5. Bewegungsausmaß der Gelenke erhalten,
innerhalb der Begrenzung der Schiene, Flexion passiv mittels 6. Sensibilität verbessern,
Gummiband; stündlich 10 Repetitionen
▬ Hausprogramm, s. Übungsprogramm Maßnahmen hierfür können sein:
▼ ▬ Schmerzbehandlung und -management,
▬ Ödembehandlung und -prophylaxe,
294 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
Die Wahl der Übung kann dabei durchaus den Charakter einer be-
ruflichen Arbeitsförderung haben oder auch die einer klassischen,
funktionellen Alltagsaufgabe darstellen.
Manuelle Therapie
⊡ Abb. 15.29 Handgelenkkräftigung gegen Widerstand
Manualtherapeutische Mobilisationen und die Triggerpunktbe-
handlung stellen einen Teil der Mobilisationsbandlungen in der
Handrehabilitation dar und finden bei reversiblen Funktions-
störungen Anwendung. Unterschiedliche Konzepte von Cyriax,
Maitland und Kaltenborn/Evjenth werden unter diesem Begriff
zusammengefasst. Zielsetzung der Behandlung ist die Schmerzlin-
derung und die Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit. Aktive und
passive Mobilisationstechniken, translatorisches Gleiten und die
tiefe Querfriktion sind hier die bekanntesten Techniken. Bei den
der Therapie vorangegangenen Untersuchungstechniken werden
zunächst die angulären Bewegungsausmaße erfasst. Die passiven
Bewegungsgrenzen werden als hartes, festelastisches oder weiche-
lastisches Endgefühl definiert und geben dem Therapeuten Aus-
kunft über die Art der Bewegungseinschränkung.
Durch Traktion und Kompression werden artikuläre Gelenk-
bewegungen untersucht und geben Aufschluss über die Qualität
der Spannung des Gelenks und des Schmerzes. Das translatorische
Gleiten erfolgt nach der Konkav-konvex-Regel und ist abhängig ⊡ Abb. 15.30 Nervenmobilisation obere Extremität
von der Form der zu bewegenden Gelenkpartner. Die Gleitbewe-
gungen können bei Störungen vermindert oder vergrößert sein
(⊡ Abb. 15.28, ⊡ Abb. 15.29, ⊡ Abb. 15.30). Die Triggerpunkttherapie, von Travell und Simon (1983) er-
Indiziert ist diese Behandlungsform bei Bewegungseinschrän- weitert, ist eine systematische, manualtherapeutische Methode um
kungen aufgrund von Traumata verschiedener Genese (z. B. Distor- myofasziale Triggerpunkte, begleitet von Bindegewebsveränderun-
sionen, Frakturen) sowie bei arthrotischen Gelenkveränderungen. gen (intra- und intermuskuläre Adhäsionen aufgrund ödematöser
Kontraindiziert ist die Anwendung bei entzündlichen Erkran- Veränderungen), zu lösen. Diese sind in der oberflächlichen quer-
kungen (z. B. rheumatoider Arthtitis). gestreiften Muskulatur zu finden und werden als »Hartspannstrang«
296 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
Funktionelle Übungen
Handwerkliche Tätigkeiten
⊡ Abb. 15.39 Knetübung Spitzgriff ⊡ Abb. 15.40 Biometrics Pro- und Supinationsübung
Ab- und Adduktoren der intrinsischen und extrinsischen Musku- ▬ der kognitionsstützenden und höheren kognitiven Funktionen
latur. Spezifische Fingergelenkmobilisationen und diadochokineti- (Aufmerksamkeit, Konzentration, Ausdauer, psychomotori-
sche Übungen können damit ebenso ausgeführt werden. sches Tempo etc.),
▬ der geistigen und psychischen Funktionen,
! Cave
▬ des Gesichtsfeldes,
Patienten mit einer eher geringeren Compliance (ältere
▬ der Sensibilität und Körperwahrnehmung,
Menschen, kleinere Kinder) sollten die Übungen nicht ohne
▬ der Koordination und aktiven Körperbewegung.
Aufsicht durchführen, insbesondere dann, wenn durch
Übungsfehler die Gefahr von beispielsweise Sehnenrupturen
Angestrebte Therapieziele sind dabei:
oder Gelenkdeformitäten zu befürchten ist.
▬ Wiederherstellung/ Verbesserung der Belastbarkeit und Aus-
dauer,
Computergestützte Therapie ▬ Verbesserung der körperlichen Beweglichkeit,
Bereits bei den Messinstrumenten vorgestellt, kann das Biometrics ▬ Erlernen von Kompensationsmechanismen,
E-Link als modernes PC-Gerät Anwendung als Handübungstrai- ▬ Selbstständigkeit in der Selbstversorgung (Hygiene, Ankleiden),
ner finden. ▬ Verbesserung im Verhalten zwischenmenschlicher Beziehungen,
Bei einem Korbballspiel kann beispielsweise die Geschwindig-
keit, mit der die Bälle gefangen werden müssen, deren Anzahl und Diagnosen sind dabei u. a.:
der Widerstand des zu betätigenden Handgriffes sowie die Länge ▬ Schädelhirntraumen,
15 der Spielzeit eingestellt werden. Kräftigung und Mobilisation von ▬ Zerebralparesen,
Ellbogen und Handgelenk in Extension und Flexion, in Pro- und ▬ Genetisch bedingte peri- und postnatale Schädigungen,
Supination, differenzierte Fingergriffe (2-Punkt-, 3-Punkt-, La- ▬ zerebrale Tumoren, zerebrale Blutungen, Hypoxien,
teralgriff), Krafttraining in Kombination mit Schnelligkeit und ▬ multiple Sklerose, Morbus Parkinson,
Konzentration durch Anpassung der Spiele in der Geschwindigkeit ▬ Apoplex,
sind weitere Variationsmöglichkeiten. Die Übungsergebnisse kön- ▬ Querschnittsyndrome,
nen bei Bedarf als Grafik und zur Auswertung für Dokumentatio- ▬ Plexusparesen,
nen herangezogen werden (⊡ Abb. 15.40). ▬ Polyneuropathien.
> Aufgrund des relativ hohen Anschaffungspreises ist dieses
Die vorwiegend ganzheitlichen Maßnahmen basieren u. a. auf
Gerät meist nur in Kliniken, größeren Einrichtungen oder spe-
neurophysiologischen Grundlagen. Einige werden nachfolgend er-
zialisierten Praxen zu finden.
wähnt.
Spiegeltherapie Kap. 64
15.2.3 Sensomotorisch-perzeptive Behandlung Die Spiegeltherapie ist ein ergotherapeutisches Verfahren, das 1996
von Vilayanur S. Ramachandran als »Imaginationstherapie« er-
Die sensomotorisch-perzeptive, therapeutische Behandlung wird funden wurde. Sie wird bei Nervenschmerzen, die mit fehlendem
verordnet bei: oder gestörtem afferentem, sensorischem Input einhergehen, ein-
▬ Schädigungen des zentralen Nervensystems, gesetzt. Dies betrifft u. a. Phantomschmerzen, z. B. nach Amputa-
▬ Entwicklungsstörungen, tionen, aber auch Schmerzen wie z. B. beim komplexen regionalen
▬ Erkrankungen der peripheren Nerven und Nervenläsionen. Schmerzsyndrom (Typ I und II). Die Methode wird außerdem
erfolgreich bei Patienten mit Lähmungen, Allodynien und Wahr-
Diese Funktionsstörungen gehen einher mit Beeinträchtigungen nehmungsstörungen eingesetzt. Die beeinträchtigte Gliedmaße
▬ der Grob- und Feinmotorik, Koordination, wird mithilfe von Spiegeln imaginativ dargestellt. Über die gesunde
▬ der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, Seite kann sie nun positioniert, bewegt und dadurch trainiert
15.2 · Spezielle Techniken
299 15
Stereognostische Übungen
Der Patient erhält Materialien mit unterschiedlichen Oberflächen-
ziertem CRPS frühzeitig eingesetzt werden. Zielsetzung ist eine strukturen, die er einerseits ohne Augenkontrolle identifizieren
Muskelaktivierung aufgrund metabolischer und mechanischer und andererseits im Seitenvergleich (geschädigte, nicht geschädigte
Reizung der afferenten Nervenfasern. Durch Druckbelastung Seite) differenzieren soll (⊡ Abb. 15.43).
(z. B. Schrubben, vorzugsweise im 4-Füßler-Stand), im Wechsel
mit der Zugbelastung (z. B. schwere Tasche tragen) soll unter Fazilitation
minimaler Bewegung die bei der CRPS vermutete Dysregulation Fazilitation beschreibt die Leistungsförderung des neuromuskulä-
beeinflusst werden. Es bedarf einer größeren Intensität, Dauer ren Systems (Nerven und Muskeln) über die Reizung der Rezepto-
und Häufigkeit um einen ausreichenden »afferenten« Input zu ren in den Körpergeweben.
erreichen, der eine Veränderung der abnormen Aktivität im ZNS Dabei wirkt
bewirken soll. ▬ die exterozeptive Stimulation auf die Haut und kann durch
Streichen und Pinseln stimuliert werden,
Kognitiv-therapeutische Übungen nach Perfetti ▬ die propriozeptive Stimulation auf die Propriozeptoren der
Das Konzept wurde von dem italienischen Neurologen Carlo Per- Muskeln (Muskelspindeln), der Sehnen (Golgi-Apparat) und
fetti ursprünglich speziell für Schlaganfallpatienten entwickelt. Es der Gelenke (Pacini-Lamellenkörperchen) und ist durch Kom-
handelt sich dabei nicht um mechanische Übungsabläufe, sondern pression oder Traktion der Gelenke, durch Bewegung gegen
15 um kognitive Lösungen bestimmter Aufgaben unter Nutzung affe- Widerstand oder Taping, zu erreichen,
renter Informationen aus der Außenwelt. Der Patient trainiert das ▬ die akustische Stimulation über die Stimme, welche zielgerich-
»Spüren« der Bewegung. Pathologische Bewegungsmuster sollen tet (laut und deutlich) zur Unterstützung bei der Bewegungs-
erkannt und kontrolliert werden. Ziel ist die Organisation und/ ausführung eingesetzt wird.
oder die Reorganisation des Nervensystems, das die Sensibilität
zur Grundlage der Therapie macht. Das ZNS braucht Informati- Durchgeführt wird die Dehnung des Muskelbauches mit Druck als
onen von Körper und Umwelt, um Bewegungen planen und aus- schnelle oder mäßige Dehnung auf den Muskel. Die Widerstands-
führen zu können. Dafür ist die Förderung des Bewusstseins, also übung zur Kräftigung des Muskels erfolgt, indem im Anschluss
der Aufmerksamkeit für die Reizverarbeitung (Wahrnehmung), an die vorausgegangene Dehnung ein Widerstand gegeben wird.
wichtig. Zur Stabilisation des Gelenks werden wechselnde Widerstände in
Durch das intensive Training des sensomotorischen Nerven- verschiedenen Gelenkebenen (z. B. Extension – Flexion, Pro- und
systems kann es zu einer Senkung des Muskeltonus (Spastik) kom- Supination) verwendet. Zur Traktion des Gelenks distrahiert man
men. Der Patient lernt Aufgaben zu lösen: die Gelenkflächen manualtherapeutisch. Die Kompression des Ge-
▬ Übung 1. Grades: Ziel ist es, wieder eine Vorstellung der Be- lenks kann mittels Abstützübungen, Druckbelastungen auf das Ge-
wegung zu bekommen. Der Patient hat die Augen geschlossen, lenk oder die gesamte Extremität ausgeführt werden. Die Übungen
der Therapeut führt die Bewegung. sollen mehrmals wiederholt und in verschiedenen Ebenen, vor-,
▬ Übung 2. Grades: Ziel ist es, wieder einen Teil der Bewegung rück- und seitwärts, durchgeführt werden.
selbst zu übernehmen. Der Therapeut unterstützt die Bewe-
gung nur noch.
▬ Übung 3. Grades: Der Patient lernt, die elementaren Schemata 15.2.4 Psychisch-funktionelle Behandlung
der Bewegung selbst zu kontrollieren.
Für die Behandlung von Fähigkeitsstörungen, die aus Verände-
Die Übungen nach Perfetti sind in Teilaspekten auf Ergebnissen rungen des psychisch-sozialen Verhaltens resultieren, kann die
wissenschaftlicher Studien konstruiert und entwickeln sich analog psychisch-funktionelle Therapie verordnet werden. Diese gezielten
der neuen Erkenntnisse weiter. Maßnahmen dienen der
15.2 · Spezielle Techniken
301 15
▬ Förderung, appliziert werden, da laut Lienhardt (1988) in jedem biologischen
▬ Verbesserung und System sich gegenseitig beeinflussende Vorgänge ablaufen und
▬ Wiederherstellung somit verstärkende oder abschwächende Wirkungen aufweisen.
von Die komplexen Wirkungsmechanismen sind bis dato noch nicht
▬ Verhaltensauffälligkeiten, abschließend geklärt.
▬ Störungen in der Beziehungsfähigkeit, Die Anwendungen bewirken eine Beeinflussung der inneren
▬ der Belastbarkeit und Ausdauer, Organe. Bei Traumen und akuten Entzündungen ist die Methode
▬ der Tagesstrukturen, der Wahl der Wärmeentzug; bei chronischen Entzündungen und
▬ der Selbstständigkeit in der Selbstversorgung, Muskelverspannungen wird die Wärmezuführung bevorzugt.
▬ der Verbesserung und dem Erhalt kognitiver Funktionen,
▬ der Verbesserung und dem Erhalt in Orientierung zu Raum,
Zeit und Personen, Kälte bewirkt:
▬ der Unterstützung der Beziehungsfähigkeit. ▬ Zunahme des Muskeltonus
▬ Abnahme der Durchblutung
Im Besonderen bei Kindern können Schädigungen und/oder Funk- ▬ Analgesie
tionsstörungen ▬ Entzündungshemmung
▬ in der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung,
▬ im psychomotorischen Tempo und der Qualität, Eine lokale Anwendung von Eis (ca. –20°) ist von mindestens 5
▬ in den kognitiven und höheren kognitiven Funktionen, bis max. 20 min z. B. an Gelenken möglich. Das Eisteilbad wird
▬ bei den emotionalen Willensfunktionen, bei ca. 10° appliziert.
▬ bei der Anpassung von Verhaltensmustern
vorliegen. Wärme bewirkt:
Die therapeutischen Maßnahmen finden einerseits in Form von ▬ Senkung des Muskeltonus (= Entspannung) von glatter Mus-
▬ symptombezogenen Gesprächen statt, kulatur und Skelettmuskulatur
andererseits werden ▬ Zunahme der Durchblutung durch Gefäßweitstellung
▬ globale Handlungsabläufe (Planung und Gestaltung des Le- ▬ Analgesie aufgrund Muskelentspannung und Durchblutungs-
bensalltages) unter realistischen Bedingungen trainiert und in steigerung
▬ Einzelaktivitäten (z. B. Geschirrspülen, Schrank aus- und ein-
räumen, Einkäufe erledigen und Behördengänge absolvieren)
unterteilt. Im Vorfeld der Anwendungen beziehen wir folgende Kriterien in
In der Handrehabilitation wird diese Maßnahme überwiegend unsere Überlegungen ein:
zum Einsatz kommen, wenn aufgrund chronischer Beeinträchti- ▬ Allgemeinzustand des Patienten,
gung (z. B. Fehlbildungen) Auffälligkeiten im zwischenmenschli- ▬ Art der Verletzung und Zustand des zu behandelnden Gebie-
chen Umgang und in der Alltagsbewältigung signifikant werden. tes,
▬ Kühlungs- bzw. Erwärmungsbedarf,
▬ aktive oder passive Applikation,
15.2.5 Physikalische Maßnahmen ▬ Dauer der Applikation.
Paraffinbad
Die betroffene Extremität wird in ca. 40–45° Celsius erwärmtes,
flüssiges Paraffinwachs getaucht und anschließend wärmeerhal-
tend in Folie und einen Frotteehandschuh eingepackt. Während
einer Einwirkzeit von ca. 7–10 min kühlt das Wachs langsam ab
und kann erhärtet und nach dem Ablösen noch für einige Minu-
ten geknetet werden, um den Anwendungseffekt zu intensivieren.
Paraffin pflegt die Haut, macht sie geschmeidig, fördert die Durch-
blutung, entspannt das Gewebe und lockert die Narbenstrukturen.
Zusätzlich können bei dieser Anwendung die kleinen Fingerge-
lenke vor dem Eintauchen in das Wachs mittels Tape in bestimmte
Positionen »gequengelt« werden. Die Weichteile und Bandstruk-
turen werden dabei gedehnt und somit das Bewegungsausmaß
erhöht (⊡ Abb. 15.45).
! Cave
Bei sensiblen Störungen ist eine vorherige Temperaturtes-
15 tung mit der gesunden Hand vorzunehmen.
Fluidotherapie
Die Behandlung erfolgt unter Einsatz von Maisschrot. Mittels
Gebläse wird ein warmer trockener Luftwirbel erzeugt. Bei etwa
40° Celsius werden unter individuell einstellbarem Druck die fei-
nen Partikel tiefenmassierend um die jeweilige, durch einen Kanal
eingeführte Extremität gewirbelt. Die Applikationsdauer beträgt
ca. 5–15 min pro Sitzung.
Kontraindikation sind nicht gänzlich geschlossene Wunden, Zir-
kulationsstörungen und infektiöse Erkrankungen (⊡ Abb. 15.46).
Taktile Anwendungen
Styropor, Linsen, Bohnen, Rapssamen und Quarzkies verschie-
dener Konsistenzen setzen, in Therapieboxen verabreicht, tak- ⊡ Abb. 15.46 Fluidotherapieanwendung
tile, sensorische Reize unterschiedlicher Intensität. Diese werden
durch Kühlung oder Erwärmung des Inhaltes zusätzlich inten-
siviert. Dabei kann beispielsweise Styropor durch seine Eigen-
schaften, leicht, weich, mäßig temperiert und nicht scharfkantig, Elektrotherapie
schon in einer frühen Therapiephase eingesetzt werden, wäh- Elektrischer Strom führt zu Durchblutungsverbesserung und Mus-
rend Quarzkies in grober Form mit seinen Eigenschaften, kalt kelentspannung. Über die Reizung der sensiblen Nervenstruk-
oder warm, rau, schwer, hart, zur intensiveren Abhärtung in turen werden die Schmerzrezeptoren unempfindlicher und die
fortgeschrittenerem Stadium der Rehabilitation Einsatz findet körpereigene Endorphinausschüttung wird gesteigert. Dies führt
(⊡ Abb. 15.47). zu Schmerzlinderung und Beseitigung von Schmerzzuständen
15.2 · Spezielle Techniken
303 15
erreicht. Eine parallele Durchführung einer Bewegungstherapie ist Vorteile einer CPM-Behandlung sind dabei:
dabei nicht beeinträchtigt. ▬ prä- und frühpostoperative Mobilisation möglich,
▬ kann in häuslicher Umgebung vom Patienten eigenständig
Taping und therapieunterstützend angewendet werden (bis zu 6 An-
▬ kann die Muskelfunktion verbessern, wendungen à 30 min täglich),
▬ wirkt auf das Lymphsystem (⊡ Abb. 15.49), ▬ Kosten- und Zeitersparnis aufgrund kontinuierlicher Behand-
▬ beeinflusst die Schmerzfortleitung durch die Beeinflussung lung.
der Mechanorezeptoren,
▬ unterstützt die Gelenke unter Anwendung bestimmter Liga- Indikationen
menttechniken, ▬ Frakturen (übungsstabil),
▬ wirkt auf innere Organe (durch Ausübung eines viszerokuta- ▬ Kapsulektomien, Kapsulotomien,
nen Reflexes auf bestimmte Hautzonen). ▬ CRPS (»complex regional pain syndrome«),
▬ Arthrolysen, Tenolysen,
Erfolgreich eingesetzt wird die Methode u. a. bei ▬ Weichteilerkrankungen,
▬ Gelenkschmerzen (z. B. Epicondylitis, Gelenkdistorsionen), ▬ Arthrosen.
akutem Schulterschmerz (»frozen shoulder«), Arthrose-
schmerzen, Kontraindikationen
▬ muskulärem Schmerzsyndrom (Polyneuropathie, Nervenläsio- ▬ Frakturen (instabil),
15 nen), ▬ Infektionen,
▬ viszeralen Schmerzen (Lymphödem, chronische Lymphstau- ▬ Entzündungen.
ung, Thrombophlebitiden).
! Cave
Die CPM-Schienen sollen ausschließlich von geschultem
Hinweis: Taping wird nur von privaten Krankenkassen anerkannt
Fachpersonal abgegeben werden und bedürfen einer ge-
und gezahlt.
nauen Einweisung des Patienten. Bei Patienten mit unzurei-
chender Compliance ist der Einsatz dieser Schienen genau
15.2.6 Apparative Behandlungsmethoden abzuwägen.
Funktionelle Tests
Sie ermöglichen, die Berührung differenzierter zu erfassen. Damit
sind Informationen über grobe und feine Sensibilitätswahrneh-
mung möglich, geben Auskunft über die Perzeption mit und ohne
Augenkontrolle und lassen Rückschluss auf die taktile Wahrneh-
mung zu.
Sinnvolle Tests sind folgende:
▬ Statischer 2-Punkte-Diskriminationstest,
▬ Auflesetest nach Moberg/Dellon,
▬ STI-Test (»shape texture identification test«),
▬ Berührungslokalisationstestung.
Ödem
Ruhigstellung Gewebsreaktion
Schmerzen Gefäßspasmen
⊡ Abb. 15.55 Kompressionsfingerling »digi sleeve« und »Silopad« Silikons-
⊡ Abb. 15.52 Circulus vitiosus bei einem Ödem. (Aus Waldner-Nilsson 2008) trumpf
15.2 · Spezielle Techniken
307 15
15.2.9 Standardisierte Narbenbehandlung der Kenndaten (einmalig), Allgemeinanamnese, Erhebung des
aktuellen extrinsischen und intrinsischen Risikoprofils (patien-
> Der Narbenbehandlung kommt in der Handchirurgie noch tenbedingte Faktoren) und die klinische Untersuchungen (nar-
immer nicht genug Bedeutung zu. Mit Ausnahme der Verbren- benbedingte Faktoren). Ziel dieses Untersuchungsschemas ist es,
nungspatienten wird sie bei allen anderen Pathologien so gut die Befunde, die für die Prophylaxe und Therapie wichtig sind,
wie immer vergessen. Die in der Verbrennung erarbeiteten standardisiert zu erfassen und zu dokumentieren. Außerdem sol-
Therapieprinzipien lassen sich weitgehend auf die linearen len Patientenkollektive verschiedener Untersucher im Sinne einer
Narben nach Verletzung und/oder Operation übertragen. »gemeinsamen Sprache« vergleichbar sein. Besonders ist dabei auf
eine adäquate Dokumentation zu achten, um die Untersuchungs-
Die Narbe ist das Ergebnis der Wundheilung und wird durch ergebnisse für jedes Mitglied des Therapieteams zu jedem Zeit-
zahlreiche endogene und exogene Faktoren beeinflusst. Nach der punkt nachvollziehbar und auswertbar zu machen. So entsteht die
äußerlich abgeschlossenen Wundheilung reift die Narbe makro- Möglichkeit einer frühest möglichen optimalen Prophylaxe und
skopisch und mikroskopisch weiter ( Kap. 4). Die Belastbarkeit Therapie, wodurch die Prognose des individuellen Krankheitsver-
nimmt dabei in den ersten 4 Monaten stark zu. Danach verlangsa- laufs erheblich verbessert wird. Es können maximale funktionelle
men sich die Umbauprozesse und dauern bis zur endgültigen Nar- und ästhetische Ergebnisse erzielt werden. Angewendete Thera-
benheilung mindestens 12 Monate bei Erwachsenen, bei Kindern piekonzepte können retrospektiv und prospektiv evaluiert werden
ca. 18 Monate (⊡ Abb. 15.56). (Qualitätssicherung). Aufgrund dieser Ergebnisse ist es möglich,
Neben den Wundheilungsstörungen mit dem Zusammenbruch diese Therapieverfahren zu optimieren und neue, bessere Thera-
der Narbe spielt die überschießende oder inadäquate Narbenbildung pieschemata gemeinsam zu entwickeln.
für das ästhetische und funktionelle Ergebnis eine große Rolle.
Diagnostik und Therapie der »inadäquaten« Narbenreifung
erfordert ein globales Narbenmanagement, welches basiert ist auf: Standartisiertes Diagnostik- und Dokumentations-
1. profunden anatomischen und pathohysiologischen Grundlagen- schema Narbe
kenntnissen sowie spezifische Kenntnisse der Narbenheilung, ▬ Erhebung/Aktualisierung der Kenndaten
2. einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit, ▬ Allgemeinanamnese
3. einer »gemeinsamen Sprache« und ▬ Erhebung der patientenbedingten Faktoren (aktuelles extrin-
4. der Anwendung eines sog. »multimodalen Therapiekonzeptes«. sisches und intrinsisches Risikoprofil)
▬ Erhebung der narbenbedingten Faktoren
Die Narbe ist das Endergebnis der Wundheilung. Die Narben- – klinische Untersuchung
bildung wird durch zahlreiche endogene und exogene Faktoren – laborchemische Untersuchungen
beeinflusst. Für den klinischen Gebrauch hat sich die Klassifikation – apparative Untersuchungen
in »unauffällige«, »adäquate« und »inadäquate« Narben bewährt. – intraoperative Untersuchungen
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Mitglieder des The- – histologische Untersuchung
rapieteams benötigt man einen »einheitlichen Konsensus«. Für
die Diagnostik und Dokumentation verwenden wir deshalb ein
»Standartisiertes Diagnostik- und Dokumentationsschema Narbe« Für die Behandlung von Narben findet das »integrative Therapie-
( Übersicht). Zur Diagnostik gehören Erhebung/Aktualisierung konzept« nach Hierner u. van den Kerckhove (2010) Anwendung,
welches Prävention, Suppression und die Korrektur von Narben
umfasst (⊡ Abb. 15.57).
Stärke/normale Hautstärke
100
Vermeidung von Narben (Prävention)
Integratives Therapiekonzept »Narben« Information und Instruktion. Der Patient wird über die thera-
peutischen Maßnahmen und deren Wirkung aufgeklärt und erhält
. B Informationen über den Behandlungsverlauf sowie über beein-
. A PRÄVENTION (Aufklärung, Information) flussende Faktoren bezüglich Ernährung, Medikamenteneinfluss,
. S Vermeidung von Narben Sonneneinwirkung und Nikotingenuss.
. Neue Technologien und Behandlungen
I
Endoskopie
0 S …..
Dokumentation. Innerhalb des Therapieteams ist eine umfas-
1d Reduktion von Narben sende Dokumentation unerlässlich, um Therapiekonzepte nach-
5d Modifizierte Operationstechniken vollziehbar und auswertbar zu gestalten und die Untersuchungser-
gebnisse pro- und retrospektiv zum Zwecke der Qualitätssicherung
10d H
evaluieren zu können.
21d A
Die Narbenbehandlung beginnt mit der Erfassung und Eva-
. U SUPRESSION
luierung der Narbe. Ihre Größe und Verschiebbarkeit sind dabei
. T Prävention von »inadäquaten« Narben
von Bedeutung wie auch Narbeneinziehung und Breite. Farbe und
Risikoabwägung bei Elektiveingriffen
3m V Durchblutung geben Aufschluss über ihren Reifezustand. Zur Un-
Beachtung der Hautspannungslinien und
6m E ästhetischen Einheiten terstützung der Dokumentation kann das Narbenbild fotografisch
12m R Asepsis festgehalten werden.
Atraumatische Operationstechnik Zur Vermeidung einer »inadäquaten« Narbe stehen eine Reihe
18m S
Adäquates Operationsmaterial konservativer Maßnahmen zur Verfügung, die nachfolgend be-
. O Spannungsfreier Wundschluss
schrieben werden. (Operative Korrekturmaßnahmen sind bei
. R Adäquate postoperative Nachsorge
(Drainage, Verband, Fadenentfernung...) unzufriedenstellendem Behandlungsergebnis als Mittel der Wahl
. G
Präventive narbensuppressive Begleit- möglich.)
. U behandlung Folgende Maßnahmen kommen dabei zum Einsatz:
. N ▬ Basishautpflege,
Narbensuppressive Begleitbehandlung
. G
Haut- und Narbenmassage
▬ Narbenmassage,
. Ödemtherapie ▬ Desensibilisierung,
. Silikontherapie ▬ Kompressionsbehandlung,
.
Kombinierte Silikon- und Drucktherapie ▬ Silikonauflage,
Intralesionale Medikamentenapplikation ▬ Mobilisation,
. (Adjuvante) Radiotherapie ▬ Dehnung,
{t} …..
▬ Schienenversorgung,
▬ physikalische Maßnahmen.
KORREKTUR Basishautpflege
Minimalinvasive Eingriffe Die optimale Epithelialisation erfordert saubere Wundverhältnisse.
Intraläsionale Medikamentenapplikation Trockene Krusten ohne Umgebungsrötung stellen die optimale
Skin-Resurfacing-Techniken »feuchte Regenerationskammer« für die Epithelialisation dar. Sie
Chemisches Peeling
15 Kryotherapie
sollten nicht abgerissen werden. Zur vorsichtigen Lösung von
Laser Krusten hat sich die mehrmalige Applikation von Mandelöl durch
Dermabrasio den Patienten selbst im Sinne einer Automassage bewährt.
Fillers
! Cave
Eine längere Anwendung von Ölen führt zum Austrocknen
Operative Behandlung
der Haut.
Narbenausschneidung
Narbenkorrektur durch Verlagerung des Die Verletzung selbst und/oder das längere Tragen eines Verbandes
Narbenverlaufs
mit und ohne Lokaltherapeutika führt zu einer Austrocknung der
Gewebetransplantation
Narbenkorrektur durch Volumen- Haut. Eine Rehydrierung und Rückfettung sind wichtige basisthe-
vermehrung im Narbenbereich rapeutische Prinzipien für eine möglichst ungestörte Epitheliali-
(Lipofilling nach Colemann) sierung. Eine frühzeitige intensive Applikation fettreicher Salben
Hauttransplantation führt zu einer signifikanten Verbesserung der Hautqualität und
Lokale Lappenplastiken verbessert die Ausgangssituation für die nun folgende aktive Nar-
Hautexpander
bentherapie.
Freie mikrovaskluläre Lappenplastiken
Narbenmassage
⊡ Abb. 15.57 Integratives Therapiekonzept »Narben« nach Hierner Ziel der Narbenmassage ist eine geschmeidige, leicht verschiebbare
und ebenmäßige Hautstruktur. Die Narbenmassage wird unter-
stützt durch die vorherige Einreibung mit einer fetthaltigen Creme,
verschiedener Narbentypen zur Folge haben können. Die Klassifi- um die Gleitfähigkeit zu verbessern. Die Massage bewirkt eine
kation in »unauffällige«, »adäquate« und »inadäquate« Narben hat Mobilisation und gleichzeitig eine Desensibilisierung des Nar-
sich im klinischen Gebrauch bewährt. Sie beschreibt den Zustand bengewebes. Sie wird mit sanften, leichten und parallel zur Narbe
der Narbenstruktur, die atrophisch, hypertroph oder keloid ausge- verlaufenden Streichungen durchgeführt und darf keinesfalls aus-
bildet sein kann. einandergezogen werden. Dies kann sowohl manuell als auch mit
15.2 · Spezielle Techniken
309 15
⊡ Abb. 15.58 Narbenmassage mit Vibrationsmassagegerät ⊡ Abb. 15.61 Schiene mit Elastomereinlage
Kompressionsbehandlung
⊡ Abb. 15.59 Schallwellenmassagegerät Druckausübung ist die Methode der Wahl, um Narben vor Verhär-
tungen und Hypertrophien zu schützen. Dabei kommen diverse
Hilfsmittel zum Einsatz. Coban-Adhäsivbandagen, Fingerkom-
pressionsstrümpfe (»digi-sleeves«), spezielle Kompressionshand-
schuhe »Isotoner« oder »Jobst«-Kompressionsbandagen. Indivi-
duell anformbare Einlagen für Handschuhe und/oder Schienen
aus »Elastomer« oder »Otoform« aus Zweikomponentenmaterial.
Mittels dieser Maßnahmen wird die Bildung hypertropher und
kontrakter Narben gehemmt und Ödeme reduziert. Laut Hardy
(1989), vermindert die Druckapplikation die Synthese bei einem
Weiterschreiten der Lyse, da die Kollagensynthese sauerstoffab-
hängig ist, die Lyse hingegen nicht. Kompressionen werden bis zu
24 h täglich vorgenommen und ausschließlich zu Hygienezwecken
und zu therapeutischen Maßnahmen entfernt. Sie sollen bis zur ab-
schließenden Narbenreife (bis 24 Monate, bei Kindern bis 36 Mo-
nate) getragen werden.
Durchblutungsstörungen und Entzündungen stellen eine Kon-
traindikation für eine Kompression dar.
Hilfsmittelversorgung
Hilfsmittel dienen der Kompensation bei Funktionsseinschränkun-
gen. Sie können entweder vom Ergotherapeuten selbst hergestellt
oder aus vorhandenen Alltagsgegenständen individuell adaptiert
werden. Weiterhin sind entsprechende Produkte auch gebrauchs-
fertig im Handel erhältlich. Sie sollen
▬ Selbstständigkeit ermöglichen oder unterstützen,
⊡ Abb. 15.63 Diverse Deckelöffner
▬ Lebensqualität verbessern,
15 ▬ die Reintegration des Patienten in ein möglichst normales
Umfeld erleichtern,
▬ die Unabhängigkeit erhöhen,
▬ Restfunktionen trainieren und fördern.
a b
⊡ Abb. 15.65 Gelenkschonende Handlungsabläufe: Türklinke öffnen (Hebelgesetz beachten). a richtig, b falsch
a b
⊡ Abb. 15.66 Gelenkschonende Handlungsabläufe: Auswinden (Fehlbelastung der Fingergelenkachsen). a richtig, b falsch
Gelenkschutzberatung
Bei der Gelenkschutzberatung werden Aspekte zum schonenden
Einsatz der Gelenke vermittelt. Der Patient
▬ erhält grundsätzliche Informationen über anatomische
Gegebenheiten,
▬ wird über die pathophysiologischen Hintergründe der Er-
krankung aufgeklärt,
▬ erlernt die Prinzipien gelenkschonender Handlungs-
abläufe kennen (⊡ Abb. 15.65, ⊡ Abb. 15.66, ⊡ Abb. 15.67,
⊡ Abb. 15.68),
▬ erhält Informationen über kontrakturprophylaktische Maß-
nahmen und deren Handhabung im Alltag und
▬ erhält praktische Unterweisung für gelenkschützenden und
erleichternden Umgang im Lebensalltag.
⊡ Abb. 15.68 Korkenziehen (gelenkschonende Haltung) ⊡ Abb. 15.69 Ulnokarpale Funktionsschiene bei Zustand nach MCP-Endo-
prothesenversorgung
15.2.11 Schienenversorgung
Cock Up – Schiene statisch HG 20–30° Extension, N.radialis Läsion, Schiene distal bis max.
Schienenlänge 2/3 des Rheumatoide Arth- distale Hohlhandfalte,
Unterarmes ritis, Epicondylitis um Flexion der MC-
(ulnaris,radialis) CRPS Gelenke nicht zu be-
einträchtigen
Kleinert-Schiene dynamisch HG 30 bis 60° Flexi- Sehnennaht der Finger- Zügelung richtet sich
on, MCP ca. 60-70° flexoren nach Os scaphoideum
Flexion, aus, Finger soll maxi-
mal streckbar sein
Palmare Mittelhand- statisch Handgelenk bis 20° Postop.Schiene bei. z.B. transversale Ver-
korrekturschiene Extension, MCP Gelen- Morbus Dupuytren, schlussführung über
ke, PIP, DIP max. Stre- Beugekontrakturen im den Fingergelenken,
ckung, HG-Einschluss Finger- Hohlhandbe- um Herausgleiten
nur bei weit nach reich unterschiedlicher nach proximal zu ver-
proximal reichenden Genese hindern, benachbarte
Inzisionen erforderlich Finger einschließen
15 Handgelenkban- elastisch Stabilisierung des Kar- Alle Instabilitäten des Wickelung direkt über
dage (gummiert) pometacarpalgelen- Handgelenkes, Bajo- Metacarpalgelenk
Fertigprodukt kes ohne Einschluss nettfehlstellung bei R.A. (Haftung durch Gum-
der Mittelhand mierung der Bandage)
Schwanenhals- statisch Koorektur und Sta- Schwanenhalsdefor- Ringe werden von Or-
Schmuckringe bilisierung des PIP in mitäten thopäditechniker, bzw.
leichter Flexionsstel- Goldschmied gefertigt,
lung (-30°) Auflagefläche des
Metalles soll flächig
sein, ansonsten Einker-
bungsgefahr
Flexionshandschuh flexibel Beugequengelung der Beugedefizit in Bei PIP und DIP Kon-
gesamten Fingerpha- MCP,PIP,DIP trakturen mit einer
lanx (D 1- 5 möglich) Mittelhandschiene
unterstützen, Zügel-
führung auf Os sca-
phoideum ausrichten,
daher Überkreuzung
der Zügel
Arthrosen Manuelle Therapie Manuelle Ggf. CPM (Pro-/ Hilfsmittelsversorgung Lagerungs- und
(Heberden, Funktionelle Übungen Massage Supination, Exten- ( Abschn. 15.2.10) Korrekturschiene (re-
Bouchard, Therapeutische Thermische sion-Flexion) Gelenkschutzberatung dressierende Schiene
Rhiz-, HG) Knetübungen (Heim- Anwendung (Abschn. 15.2.10) bei Achsfehlstellung),
übungsprogramm) TENS Schmerztagebuch Quengelschienen für
( Abschn. 15.2.1) PIP- Gelenke, Stütz-
manschetten und
-bandagen
Amputationen Manuelle Therapie für Spiegeltherapie Manuelle Sensibilisierung/Desensi- Lagerungs- und Kor-
(Finger, Hand) angrenzende Gelenke Recognise Flash Massage bilisierung rekturschiene, ggf. mit
Funktionelle Übungen Card Thermische (Abschn. 15.2.7) Elastomereinlage
Computergestützte Stereognostische Anwendung Ödembehandlung und
Therapie Übungen TENS, EMS Ödemprophylaxe
Kognitiv-therapeu- (Abschn. 15.2.8)
tische Übungen Standardisierte Narben-
nach Perfetti behandlung
(Phantomschmerz) ( Abschn. 15.2.9)
Schmerzmanagement
( Abschn. 15.2.1)
Taping ( Abschn. 15.2.5)
Endoprothesen Manuelle Therapie an- Manuelle CPM (Pro-/Supi- Hilfsmittelsversorgung Lagerungs- und Korrek-
(HG, MCP, PIP, grenzender Gelenke Massage nation, Extension- (Abschn. 15.2.10) turschiene (Ulnokarpale
CMC) Funktionelle Übungen Thermische Flexion) Gelenkschutzberatung Schiene mit Outrigger
Computergestützte Anwendung ( Abschn. 15.2.10) für jeweiligen DIG), dy-
Therapie namische Extensions-
Therapeutische Knet- bzw. Flexions- Quengel-
übungen schiene für PIP und DIP
Gelenke
318 Kapitel 15 · Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung
Morbus Manuelle Therapie Stereognostische Physikalische Ggf. CPM Sensibilitätstraining/ Lagerungs- und Kor-
Dupuytren Funktionelle Übungen Übungen Maßnahmen (Extension-Flexion) Desensibilisierung rekturschiene, ggf. mit
Therapeutische Knet- hier: TENS ein- ( Abschn. 15.2.7) Elastomereinlage
übungen (Heimpro- setzen Ödembehandlung und
gramm) Ödemprophylaxe
Computergestützte ( Abschn. 15.2.8)
Therapie Standardisierte Narben-
behandlung
( Abschn. 15.2.9)
Karpaltunnel- Manuelle Therapie Physikalische Ggf. CPM (Pro-/ Sensibilitätstraining/ Ggf. Lagerungsschiene
syndrom (CTS) Funktionelle Übungen Maßnahmen Supination, Exten- Desensibilisierung mit Elastomereinlage
Therapeutische Knet- TENS einsetzen sion-Flexion) ( Abschn. 15.2.7)
übungen Taping Narbenmassage
( Abschn. 15.2.9)
Sehnennähte Manuelle Therapie Ggf. Stereognosti- Massagen Besonderheiten bei Dynamische Flexions-
(Beuge-/Streck- Funktionelle Übungen sche Übungen Thermische Sehnenverletzungen schiene (Kleinert) oder
sehne) Therapeutische Knet- Anwendung ( Abschn. 15.1.4) dynamische Extensi-
übungen EMS onsschiene (Reversed
Computergestützte Kleinert) für einen oder
Therapie mehrere Finger
Tenolysen Manuelle Therapie Massagen CPM (Extension- Ggf. Standardisierte Ringbandschutz und
Funktionelle Übungen Thermische Flexion) Narbenbehandlung ggf. dynamische Funkti-
Therapeutische Knet- Anwendung ( Abschn. 15.2.9) onsschiene
übungen EMS
Computergestützte
Komplexes Motorisch-funktionelle Sensomotorisch- Physikalische CPM (Pro-/Supi- Ödembehandlung und Lagerungsschiene, ggf.
regionales Behandlung perzeptive Be- Maßnahmen nation, Extension- Ödemprophylaxe Stütz- und Schutzban-
Schmerzsyn- handlung hier: 15.2.5 Flexion) ( Abschn. 15.2.8) dage oder -manschette,
drom (CRPS) TENS einsetzen Schmerzmanagement pneumatische Druck-
( Abschn. 15.2.1) schiene
Nerven- Motorisch-funktionelle Spiegeltherapie Physikalische CPM (Pro-/Supi- Sensibilitätstraining/ Statische und dynami-
läsionen Behandlung Recognise Flash Maßnahmen nation, Extension- Desensibilisierung sche Schienen je nach
Cards Flexion) ( Abschn. 15.2.7) Verletzung erforderlich
Kognitiv-therapeu- Ödembehandlung und
tische Übungen Ödemprophylaxe
nach Perfetti ( Abschn. 15.2.8)
Stereognostische Standardisierte Narben-
Übungen behandlung
( Abschn. 15.2.9)
ADL ( Abschn. 15.2.10)
15.5 · Verordnungsmodalitäten
319 15
Rheumato- Funktionelle Übungen Stereognostische Manuelle Mas- CPM (Pro-/Supi- Schmerzbehandlung und Lagerungs- und Korrek-
ide Arthritis Therapeutische Übungen sage nation, Extension- Schmerzmanagement turschiene, ggf. Stütz-
(konservative Knetübungen (Heim- Thermische Flexion) ( Abschn. 15.2.1) und Schutzbandage
Behandlung) übungsprogramm) Anwendung Hilfsmittelsversorgung oder -manschetten,
TENS, EMS ( Abschn. 15.2.10) AUD-Spange palmar
Gelenkschutzberatung oder dorsal
( Abschn. 15.2.10)
Psychisch-funktionelle
Behandlung
( Abschn. 15.2.4)
Synovektomien Manuelle Therapie Manuelle Mas- CPM (Pro-/Supi- Lagerungsschiene,
Funktionelle Übungen sage nation, Extension- Quengelschienen für
Therapeutische Thermische Flexion) PIP-Gelenke, Stützman-
Knetübungen (Heim- Anwendung schetten und -bandage
übungsprogramm) TENS, EMS
Fehlbildungen Funktionelle Übungen Stereognostische Physikalische CPM (Pro-/Supina- Schmerzbehandlung und 2 Lagerungs- und
Handwerkliche Tätig- Übungen Maßnahmen tion, Ext. Flexion Schmerzmanagement Korrekturschienen, ggf.
keiten ( Abschn. 15.2.1) Stütz- und Schutzban-
Therapeutische Ödembehandlung und dage oder -manschet-
Knetübungen (Heim- Ödemprophylaxe ten, ggf. mit Elastomer-
übungsprogramm) ( Abschn. 15.2.8) einlage, dynamische
Standardisierte Narben- Extensions- bzw. Flexi-
behandlung ons-Quengelschiene
( Abschn. 15.2.9)
Hilfsmittelsversorgung
( Abschn. 15.2.10)
Gelenkschutzberatung
( Abschn. 15.2.10)
Psychisch-funktionelle
Behandlung ( Abschn.
15.2.4)
Verbrennun- Motorisch-funktionelle Sensomotorisch Physikalische CPM (Pro-/Supi- Sensibilitätstraining/ Statische und dynami-
gen Behandlung – perzeptive Be- Maßnahmen nation, Extension- Desensibilisierung sche Schienen je nach
handlung Flexion) ( Abschn. 15.2.7) Verletzung erforderlich
Ödembehandlung und
Ödemprophylaxe
( Abschn. 15.2.8)
Standardisierte Narben-
behandlung
( Abschn. 15.2.9)
ADL ( Abschn. 15.2.10)
Psychisch-funktionelle
Behandlung
( Abschn. 15.2.4)
Chronifizierte Schmerz- - CS
Der Heilmittelkatalog (http://www.heilmittelkatalog.de) gibt Aus-
syndrome kunft darüber, mit welchem Heilmittel in welcher Verordnungs-
menge bzw. Gesamtverordnungsmenge das Therapieziel im Regel-
fall zu erreichen ist.
Für den Regelfall ist dabei immer die Verordnung eines sog.
deren Leitsymptomatik die »Fähigkeitsstörung« ist, die Einschrän- »vorrangigen« Heilmittels, z. B. »motorisch-funktionelle Behand-
kungen in der Selbstversorgung und Alltagsbewältigung, der Be- lung« vorgesehen. »Thermische Anwendung« kann, soweit medizi-
weglichkeit und Geschicklichkeit nach sich zieht. nisch erforderlich, als zusätzlich ergänzendes Heilmittel verordnet
Therapieziele für SB2 können u. a. sein: werden.
▬ Verbesserung der manuellen Geschicklichkeit, Ein »optionales« Heilmittel findet Einsatz bei Patienten, bei
▬ Verbesserung der körperlichen Beweglichkeit, denen das vorrangige Heilmittel nicht eingesetzt werden kann, z. B.
▬ Erlernen von Kompensationsmechanismen, »sensomotorisch-perzeptive« anstatt »motorisch-funktionelle« Be-
▬ Selbstständigkeit in der Selbstversorgung (Hygiene/Ankleiden), handlung.
Erkrankungen der Gruppe EN bzw. PN (periphere Nervenläsionen)
sind beispielsweise:
▬ Plexusparese,
▬ periphere Paresen,
▬ Polyneuropathie
Funktionsstörungen der
▬ Grob- und Feinmotorik, Koordination,
▬ Sensibilität und Körperwahrnehmung,
deren Leitsymptomatik die Fähigkeitsstörung z. B. in der
▬ körperlichen Beweglichkeit/Geschicklichkeit,
15 ▬ der Selbstversorgung und Alltagsbewältigung
ist.
Mit den möglichen Therapiezielen:
▬ Selbstständigkeit in der Selbstversorgung (Ankleiden/Hygi-
ene),
▬ Verbesserung der körperlichen Beweglichkeit und Geschick-
lichkeit,
▬ Erlernen von Kompensationsmechanismen,
▬ Wiederherstellung/Verbesserung der Belastbarkeit und Aus-
dauer
16.1 Allgemeines eröffnet, zuletzt kam im Jahr 1997 das Unfallkrankenhaus Berlin-
Marzahn hinzu. Derzeit existieren in Deutschland 9 berufsgenos-
Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) ist ein wesentlicher senschaftliche Unfallkliniken sowie 2 berufsgenossenschaftliche Kli-
Pfeiler im System der gegliederten deutschen Sozialversiche- niken für die Behandlung von Berufskrankheiten. Zusätzlich gibt es
rung und hat eine lange Tradition. Zusammen mit der Ren- 12 BG-Sonderstationen in externen Kliniken, die im engen Verbund
ten- und Krankenversicherung gehört sie zu den ersten sozialen mit berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken zusammenarbeiten.
Absicherungen für Arbeitnehmer. In der kaiserlichen Botschaft Parallel hierzu werden durch die Landesverbände der Deutschen Ge-
vom 17.11.1881 wurden erstmals die Grundzüge dieses neuen setzlichen Unfallversicherung ausschließlich geeignete Krankenhäu-
Versicherungsschutzes verkündet. Am 6. Juli 1884 beschloss der ser an der besonderen stationären Behandlung Schwerunfallverletzter
Reichstag das Unfallversicherungsgesetz, als dessen Konsequenz beteiligt (Verletzungsartenverfahren). Diese müssen im Hinblick auf
die Berufsgenossenschaften gegründet wurden. Das Gesetz hat die Schwere der Verletzungen spezielle personelle, apparative und
trotz zahlreicher Änderungen in seinen wesentlichen Bestandteilen räumliche Anforderungen erfüllen und zur Übernahme bestimmter
bis heute Gültigkeit. Mit dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbu- Pflichten bereit sein. Bundesweit sind über 600 Krankenhäuser und
ches (SGB) VII am 1. Januar 1997 wurden die Vorschriften der Kliniken in dieses Verfahren vertraglich eingebunden.
seit 1914 geltenden Reichsversicherungsordnung ersetzt und das Handverletzungen stellen in ihrer Anzahl einen wesentlichen
berufsgenossenschaftliche Heilverfahren neu regelt. Am 26.6.2008 Teil aller Arbeitsunfälle dar. 30% aller meldepflichtigen Unfälle
beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Modernisierung im Zuständigkeitsbereich der DGUV betrafen 2008 die Hand
der Gesetzlichen Unfallversicherung (UVMG). Es trat – von weni- (Gesamtstatistik-Datenbestand der DGUV). Trotz des Einsatzes
gen Ausnahmen abgesehen – am 5.11.2008 in Kraft. modernster Operationstechniken und ständig aktualisierter Be-
Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind die gewerbli- handlungskonzepte gelingt es nicht immer, die komplexen Hand-
chen und landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften sowie die funktionen wieder vollständig herzustellen. In 0,6% der Fälle 2008
Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand (Gemeindeunfall- resultierte zumindest vorübergehend eine Rentenzahlung.
versicherungsverbände, Unfallkassen). Seit dem 1.6.2007 sind der Die Bedeutung von Handverletzungen wurde von den Be-
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) rufsgenossenschaften bereits frühzeitig erkannt. Von Beginn an
und der Bundesverband der Unfallkassen (BUK) zum gemein- haben die berufsgenossenschaftlichen Kliniken große und leis-
samen Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung tungsfähige handchirurgische Zentren eingerichtet, in denen eine
(DGUV) fusioniert. Dachverband der landwirtschaftlichen Berufs- durchgehende Versorgung auch schwerster Handverletzungen ge-
genossenschaften ist der Bundesverband der landwirtschaftlichen währleistet ist. In den letzten Jahren hat sich das Augenmerk ver-
Berufsgenossenschaften (BLB). mehrt auf die sachgerechte Rehabilitation nach Handverletzungen
Die Aufgaben der GUV liegen zum einen in der Prävention von gerichtet. Es fiel auf, dass lange Heilverfahren und Dauerschäden
Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, zum anderen, nach Eintritt in rentenberechtigender Höhe zum Teil die Folgen von Unter-
eines Arbeitsunfalls, in der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, lassungen, mangelnder Kompetenz und fehlender Straffheit in
der Berufshilfe sowie dem materiellen Ausgleich nach Verletzungen. der Führung der Heilverfahren waren. Aber auch patientenseitige
Entsprechend ihrem gesetzlichen Auftrag haben die Unfallversiche- unzureichende Mitarbeit, psychische Überlagerungen oder Aggra-
rungsträger nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrank- vationstendenzen wurden diesbezüglich als Problem erkannt. Um
heiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten dem entgegenzuwirken, bedarf es einer lückenlosen, intensiven
mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen. Hierzu gewäh- und dem Heilverlauf angepassten Rehabilitation. Dazu stehen dem
ren die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Heilbehandlung betreuenden Arzt verschiedene Konzepte zur Verfügung.
einschließlich der medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am
Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft. Ziel der Rehabi-
16 litation ist es, die durch einen Arbeitsunfall verursachten Körper- 16.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
schäden zu beseitigen oder so weit wie möglich zu mildern. Physiologie Kap. 15, 19, 35, 38, 39
Im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren obliegt der zu-
ständigen Berufsgenossenschaft die aktive Steuerung während des 16.1.2 Epidemiologie Kap. 15, 19, 35, 38, 39
gesamten Verlaufs von der Akutversorgung über die Rehabilitation
und Wiedereingliederung in den Beruf bis hin zur finanziellen Ent- 16.1.3 Ätiologie Kap. 15, 19, 35, 38, 39
schädigung. Die Leistungen werden durch einen Träger erbracht.
Liegt ein Arbeitsunfall vor, besteht in der Regel eine Vorstellungs- 16.1.4 Diagnostik Kap. 2
pflicht bei einem D-Arzt (Durchgangsarzt), der zum Teil auch eine
das Heilverfahren steuernde Funktion übernimmt, in weniger kom- 16.1.5 Klassifikation Kap. 2, 4
plizierten Fällen kann die Behandlung durch einen H-Arzt (»an der
besonderen Heilbehandlung beteiligter Arzt«), bei Handverletzungen 16.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
durch einen Handchirurgen (§§ 35 und 37 Abs. 3 Vertrag Ärzte/Un-
fallversicherungsträger) erfolgen. Durch ein detailliert geregeltes, aus- Nach einfachen Prellungen und Distorsionen, oberflächlichen
führliches Berichtswesen, zu dem die Ärzte vertraglich verpflichtet Schnittverletzungen oder unkomplizierten Frakturen ist außer der
sind (SGB VII und Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger), sollen Wundbehandlung oder einer kurz angepassten Ruhigstellung die
der Berufsgenossenschaft schnell und umfassend die für die Heilver- Handfunktion in der Regel rasch wiederhergestellt. Erforderlich
fahrenssteuerung relevanten Informationen zur Verfügung stehen. sind allenfalls eigentätige Bewegungsübungen.
Um das Ziel der Rehabilitation »mit allen geeigneten Mitteln«
so weit wie möglich zu erreichen, errichteten die Berufsgenossen- Ambulante Physio- und Ergotherapie
schaften eigene Kliniken. Das erste berufsgenossenschaftliche Unfall- Bei schwerwiegenderen Verletzungen mit erheblicher Schwellung,
krankenhaus der Welt, das »Bergmannsheil« in Bochum wurde 1890 Hämatom oder Beteiligung tiefer Strukturen (Knochen, Sehnen,
16.1 · Allgemeines
325 16
Nerven, Gefäße) sind in den meisten Fällen krankengymnastische wenn ausgedehnte Verletzungsmuster vorliegen, die von Anfang an
Übungsbehandlungen, ggf. ergänzt durch physikalische Maßnah- eine intensive Nachbehandlung erfordern.
men, erforderlich. Ambulante Physiotherapie kommt als Stan- Die EAP wurde 1995 eingeführt. Sie gründet auf der »beson-
dardtherapie in Betracht, wenn die Beweglichkeit verletzter oder ders indizierten Therapie« (BiTh), die von der Verwaltungsberufs-
mitbetroffener Gelenke zu verbessern ist, reduzierte Muskelkraft genossenschaft für Verletzte aus dem Hochleistungssport entwi-
aufgebaut, Weichteilverwachsungen und Narbengewebe gelöst, ckelt und ab 1991 eingesetzt wurde.
verkürzte Muskulatur gedehnt und die Durchblutung sowie das Eine EAP ist laut Handlungsanleitung der DGUV und des
Koordinationsvermögen verbessert werden müssen. Stehen Stö- BLB zur Verordnung, Durchführung und Qualitätssicherung der
rungen der Funktionsabläufe im Vordergrund oder liegen Defekt- Physiotherapie/Krankengymnastik, physikalischen Therapie, EAP,
situationen vor, die ein Umlernen erforderlich machen, ist auch BGSW und sonstigen stationären Maßnahmen vom 1.1.2008 ins-
Ergotherapie notwendig und die Behandlung damit zu ergänzen. besondere indiziert bei:
Bei einer stärkeren Schwellung ist ein Kompressionshandschuh zu ▬ Bewegungseinschränkungen nach Gelenksteifen (z. B. Arthro-
verordnen, meist kombiniert mit Lymphdrainage. Hilfsmittel wie lysen, Gelenkersatz, nach ankylosierenden Arthrosen, Narko-
Mitnehmerschlaufen, Übungs- und Lagerungsschienen komplet- semobilisation etc.),
tieren die Behandlungsmaßnahmen. ▬ komplexen Gelenkverletzungen mit verzögerter Mobilisierbar-
Insbesondere in der Anfangsphase nach durchgeführter Immo- keit (z. B. wegen Weichteilschadens, postoperativer Ruhigstel-
bilisierung ist die Frequenz der Übungsbehandlung auf 4- bis 5-mal lung, schwerer Handverletzung etc.),
pro Woche festzulegen. In Einzelfällen können auch ambulant meh- ▬ objektiv nachweisbaren Muskelschwächen oder Muskelfunk-
rere Therapieanwendungen pro Tag sinnvoll sein. Im Bereich der tionsstörungen nach Verletzungen oder Operationen (z. B.
gesetzlichen Unfallversicherung kann das mit dem entsprechenden Kompartmentsyndrom),
Formular und kurzer Begründung problemlos verordnet werden. ▬ frühzeitig (innerhalb von 4 Wochen) erkennbarem Stillstand
Die Behandlungsdauer ist an Art und Ausmaß der Verletzung eines anfänglichen Funktionsgewinns unter konventioneller
sowie den individuellen Behandlungsfortschritt anzupassen. Der Physio- und Ergotherapie.
Umfang der notwendigen Behandlung kann von Patient zu Patient
bei gleichen Schadensbildern sehr unterschiedlich sein. Ein ängst- Bei der EAP werden die in der Standardtherapie vorwiegend isoliert
licher, schmerzempfindlicher Patient benötigt oft deutlich mehr zur Anwendung kommenden Behandlungsmaßnahmen (Kranken-
Therapie als ein robuster, bei dem möglicherweise nach Anleitung gymnastik, physikalische Therapie) um die medizinische Trainings-
eine eigentätige Übungsbehandlung ausreicht. Grundsätzlich ist es therapie ergänzt, zusammengeführt, auf den Einzelfall abgestellt und
sinnvoll, die Übungsbehandlung mit hoher Intensität zu beginnen in der jeweils in Betracht kommenden Kombination angewandt.
und diese dann nach Behandlungsfortschritt zu reduzieren. Es ist Sie dient damit insbesondere der Funktionswiederherstellung
meist schwer, zum Teil unmöglich, Bewegungseinschränkungen, bzw. -verbesserung nach Unfallverletzungen mit Störungen ganzer
die durch mangelnde Übungsbehandlung in der Frühphase be- Funktionsketten. Die oft zusätzlich notwendige Ergotherapie muss
dingt sind, später noch erfolgreich zu therapieren. separat verordnet werden.
Physiotherapie kann verordnet werden, solange ein erkennba- Die EAP ist grundsätzlich täglich durchzuführen und darf
rer, messbarer Funktionsgewinn zur völligen oder weitestgehen- eine tägliche Behandlungsdauer von 120 min nicht unterschreiten.
den Wiederherstellung zu verzeichnen ist oder einer drohenden Die »Verordnung zur Durchführung einer EAP« (F 2410) ist vom
Verschlimmerung vorgebeugt werden kann. Vom Patienten ist D-Arzt, H-Arzt oder zugelassenen Handchirurg für 2 Wochen zu
allerdings grundsätzlich zu erwarten, dass er mit der Zeit in die erstellen und bedarf einer Genehmigung der zuständigen Berufs-
Lage kommt, einfache aktive und passive Bewegungsübungen auch genossenschaft. Nach einer Wiedervorstellung können 2 weitere
eigentätig durchzuführen. Wochen ohne gesonderte Kostenzusage verschrieben werden. An-
Eine Verordnung umfasst generell 2 Wochen, danach hat eine schließend besteht die Möglichkeit, Physiotherapie als Einzelthera-
Kontrolluntersuchung zu erfolgen. Nach 4 Wochen ist eine Be- pie zu verordnen.
gründung des verordnenden Arztes für die ggf. weitere Verordnung Ist nach einem Behandlungszeitraum von 4 Wochen kein
erforderlich. Ist nach einem Behandlungszeitraum von 4 Wochen Funktionsgewinn feststellbar, ist festzulegen, ob:
kein Funktionsgewinn feststellbar, sollte erwogen werden, ob: ▬ die EAP abzuschließen ist,
▬ die Übungsbehandlung abzuschließen ist, ▬ eine BGSW indiziert ist oder
▬ eine erweitere ambulante Physiotherapie (EAP) bzw. eine be- ▬ eine andere medizinische Maßnahme notwendig sein könnte.
rufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung (BGSW)
indiziert ist oder Berufsgenossenschaftliche stationäre
▬ eine andere medizinische Maßnahme notwendig sein könnte. Weiterbehandlung (BGSW)
Die BGSW ist ein relativ neuer Baustein der berufsgenossenschaft-
Verordnungen zur Durchführung von Physio- und Ergotherapie lichen Heilbehandlung. Sie entstand 1991 aufgrund des Umstan-
sind vom D-Arzt, H-Arzt oder Handchirurg nach § 37 Abs. 3 des, dass gesetzlich Unfallversicherte vermehrt zur Anschlussheil-
Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger mit dem Vordruck F 2400 behandlung verlegt wurden und somit nicht mehr der Steuerung
auszustellen. durch das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren unterlagen.
Dies war der Anlass für die Berufsgenossenschaften, ein eigenes
Erweiterte ambulante Physiotherapie (EAP) stationäres Rehabilitationsverfahren zu entwickeln, bei dem das
Ist erkennbar, dass trotz ausreichender Übungsfrequenz mit übli- Heilverfahren weiterhin der Steuerung durch dafür ermächtigte
cher Krankengymnastik und Ergotherapie das mögliche Rehabili- Ärzte unterliegt. 2008 waren einschließlich der BG-Einrichtungen
tationsergebnis nicht ausreichend oder nur verzögert erreicht wird, 126 Kliniken zur BGSW nach Verletzungen des Stütz- und Bewe-
kann eine Intensivierung der Behandlungsmaßnahmen in Form gungsapparats zugelassen. Dort wurden 2008 116.517 Patienten
einer EAP angezeigt sein. Sie sollte primär zum Einsatz kommen, behandelt. Für die Zulassung als BGSW-Klinik hat die Deutsche
326 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
a c d
16
Fallbeispiele
z Fallbeispiel 1 (⊡ Abb. 16.1)
Ein 41-jähriger Rangierarbeiter zog sich eine schwere offene
Quetschverletzung der linken Hand zu. Er war mit ihr zwischen
die Puffer zweier Eisenbahnwaggons geraten. Es bestand folgen-
des Verletzungsmuster: Durchtrennung der A. ulnaris, des ober-
flächlichen Hohlhandbogens und des N. ulnaris, offene Luxati-
onen der Karpometakarpalgelenke 2–5, dislozierte Fraktur des
3. Mittelhandknochens, Zerquetschung der Daumenballenmus-
kulatur sowie Decollement streckseitig am Handrücken, Hand-
gelenk und distalen Unterarm. Die Behandlung fand von Beginn
an in unserer Klinik statt. Am Unfalltag erfolgte die Revaskulari-
sierung der minderdurchbluteten Hand durch mikrochirurgische
Wiederherstellung des oberflächlichen Hohlhandbogens und der
A. ulnaris. Der N. ulnaris wurde mikrochirurgisch koaptiert, die
zerstörte Daumenballenmuskulatur reseziert. Die CMC-Luxatio-
c nen und die MHK-3-Fraktur wurden reponiert und mit Bohrdräh-
ten stabilisiert. Wegen einer nachfolgenden Nekrose des 5. Fin-
⊡ Abb. 16.2 Fallbeispiel 2: Schwere Quetschverletzung der Finger beider gerstrahles musste dieser in Mittelhandhöhe abgesetzt werden.
Hände. a Knöchernes Ausheilungsergebnis, b und c guter Grob- und Spitz- ▼
griff an beiden Händen zum Abschluss der Rehabilitation
16.1 · Allgemeines
329 16
Der verbliebene Hautweichteildefekt wurde sekundär mit einer schränkte Beweglichkeit sämtlicher Finger beider Hände. Der Pa-
gestielten Lappenplastik gedeckt. Nach 7 Wochen wurden die tient erhielt Krankengymnastik in Einzel- und Gruppensitzungen
Bohrdrähte entfernt. sowie Ergotherapie und Sportrehabilitation. Zur Verbesserung
Adaptiert an die Weichteilkonsolidierung erfolgte bereits im der Beweglichkeit der rechten Finger kamen ein dynamischer
Verlauf des akutstationären Aufenthalts eine krankengymnasti- Streckquengel sowie ein Beugequengelband zur Anwendung.
sche und ergotherapeutische Behandlung. Die Beweglichkeit der Trotz Verbesserung von Beweglichkeit, Kraft- und Einsatzfähigkeit
verbliebenen Finger wurde u. a. mit einer dynamischen Streck- beider Hände verblieb eine deutliche Funktionseinschränkung
quengelschiene trainiert. 10 Wochen nach dem Unfall verleg- beidseits. Nach Beendigung der 4-wöchigen BGSW wurden Kran-
ten wir den Patienten aufgrund der Komplexität der Verletzung kengymnastik und Ergotherapie ambulant fortgesetzt. Darunter
und der noch bestehenden Funktionseinschränkungen aus der kam es zu einer weiteren langsamen Besserung der Handfunk-
akutstationären Behandlung direkt in die BGSW. Die funktio- tionen. 9 Monate nach dem Unfall führten wir eine Arthrolyse
nelle Behandlung wurde intensiviert unter weiterer Nutzung der am rechten Zeigefingergrundgelenk durch. Zur Nachbehand-
Quengelschiene sowie zusätzlichem Einsatz eines Kompressi- lung kam u. a. eine Biodynamikschiene zur Anwendung. Da eine
onshandschuhs. Die anfänglich bestehende erhebliche Schwel- Rückführung des Versicherten an seinen alten Arbeitsplatz als
lung bildete sich sukzessive zurück, die Beweglichkeit des linken Industriemechaniker aufgrund der verbliebenen Funktionsein-
Handgelenks verbesserte sich schrittweise. Zwischen Daumen schränkungen beider Hände definitiv nicht möglich war, begann
und Zeigefinger konnte ein sicherer Spitzgriff erreicht werden. er 11 Monate nach dem Unfall eine 5-monatige Umschulung zum
Insgesamt verblieb jedoch eine erhebliche Einschränkung der Werkstoffprüfer, die durch die Berufshilfe bei einem potenziellen
Gebrauchsfähigkeit der linken Hand u. a. mit kraftgemindertem neuen Arbeitgeber in die Wege geleitet wurde. Die medizinische
Grobgriff und unvollständigem Faustschluss, sodass eine wettbe- Behandlung wurde ohne Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit
werbsfähige vollschichtige Wiederaufnahme der alten Tätigkeit in der alten Tätigkeit abgeschlossen.
als Rangierer absehbar auch langfristig nicht mehr möglich war.
Die Berufshilfe veranlasste eine innerbetriebliche Umsetzung an
einen leidensgerechten Arbeitsplatz. Nach der Entlassung aus
der 4-wöchigen BGSW wurde eine Arbeitsbelastungserprobung 16.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
in der neuen Tätigkeit in der Zugvorbereitung mit aufsichtfüh-
renden Tätigkeiten durchgeführt. Die Arbeitsbelastung konnte Stationäre Rehabilitationsmaßnahmen nach Handverletzungen
schrittweise bis auf vollschichtig gesteigert werden. 5 Monate sind aus medizinischen und sozialen Gründen bei Kindern und
nach dem Unfall konnte die Behandlung mit Arbeitsfähigkeit in Jugendlichen nach Unfällen in Kindertagesstätten und Schulen
der neuen leidensgerechten Tätigkeit beendet werden. sehr selten notwendig.
Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass bei diesen Patienten-
z Fallbeispiel 2 (⊡ Abb. 16.2) gruppen schwere Handverletzungen , die zu deutlichen Funktions-
Ein 35-jähriger Industriemechaniker geriet mit beiden Händen in defiziten führen können, kaum vorkommen. Zum anderen liegt im
eine Presse. Die Behandlung erfolgte von Beginn an in unserer Wachstumsalter ein ausgesprochen großes Korrekturpotenzial vor.
Klinik. Links bestanden eine Endgliedfraktur des Daumens sowie Je jünger die Kinder sind, umso mehr stehen nach einer ausrei-
Grundgliedfrakturen am Zeige-, Mittel- und Ringfinger. An der chenden Ruhigstellungszeit die eher spielerisch durchzuführende
rechten Hand kam es zu einer Grundgliedfraktur des Daumens, Krankengymnastik und besonders Ergotherapie im Vordergrund.
einer Köpfchenfraktur des 2. Mittelhandknochens, Grundglied- Dabei sind auch die Eltern oder Bezugspersonen, wann immer
frakturen des Mittel- und Ringfingers sowie einem Längsriss der möglich, in die Behandlung mit einzubeziehen. Zur Vermeidung
Ringfingerstrecksehne. Sämtliche Frakturen wurden am Unfalltag von Fehlwachstumsprozessen ist gelegentlich eine angepasste Or-
geschlossen reponiert und mit Kirschner-Drähten stabilisiert, die thesentherapie in Form einer Nachtlagerungsschiene angezeigt.
Strecksehne des rechten Ringfingers wurde genäht. Die Durchblu- Eine solche Schienentherapie ist langfristig angelegt und muss
tung der zu Beginn minderperfundierten Finger 3 und 4 beidseits in fachärztlicher Kontrolle bleiben. Dystrophiereaktionen an der
erholte sich zum Teil. Trotz rheologischer Therapie entwickelten Hand sind im Kindes- und Jugendalter in der Regel unbekannt.
sich Nekrosen am linken Mittel- und Ringfinger, sodass an beiden Bei anhaltenden nicht nachvollziebaren Schwellungszuständen der
Fingern eine Grundgliedstumpfbildung vorgenommen werden Hand ist eher der Verdacht auf eine artifizielle Störung zu äußern.
musste. Ein Weichteildefekt am rechten Mittelfinger mit freiliegen- Stehen jedoch stationäre Rehabilitationsmaßnahmen an, ist
der Strecksehne und freiliegendem Grundgliedknochen wurde bei Kindern und Jugendlichen besonders darauf zu achten, die
durch einen Reversed-cross-Fingerlappen gedeckt. Frühzeitig Handfunktion derart wiederherzustellen, dass die schulische Aus-
wurde mit eigentätigen und krankengymnastischen Übungsbe- bildung im vollen Umfang absolviert werden kann, um letztlich
handlungen begonnen. Nach 6 Wochen wurden die Kirschner- die bestmöglichen Voraussetzungen für den späteren beruflichen
Drähte entfernt. Der Patient wurde vorübergehend aus der stati- Werdegang zu erlangen.
onären Behandlung entlassen und erhielt ambulant Krankengym-
nastik. 3 Wochen nach der Reversed-cross-Fingerlappenplastik
wurde der eingeheilte Lappen abgetrennt. Wegen psychischer 16.1.9 Sozioökonomische Aspekte
Unfallfolgen (Anpassungsstörung) fand sowohl ambulant als auch
stationär eine psychologische Mitbehandlung statt. In ⊡ Tab. 16.1 sind Eckwerte der BGSW/KSR in der Berufsgenos-
Gut 3 Monate nach dem Unfall wurde der Patient zu einer senschaftlichen Unfallklinik Duisburg für das Jahr 2008 aufgeführt.
BGSW bei uns aufgenommen. Es bestand eine deutlich einge- Da die Klinik ein überregionales handchirurgisches Zentrum mit
▼ handchirurgischer Rehabilitationssektion ist, ergab sich die In-
dikation zur stationären Rehabilitation oft erst verzögert nach
330 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
Altersmedian 47 Jahre
Median der Arbeitsunfähigkeitsdauer vor Aufnahme zur stationären Reha 171 Tage
Anteil der Fälle mit resultierender Arbeitsfähigkeit in alter oder neuer (leidensgerechter) Tätigkeit 62%
davon: Anteil der Fälle mit Arbeitsfähigkeit direkt nach der stationären Rehabilitation 18%
Anteil der Fälle mit Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit in alter Tätigkeit im Verlauf 34%
Anteil der Fälle ohne Arbeitsfähigkeit bei Abschluss der Behandlung 38%
prolongierter auswärtiger Vorbehandlung. Nur 14% der 198 Re- Heilverlauf münden. Gerade bei den vermeintlich leichten Verlet-
habilitanden wurden am Unfalltag oder zumindest innerhalb von zungen ist es wichtig, frühzeitig eine Abweichung vom erwarteten
4 Wochen nach Unfall bei uns vorgestellt. Dadurch ergibt sich unkomplizierten Verlauf zu erkennen. Auch einfache Verletzungen
ein relativ hoher Medianwert von 171 Tagen für die Arbeitsunfä- können, wenn sie auf Vorschäden oder Schadensanlagen tref-
higkeitsdauer vor der stationären Rehabilitation. Bemerkenswert fen, zu schwerwiegenden Funktionseinschränkungen führen. Des
sind der Anteil behandlungsrelevanter psychischer Unfallfolgen Weiteren ist auf die Möglichkeit einer Heilentgleisung durch eine
(15% der Fälle) und besonders der Anteil behandlungsrelevanter Dystrophie hinzuweisen.
unfallunabhängiger psychischer Besonderheiten (21%). Die Ein- In Zeiten der immer manifester werdenden Ressourcenknapp-
16 schätzung der Psyche wurde jeweils frei durch einen Psychologen heit im Gesundheitswesen steht die stationäre Rehabilitation unter
erstellt. Standardisierte psychologische Tests wurden dafür nicht zunehmendem Legitimationsdruck. Oft wird behauptet, die bes-
verwandt. In 62% der Fälle konnte im Verlauf nach der stationären seren Ergebnisse der Rehabilitation gesetzlich Unfallversicherter
Rehabilitation Arbeitsfähigkeit in alter oder leidensgerechter Tätig- seien nur unter erheblichen zusätzlichen Kostenaufwendungen zu
keit erreicht werden. Einen hohen Stellenwert im Verlauf nach der realisieren. Studien zum Vergleich von Behandlungsstrategien, ins-
stationären Behandlung nimmt die Arbeitsbelastungserprobung besondere vergleichende Behandlungskostenanalysen oder Aus-
ein (46% der Fälle). wertungen von Arbeitsunfähigkeitszeiten, Ergebnissen zur Teilhabe
Bei der Betrachtung verzögerter Heilverläufe zeigte sich, dass am Arbeitsleben, zum funktionellen Endergebnis und zur verblie-
insbesondere folgende Faktoren zu einem schwierigen Verlauf füh- benen MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) existieren jedoch
ren können: kaum. Entsprechende Untersuchungen wurden an der Hand bis-
▬ inadäquate und zu lange Ruhigstellung der verletzten Hand, her lediglich für distale Radiusfrakturen durchgeführt. Aufgrund
▬ früh auftretende, lang persistierende und therapieresistente der vielen und zum Teil nicht direkt miteinander vergleichbaren
Schwellungen der verletzten Hand, Einflüsse war es schwierig, verbindliche Aussagen zu treffen. Es
▬ unzureichende Erstversorgung bei komplexen Handverletzun- wurde jedoch deutlich, dass eine stationäre Rehabilitation positive
gen, Effekte hinsichtlich der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit, des
▬ verspätete Einleitung und zu niedrige Frequenz der ambulan- Endergebnisses und der Kosten je Fall hat, insbesondere wenn der
ten Physio- und Ergotherapie, das Heilverfahren führende Unfallversicherungsträger ein aktives
▬ Verständigungsschwierigkeiten, Sprachbarrieren sowie man- Handreha-Management betreibt.
gelnde Mitarbeit des Verletzten. Entscheidend ist, dass während der Steuerung des Heilverfah-
rens durch die Berufsgenossenschaft und den behandelnden Arzt
Zudem fiel auf, dass überdurchschnittlich oft leichte Verletzun- die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation erkannt und
gen bis hin zu Bagatellfällen in einen schwierigen, prolongierten in die Wege geleitet wird, auch wenn bisher nicht nachgewiesen
16.2 · Spezielle Techniken
331 16
wurde, bei welchen Verletzungsmustern die multidisziplinären, alte Tätigkeit möglich ist? Wenn das nicht der Fall ist: Welche
stationären Maßnahmen Vorteile bringen und bei welchen Pa- Anforderungen bestehen an einen neuen Arbeitsplatz? Steht ein
tienten eine adäquate teilstationäre oder ambulante Strategie zu leidensgerechter Arbeitsplatz im Unfallbetrieb zur Verfügung
gleichen Resultaten führt. (Klärung durch die Berufshilfe)? Manchmal bleibt auch nur
festzustellen, dass eine weitere Besserung der Unfallfolgen nicht
realisierbar ist und es sich um einen vorläufigen Endzustand
16.2 Spezielle Techniken handelt. Die weitere berufliche Rehabilitation wird dann vom
Reha-Management der Berufsgenossenschaft übernommen und
Im Folgenden soll die stationäre handchirurgische berufsgenos- ggf. werden Qualifizierungsmaßnahmen, eine Umschulung oder
senschaftliche Rehabilitation (BGSW/KSR) im Detail betrachtet Ausbildung eingeleitet.
werden. In manchen Rehabilitationsfällen besteht eine Diskrepanz zwi-
Gelegentlich wird seitens der Berufsgenossenschaft oder auch schen den objektivierbaren Unfallfolgen und der demonstrierten
der Patienten die Indikation zu einer stationären Rehabilitation Funktionseinschränkung. In diesen Fällen sollte zunächst die bis-
zunächst kritisch gesehen. Nach einer mitunter längeren stationä- herige Diagnostik überprüft und ggf. ergänzt werden. Zur weite-
ren Akutbehandlung möchten die Patienten verständlicherweise ren Klärung ist eine enge Zusammenarbeit mit den Therapeuten
oft im familiären heimatortnahen Umfeld behandelt werden. Die notwendig. Werden die Funktionseinschränkungen nur in Unter-
Berufsgenossenschaft steht in der Pflicht, unnötig hohe Behand- suchungssituationen demonstriert oder sind sie auch konsistent
lungskosten zu vermeiden. Grundsätzlich können nahezu alle Ele- während der Therapie festzustellen? Ggf. können spezielle Leis-
mente der stationären Rehabilitation auch ambulant durchgeführt tungstests weiterhelfen. Von psychologischer Seite ist zu überprü-
werden. Der entscheidende Vorteil der stationären Behandlung fen, ob seelische Probleme eine Rolle spielen, ggf. diese Unfallfolge
liegt in dem zeitlich komprimierten multidisziplinären Vorgehen oder unfallunabhängig sind und inwieweit eine psychologische
unter einem Dach. Zwischen den verschiedenen Professionen be- Therapie angeraten ist. Manchmal kann es notwendig werden, der
steht ein ständiger enger Kontakt. Zudem lassen sich Umfang und Berufsgenossenschaft zu empfehlen, die berufsgenossenschaftli-
Intensität der Behandlung ambulant oft nicht erreichen und der che Heilbehandlung mit Arbeitsfähigkeit zu beenden, obwohl der
Rehabilitand unterliegt stationär zu seinem Wohle einer deutlich Patient sich dazu nicht in der Lage sieht. Nicht alle Behandlungen
engeren Führung. lassen sich im Einvernehmen mit dem Patienten beenden.
Wie das gesamte berufsgenossenschaftliche Heilverfahren zielt Die Therapie wird interdisziplinär unter Einbindung der folgenden
auch die stationäre Rehabilitation auf eine bestmögliche Verbes- Bereiche durchgeführt:
serung oder Wiederherstellung der Funktion mit allen geeigneten
Mitteln. Ein großes Augenmerk liegt auf der Wiederherstellung ▬ Handchirurgische Expertise
der Arbeitsfähigkeit. Falls dies nicht möglich ist, sollen die besten ▬ Physiotherapie
Voraussetzungen für eine anderweitige berufliche Rehabilitation ▬ Ergo-/Arbeitstherapie
geschaffen werden. Neben der beruflichen Wiedereingliederung ▬ Medizinische Trainingstherapie
zielt die Behandlung aber auch auf die Funktionsverbesserung zur ▬ Orthopädietechnik
Teilhabe an den außerberuflichen Lebensbereichen. Auch wenn ▬ Neurologie
abzusehen ist, dass ein Patient, aus welchen Gründen auch immer, ▬ Psychologie
zukünftig keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen wird, kann ▬ Schmerztherapie
trotzdem eine stationäre Rehabilitation indiziert sein, sofern eine ▬ Reha-Management (Berufshilfe), Sachbearbeiter der Berufs-
Chance dafür besteht, dadurch eine Funktionsverbesserung zu genossenschaft
erzielen. ▬ Kraftfahrzeugberatung und Fahrtraining
Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt des Heilverfahrens die sta-
tionäre Behandlung stattfindet, können die Schwerpunktziele un-
terschiedlich sein. Bei einer Rehabilitationsbehandlung kurz nach Ergänzend kommt eine Evaluation der funktionellen Leistungsfä-
Abschluss der Akutbehandlung stehen die Verbesserung von Kraft, higkeit nach Isernhagen (EFL-Test) in Betracht, soweit die Einrich-
Funktion und Gebrauchsfähigkeit der Hand im Vordergrund. Es tung dafür zertifiziert ist.
soll eine Grundlage für die oft noch notwendige weitere ambulante Sämtliche Leistungen sind darauf ausgerichtet, unter ständiger
Behandlung geschaffen werden. Zur Frage der Arbeitsfähigkeit ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders
lassen sich in der Frühphase oft noch keine fundierten Progno- geschultem Personal den Gesundheitszustand zu verbessern bzw.
sen stellen. Ist jedoch bereits zu einem frühen Zeitpunkt sicher einer Verschlimmerung entgegenzuwirken sowie bei der Entwick-
absehbar, dass die alte berufliche Tätigkeit nicht wieder aufgenom- lung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen. Durch eine
men werden kann, sollte dies mit dem Patienten und dem Reha- arbeitsbezogene Abklärung wird in Kooperation mit dem be-
Management der Berufsgenossenschaft erörtert werden. Dadurch rufsgenossenschaftlichen Reha-Management überprüft, inwieweit
kann das Heilverfahren beizeiten in Richtung realistischer Ziele Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben notwendig sind.
gelenkt werden.
Erfolgt die stationäre Behandlung in einem fortgeschrittenen Therapeutische Maßnahmen
Stadium des Heilverfahrens, so liegt der Schwerpunkt vorrangig Am engsten arbeiten mit dem Patienten die Kernbereiche Physiothe-
in der Klärung der beruflichen Rehabilitation. Kann die Hand- rapie, Ergotherapie sowie medizinische Trainingstherapie (MTT)/
funktion soweit gebessert werden, dass eine Reintegration in die Sporttherapie zusammen. Hierfür stehen den neuesten Erkenntnis-
332 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
sen entsprechende, speziell eingerichtete Räume mit Übungs- und – Training der allgemeinen und lokalen Ausdauer und Leis-
Testgeräten, Arbeitssimulationsplätze sowie ein Schwimmbad zur tungsfähigkeit (Armergometertraining),
Verfügung. – Isokinetik (Biodex);
Durch die Physiotherapie werden Entwicklungsstörungen, sen- ▬ Gruppentherapie:
somotorische Funktionen sowie Schmerzzustände analysiert und – Sportspiele und gymnastische Übungen unter Einsatz von
interpretiert, um sie mit speziellen manuellen und anderen physio- Kleingeräten (Bälle, Schläger u. a.),
therapeutischen Techniken sowie physikalischen Maßnahmen zu – Aquatraining (Hand-, Schulter-, Armgymnastik mit ver-
beeinflussen. Primärer Ansatzpunkt ist das Bewegungssystem und schiedenen Übungsmaterialien unter Ausnutzung des Was-
Bewegungsverhalten. Ziel der Physiotherapie ist es, Störungen der serwiderstandes, Sportschwimmen),
Körperfunktionen zu vermeiden oder zu beseitigen, Fehlentwick- ▬ Gesundheitsbildung/Verhaltenstraining.
lungen zu korrigieren und Heilungsprozesse einzuleiten oder zu
unterstützen. Gemäß den berufsgenossenschaftlichen Vorgaben sind pro Tag
Das Leistungsspektrum der Physiotherapie für die Handreha- mindestens 3 h Einzelbehandlungen zu erbringen. Die Gesamtnet-
bilitation besteht aus: totherapiezeit einschließlich von Gruppenbehandlungen darf 4 h
▬ Krankengymnastik, auch auf neurophysiologischer Grundlage, pro Tag nicht unterschreiten.
▬ Massagen, Falls es Hinweise für seelische Probleme gibt, sollte frühzeitig
▬ manueller Therapie, eine psychologische Mitbetreuung eingerichtet werden. Auch bei
▬ Lymphdrainage, chirurgisch nicht zu erklärenden Auffälligkeiten im Heilverlauf
▬ Thermo-, Hydro- und Kryotherapie, sollte der Patient zumindest einmal bei einem Psychologen vorge-
▬ Ultraschalltherapie/Phonophorese, stellt werden.
▬ Elektrotherapie, Lassen sich Schmerzen mit peripher wirksamen Analgetika
▬ hydroelektrische und Vierzellenbäder, nicht ausreichend gut behandeln, so empfiehlt sich frühzeitig eine
▬ Paraffinbad, schmerztherapeutische Beratung hinsichtlich einer speziellen
▬ Balneologie, Medikation. Dies gilt insbesondere bei Phantom- und Stumpf-
▬ Reflexzonentherapie, schmerzen sowie peripheren neuropathischen Schmerzen. Trotz
▬ Magnetfeldtherapie. Schmerzen sollte die Übungstherapie in angepasster Form fortge-
führt werden. Die Patienten sind darauf hinzuweisen, dass gewisse
Bei der Ergotherapie steht die eigenaktive Handlung im Sinne der Schmerzen bei der Übungstherapie in Kauf zu nehmen sind, um
Wiedererlernung komplexer Bewegungsmuster unter Einsatz spe- einen Behandlungsfortschritt zu erreichen, wobei ein erträgliches
ziell adaptierten Übungsmaterials im Mittelpunkt. Die Methoden Schmerzniveau selbstverständlich nicht überschritten werden darf.
der Ergotherapie orientieren sich an Tätigkeiten des Berufslebens, Der mitunter vertretenen Auffassung bei Schmerzen die Übungen
der Freizeitgestaltung sowie an alltäglichen Verrichtungen. Der abzubrechen ist ausdrücklich zu widersprechen. Auch der Patient
Leistungsumfang der Ergotherapie erstreckt sich auf: mit starken Schmerzen an der Hand bleibt ein handchirurgischer
▬ motorisch-funktionelle Behandlung, Patient. Die Führung der Behandlung darf nicht an einen Schmerz-
▬ sensomotorisch-perzeptive Behandlung, therapeuten abgegeben werden. Übungsbehandlungen unter Ple-
▬ Schienenanfertigung (Quengelschienen – statisch, dynamisch, xuskatheteranalgesie sollten eher zurückhaltend zum Einsatz kom-
Lagerungsschienen) men. Zwar sind unter guter Plexuskatheteranalgesie insbesondere
▬ Prothesentraining, passive Übungen besser durchzuführen. Meist stellt sich jedoch
▬ Hilfsmittel und Adaptationen (Verordnung, Probe, Übung), nach Entfernen des Katheters ein Zustand wie vor der Behandlung
▬ Testung beruflicher Belastungsprofile, ein. Bei jeder medikamentösen Schmerztherapie, die nicht wirkt,
16 ▬ berufsbezogenes Training im Werkstattbereich, ist dringend eine Überprüfung des Medikamentenspiegels im Blut-
▬ Betriebsbegehungen, Testung und Unterstützung bei verlet- serum zu empfehlen. Möglicherweise wurde die Dosierung des
zungsadaptierten Umbauarbeiten am Arbeitsplatz, Analgetikums zu niedrig gewählt oder aber auch die vorgeschrie-
▬ Aktivitäten des täglichen Lebens: Nahrungsaufnahme, Körper- bene Menge vom Patienten nicht eingenommen.
pflege, Schreib-, Anziehtraining,
▬ Übungswohnung, Wohnungsberatung, Arbeitsbezogene Maßnahmen
▬ Training im Übungsauto. Im Rahmen der BGSW wird eine Arbeitstherapie bzw. Belastungs-
probe unter Zugrundelegung der bisherigen beruflichen Tätigkeit
Ein weiterer Bestandteil des Gesamtkomplexes notwendiger the- durchgeführt. Ziel ist die Erstellung des Leistungsbildes hinsicht-
rapeutischer Maßnahmen ist die medizinische Trainingstherapie lich der weiteren Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsfähigkeit.
(MTT)/Sporttherapie. Die Aufgabe der MTT und Sporttherapie Darüber hinaus sollen etwaige Leistungen zur Teilhabe am Arbeits-
besteht sowohl in der Rehabilitation eines Gelenks oder einer leben geklärt werden.
Struktur, als auch in der aktiven Wiederherstellung der komple-
xen Haltungs- und Bewegungsfunktionen des Körpers. MTT und
Sporttherapie beruhen somit auf einem ganzheitlichen Ansatz und 16.2.3 Ablauf
trainingswissenschaftlichen Prinzipien. Zum Leistungsspektrum
der medizinischen Trainings- und Sporttherapie gehören: Unverzichtbar für den Erfolg der Handrehabilitation sind:
▬ Individuelles gerätegestütztes Trainingsprogramm zur Verbes- ▬ ein kooperativer und motivierter Patient,
serung der motorischen Grundfertigkeiten Kraft, Ausdauer, ▬ gut ausgebildete und engagierte Handtherapeuten,
Beweglichkeit und Koordination: ▬ eine offene und rege Kommunikation zwischen Patient,
– isometrisches und auxotones Krafttraining (Seilzuggeräte, Therapeuten, Arzt und berufsgenossenschaftlichem Reha-
Freihanteltraining), Management.
16.2 · Spezielle Techniken
333 16
Durch den Arzt sowie die Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten, die Sporttherapie sowie der Ergotherapie einschließlich der arbeits-
den Patienten später auch behandeln werden, erfolgen bei Behand- platzbezogenen Therapie enthält. Therapieziele werden formuliert
lungsbeginn Anamneseerhebung und klinische Untersuchung. Die und dokumentiert. Der Therapieplan wird bei den regelmäßigen
Anamnese umfasst Beruf, aktuelles Arbeitsverhältnis sowie die Visiten durch ein interdisziplinäres Team überwacht und ggf.
familiäre und soziale Situation. Es wird ein Tätigkeitsprofil erstellt, angepasst. Das Team setzt sich aus Arzt, Physio- und Ergothe-
welches eine genaue Beschreibung der zuletzt ausgeübten Tätig- rapeut, Pflegekräften sowie dem Berufshelfer zusammen. Durch
keit hinsichtlich der Art, der regelmäßigen Arbeitszeit sowie der die Teamvisiten kommt es zu einer zeitnahen Information aller
äußeren Einflüsse, denen der Versicherte bei der Arbeit ausgesetzt Mitwirkenden an der Rehabilitation. Auf Änderungen bzw. Rück-
ist, enthält. Bei Unklarheiten bezüglich der Anforderungen am schritte im Heilverlauf kann frühzeitig reagiert und der Behand-
Arbeitsplatz sollte über die Berufsgenossenschaft eine detaillierte lungsplan angepasst werden
Arbeitsplatzbeschreibung angefordert werden. Die Kontrollen im Verlauf sind Grundlage für klare Thera-
Vor und während der stationären Rehabilitation sind die funk- pieentscheidungen und bestimmen die Dauer und den Abschluss
tionellen Defizite zu objektivieren und zu dokumentieren. Dies der Behandlung. Auch gelingt es, mithilfe verschiedener Tests
wird mit einfachen Maßnahmen, z. T. auch mittels standardisierter, Aggravations- und Simulationstendenzen aufzudecken und damit
computergestützter Tests durchgeführt: das Heilverfahren straff zu führen. Nach 14-tägiger Behandlung ist
▬ Erfassung der Bewegungs- und Umfangsmaße (Neutral-0 Me- an den zuständigen Unfallversicherungsträger der Vordruck »The-
thode), rapie- und Dokumentationsplan« (F 2158), in dem die bisherigen
▬ Messung der Kraft beim Grob-, Spitz- und Schlüsselgriff, Behandlungsmaßnahmen vermerkt sind, zu übersenden.
▬ DASH-Fragebogen, Während der stationären Rehabilitation muss eine tägliche
▬ Biodex-Test (PC-gestützte Isokinetik), Therapiezeit von mindestens 4 h gewährleistet sein. Neben dem
▬ Arbeitsplatzsimulationsgerät (⊡ Abb. 16.3). üblichen Spektrum der aktiven und passiven Anwendungen wer-
den in den Therapien besonders solche Tätigkeiten geübt, die der
Des Weiteren sollte vor Beginn der Handtherapie eine genaue Versicherte am Arbeitsplatz benötigt. Von größter Bedeutung ist,
Schmerzanamnese erstellt werden. Optional erfolgt die Einbezie- dem Patienten zu vermitteln, dass er durch Ärzte und Therapeuten
hung eines Schmerztherapeuten. Bei Verletzungen des peripheren begleitet wird, er letztlich jedoch selbst die treibende Kraft der
Nervensystems sowie akutem komplexem regionalem Schmerzsyn- Rehabilitation ist.
drom I und II ist eine Diagnostik und evtl. Mitbehandlung durch
einen Neurologen notwendig. Ergänzend werden eine internistische Wiedererlangung der Handfunktion
Konsiliaruntersuchung zur Einschätzung der Rehabilitationsfähig- Die Inhalte der Behandlung sind in der 1. Phase der Rehabilitation
keit sowie bei entsprechender Notwendigkeit eine psychologische darauf ausgerichtet, die verlorengegangene Funktion der Hand
Beurteilung durchgeführt. Ggf. kommen zur Vervollständigung wiederherzustellen. Die Funktion der Hand ist vielfältig. Die Hand
der Diagnostik bildgebende Verfahren (Röntgen, Sonografie, CT, ist Greiforgan, Tastorgan, Kommunikations- und Verständigungs-
MRT, Szintigrafie) zur Anwendung. Anschließend kann der Pati- organ und vor allem ein vielseitiges Arbeitsinstrument in Alltag
ent spezifisch und in Kenntnis seiner beruflichen Beanspruchung und Beruf. Einschränkungen für die Funktion ergeben sich nach
behandelt werden. Die für die Behandlung wesentlichen Personen Traumata aus:
verfügen über die gleichen Informationen, was spätere Absprachen ▬ Ödembildung,
erleichtert. An die zuständige Berufsgenossenschaft wird ein Auf- ▬ Narben,
nahmebericht (F 2152) erstattet. ▬ eingesteiften Gelenken,
Zu Beginn der Behandlung wird ein individueller Thera- ▬ Schmerzen,
pieplan erstellt, der alle Maßnahmen der Krankengymnastik, ▬ Sensibilitätsminderung,
der physikalischen Therapie, der medizinischen Trainings- und ▬ Neurombildung/Hyperpathie.
334 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
⊡ Tab. 16.2 Behandlungsmöglichkeiten zur Wiedererlangung des funktionellen Einsatzes der Hand
Narbe Narbenmassage/-mobilisierung
Salben
Kompressionshandschuh
Silikon
Lagerungsschienen zur Kontrakturprophylaxe
Physiotherapie Krankengymnastik zum Muskelaufbau und zur Verbesserung des Koordinationsvermögens (z. B. durch PNF)
Knetmasse: Verbesserung der Kraft und Beweglichkeit
Federhanteln, Digiflex: Muskelaufbau
»Ganzkörperübungen« zur Ablenkung der Aufmerksamkeit von der betroffenen Extremität und zum spielerischen Wieder-
16 erlernen des normalen Bewegungsablaufs mit verschiedenen Geräten (z. B. Pezziball)
Ergotherapie Funktionelle Spiele – Greif- und Steckspiele fördern die Motorik und Geschicklichkeit
Peddigrohrflechten, Weben, Seidenmalen, Holzarbeiten zum differenzierten Einsatz der Hand
Medizinische Hand- und Armkurbelergometer – Steigerung der allgemeinen und lokalen Ausdauer
Trainingstherapie: Flexi-Bar – Verbesserung der Hand- und Armkoordination
Gerätgestütztes Krafttraining – komplexe Bewegungsabläufe mit alltagsbezogenem Ziehen, Drücken, Heben, Stemmen
Gruppentherapie – Hand-, Schulter-, Armgymnastik, Wassertherapie
Anteilig werden zunächst mehr gezielte individuelle Krankengym- Operation erreicht werden kann und ggf. diese im Verlauf einzu-
nastik, physikalische Therapie und Ergotherapie durchgeführt, um planen.
die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die verlorengegangene
Funktion wiederhergestellt werden kann (⊡ Tab. 16.2). Arbeitsplatzbezogene und soziale Rehabilitation
Im Anschluss oder auch parallel dazu erfolgt eine funktionelle Nach messbaren Fortschritten in funktioneller und konditioneller
Therapie, die zum Ziel hat, die differenzierten Finger- und Hand- Hinsicht wird in der 2. Phase die Behandlung zunehmend berufs-
funktionen, d. h. die verschiedenen Greifformen, Kraft, Beweglich- orientiert und auf die Aktivitäten des täglichen Lebens gerichtet.
keit und Koordination zu verbessern. Hierbei kommt neben der Dabei finden vorrangig arbeitsplatzbezogene Ergotherapie und
Physio- und Ergotherapie auch die medizinische Trainingstherapie MTT, aber auch weiterhin Krankengymnastik und physikalische
zum Einsatz (⊡ Tab. 16.3, ⊡ Abb. 16.4). Therapie statt.
Bei Stagnation im Rehabilitationsverlauf ist kritisch zu über- Nach einer Bestandsaufnahme, die die Arbeitsplatzsituation
prüfen, inwieweit eine Verbesserung des Befundes durch eine sowie die wiedererlangten Fähigkeiten und Fertigkeiten des Versi-
16.2 · Spezielle Techniken
335 16
cherten berücksichtigt, werden die nächsten Therapieziele festge- ▬ Profilvergleichsverfahren zur Integration von Menschen mit
legt und die hierzu notwendigen Maßnahmen veranlasst. Behinderungen in die Arbeitswelt (IMBA).
Die arbeitsplatzbezogene Rehabilitation sollte praxisnah und
leistungsorientiert am Patienten stattfinden. Trainiert werden ar- Berufliche Wiedereingliederung
beitsplatzähnliche Verrichtungen, Arbeitsabläufe sowie Arbeits- Der Rehabilitationsmanager/Berufshelfer ist während der gesamten
haltungen. Im Vordergrund stehen hierbei Heben, Tragen, Stapeln, Rehabilitation der zentrale Ansprechpartner für den Versicherten.
Überkopfarbeiten sowie das Besteigen von Leitern, Gerüsten und Durch ihn wird über den gesamten Verlauf Kontakt zur zuständi-
Schrägen (⊡ Abb. 16.5). gen Berufsgenossenschaft und zum Unfallbetrieb hergestellt. Zu
Moderne interaktive 3D-Fahrsimulatoren mit beweglicher den Aufgaben des Rehabilitationsmanagers zählen:
Steuereinheit ermöglichen das Austesten und Trainieren der Fahr- ▬ frühzeitige Kontaktaufnahme mit dem Versicherten bereits im
tauglichkeit, was für Berufskraftfahrer aber auch für Verletzte, Krankenhaus,
die für das Erreichen des Arbeitsplatzes auf das Auto angewiesen ▬ Brückenfunktion zum Sachbearbeiter der zuständigen Berufs-
sind, hilfreich ist. Ziel der arbeitsplatzbezogenen Rehabilitation ist genossenschaft,
es, vorhandene funktionelle Defizite aufzuarbeiten, Ausdauer und ▬ Information über die Leistungen der gesetzlichen Unfallversi-
Koordinationsvermögen zu verbessern sowie die Belastbarkeits- cherung,
grenzen in einem arbeitsplatztypischen Umfeld hinsichtlich Qua- ▬ Koordination und Steuerung der medizinischen Rehabilitation
lität, Quantität und Wettbewerbsfähigkeit auf dem allgemeinen in Zusammenarbeit mit dem Versicherten sowie den behan-
Arbeitsmarkt praktisch auszutesten. Methoden zur Feststellung der delnden Ärzten und Therapeuten,
Belastbarkeitsgrenzen sind: ▬ Planung, Durchführung und Kontrolle der Wiedereingliede-
▬ funktionelle, auf beruflicher Tätigkeit basierende Ergotherapie, rung in das Arbeitsleben unter Berücksichtigung von Eignung,
▬ Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit nach Isernha- Neigung und bisheriger beruflicher Tätigkeit des Versicherten,
gen (EFL), ▬ Beratung und Unterstützung bei Umbauten am Arbeitsplatz,
▬ Arbeitsplatzsimulationsgerät (⊡ Abb. 16.6), ▬ in geeigneten Fällen Weiterbetreuung des Versicherten nach
▬ Arbeitsprobe. Wiederaufnahme einer Tätigkeit,
336 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
a b c
⊡ Abb. 16.5 Arbeitsplatzbezogene Rehabilitation. a Üben von Maurertätigkeiten, b Training von Dachdeckerarbeiten, c Erlernen der Bedienung einer Tastatur
mit Hilfsmittel
Stationäre handchirurgische
Rehabilitation
Funktionsverbesserung Stagnation
ABE
erfolgreich
Kann trotz optimal durchgeführter Heilbehandlung und medizini- festgelegt, wo die Weiterbehandlung stattfindet. Mitunter ist es
scher Rehabilitation eine Rückführung des Versicherten an seinen sinnvoll, eine ambulante Wiedervorstellung zur Mitbetreuung des
bisherigen Arbeitsplatz nicht oder nicht ohne Weiteres erfolgen, weiteren Heilverfahrens zu vereinbaren. Berufsgenossenschaft und
kommen unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit, Eignung, Weiterbehandler werden umgehend über die stationäre Rehabilita-
Neigung und bisherigen Tätigkeit des Versicherten Leistungen zur tionsbehandlung durch einen Kurz- bzw. Abschlussbericht (F 2156,
Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht. Hierzu wird ein positives und F 2160) informiert. Diese enthalten die Empfehlungen zur weiteren
negatives Leistungsbild erstellt, bei dem der bisherige Arbeitsplatz, Behandlung sowie eine sozialmedizinische Leistungsbeurteilung.
die vorhandenen beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten sowie der Jeder Patient sollte mit einer klaren Vorstellung über seine beruf-
Gesundheitszustand analysiert werden. Davon abhängig werden liche und private Zukunft aus der stationären Rehabilitationsbe-
Leistungen zur Erhaltung und Erlangung eines Arbeitsplatzes (Um- handlung herausgehen.
baumaßnahmen am Arbeitsplatz, innerbetriebliche Umsetzung),
Qualifizierungsmaßnahmen (berufliche Anpassung, Weiterbil-
dung), Umschulungen, oder Ausbildungen veranlasst. Unter Um- 16.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
ständen kommen aber auch diese nicht in Betracht, sodass letztlich
ein sog. 78-Wochen-Fall resultiert. In diesem Fall sind alle Optionen Ein spezielles Problem in der Therapie ist der »schwierige« Re-
der beruflichen Rehabilitation ausgeschöpft. Der Patient verbleibt habilitand. Ein kooperativer und motivierter Patient stellt eine
arbeitsunfähig und erhält bis zum Ablauf der 78. Woche nach dem Idealvoraussetzung für eine Rehabilitation dar. In der Praxis ist
Unfall als Lohnersatzleistung Verletztengeld (⊡ Abb. 16.7). diese Voraussetzung nicht immer gegeben. Vielerlei Gründe kön-
nen dazu führen, dass ein Patient bei der Behandlung nicht so
Entlassung mitarbeitet, wie man es sich wünscht. Zum Teil trifft man bei
Zur Entlassung des Patienten erfolgt die abschließende Überprü- Rehabilitanden auf überzogene Vorstellungen über die Leistungs-
fung der zu Beginn formulierten Ziele. Der Entlassungsbefund pflicht und -möglichkeiten der gesetzlichen Unfallversicherung.
wird dokumentiert. Der Patient erhält genaue Instruktionen zur Manche Rehabilitanden äußern die Auffassung, die Höhe einer
beruflichen Wiedereingliederung sowie über ggf. noch fortzu- etwaigen Unfallrente hänge von der Dauer der Arbeitsunfähigkeit
setzende Behandlungsmaßnahmen wie ambulante Krankengym- ab, sie sei eine Entschädigung für ertragenes Leid. Hat der Arzt
nastik und Ergotherapie. In Absprache mit dem Patienten wird den Verdacht, dass derartige Missverständnisse bestehen könnten,
338 Kapitel 16 · Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren
so empfiehlt sich frühzeitig eine ruhige sachliche Information des Weiterführende Literatur
Rehabilitanden über die tatsächlichen Optionen und Ansprüche.
Neben Renten- oder Umschulungsbegehren gibt es zahlreiche Bereiter-Hahn W, Mehrtens G (2010) Gesetzliche Unfallversicherung. Erich
andere Gründe für eine unzureichende Mitarbeit des Rehabilitan- Schmidt, Berlin
den. Dazu können gehören: Froboese I, Wilke C, Nellessen-Martens G (2010) Training in der Therapie. Else-
vier Urban & Fischer, München
▬ vorbestehende Probleme am Arbeitsplatz (Mobbing),
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Bundesverband der landwirt-
▬ Probleme im privaten Umfeld (z. B. Überforderung durch Be-
schaftlichen Berufsgenossenschaften, Handlungsanleitung zur Ver-
ruf und Familie), ordnung, Durchführung und Qualitätssicherung der Physiotherapie/
▬ psychische Probleme, Krankengymnastik – Physikalischen Therapie, Erweiterten Ambulanten
▬ vorbestehende unfallunabhängige Körperschäden, Physiotherapie (EAP), Berufsgenossenschaftlichen Stationären Wei-
▬ eingeschränkte Leistungsfähigkeit durch höheres Lebensalter, terbehandlung (BGSW), sonstigen stationären Maßnahmen, Stand
▬ Suchtprobleme, 01.01.2008. http://www.dguv.de/landesverbaende/de/med_reha/docu-
▬ mangelnde Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestal- ments/hand.pdf
tung. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Bundesverband der landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaften, Anforderungen der gesetzlichen
Unfallversicherungsträger nach § 34 SGB VII zur Beteiligung von Re-
Um die vorgenannten Problemfelder aufzuklären, ist in der Regel
habilitationskliniken an der Berufsgenossenschaftlichen Stationären
eine psychologische Exploration notwendig. Auch wenn von psy-
Weiterbehandlung (BGSW) für Verletzungen des Stütz- und Bewegungs-
chologischer Seite im Rahmen der handchirurgischen Rehabili- apparates vom 01. Januar 2006. http://www.dguv.de/landesverbaende/
tation in der Regel keine umfassende Begutachtung durchgeführt de/med_reha/documents/bgsw2.pdf
werden kann, so gelingt es meist, einen begründeten Verdacht zu Eisenschenk A, Ekkernkamp A, Witzel C, Ziche G, Last H (2001) Qualitätsma-
äußern oder auch auszuschließen. Soweit möglich, kann versucht nagement zur optimalen Steuerung des berufsgenossenschaftlichen
werden, bei der Lösung vorgenannter Probleme zu helfen und so Heilverfahrens für Handverletzungen. Trauma und Berufskrankheit 3:
die Rehabilitationsmotivation zu steigern. 65–69
Ärztlicherseits sollten auch beim Umgang mit »schwierigen« Froese E (2009) Strategien für modernes Reha-Management. Gentner, Stutt-
Rehabilitanden die sachgerechte Befunderhebung und -dokumen- gart
Hüter-Becker A, Dölken M (2006) Physikalische Therapie, Elektrotherapie und
tation sowie vorurteilsfreie Gespräche im Vordergrund stehen.
Massage. Thieme, Stuttgart
Der ärztliche Therapeut sollte den Klagen und Beschwerden
HVBG, Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (2002)
seiner Patienten immer mit Empathie begegnen. Nach sachgerech- Richtlinien zur Rehabilitation in der der gesetzlichen Unfallversicherung,
ter Diagnostik wird er versuchen, dem Patienten Wege zur Heilung 2. Aufl. Gentner, Stuttgart
oder Linderung vorzuschlagen. In seiner heilverfahrenssteuernden List M (2009) Physiotherapie in der Traumatologie. Springer, Berlin Heidel-
Funktion hingegen hat der Arzt neutral und objektiv Einschät- berg
zungen in sozialmedizinischer Hinsicht vorzunehmen. Bei der Lohsträter A, Bak P (2006) Medizinische und ökonomische Effizienz des Reha-
Behandlung »schwieriger« Rehabilitanden ist es nicht immer leicht, Managements der VBG bei Patienten nach distaler Radiusfraktur. Phys
den therapeutischen Ansatz mit der nötigen sachlichen Sichtweise Med Rehab Kuror 16: 155–159
in Einklang zu bringen. Partecke B-D (2001) Qualitätssicherung und Management von Handverlet-
zungen aus der Sicht des Handchirurgen. Trauma Berufskrankh 3 (Suppl
Für arbeitsverunfallte Patienten besteht eine Pflicht zur Mit-
4): 479–486
wirkung am Heilverfahren. Eine stationäre Rehabilitationsbehand-
Rennekampf H-O, Rabbels J, Pfau M, Haerle M, Schaller H-E (2003) Die Wer-
lung ist grundsätzlich duldungspflichtig. Falls der Patient ganz tigkeit der BGSW (Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehand-
offensichtlich und wiederholt trotz Ermahnung den Rehabilitati- lung) in der Rehabilitation nach distaler Radiusfraktur. Akt Traumatol 33:
onsbemühungen entgegenarbeitet, z. B. Verweigerung zumutbarer 109–114
16 Therapien, Nichteinhalten von Terminen, ungebührliches Beneh- Sozialgesetzbuch (SGB) Siebtes Buch (VIII) – Gesetzliche Unfallversicherung –
men u. Ä., ist die Behandlung umgehend zu beenden. (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254). http://www.
Gerade beim »schwierigen« Rehabilitanden sollte den Klagen gesetze-im-internet.de/sgb_7/BJNR125410996.html
und Beschwerden mit allen geeigneten Mitteln nachgegangen wer- Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) – Rehabilitation und Teilhabe
den. Sehr hilfreich bei deren Bewertung sind u. a. die Beobachtun- behinderter Menschen – (Artikel 1 des Gesetzes v. 19. 6.2001, BGBl. I S.
1046). http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9/index.html
gen und Befunde während der Übungstherapie. Unter Zusammen-
Steen M (2005) Spezielle handtherapeutische Rehabilitation. Trauma Berufs-
schau von klinischen und apparativen Befunden, Leistungstests,
krankh (Suppl 1): 247-252
Konsiliarbefunden und Beobachtungen bei der Übungsbehandlung Stein V, Greitemann B (2005) Rehabilitation in Orthopädie und Unfallchirur-
ist es meist möglich, zu einer begründeten sozialmedizinischen Be- gie. Springer Medizin, Berlin Heidelberg
urteilung zu kommen. Auch wenn anzustreben ist, Einvernehmen Tilmann B (2004) Atlas der Anatomie des Menschen. Mit Muskeltrainer. Sprin-
mit dem Rehabilitanden herzustellen, so ist es doch unvermeidbar, ger, Berlin
dass im Einzelfall erhebliche Differenzen zwischen der ärztlichen Vertrag gem. § 34 Abs. 3 SGB VII zwischen der Deutschen Gesetzlichen Un-
Beurteilung und der Auffassung des Rehabilitanden, z. B. bezüg- fallversicherung e.V. (DGUV), Berlin, dem Bundesverband der landwirt-
lich der Arbeitsfähigkeit, verbleiben. Im Bericht an die Berufsge- schaftlichen Berufsgenossenschaften e.V., Kassel, einerseits und der Kas-
nossenschaft und die Weiterbehandler sollte das detailliert ausge- senärztlichen Bundesvereinigung, K.d.ö.R., Berlin, andererseits über die
Durchführung der Heilbehandlung, die Vergütung der Ärzte sowie die
führt werden. Die ärztliche Einschätzung ist unter Darstellung der
Art und Weise der Abrechnung der ärztlichen Leistungen (Vertrag Ärzte/
Befunde zu begründen. Die Entscheidung über das weitere sozial-
Unfallversicherungsträger) gültig ab 1. April 2008. http://www.dguv.de/
rechtliche Vorgehen obliegt der Berufsgenossenschaft. So kann der inhalt/rehabilitation/verguetung/documents/aerzte.pdf
Unfallversicherungsträger einerseits der ärztlichen Einschätzung Waldner-Nilsson B (1997) Handrehabilitation, Bd I und II. Springer, Berlin
folgen, andererseits auch eine Zweitmeinung an anderer geeigneter Heidelberg
Stelle einholen. Der Patient hat die Option, den sozialrechtlichen Wernicke F (2007) Arbeitsplatzbezogene Rehabilitation im Rahmen der
Weg bis hin zur Sozialgerichtsklage zu beschreiten. BGSW/KSR. Trauma Berufskrankh (Suppl 1)9: 98–102
V
17.1 Allgemeines
⊡ Tab. 17.1 Allgemeine Indikationen und Kontraindikationen für die
Denervierung
Das Prinzip der sensiblen Neurotomie zur Ausschaltung von
Gelenkschmerzen ist keineswegs neu. So wurde im Bereich der Indikation
oberen Extremität bereits 1948 über eine Denervation des Ellen-
Palliativ – Präarthrotische, arthrotische und rheumatische
bogengelenks durch Bateman und 1955 über einen derartigen
Prozesse im Bereich der Handwurzel und der
Eingriff am Schultergelenk zur Behandlung der durch degenerative Fingergelenke sowie therapieresistente Neural-
Veränderungen verursachten Schmerzen durch Nyakas berichtet. gien des N. interosseus posterior, die Styloiditis
Die erste Denervation der Handwurzel wurde Anfang 1959 an der radii und Dysästhesien im Bereich des R. super-
Chirurgischen Universitätsklinik in Würzburg durchgeführt. Drei ficialis ni. radialis
Jahre später folgte dann die Denervation der PIP-Gelenke. – die schmerzhafte Schultersteife und die thera-
Das Prinzip der Denervation zur Schmerzausschaltung bei pieresistente sog. Korakoiditis.
Nervenkompression fand durch Wilhelm auch Anwendung beim Kurativ – Therapieresistenter Tennisellenbogen (TE)
Tennisellenbogen (R. profundus ni. radialis) und Golferellenbogen – therapieresistenter Golferellenbogen (GE)
(N. medianus und N. ulnaris). Weitere Denervationen betreffen die
Kontraindikation
Styloiditis radii bei Therapieresistenz (R. superficialis ni. radialis),
die Neuralgie des N. interosseus posterior (häufig in Verbindung mit – Negativer Ausfall der präoperativen Test-
einem posterioren Handgelenkganglion) und die sog. Korakoiditis. blockaden
– Gelenkinstabilitäten und inkongruente Gelenk-
flächen
17.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und – Entzündliche und akute rheumatische Prozesse
Physiologie
Durch gezielte sensible Neurotomie lassen sich heute bestimm- Bei den unter Punkt 1 und 2 genannten Denervationen handelt
te schmerzbedingte Leistungsausfälle und Beeinträchtigungen der es sich um palliative Eingriffe. Die unter Punkt 3 und 4 in Frage
Funktion der oberen Extremität erfolgreich behandeln. Dieser Ein- kommenden Operationen stellen dagegen kurative Verfahren dar,
griff bezweckt eine Unterbrechung der peripheren schmerzleitenden da diesen Erkrankungen nach neueren Erkenntnissen eine aus-
Nervenbahnen, wodurch in der Peripherie auch die zur Vasokon- schließlich neurogene Pathogenese zugrunde liegt.
striktion und Muskeltonisierung führenden Reflexmechanismen Die wichtigste Kontraindikation stellt der negative Ausfall der
ausgeschaltet werden (⊡ Abb. 17.1). Voraussetzung hierfür ist eine präoperativen Testblockaden dar. In diesen Fällen finden sich in
genaue Kenntnis der für die Schmerzleitung und für die Vermittlung der Regel hochgradige Aufbraucherscheinungen des Gelenkkör-
neuroirritativer Vorgänge in Frage kommenden nervösen Struktu- pers, die bereits röntgenologisch durch eine starke Verschmälerung
ren. Dabei sollte aber stets bedacht werden, dass die schmerzauslö- des Gelenkspaltes erkannt werden können. Durch direkte Berüh-
senden bzw. verursachenden Veränderungen nicht immer mit der rung der subchondralen Gelenkflächen tritt in diesem Fall eine
Präsentationszone des Schmerzes übereinstimmen müssen. endostale Schmerzleitung in Erscheinung, die durch alleinige De-
Die spezifischen anatomischen Verhältnisse in den unter- nervation nicht mehr beeinflusst werden kann. Auch Gelenkinsta-
schiedlichen Regionen der oberen Extremität werden in den jewei- bilitäten und inkongruente Gelenkflächen können kontraindiziert
ligen speziellen Kapitel beschrieben. sein, falls sie durch zusätzliche Maßnahmen, wie Bandplastiken
und Wiederherstellung der Gelenkflächenkongruenz, nicht ausrei-
chend korrigiert werden können. Schließlich ist die Denervation
17.1.2 Epidemiologie Abschn. 17.2 bei akuten entzündlichen und rheumatischen Prozessen ebenfalls
kontraindiziert (⊡ Tab. 17.1).
17.1.3 Ätiologie Abschn. 17.2
17
17.1.4 Diagnostik Abschn. 17.2 17.1.7 Therapie Abschn. 17.2
17.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Für die Therapie von therapieresistenten Schmerzzuständen im
Kindesalter gelten prinzipiell die gleichen Prinzipien wie beim
Durch Denervation können nach heutigem Kenntnis- und Er- Erwachsenen. Da die angesprochenen Krankheitsbilder aber erst
fahrungsstand folgende schmerzhafte Erkrankungen erfolgreich im Erwachsenenalter auftreten, haben diese Überlegungen nur
behandelt werden (⊡ Tab. 17.1): theoretischen Charakter.
1. präarthrotische, arthrotische und rheumatische Prozesse im
Bereich der Handwurzel und der Fingergelenke sowie thera-
pieresistente Neuralgien des N. interosseus posterior, die Sty- 17.2 Spezielle Techniken
loiditis radii und Dysästhesien im Bereich des R. superficialis
N. radialis; 17.2.1 Denervation von Finger- und Handgelenken
2. die schmerzhafte Schultersteife und die therapieresistente sog.
Korakoiditis; Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
3. der therapieresistente Tennisellenbogen (TE); Das Denervationsverfahren beruht auf eigenen anatomischen
4. der therapieresistente Golferellenbogen (GE). Untersuchungen, wodurch die fundamentalen Präparationser-
17.2 · Spezielle Techniken
343 17
⊡ Abb. 17.1 Anatomie der schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden Systeme (mod. nach Struppler 1977). (Aus Rickenbacher et al. 1982)
gebnisse von Rüdinger (1857) nicht nur bestätigt, sondern in palmaren Fingernerven abstammen können. Diese Gelenkfasern
mehreren Details auch noch ergänzt werden konnten. Diese enden entweder auf dem Strecksehnenhäubchen oder treten seit-
Untersuchungen sind inzwischen vollauf bestätigt worden (Fuku- lich unter die Aponeurose an die Gelenkkapsel heran (⊡ Abb. 17.2).
moto et al. 1993). Nach diesem Schema versorgen vor- und rückläufige Äste der
Nn. digitales palmares proprii auch das DIP-Gelenk (⊡ Abb. 17.2).
Fingergelenke Das Daumengrundgelenk wird neben einem Ast des R. pro-
Die Innervation der MP-Gelenke erfolgt dorsal durch Rr. inter- fundus ni. ulnaris und des R. articularis spatii interossei I (R. in-
metacarpales, die subfaszial, mit Ausnahme der Außenseite des 2. termetacarpalis I; ⊡ Abb. 17.3) durch vor- und rückläufige Äste
und 5. Fingerstrahls, die einander zugekehrten dorsalen Abschnitte der dorsalen und palmaren Fingernerven versorgt. Das Endgelenk
der Gelenkkapsel von proximal her erreichen. Die entsprechenden des Daumens wird ebenfalls durch vor- und rückläufige Äste der
Nerven für die Radialseite des Zeigefingers und die Ulnarseite genannten Fingernerven innerviert.
des Daumengrundgelenks entstammen dem R. articularis spatii
interossei I. Zusätzlich werden die Fingergelenke von vorläufigen Handgelenk
Fasern der Nn. digitales dorsales versorgt. Außerdem innervieren An der nervösen Versorgung des Handgelenks beteiligen sich
auch noch rückläufige Nervenfasern der dorsalen Fingernerven Endäste aller Unterarmhautnerven, der Nn. interossei sowie der
diese Gelenke, die entweder direkt zur Streckaponeurose ziehen Gelenkäste des N. medianus, radialis und ulnaris. Eine genaue
oder seitlich unter diese treten (⊡ Abb. 17.2a). Kenntnis der anatomisch topografischen Verhältnisse dieser Ge-
Auf der Beugeseite erfolgt die Innervation der Grundgelenke lenknerven stellt die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche
von proximal her durch die Rr. articulares des tiefen Ulnarisastes Durchführung der Denervation dar.
und von seitlich auch noch durch rückläufige Gelenknerven, die
sich von den Nn. digitales palmares proprii ableiten (⊡ Abb. 17.2b). N. interosseus posterior
Die Innervation der PIP-Gelenke erfolgt ebenfalls durch vor- Der sensible Endast dieses Nervs verläuft distal direkt über der
und rückläufige Fasern dieser Fingernerven, wobei einige auch von Membrana interossea und gibt vor Erreichen der Radiusepiphyse
344 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
zunächst feine Äste zur Versorgung des distalen Radioulnargelenks in Begleitung der radialen Gefäße in Richtung des ersten Interme-
ab. Auf dem Boden des 4. Strecksehnenscheidenfaches verlau- takarpalraumes, wo sie sich mit Endfasern des R. articularis spatii
fend, erreicht er schließlich den radiokarpalen Gelenkspalt. Hier interossei verbinden. Es handelt sich hierbei ebenfalls um einen
verzweigt er sich in dem derben Kapselgewebe und gibt zunächst Gelenknerv des oberflächlichen Radialisastes, der sich in der Regel
einen kurzen Zweig in ulnarer und einen längeren Gelenkast in vom N. digitalis dorsalis communis I abzweigt, und zwar entweder
radialer Richtung ab, der den größten Abschnitt des Radiokarpal- vor oder nach dessen Aufteilung. Der Gelenknerv verläuft zunächst
gelenks versorgt und in der Tabatière eine Verbindung mit einem an der Ulnarseite der ersten Intermetakarpalvene und tritt dann
Ast des R. superficialis ni. radialis eingeht. Außerdem innerviert zusammen mit einem perforierenden Venenast distal der Basen
dieser Ast auch den Kapselapparat im Bereich des Skaphoids. Nach von MC I und II in den subfaszialen Raum ein, wo er sich konstant
büschelförmiger Aufteilung in 3–4 stärkere Äste, die divergierend in 7 Äste verzweigt und auch mit perforierenden Fasern des tiefen
zu den Basen der Mittelhandknochen verlaufen, versorgt er dann Ulnarisastes verbindet. Rückläufige Fasern verlaufen in Begleitung
den dorsalen Bandapparat sowie die intermetakarpalen und kar- der A. radialis nach proximal und versorgen die karpometakar-
pometakarpalen Gelenke zwischen MC II–IV, wahrscheinlich auch palen Gelenke I und II sowie das zugehörige Interkarpalgelenk
17 noch das Gelenk zwischen MC IV und V (⊡ Abb. 17.3a). zwischen den beiden Vieleckbeinen und verbinden sich schließlich
In diesem Bereich verbinden sich die Endäste des N. interos- auch mit den entsprechenden Ästen des N. cutaneus antebrachii
seus posterior mit perforierenden Gelenkfasern des tiefen Ulna- lateralis. Weitere Fasern versorgen die Ulnarseite des Metakarpale I
risastes. Aus diesen Verbindungen entwickeln sich dann 3 Rr. in- und das karpometakarpale Gelenk des Daumens. Dieses Gelenk
termetacarpales, die von proximal her die einander zugekehrten wird dorsoradial auch noch durch einen Ast des N. digitalis dorsa-
Seiten der Fingergrundgelenkkapseln D2–5 versorgen. Im dor- lis proprius radialis I innerviert (⊡ Abb. 17.3a).
soulnaren Abschnitt der Handwurzel gehen die Endzweige des
N. interosseus posterior mit den Gelenkfasern des N. cutaneus N. cutaneus antebrachii lateralis
antebrachii posterior sowie des R. dorsalis manus ni. ulnaris Ver- Dieser Nerv anastomosiert subkutan zunächst mit einem Hautast
bindungen ein (⊡ Abb. 17.3a). des R. palmaris ni. mediani und gibt dann 2 Gelenkäste ab, welche
die oberflächliche Faszie perforieren und dann in Begleitung der
R. superficialis ni. radialis Vasa radialia nach distal verlaufen. Mit zahlreichen Endfasern
Dieser Nerv gibt über dem Griffelfortsatz des Radius neben feinen versorgen sie zunächst den radiopalmaren Abschnitt des Gelenks
Fasern zum Retinaculum extensorum auch einen Gelenkast ab, der sowie den radialen und dorsal anschließenden Bereich. Hier in-
im proximalen Bereich der Tabatière das radiokarpale Gelenk ver- nervieren sie insbesondere das skaphotrapeziale und trapezio-
sorgt und hier die bereits genannte Verbindung mit dem Gelenkast metakarpale Gelenk sowie das Trapezoid. Im Ursprungsbereich
des N. interosseus posterior und den Fasern des N. cutaneus ante- des R. palmaris superficialis ae. radialis kommt es dabei zu zahl-
brachii lateralis eingeht. Letztere verlaufen subfaszial in Begleitung reichen Querverbindungen. In der Tabatière verbindet sich ein
der Vasa radialia zur Tabatière und versorgen hier ebenfalls den ra- Ästchen mit dem Gelenkzweig des oberflächlichen Radialisastes.
diokarpalen Gelenkbereich. Danach verlaufen diese Gelenkfasern Eine auffallend starke Faser unterläuft die A. radialis und anasto-
17.2 · Spezielle Techniken
345 17
mosiert in der radiokarpalen Kapsel mit Ästen des N. interosseus dialis mit rückläufigen Ästchen des R. articularis spatii interossei I
anterior. Eine weitere Faser verbindet sich mit dem Gelenknerv (⊡ Abb. 17.3a).
des R. palmaris ni. mediani und innerviert zusammen mit diesem
die Eminentia carpi radialis und den anschließenden Abschnitt N. medianus
des Karpalkanalbodens mit den dazugehörigen Gelenken. Weiter Der Gelenkast des R. palmaris ni. mediani verläuft distal sub-
distal verbinden sich die Gelenkfasern im Bereich der Arteria ra- faszial zum Tuberculum ossis scaphoidei und erreicht hier die
346 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
Sehnenführung des FCR, wo er sich in drei Fasern aufteilt. Die bei abnutzungsbedingten primären Arthrosen. Auch rheumatoide
Auffälligste zieht mit der erwähnten Sehnenführung zum Bogen und infektiöse Prozesse können ebenfalls zu schmerzhaften Ge-
des Karpalkanals, wo sie sich in Höhe des Trapezoids verteilt und lenkschäden führen.
wahrscheinlich auch das Karpometakarpalgelenk II innerviert. Die Als häufigste Ursachen der schmerzhaften Handgelenkarth-
2. Faser versorgt das skaphotrapeziale Gelenk und anastomosiert rosen kommen Skaphoidarthrosen, distale Radialisfrakturen mit
hier mit Gelenkfasern des N. cutaneus antebrachii lateralis. Die Gelenkbeteiligung, Frakturen und Luxationsfrakturen anderer
3. Faser verteilt sich über dem Tuberculum ossis scaphoidei und Karpalknochen, unbehandelte perilunäre Luxationen und Luxati-
innerviert dann palmar das trapeziometakarpale Gelenk. Dieses onsfrakturen, skapholunäre Dissoziationen und andere Bandver-
wird palmar auch von Ästen des N. digitalis palmaris proprius I letzungen in Frage; ferner die Lunatummalazie, vor allem in Sta-
versorgt, und zwar mit je einem Faden proximal und distal des dium III und IV und die Arthrosen des distalen Radioulnargelenks
Gelenks (⊡ Abb. 17.3b). sowie der ulnokarpalen und interkarpalen Gelenke. Auch Defor-
mierungen der gelenkbildenden Knochenabschnitte und die rheu-
N. interosseus anterior matoide Polyarthritis sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
Die Hauptinnervation des Karpalkanals erfolgt durch 2–3 Ge- Weitere Schmerzursachen stellen die Neuralgie des N. interosseus
lenkäste des N. interosseus anterior, die am distalen Rand des posterior, das distale Kompressionssyndrom des N. interosseus
M. pronator quadratus austreten und neben dem distalen Radio- posterior ( Kap. 56), Dysästhesien im Bereich des oberflächlichen
ulnargelenk zunächst das radiokarpale Gelenk innervieren. Die Radialisastes nach Verletzungen sowie die therapieresistente Stylo-
stärksten Fasern verzweigen sich dann am Boden des Karpalkanals iditis radii dar.
und verbinden sich radial mit Gelenkfasern des N. cutaneus ante-
brachii lateralis. Dabei kommt es über dem Os scaphoideum und Diagnostik
dem Os lunatum zu O-förmigen Geflechtbildungen, während der
Hauptstamm nach ständiger Abgabe von feinen Gelenkfasern über Fingergelenke
das Capitatum hinweg nach distal bis zu den karpometakarpalen Testausschaltungen im Bereich der Finger- und Daumengrundge-
Gelenken III und IV weiterzieht (⊡ Abb. 17.3b). lenke sind wegen der Gefahr einer zusätzlichen Beeinträchtigung
der endostalen Schmerzleitung eher problematisch und nicht so
N. ulnaris erfolgversprechend zu bewerten. Das Problem liegt darin, dass bei
Die Innervation im Bereich der Eminentia carpi radialis erfolgt einer Blockade der dorsalen und palmaren Fingernerven, z. B. in
durch Fasern des N. ulnaris und dessen R. profundus. Dies gilt Höhe des Caput phalangis manus, die gegenüber liegende Gelenk-
auch für die anliegenden metakarpalen Gelenke auf der palmaren fläche nicht hinreichend sicher beurteilt werden kann, weil durch
Seite. Außerdem werden auch Rr. perforantes abgegeben, die dorsal die Blockade gleichzeitig auch die endostale Schmerzleitung in der
mit Endfasern des N. interosseus posterior und des Gelenknervs Mittelphalanx ausgeschaltet wird.
des ersten Zwischenknochenraumes anastomosieren. Vom R. pro-
fundus ni. ulnaris gehen außerdem die palmaren Rr. articulares für Handgelenk
die Fingergrundgelenke ab (⊡ Abb. 17.2b, ⊡ Abb. 17.3b). Das ulno- Am Anfang der Untersuchung sollte durch eine genaue Anamnese
karpale Gelenk wird palmar von Endfasern des N. cutaneus ante- geprüft werden, welche Ursachen für die bestehenden Handge-
brachii medialis versorgt. Diesem Nerv schließen sich ulnodorsal lenkschmerzen in Frage kommen können, z. B. Unfälle, Arbeiten
die Gelenkäste des R. dorsalis manus ni. ulnaris an (⊡ Abb. 17.3a), mit Pressluftwerkzeugen und Bohrmaschinen usw. Danach wird
welche das ulnokarpale Gelenk sowie die ulnaren Bereiche des in- zunächst die Ausdehnung des schmerzhaften Areals durch Palpa-
terkarpalen und karpometakarpalen Gelenks V versorgen. In die- tion und Überprüfung der Handgelenkfunktion bestimmt und mit
sem Bereich gehen sie mit Endfasern des N. interosseus posterior den Ergebnissen der radiologischen Untersuchungen verglichen.
ebenfalls Verbindungen ein. Danach können anhand der Innervationsverhältnisse bereits erste
Hinweise gewonnen werden, welche Gelenknerven blockiert wer-
17 N. cutaneus antebrachii posterior den müssen, um Schmerzfreiheit zu erreichen. Auch ergibt sich
Der kurze Gelenkast dieses Nervs entspringt subkutan über dem aus diesem Vergleich ohne Weiteres, welche Nervenäste zusätzlich
Caput ulnae, perforiert das Retinaculum extensorum und tritt an für die Testausschaltung von Bedeutung sein könnten, falls der
der radialen Seite der Sehnenscheide des ECU in die Tiefe und erste Injektionsversuch nicht ausreichend gewesen sein sollte. Au-
innerviert hier das ulnokarpale Gelenk. Eine Endfaser verbindet ßerdem ist von Interesse, welche Bewegungen und Arbeitsgänge
sich subfaszial mit einem rückläufigen Ästchen des N. interosseus Schmerzen auslösen, um auch durch diese Angaben das Testergeb-
posterior (⊡ Abb. 17.3a). nis beurteilen zu können. Zusätzlich sollten Messungen der groben
Kraft vor und nach Nervenblockaden und natürlich auch postope-
Epidemiologie rativ durchgeführt werden.
Jeder Mensch leidet während seines Lebens an Gelenkverände-
rungen. Die Osteoarthrose ist die häufigste Erkrankung des Bewe- Technik der Testausschaltung:Handgelenkbereich
gungsapparaes ( Kap. 10). Darüber hinaus sind Verletzungen und nach Wilhelm
Frakturen im Handgelenk und Handbereich sehr häufig (Kap. 9).
> Für die Testauschaltung werden Langzeitanästhetika
Die distale Radiusfraktur ist die häufigste Fraktur des Menschen
empfohlen.
( Kap. 31).
Um Fehler und falsche Rückschlüsse zu vermeiden, ist es unbe-
Ätiologie dingt erforderlich, die Testinjektionen in einer bestimmten Reihen-
Schmerzhafte Fingergelenke finden sich am häufigsten nach Dis- folge durchzuführen. Bei jeder Injektion sollten möglichst geringe
torsionen, Kontusionen, Subluxationen und Luxationen, ferner Mengen des Anästhetikums verwendet werden, um eine Blockade
nach intra- und paraartikulären sowie Luxationsfrakturen, ebenso benachbarter Gelenknerven zu vermeiden. Die Injektionsstellen
17.2 · Spezielle Techniken
347 17
a
b
⊡ Abb. 17.4 Technik der präoperativen Testausschaltung. Die Punkte (P.) 1– 10 bezeichnen die Reihenfolge und Lokalisation der Testinjektionen. Die
schraffierten Areale entsprechen dem Schmerzfeld einer schweren radiokarpalen Arthrose bei Skaphoidpseudarthrose. Die Ausschaltung des N. interos-
seus posterior (P. 1) kann auch von dorsal vorgenommen werden (P 6, angefärbt), und zwar proximal von P. 1. a Ansicht von dorsal, b Ansicht von palmar.
(Aus Wilhelm 1972)
> Das Verhältnis von partiellen zu kompletten Denervationen G. Dysästhesien i. B. des R. superfic. 0 P. 1
beträgt im eigenen Krankengut etwa 2:1 (⊡ Tab. 17.2). ni. rad. (Lluch u. Beasly 1997)
im gesamten Wundbereich die Darstellung der Streckaponeurose Technik der Denervation der Metakarpophalangeal-
bis zur Fingermitte. Hierzu muss der dorsale Weichteillappen abge- (MP-)Gelenke der Finger nach Wilhelm
löst werden, und zwar unter sorgfältiger Schonung des Epitenons. Abweichend von den Interphalangealgelenken ist für die Dener-
Dadurch werden die in das Strecksehnenhäubchen des PIP-Gelenks vation der Fingergrundgelenke aus anatomischen Gründen ein
einstrahlenden Äste der Nn. digitales dorsales proprii durchtrennt. palmarer und dorsaler Zugangsweg erforderlich.
Danach geht man proximal des Gelenks zwischen Streckaponeuro- Man beginnt am zweckmäßigsten auf der Beugeseite, und zwar
se und dem subkapitulären Abschnitt der Grundphalanx ein und in Form einer Bruner-Inzision, die von der Mitte des Grundgliedes
durchtrennt mit einem feinen elektrischen Messer das dem Kno- bis in die Höhe der Hohlhandbeugefalte reicht. Danach werden
chen aufliegende Gewebe von dorsomedian bis in unmittelbare proximal zunächst die Ausläufer der Palmaraponeurose dargestellt
Nähe der Beugesehnenscheide, und zwar ohne Verletzung des Sei- und einschließlich der vertikalen Septen zu beiden Seiten der
tenbandapparates. Das gleiche operative Vorgehen wird dann distal Beugesehnenscheide reseziert, um die benachbarten Nervengefäß-
des PIP-Gelenks durchgeführt, wobei insbesondere der Ansatzbe- stränge und das A1-Band übersichtlich darzustellen.
reich des Bandapparates des Tractus intermedius geschont werden Als erstes wird die Denervation des entsprechenden R. articu-
muss. Dieser Eingriff lässt sich wesentlich erleichtern, wenn man laris ni. ulnaris durchgeführt, der vom R. profundus oder von ei-
den Seitenzügel im Mittelgliedabschnitt genügend weit nach distal nem seiner Muskeläste entspringt. Er verläuft dann auf der Palmar-
freilegt. Durch dieses Vorgehen können auch noch jene Gelenk- fläche der Mm. interossei nach distal und nimmt vor Erreichen des
fasern erreicht werden, die sich bereits weiter proximal und distal Grundgelenks seinen Verlauf über der Längsachse des betreffen-
des Gelenks von den dorsalen und palmaren Hautnervenstämmen den Mittelhandknochens ein (⊡ Abb. 17.2b). Vor dem Gelenk teilt
abzweigen und auf den Phalangen zum PIP-Gelenk ziehen. er sich büschelförmig auf und innerviert so von proximal her im
Das gleiche operative Vorgehen wird dann auf der gegenüber- Sinne von vorläufigen Gelenkfasern das MP-Gelenk. Die Denerva-
liegenden Seite des PIP-Gelenks durchgeführt. Postoperativ werden tion selbst wird nach kurzer, etwa 5 mm langer basisnaher Inzision
alle Gelenke des operierten Fingers, einschließlich des benachbar- oder Resektion des proximalen Abschnittes des A1-Bandes durch-
ten Fingers für die Dauer der Wundbehandlung ruhiggestellt. geführt, wobei das proximal des Caput ossis metacarpali dem Kno-
Nach dem gleichen Prinzip können auch die DIP-Gelenke chen aufliegende Weichteilgewebe in querer Richtung mit einem
der Finger und das Daumenendgelenk denerviert werden. Der feinen elektrischen Messer durchtrennt wird. Eine umschriebene
Zugang und das übersichtliche Ablösen des dorsalen Weichteil- Eröffnung der Gelenkkapsel braucht nicht versorgt zu werden. Das
mantels gestalten sich allerdings etwas schwieriger. Dies lässt sich Denervationsareal kann durch einen Teil der anliegenden Beuge-
vermeiden, wenn man die beiden mediolateralen Inzisionen dorsal sehnenscheide gedeckt werden. Die weitere palmare Denervation
in der Mitte zwischen Endgelenk und Nagelmatrix durch eine quer erfolgt wiederum durch Ablösen des Weichteilmantels beiderseits
verlaufende Hautinzision verbindet und den U-förmig umschnitte- mit den darin enthaltenen Nervengefäßsträngen von der Beu-
nen Weichteillappen etwas zurückklappt. Auf der Beugeseite sollte gesehnenscheide und dem Kapselapparat bis in Höhe der Mitte
vor allem auf eine übersichtliche Darstellung des Profundusseh- der Grundphalanx. Dadurch werden die rückläufigen Gelenkäste
nenansatzes geachtet werden. der palmaren Fingernerven blind durchtrennt (⊡ Abb. 17.2b). Vor
Bei hochgradigen arthrotischen Veränderungen mit sichtbaren Wundverschluss und nach Überprüfung der Blutstillung empfiehlt
Randwulstbildungen des PIP-Gelenks und Insuffizienz der Streck- sich das Einlegen einer dünnen Redon-Drainage.
sehnenzügel ist die Denervation kontraindiziert und durch eine An der Streckseite des Fingergrundgelenks erfolgt die Freile-
Arthrodese zu ersetzen. gung durch eine S-förmige Inzision, die 3 cm proximal des MP-
Gelenks beginnt, die Knöchel- und Gelenkregion radialseitig bo-
genförmig umgreift und den Tractus intermedius erst im mittleren
Abschnitt des Grundgliedes kreuzt. Die Darstellung der subkutan
verlaufenden Gefäß- und Nervenstrukturen sollte mit einer feinen
Präparierschere erfolgen, bis der Strecksehnenapparat einschließ-
17 lich der Dorsalaponeurose dargestellt ist. Nach Versorgung von
störenden Gefäßen und Anschlingen von kreuzenden Nervenäs-
ten können dann die seitlichen Weichteillappen unter sorgfältiger
Schonung der Nn. digitales dorsales proprii und des Epitenons
vorsichtig abgelöst werden. Dabei sollte man auch die Fibrae trans-
versales der oberflächlichen Faszie über dem Grundgelenk intakt
lassen, da sie das Lig. metacarpeum transversum superficiale (Wil-
helm 1988) und die interaponeurotischen Faserverbindungen der
benachbarten Streckaponeurosen in Höhe der Metakarpaleköpfe
vor einer Verletzung bewahren. Ab Höhe der Grundphalanxbasis
kann die weitere Ablösung der Weichteile beiderseits bis über den
unteren Rand des Tractus lateralis durchgeführt werden. Durch
diesen Eingriff werden die vor- und rückläufigen Gelenkäste der
dorsalen Digitalnerven durchtrennt. Dabei können auch rückläu-
fige Gelenkäste, die sich von einem N. digitalis palmaris proprius
abzweigen und die ebenfalls zur Dorsalaponeurose ziehen und
diese durchsetzen oder seitlich unter sie treten, durchtrennt wer-
den (⊡ Abb. 17.2a).
⊡ Abb. 17.5 Demonstration der Zugangswege zur Denervation der PIP- Schließlich müssen an der Streckseite noch die Gelenkäste der
Gelenke. (Aus Wilhelm 1972) Rr. intermetacarpales ausgeschaltet werden, die sich aus den drei
17.2 · Spezielle Techniken
351 17
karpometakarpalen Endästen des N. interosseus posterior und den Technik der Denervation des Handgelenks nach
perforierenden Fasern des tiefen Ulnarisastes zusammensetzen. Sie Wilhelm
verlaufen auf der Fascia interossea nach peripher und innervieren Das 1959 von Wilhelm entwickelte und erstmals angewandte Ope-
in tiefer Schicht die einander zugekehrten Seiten der Grundgelenke rationsverfahren schließt die Möglichkeit einer Störung der Ober-
von D2 bis D5. Die Radialseite des Zeigefingergrundgelenks wird flächen- und Tiefensensibilität sowie der Motorik von vornherein
dabei von einem Ast des R. articularis spatii interossei I versorgt. aus. Etwaige Bedenken, dass sich nach kompletter Denervation ein
Die entsprechende Innervation der Ulnarseite des Kleinfinger- Charcot-Gelenk bilden könnte, sind völlig unbegründet, da die
grundgelenks erfolgt durch ein Ästchen des R. dorsalis manus von Golgi beschriebenen Muskelsehnenrezeptoren in jeder Weise
ni. ulnaris. Als Zugang dient eine distale Längsinzision der ober- im Stande sind, die erforderliche Tiefensensibilität zu garantieren.
flächlichen Faszie neben der Strecksehne, beginnend in Höhe der Auch ein durch Denervation begünstigtes Fortschreiten präarthro-
Trochleahöcker. Proximal derselben kann dann nach Beiseitezie- tischer und arthrotischer Prozesse konnte bisher nicht beobachtet
hen der Strecksehnen durch ein kleines Langenbeckhäkchen die werden.
Denervation mit einem elektrischen Messer wiederum in querer Die Denervation kann ambulant oder stationär in intravenöser
Richtung durchgeführt werden, wobei das dem Mittelhandkno- Regionalanästhesie, axillärer Plexusanästhesie oder Intubations-
chen in seiner ganzen Breite aufliegende Gewebe durchtrennt wird, narkose durchgeführt werden. Operationen in supraklavikulärer
und zwar in einem genügenden Abstand von der Trochlea, um Plexusanästhesie sollten nur bei stationären Patienten durchge-
nicht den dorsalen Rezessus der Grundgelenkkapsel zu gefährden. führt werden. Für den Eingriff selbst ist eine Oberarmblutsperre
Der Wundverschluss erfolgt hier ohne Drainage. obligatorisch. Die Operation sollte in jedem Fall das Ergebnis der
Statt der lokalen Ausschaltung der Gelenknerven der Rr. in- Testausschaltung sowie die Ausdehnung des Schmerzfeldes und
termetacarpales im Bereich der Grundgelenke kann der Ursprung der röntgenologisch fassbaren Veränderungen berücksichtigen.
dieser Nerven natürlich auch unmittelbar distal der intermetakar- Bei der Handgelenkdenervation ist nur bei zwei Nervenbahnen
palen Gelenke aufgesucht werden (⊡ Abb. 17.3a). Hierzu verwendet eine exakte präparatorische Darstellung erforderlich, und zwar
man quer oder bogenförmig verlaufende Inzisionen, wie bei der beim N. interosseus posterior (P. 1) und dem R. articularis spatii
Ausschaltung von P. 7 und 8 (⊡ Abb. 17.6a), über den in Frage kom- interossei I (P. 2). Ansonsten erfolgt die Denervation blind, und
menden intermetakarpalen Gelenken und sucht sich dann unmit- zwar durch epifasziales Ablösen bestimmter Abschnitte des ober-
telbar distal dieser Gelenke unter Verwendung einer Lupenbrille flächlichen Weichteilmantels. Dadurch können die Gelenkäste des
die beiden Ursprungsbezüge des jeweiligen R. intermetacarpalis R. superficialis ni. radialis im radiokarpalen Bereich (P. 4) und die
auf, wie sie in ⊡ Abb. 17.12 dargestellt sind. Beide Ursprungsfasern Endfasern des R. palmaris N. mediani im Bereich der Eminentia
werden durchtrennt und ihre distalen Anteile extrahiert. Diese carpi radialis (P. 5), des R. dorsalis manus N. ulnaris (P. 9) und des
Prozedur muss beispielsweise im Falle einer Denervation des Mit- Gelenkastes des N. cutaneus antebrachii posterior ausgeschaltet
telfingergrundgelenks im Bereich des 2. und 3. Zwischenknochen- werden (P. 10). Die Gelenkäste des N. cutaneus antebrachii lateralis
raums durchgeführt werden, während für die Denervation der werden dagegen subfaszial durch Resektion der paraarteriellen
Ulnarseite des entsprechenden Gelenks von D2 nur eine direkte Strukturen ausgeschaltet (P. 3), während die subfaszialen Endfa-
Ausschaltung des R. intermetacarpalis II (P. 7) erforderlich ist. Die sern des N. interosseus posterior, die sich mit perforierenden Ästen
Denervation der Radialseite dieses Gelenks kann dagegen sehr ein- des N. ulnaris verbinden, über den intermetakarpalen Gelenken II
fach bewerkstelligt werden, und zwar durch eine Durchtrennung und III mit dem elektrischen Messer durchtrennt werden.
des R. articularis spatii interossei I (P. 2) mit Exhairese des distalen Die operative Ausschaltung der einzelnen Gelenknerven wird
Stumpfes. Von diesem zweigt sich u. a. der für den Zeigefinger zu- aus didaktischen Gründen in der Reihenfolge der präoperativen
ständige Zweig des R. intermetacarpalis II, aber auch der entspre- Tests besprochen.
chende Ast für den ulnarseitigen Daumengelenkabschnitt ab. Für eine komplette Denervation werden unter Berücksichti-
Ausreichende Erfahrungen mit einem entsprechenden Opera- gung ästhetischer Gesichtspunkte insgesamt 5 Inzisionen benötigt
tionsverfahren für das Daumengrundgelenk liegen noch nicht vor. (⊡ Abb. 17.6a,b).
1. N. interosseus posterior
Für die Darstellung dieses Nervs genügt eine dorsale, 3–4 cm lange
Inzision in querer Richtung, etwa 3 cm proximal der Handwurzel
(⊡ Abb. 17.6a, Nr. 1). Abweichend hiervon kann auch eine longitu-
dinale Inzision gewählt werden. Falls die Denervation zusätzlich
mit weiteren Eingriffen im dorsalen Abschnitt des Handgelenks
kombiniert werden muss, ist eine S-förmige Längsinzision emp-
fehlenswert (⊡ Tab. 17.3). Nach Darstellung der oberflächlichen
Faszie wird diese in Längsrichtung ulnar der gut tastbaren Crista
radii eröffnet. Nach Retraktion der Daumen- und Fingerstreckseh-
nen erkennt man dann den direkt über dem Periost des distalen a
Radiusabschnittes verlaufenden Nerv, der von den perforierenden
Ästen der Vasa interossea anteriora isoliert und dann möglichst
weit proximal reseziert wird, um auch den für das distale Radioul-
nargelenk bestimmten Nervenzweig auszuschalten (⊡ Abb. 17.7).
ne Präparation mit einer feinen Schere oder einem gebogenen 5. R. articularis ri. palmaris ni. mediani
Klemmchen erfolgen, um die nach radiopalmar verlaufenden sen- Die Ausschaltung der Endfasern dieses Nervens, die den distalen
siblen Zweige des oberflächlichen Radialisastes nicht zu gefähr- Bereich der Eminentia carpi radialis innervieren, ist nur selten
den. Nach Längsinzision der Faszie über den gut sichtbaren Vasa erforderlich. Sie erfolgt ebenfalls durch den in ⊡ Abb. 17.6b (Nr. 1)
radialia isoliert man einfach die A. radialis über eine Strecke von dargestellten Zugang, der bei Bedarf in querer Richtung bis über
mindestens 1 cm und reseziert das begleitende Gewebe einschließ- die Eminentia carpi radialis verlängert werden kann (Nr. 2). Zur
lich der feinen Gelenk- und Venenäste. Selbstverständlich kann Unterbrechung dieser feinen Nervenfasern wird das über dem Tu-
man diese Nervenfasern auch präparatorisch darstellen und isoliert berculum ossis scaphoidei gelegene Füllgewebe epifaszial bis zum
resezieren (⊡ Abb. 17.9b). radialen Rand der FCR-Sehne durchtrennt. Der Hauptstamm des
R. palmaris sollte dabei geschont werden, um ein sehr schmerzhaf-
4. R. articularis ri. superficialis ni. radialis tes Neurom dieses Nervenastes zu vermeiden.
Dieser Gelenknerv wird vom gleichen Zugang aus dargestellt. Dazu
löst man den radiopalmaren Weichteilmantel zunächst von proxi- 6. Rr. articulares ni. interossei anterioris
mal her epifaszial ab und präpariert dann vorsichtig nach distal, bis Für die blinde Durchtrennung dieser Gelenknerven kommt ebenfalls
die beiden ersten Strecksehnenscheidenfächer freiliegen. Häufig der in den ⊡ Abb. 17.6b (Nr. 1 und 3), ⊡ Abb. 17.9a und ⊡ Abb. 17.11
findet man dabei nur einen feinen Gelenkast, der von proximal dargestellte Zugangsweg in Frage. Von hier aus geht man zwischen
kommend in die Tabatière eintritt ⊡ Abb. 17.9b). Dieser Zweig kann A. radialis und der FCR-Sehne auf den distalen Rand des M. pro-
auch einmal stärker ausgeprägt sein und zusammen mit einem nator quadratus ein und retrahiert dazu die Sehne des FCR, die
in die Subkutis ziehenden Gefäß des Arcus radiocarpalis dorsalis Fingerbeuger sowie den N. medianus nach ulnar mit einem genü-
354 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 17.11 Palmarer Zugang zur Ausschaltung der Gelenkäste des R. inte-
rosseus anterior (P. 6). AR A. radialis; MPQ = M. pronator quadratus
Schmerz
⊡ Abb. 17.14 Zustand nach Ausschaltung der Gelenknerven des R. dorsalis
ni. ulnaris (P. 9, RDNU) und des N. cutaneus antebrachii posterior (P. 10, Zu- sehr gut 13 (61,9%) 15 (55,6%) 8 (33,3%)
stand nach epifaszialer Weichteilablösung vom Caput ulnae [CU]). RE IV Reti- gut 4 (19,1%) 6 (22,2%) 7 (29,2%)
naculum extensorum IV, geöffnet zur Resektion des N. interosseus posterior;
rot angeschlungen. ECU Extensor carpi ulnaris; EDM Extensor digiti minimi. befriedigend 2 (9,5%) 4 (14,8%) 7 (29,2%)
(Aus Wilhelm 1988). schlecht 2 (9,5%) 2 (7,4%) 2 (8,3%)
Besserungen
ulnae ausgeschaltet werden (⊡ Abb. 17.6a, Nr. 5, gelbes Feld). Im Fall grobe Kraft 14 (66,7%) 16 (59,3%) 12 (50,0%)
einer ulnokarpalen Arthrose kann von hier aus auch der N. inte- Gelenkbeweglichkeit 9 (42,8%) 12 (44,4%) 11 (45,8%)
rosseus posterior reseziert und das ulnokarpale Gelenk revidiert
Untersuchung nach 1,2 Jahre 2,2 Jahre 10,5 Jahre
werden (⊡ Abb. 17.14).
Nach Öffnen der Blutsperre, Blutstillung und Wundverschluss aNachuntersuchung von 24/45 Operationen der 3. Serie (Lanz u. Lehmann
wird ein leicht komprimierender Verband mit dorsaler Unterarm- 1976)
gipsschiene bis zum Abschluss der Wundheilung angelegt. Alle
Gelenke der Finger sowie des Ellenbogen- und Schultergelenks
werden dabei sofort aktiv bewegt. Bei kombinierten Eingriffen likationen über die gleichen oder sogar noch besseren Ergebnisse
(⊡ Tab. 17.3) muss entsprechend länger immobilisiert werden. berichteten. Weniger günstige Resultate wurden dagegen nur von
Bei Patienten, die schwere Handarbeiten verrichten müssen zwei Autorengruppen publiziert. Die Beurteilung der eigenen Er-
und einen Arbeitsplatzwechsel ablehnen, ist es unbedingt erforder- gebnisse erfolgte nach einem Bewertungsschema, das in ⊡ Tab. 17.4
lich, eine Unterarmmanschette mit eingearbeiteter palmarer Me- dargestellt ist.
tallschiene zu verordnen, die jedoch nur während der Arbeitszeit So konnten in einer ersten Serie von 21 Operationen nach 1,2
getragen werden muss, um eine vorzeitige Verschlimmerung der (0,25–3,9) Jahren in 81% sehr gute und gute Ergebnisse erreicht
degenerativen Veränderungen zu verhindern. werden. Dieser Prozentsatz sank dann in einer zweiten Serie von
27 Operationen nach durchschnittlich 2,2 (1,25–4,9) Jahren auf
Ergebnisse 77,8% ab. Nach durchschnittlich 10,5 (6–14) Jahren wurde das
Im Gegensatz zum Handgelenk hat das Problem der Fingergelenk- Ergebnis von einer unabhängigen Gruppe überprüft, und zwar
denervation in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden. So be- anhand des gesamten Würzburger Krankengutes, wobei in Anbe-
richteten in den letzten Jahren nur Merck und Rudigier (2002) und tracht der zum Teil sehr langen Nachuntersuchungszeiten nur 24
Haerle et al. (2003) über dieses Problem. Letztgenannte führten bei (53,3%) von 45 Fällen untersucht werden konnten. Dabei fanden
insgesamt 50 Patienten nach durchschnittlich 2,8 (0,8–5,7) Jahren sich in 62,5% immer noch sehr gute und gute Ergebnisse. Dabei
entsprechende Befragungen durch, mit folgendem Ergebnis: Alle 6 zeigte sich außerdem, dass sich die Besserung der groben Kraft von
am MP-Gelenk Operierten waren nach 3,7 Jahren beschwerdefrei ursprünglich 66,7% auf 50% reduzierte, während die Handgelenk-
oder gebessert. Am PIP-Gelenk fanden sich nach 2,6 Jahren in 8 beweglichkeit leicht zunahm, und zwar von 42,8% auf 50,0%.
von 10 Fällen gute Ergebnisse. Am Endgelenk waren nach 2,6 Jah- Rechnet man dieses Ergebnis einschließlich der drei befriedi-
ren 12 (54,5%) von 22 Fällen beschwerdefrei. genden Fälle unter Berücksichtigung des gesamten Krankengutes
Am Daumensattelgelenk konnte nach 2,9 Jahren in 7 (58,3%) hoch, dann zeigt sich, dass nach durchschnittlich 10,5 Jahren im-
von 12 Fällen Beschwerdefreiheit erreicht werden. Bei 4 (33,3%) mer noch mindestens 48,9% der Patienten von der Denervation
Patienten traten die präoperativen Beschwerden jedoch wieder auf profitiert haben; die wahren Zahlen dürften allerdings etwas höher
und bei einem Patienten konnte überhaupt keine Besserung erzielt liegen (⊡ Tab. 17.5).
werden. Diese Ergebnisse der Sattelgelenkdenervation bestätigen Die erste Beurteilung der Handgelenkdenervation erfolgte 1977
die Richtigkeit unserer Empfehlung, in Zukunft an diesem Gelenk durch Buck-Gramcko anhand einer Sammelstatistik, an der insge-
keine operative Schmerzausschaltung mehr durchzuführen. An- samt 8 deutsche und schweizerische Handchirurgen beteiligt waren.
dere Therapieformen sind hier vorzuziehen ( Kap. 51). Dabei wurden 195 von 313 Denervationen nach einem Intervall von
Die Technik der Handgelenkdenervation hat dagegen zahlrei- mindestens 9 Monaten bis 14 Jahre ausgewertet. Dabei fanden sich
che Befürworter gefunden, die inzwischen in mindestens 42 Pub- nach durchschnittlich 4,1 Jahren sehr gute und gute Ergebnisse in
356 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
Fehler, Gefahren und Komplikationen 17.2.2 Die operative Behandlung des therapie-
Der Hauptfehler bei einer Denervation im Bereich der Finger- resistenten Tennisellenbogens durch
und Handgelenke liegt darin, dass Kontraindikationen und die Denervation mit indirekter Dekompression
Bedeutung der endostalen Schmerzleitung, wie sie vor allem bei des R. profundus ni. radialis
Arthrosen des Sattelgelenks und der Articulatio ossis pisiformis
vorkommen, nicht beachtet werden. So stellt beispielsweise bei der Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
Behandlung der Rhizarthrose die Trapezektomie in Verbindung > Durch anatomische und klinische Untersuchungen konnte
mit einer Bandplastik und im anderen Fall eine Exstirpation des bewiesen werden, dass das maximal mögliche Schmerzfeld
Os pisiforme die bessere Lösung des Problems dar. Fehler können eines Tennisellenbogens ausschließlich durch Fasern des
auch dadurch entstehen, dass die präoperativen Testblockaden N. radialis versorgt wird (⊡ Abb. 17.15, ⊡ Abb. 17.16).
17.2 · Spezielle Techniken
357 17
Dies trifft auch für die koinzidenten Schmerzfelder im Bereich des raum werden dagegen durch Äste des R. superficialis ni. radialis
Handrückens mit Schmerzausstrahlung bis zu den Fingergrundge- innerviert. Dieser Nerv ist auch für die in 19% vorhandenen dorso-
lenken zu (Neuralgie des N. interosseus posterior; Wachsmuth u. radialen Sensibilitätsstörungen zuständig.
Wilhelm 1967; ⊡ Abb. 17.17). Die koinzidenten Schmerzareale über Die supraepikondylären und posterioren Schmerzfelder, die
dem Processus styloideus radii und im ersten Zwischenknochen- bis zur Außenseite des Olecranons reichen können, werden von
Ästen des subfaszial, hinter dem Septum intermusculare brachii
laterale verlaufenden R. collateralis lateralis ni. radialis und des
R. muscularis ni. anconaei versorgt. Letzterer entstammt einer
Verbindung der Muskeläste des Caput laterale und mediale des
M. triceps (⊡ Abb. 17.16), deren Bezüge sich bereits am Oberarm
vom N. radialis ableiten, und zwar noch proximal des Hiatus
ni. radialis. In gleicher Höhe entspringt auch der N. cutaneus an-
tebrachii posterior, der mit einem kleinen Zweig den Epikondylus
und die Ursprungsregion des ECRB innerviert. Verantwortlich
für die Schmerzmanifestation in den letztgenannten Bereichen
sind Irritationen des N. radialis und seiner Bezüge im Bereich des
Oberarmes, des Thoracic Outlet und der Foramina intervertreb-
ralia C5–7. Diese drei Lokalisationen haben mit dem eigentlichen
Kompressionsmechanismus des tiefen Radialisastes jedoch nichts
zu tun, verweisen jedoch auf die eben genannten Störstellen, die
für eine »double nerve lesion« in Betracht kommen können.
> Distal findet sich auf der Streckseite ein besonders wichtiger
rückläufiger Ast des R. muscularis supinatoris, der für die
Schmerzleitung in Richtung Epikondylus verantwortlich ist.
Davon kann man sich ganz einfach durch Fingerdruck über
dem Supinatorschlitz überzeugen.
Auf der Beugeseite versorgen Endfasern der Muskeläste des Exten-
sor carpi radialis longus (ECRL) und Extensor carpi radialis brevis
(ECRB) den humeroradialen Gelenkbereich (⊡ Abb. 17.16, rechts).
Einer dieser Äste (3. von oben) innerviert nicht nur die Ursprungs-
⊡ Abb. 17.15 Typisches Schmerzfeld einer schweren Epikondylitis lateralis sehne des ECRB, wo er sich reichlich verteilt, sondern auch den
humeri. Durchgezielte Blockaden können die einzelnen Schmerzareale und Epikondylus und das laterale Kollateralband. Weiter distal schließt
deren nervale Versorgung bestimmt werden. (Aus Wilhelm 2000, mit freund- sich ein anteriorer rückläufiger Gelenkast des R. muscularis su-
licher Genehmigung von Urban und Vogel) pinatoris an, dessen Funktionen auch einmal durch einen beson-
ders starken Zweig des N. radialis übernommen werden können 90% betroffen ist. Das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt
(⊡ Abb. 17.16, rechts, letzter Ast von oben). etwa 5:1. Eine operative Intervention wegen Therapieresistenz ist
Das anteriore Schmerzfeld erstreckt sich auf den Epikondylus, in 3–8% erforderlich (Demmer u. Rettig 1982). Das bevorzugte
den Wulst der Radialextensoren und auf den Verlauf des N. radi- Alter dieser Erkrankung liegt zwischen 35 und 55 Jahren.
alis, insbesondere in Höhe des Capitulum humeri, des Caput radii
und des Supinatorschlitzes. Ätiologie
Ätiologie und Pathogenese des TE werden bis heute kontrovers
Epidemiologie diskutiert. Für die operative Behandlung des resistenten TE ist
Die Inzidenz des Tennisellenbogens (TE) ist schwierig abzuschät- hingegen seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Ope-
zen, da viele Patienten mit geringeren Beschwerden überhaupt rationstechniken entwickelt worden, die auf den unterschiedlichen
keinen Arzt aufsuchen. Im Allgemeinen wird die Häufigkeit jedoch Konzepten der Pathogenese beruhen. Die wichtigsten Operations-
auf etwa 1–3 bzw. 3–4% geschätzt, wobei der dominante Arm in techniken sind in ⊡ Tab. 17.7 zusammengefasst.
17.2 · Spezielle Techniken
359 17
Für die neurogene Genese sprechen folgende Tatsachen und
⊡ Tab. 17.7 Operative Behandlung des therapieresistenten
Tennisellenbogens – Literaturübersicht Schlussfolgerungen:
1. Anamnestische Angaben zur Entstehungsursache: Plötzliche
Autoren Operationsmethoden Hyperaktivität, z. B. durch einen kräftigen Pronationsschlag
Franke (1910) Epikondylektomie beim Tennisspiel und chronische Überbeanspruchung der
Pro- und Supinatoren sowie der Radialextensoren, vor allem
Fischer (1923) Exzision des subkutanen Gewebes über gegen Widerstand.
dem Epikondylus
2. Die maximal mögliche Ausdehnung des Schmerzfeldes be-
Hohmann (1927) Einkerbung der ECRB-Sehne schränkt sich nicht nur auf die laterale Epikondylenregion
(⊡ Abb. 17.15).
Tavernier (1946) Mononeurotomie des R. collateralis
lateralis ni. radialis 3. Die Innervation des Schmerzfeldes erfolgt ausschließlich
durch Fasern des N. radialis (⊡ Abb. 17.16).
Bosworth (1955) Partielle Resektion des Lig. anulare radii 4. Die anatomischen Befunde können durch gezielte Nervenblo-
Kaplan (1959) Partielle anteriore Denervation ckaden bestätigt und dadurch die zugehörigen Schmerzareale
bestimmt werden (⊡ Abb. 17.15).
Garden (1961) Distale Verlängerung der ECRB-Sehne
5. Ein bisher wenig beachtetes supraepikondyläres und posteri-
Wilhelm u. Gieseler (1962) Komplette Denervation ores Schmerzfeld ist in 31% vorhanden und wird durch den
R. collateralis lateralis ni. radialis und durch den R. muscula-
Goldie (1964) Exzision des subtendinösen pathologi-
schen Gewebes
ris ni. anconaei versorgt, die beide bereits am Oberarm vom
N. radialis entspringen (⊡ Abb. 17.16).
Capener (1966) Dekompression des R. profundus ni. 6. Die Epikondylenspitze und die Ursprungssehne des ECRB
radialis werden zusätzlich durch Fasern des N. cutaneus antebrachii
Roles u. Maudsley (1972) Dekompression des N. radialis posterior versorgt, der ebenfalls am Oberarm entspringt
(»Radialtunnel«) (⊡ Abb. 17.16). Damit ist bewiesen, dass bei einem TE auch mit
Schmerzausstrahlungen von weiter proximal gelegenen Stör-
Boyd u. McLeod (1973) Epikondylektomie und Teilexzision des
Lig. anulare radii stellen des N. radialis zu rechnen ist.
7. Durch die Überprüfung der Triggerpunkte im Bereich des
Wilhelm (1977) Dekompression des N. radialis am N. radialis in Höhe des Caput radii lassen sich in 67,8% und
Oberarm
über dem Supinatorschlitz in 77% Schmerzausstrahlungen
Nirschl u. Pettrone (1979) ¾-Resektion der ECRB-Sehne, Release in Richtung der Epikondylenspitze und des N. radialis nach
proximal und distal auslösen (⊡ Abb. 17.21). Die gleichen Sym-
van der Beken u. Joveneau Z-Plastik i. B. von ECRB u. EDC
(1983) ptome können auch durch den D3-Test ausglöst werden.
8. Im Bereich der Handwurzel finden sich auch koinzidente
Narakas (1987) Verlängerung des ECRB und Dekom- Schmerzareale des Tennisellenbogens, verursacht durch eine
pression des N. rad.
Neuralgie des N. interosseus posterior in 17,5% (⊡ Abb. 17.17).
Wilhelm (1989) Denervation u. direkte Dekompression 9. Koinzidente Sensibilitätsstörungen kommen im Bereich des
des N. rad. R. superficialis Ni. radialis in 19% vor, ebenso eine sog. Styloi-
Wilhelm (1996, 1999, Denervation u. indirekte Dekompression ditis radii in 16,7% (⊡ Abb. 17.17).
2000) des N. rad. 10. Die komprimierende Einwirkung der Supinatorarkade auf den
(seit 1991 Methode der Wahl) tiefen Radialisast kann durch den Pro- und Supinationstest
nachgewiesen werden, der mit 86% bzw. 93% dem D3-Test
Almquist et al. (1998) Epikondyläre Resektion des ECRB und
EDC – Anconaeusplastik
mit 74% absolut überlegen ist (Werner et al. 1980).
11. Normalerweise ist die Supinatorarkade in passiver Pronati-
Rayan et al. (2001) V-Y-Plastik der Ursprünge von ECRB u. onsstellung angespannt und führt zu einer deutlich sichtbaren
EDC
Druckbelastung des tiefen Radialisastes (⊡ Abb. 17.18a) in Höhe
Double Nerve Lesion von 40–50 mmHg (Werner et al. 1980). Dieser Druck reicht
bereits aus, um die intraneurale venöse Durchblutung und den
Wilhelm (1996) Transaxilläre Dekompression des
Nervengefäßbündels bei TOS und
axonalen Flow zu unterbrechen. Außerdem kommt es dabei dank
Sudeck’scher Dystrophie eines Koppelungseffektes der Supinatorsehne mit dem ECRB
zu einer Zugbelastung der Ursprungssehne dieses Muskels, die
Wilhelm (1977, 1996, Dekompression des Nervus radialis am dadurch einen gestreckten Verlauf einnimmt. In Supinationsstel-
1999) Oberarm (PRKS)
lung sind Arkade und alle übrigen Abschnitte des M. supinator
dagegen vollkommen entspannt, ebenso die ECRB-Sehne, die
dann einen mehr bogenförmigen Verlauf nach dorsal nimmt
Die am weitesten verbreitete Annahme geht von einer funkti- (⊡ Abb. 17.18b). Intraoperativ kann man diese unterschiedliche
onellen Überbeanspruchung verbunden mit Mikrotraumatisierung Zugbeanspruchung des ECRB durch die Supinatorarkade in Pro-
und degenerativen Veränderungen des Sehnengewebes aus. Nach und Supination des Unterarmes sehr gut demonstrieren, wenn
Bosworth liegt die Ursache des TE intraartikulär. Die Drehung des man den zusätzlichen Ursprung des M. supinator von proximal
unregelmäßig geformten Radiuskopfes ggf. in Kombination mit her mit einem Gummizügel umschlingt und mit dessen Hilfe die
einer Einklemmung einer Synovialzotte führt zu den typischen Be- ECRB-Sehne in entgegengesetzter Richtung entsprechend belas-
schwerden. Durch die Arbeiten von Wilhelm wurde in den letzten tet, wobei die Zugbeanspruchung durch den Zügel unter derjeni-
Jahren die neurogene Genese immer häufiger diskutiert. gen des M. supinator verbleiben muss (⊡ Abb. 17.18).
360 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
RPNR
RPNR
Supinatorarkade
Supinatorarkade
ECRB
ECRB
Supination
Pronation
a b
⊡ Abb. 17.18 Intraoperative Darstellung des Verhaltens der Supinatorarkade. a Bei passiver Pronation: In Pronation deutliche Anspannung der Arkade und
der starken oberflächlichen Faszie des M. supinator mit Kompression des tiefen Radialisastes und der kreuzenden Gefäße (»Henry’s leash«); Zugbeanspru-
chung der ECRB-Sehne (dünne Pfeile) durch zusätzlichen Ursprung des M. supinator von deren Sehne; Kennzeichnung durch Sternchen und Gummizügel.
b Bei passiver Supination völlige Entspannung der Arkade des M. supinator und der ERCB-Sehne; Druckbelastung des N. radialis vollständig aufgehoben
R.prof.ni.rad.
R.prof.ni.rad.
Arkade
ECRB
a b
⊡ Abb. 17.19 R. profundus N. radialis am Eingang in den Supinatorkanal. a Dreifache Verbreiterung des Nervenquerschnitts in Höhe der angespannten Arka-
de mit Verdickung des Epineuriums. b Nach Resektion der Arkade liegen die Nervenfaszikel nebeneinander, das verdickte Epineurium ist zurückgeschoben
interpretiert. Diese Schmerzreaktion kann allerdings durch Ursache dieses Phänomens ist ein zusätzlicher Ursprung des
eine Blockade des N. radialis in der Ellenbeuge in 90% ausge- M. supinator von der Innenseite der Ursprungssehne des
schaltet werden (Ishii u. Nakashita 1985). Dieses überraschen- ECRB (⊡ Abb. 17.21a, Sternchen), der in der gängigen ana-
de Ergebnis spricht ebenfalls absolut gegen eine tendinogene tomischen Literatur noch keine Erwähnung gefunden hat.
Genese des Leidens, da in diesem Fall nach der Blockade noch Durch diesen Ursprung sind M. supinator und ECRB funkti-
eine Schmerzleitung vor allem über Fasern des N. cutaneus onell aneinandergekoppelt. Dieser Effekt konnte seit 1991 in
antebrachii posterior möglich gewesen wäre, welche den 74 (97,1%) von 77 Fällen nachgewiesen werden und erklärt
lateralen Epikondylus und den Ursprungsbereich der ECRB- letztendlich nicht nur die Schmerzreaktion beim D3-Test,
Sehne innervieren. sondern auch die ätiopathogenetische Bedeutung von Über-
16. Die unterschiedliche Wirkung der Unterarmpositionen auf beanspruchungen der Radialextensoren, insbesondere des
den Spannungszustand der Arkade erklärt auch, warum die ECRB.
grobe Kraft beim Tennisellenbogen in Pronation schmerzbe- Ergänzend sei hierzu noch bemerkt, dass Heyse-Moore
dingt stark erniedrigt und in Supination wegen Reduzierung (1984) darauf hingewiesen hat, dass die Ursprünge des
der Schmerzstärke wesentlich höher ist (⊡ Abb. 17.20). Bei sehr M. supinator und der Ursprungssehne des ECRB untrennbar
starken Schmerzen ist jedoch die grobe Kraft in beiden Positi- miteinander verschmolzen sind und dass dadurch seitens des
onen ganz erheblich erniedrigt, in manchen Fällen sogar nicht M. supinator eine erhöhte Zugeinwirkung auf den Epikondy-
mehr messbar. Wenn der D3-Test übrigens präoperativ in Pro- lus gegeben wäre, die man durch Abspaltung des oberfläch-
und Supination negativ ist, dann spricht dies für einen nicht lichen Kopfes dieses Muskels verringern könnte. Genau das
vorhandenen Koppelungsmechanismus von M. supinator und Gegenteil ist der Fall! Die durch den D3-Test reflektorisch
ECRB-Sehne. ausgelöste vermehrte Anspannung der ECRB-Sehne führt
17. Die komprimierende Einwirkung der ligamentär ausgebilde- infolge des geschilderten Koppelungsmechanismus zu einer
ten Arkade auf den tiefen Radialisast, die bereits bei passiver vermehrten Zugbeanspruchung der Supinatorarkade in passi-
Pronation nachweisbar ist, wird in dieser Position verstärkt, ver Pronationsstellung. Dies kann klinisch durch den D3-Test
sobald die Sehne des ECRB funktionell beansprucht wird. nachgewiesen werden.
362 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
11
10 - 32,7 % 10,1
- 17,5 % 9,7
9 (- 4 %)
8 8,0
7
6,88
6
5
4
3
2
⊡ Abb. 17.20 Verhalten der groben Kraft
bei Pronation (P) und Supination (S) (NPat=28; 1
1/2007–5/2009)
⊡ Tab. 17.9 Verhalten der Schmerzstärke beim D3-Test in passiver Pro- und Supination (NPat.=46; 8. 2004–12. 2007)
N1 % N2 % N3 %
3x (+) 6,9
EG Ellenbogengelenk
Schmerzstärke: sehr stark = +++ (VAS: 7–10); stark = ++ (VAS: 5–6); mittelmäßig = + (VAS: 3–4); leicht = (+) (VAS: 2); minimal = ((+)) (VAS: 1); schmerzfrei = (-)
(VAS: 0)
17
18. Der D3-Test ist nach Denervation mit indirekter Dekompres-
sion des N. radialis negativ, da bei dieser Operation eine Ent- ⊡ Tab. 17.10 Tennisellenbogen bei proximalem Kompressionssyn-
drom des N. radialis (PRKS) Ergebnisse nach Dekompression
koppelung der gemeinsamen Ursprünge von Supinator und
(1969 bis 1988: Np = 13 – Nop = 13)
ECRB-Sehne durchgeführt werden muss, um die anteriolate-
rale Ursprungsportion des M. supinator für die Ausschaltung Präoperative Befunde Postoperative Ergebnisse
der wichtigsten schmerzleitenden Struktur, nämlich des rück-
läufigen Astes des R. muscularis supinatoris, freizulegen und Schmerzzonen n sehr gut unverändert
zu durchtrennen (⊡ Abb. 17.21).
Epikondylenregion 13 9 2 (+2)
19. Der D3-Test wird schließlich auch in passiver Supinationsstel-
lung des Unterarmes negativ, und zwar in 43,5% bei gleich- Neuralgie des N. 5 3 1 (+1)
zeitiger Streckung des Ellenbogengelenks und in 91,3% bei interosseus posterior
Beugung. Minimale Schmerzen verbleiben nur noch in 8,7%
(⊡ Tab. 17.9). Styloiditis radii 4 3 0 (+1)
20. Die Ursache dieses Phänomens liegt darin begründet, dass Sensibilitätsstörungen 19 16 2 (+1)
sich eine zusätzliche Kraftübertragung durch die ECRB-Sehne (R. superficialis Ni. radialis)
in Supinationsstellung des Unterarmes trotz des vorhandenen
Koppelungsmechanismus nicht auswirken kann, da in dieser Die Befunde in Klammern sind auf ein unabhängig bestehendes »Radialistun-
Position die Arkade vollständig entspannt ist (⊡ Abb. 17.18b). nel-Syndrom« von Roles und Maudsley zurückzuführen
17.2 · Spezielle Techniken
363 17
⊡ Tab. 17.11 Tennisellenbogen bei TOS (1982 bis 1987: Np = 92 – nachuntersucht – Nop = 100).
Tennisellenbogen 86 48 17 7 14
Styloiditis radii 18 11 1 3 3
Sensibilitätsstörungen 9 4 - 5 -
(R. superficialis ni. radialis)
1 (sehr gut) Keine Schmerzen, freie Beweglichkeit, volle Aktivität und Wiederherstellung der groben Kraft
2 (gut) Gelegentlich Beschwerden, freie Beweglichkeit, volle Aktivität und Wiederherstellung der groben Kraft
3 (befriedigend) Schmerzen nach längerer Beanspruchung; leichter Druckschmerz im Bereich der Nervus radialis und/oder seines Ramus
profundus, Fernschmerz; subjektiv jedoch eindeutig besser als vor der Operation, grobe Kraft reduziert
Patienten 39 81 46 31
Operationen 39 87 46 31
21. Von besonderer Bedeutung ist auch das Auftreten des TE im Bei dieser Bewertung wurden auch die Ergebnisse einer post-
Rahmen einer sog. Double Nerve Lesion. So konnten beim operativen Überprüfung der Chair-, D3- und PS-Tests sowie
PRKS nach Wilhelm (1999) durch operative Dekompression der groben Kraft, auch im Seitenvergleich, mitberücksichtigt
des N. radialis am Oberarm in 9 (69,0%) von 13 Fällen sehr (⊡ Tab. 17.15, ⊡ Tab. 17.16). Diese Ergebnisse konnten bereits in
gute und gute Ergebnisse erzielt werden (⊡ Tab. 17.10). Auch einer ersten Sammelstatistik bestätigt werden. Dabei fanden
durch operative Behandlung eines übergeordneten TOS sowie sich bei 356 (50,0%) von 711 Operationen sehr gute und gute
einer Sudeck-Dystrophie konnten in 65 (76%) von 86 Fällen Ergebnisse in Höhe von 90–92%. Bei 355 (50,0%) Eingriffen
(⊡ Tab. 17.11) bzw. in 7 (70%) von 10 Fällen derartige Besse- lagen die Ergebnisse zwischen 80–88% (Wilhelm 1999).
rungen der klassischen Symptomatik eines TE erzielt werden 23. Diese Ergebnisse konnten ohne Inzision, Exzision und Resek-
(⊡ Tab. 19.3; Wilhelm 2007). Für eine Double Nerve Lesion tion sowie ohne Z- und V-Y-Plastiken im Strecksehnenbereich
kommen schließlich auch noch die Foramina intervertebralia erreicht werden, und zwar allein durch Kombination der
C5–7 in Betracht. Denervation mit einer indirekten Dekompression des tiefen
22. Auch die sehr guten und guten Ergebnisse der seit 1991 Radialisastes, nach vorheriger Auflösung des genannten Kop-
durchgeführten Operationstechnik der Wahl in Höhe von pelungsmechanismus von M. supinator und ECRB.
fast 93% sprechen für die neurogene Pathogenese des TE Die bei diesem Operationsverfahren zur Denervation des
(Wilhelm 1999, 2000; ⊡ Tab. 17.12, ⊡ Tab. 17.13, ⊡ Tab. 17.14). rückläufigen Supinatorastes erforderliche Inzision der ante-
364 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 17.14 Postoperative Ergebnisse – Bewertung nach Roles und Maudsley (1972)
A B CI a CII b
a
Nachuntersuchung von Gruppe CI nach 7,3 (5,25–9) Jahren: sehr gut: 32 (78,6%), gut: 7 (11,9%) – (90,5%); befriedigend: 2 (7,1%), unverändert: 1 (2,4%)
b Nachuntersuchung
von Gruppe CII* nach 3,5 Jahren: sehr gut: 21 (75,0%), gut: 5 (17,9%) – (92,9%); befriedigend: 2 (7,2%), unverändert: 0 (0,0%)
⊡ Tab. 17.15 Ergebnisse der Denervation unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Funktionstests – Krankengut: 1991–1994
Geschlecht: 19 M : 23 F
Alter: 43,92 (22,58–62,14) Jahre
Lokalisation: dominante Seite (32-mal), Beihandseite (10-mal)
Nachuntersuchung: 7,3 (5,25–9,0) Jahre; Arbeitsunfähigkeit 5,7 (1,0–9,6) Wochen
Schmerzstärke: schmerzfrei = o. B., minimal = ((+)) (VAS: 1); leicht = (+) (VAS: 2); mittelmäßig = + (VAS: 3 – 4).
⊡ Tab. 17.16 Postoperative Beurteilung der groben Kraft bei den Bewertungsgruppen sehr gut und gut (n = 25 und 9) – Krankengut 1970–1990
rioren und lateralen Ursprungsportionen des M. supinator in 24. Daraus kann geschlossen werden, dass es sich beim TE pa-
Höhe des distalen Randes desRadiuskopfes führt gleichzeitig thogenetisch ausschließlich um die Folgen einer Druckschä-
zu einer indirekten Dekompression des tiefen Radialisastes digung des N. radialis, seiner Ursprungsfaszikel und Äste
und zu wesentlich besseren postoperativen Ergebnissen. Diese handelt, wobei die schmerzauslösenden Neuroirritationen im
Beobachtung war schließlich auch Anlass, die zuvor geüb- Bereich einer oder mehrerer Lokalisationen erfolgen können.
te Denervationstechnik mit einer direkten Dekompression Das Supinatorschlitzsyndrom (TE) stellt damit nach dem Kar-
des Nervs wegen ihrer schlechteren Ergebnisse aufzugeben paltunnelsyndorm das zweithäufigste Nervenkompressions-
(⊡ Tab. 17.14, Gruppe B und C1/2). syndom an der oberen Extremität dar.
17.2 · Spezielle Techniken
365 17
25. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der tendi- Diagnostik
nogenen Pathogenese des Tennisellenbogens in der zurzeit Die Symptomatik eines TE kann entweder nach einem plötzlichen
immer noch diskutierten Form nicht mehr die Bedeutung Ereignis oder einer chronischen Überbeanspruchung der Pro- und
zugesprochen werden kann, wie bisher angenommen. Unter Supinatoren sowie der Radialextensoren, auch in Kombination mit
diesem Gesichtspunkt sollte man die ursächlich angeschul- Beuge- und Streckbewegungen im Ellenbogengelenk, auftreten.
digten degenerativen Prozesse im Bereich der Extensoren nur Dies ist vor allem bei großem Kraftaufwand und Widerstand der
noch unter dem Gesichtspunkt einer zufälligen Koinzidenz Fall, wie beispielsweise bei Bau-, Metall- und Waldarbeitern usw.
diskutieren, zumal der Häufigkeitsgipfel des TE etwa 10 Jahre Diese Symptomatik kann sich auch bei Berufen entwickeln, bei
vor dem der Sehnendegeneration gelegen ist (Goldie 1964). denen in überdurchschnittlich schneller Reihenfolge Fingerbewe-
26. Wenn man den verschiedenen Operationsabschnitten bei Ein- gungen in Pronationsstellung des Unterarmes ausgeführt werden
griffen am Strecksehnenapparat die Innervationsverhältnisse müssen, wie bei Musikern und Sekretärinnen. In diesem Zusam-
des gesamten Schmerzfeldes eines TE zugrunde legt, dann menhang sollte auch nach Schulter-, Arm- und Handbeschwerden
stellt sich heraus, dass die Erfolge dieser Eingriffe, was immer gefragt und die Sitzhaltung bei der Arbeit erkundet werden. Die
man auch tut, auf einer partiellen bis kompletten Denervati- Kenntnis von toxischen Einflüssen, von Stoffwechsel- und ent-
on und in den besten Fällen auch noch auf einer unbewusst zündlichen Erkrankungen sowie von Fokaltoxikosen, vor allem
durchgeführten Entspannung der Supinatorarkade beruhen. ausgehend vom Gebiss, den Tonsillen und Nasennebenhöhlen so-
Hierzu seien folgende Beispiele epikritisch beurteilt: wie von den Abdominalorganen, ist besonders wichtig, um durch
Die guten Ergebnisse der Hohmann-Operation können deren Vorbehandlung der Gefahr einer erhöhten Irritierbarkeit
nur dann erreicht werden, wenn man die Sehne des ECRB nervöser Strukturen, einer verstärkten Narbenbildung und einer
tief »einkerbt« und die Stümpfe »danach um 1 cm klaffen« Fokalarthritis vorzubeugen.
(Hohmann 1949). Betrachtet man die einzelnen Akte dieser Nach einer dringend indizierten Operation einer chronischen
Operation topografisch-anatomisch, dann zeigt sich, dass bei Tonsillitis kann man übrigens gar nicht so selten erleben, dass die
der Darstellung des Epikondylus und der Strecksehnenplatte Symptomatik eines TE in wenigen Tagen abklingt. Die näheren pa-
bereits unbewusst eine Durchtrennung der wichtigsten Endfa- thogenetischen Zusammenhänge dieses Phänomens konnten noch
sern eines Astes des N. cutaneus antebrachii posterior durch- nicht genau geklärt werden.
geführt wird; auch Endfasern von Muskelästen des ECRL Bei der Beurteilung eines TE sollte man eine übergeordnete
können dabei mitverletzt werden. Der wichtigste Akt besteht Irritation des N. radialis und seiner Bezüge im Bereich des Oberar-
aber in einer unbewusst durchgeführten zusätzlichen Durch- mes (PRKS), des Thoracic Outlet und der Foramina intervertebra-
trennung des Supinatorursprungs, wodurch erst die Stümpfe lia (C5–C7) nicht übersehen. Die bei dieser Untersuchung erhobe-
der ECRB-Sehne auseinanderweichen können. nen Befunde sollten ebenfalls dokumentiert werden. Dies gilt auch
für koinzidente Schmerzfelder an der Hand, verursacht durch eine
Ähnliche Überlegungen gelten auch für die Operationstechniken Neuralgie des N. interosseus posterior, für Sensibilitätsstörungen
von Bosworth (1955), Goldie (1964), Boyd u. McLeod (1973), im Bereich des N. cutaneus antebrachii posterior und des R. super-
Nirschl u. Pettrone (1979), van der Beken u. Joveneau (1983) und ficialis ni. radialis mit zugehöriger sog. Styloiditis radii.
Rayan et al. (2001). Als nächstes wird das gesamte Schmerzfeld des TE durch eine
Das Verfahren nach Almquist et al. (1998) ist das einzige, palpatorische Untersuchung bestimmt, das nicht nur auf den Epi-
dessen Ergebnisse auf einer fast kompletten unbewusst durchge- kondylus beschränkt ist, sondern auch das Areal der Radialexten-
führten Denervation beruhen. Nicht durchtrennt wurde lediglich soren und den Verlauf des N. radialis in der Ellenbeuge sowie den
der R. collateralis lateralis ni. radialis, der hinter dem Septum gesamten Supinatorkanal umfassen kann; ferner das supraepikon-
intermusculare laterale brachii verläuft und nur das supraepikon- dyläre Schmerzfeld, das durch den R. collateralis lateralis ni. radia-
dyläre Schmerzfeld innerviert. Durch die bis auf die Gelenkkapsel lis und den N. cutaneus antebrachii posterior innerviert wird und
und das Seitenband reichende Resektion der gemeinsamen Streck- das bis zur Außenseite des Olecranons reichen kann (posteriores
sehnenursprünge wurde auch der wichtigste schmerzleitende Nerv, Schmerzfeld). Die Innervation dieses Areals erfolgt durch den
nämlich der rückläufige Ast des R. muscularis supinatoris durch- R. muscularis anconaei (⊡ Abb. 17.16).
trennt und die Supinatorarkade entspannt, d. h., der R. profundus Daran schließt sich die palpatorische Untersuchung des Ple-
ni. radialis dekomprimiert. Die Ausschaltung der Endfasern des xus brachialis, der Schmerzlokalisationen im Bereich des Schul-
von proximal einstrahlenden R. muscularis ni. anconaei erfolgte tergelenks und der verschiedenen Abschnitte des Radialiskanals
offenbar unbewusst durch die Deckung des Strecksehnendefektes mit Überprüfung von Sensibilitätsstörungen im Bereich des N. cu-
mit dem transferierten M. anconaeus. Der genannte Nerv ist üb- taneus brachii lateralis, des N. cutaneus antebrachii posterior und
rigens weder bildlich dargestellt, noch im Text erwähnt. Bezüglich des R. superficialis ni. radialis an. Eine Neuralgie des N. interosseus
der Innervation dieses Muskels finden sich lediglich Hinweise auf posterior (Wachsmuth u. Wilhelm 1967) wird durch den Handge-
einen Nervengefäßstrang, der von distal her in den Muskel ein- lenkbeugetest geprüft, der zu einer vermehrten Zugbeanspruchung
treten soll. Die guten Ergebnisse dieses Verfahrens liegen je nach des N. interosseus posterior führt und mit einer entsprechenden
Ausdehnung der Resektion und je nach Kombination mit einer Schmerzauslösung beantwortet wird. Der Test kann auch dann
Anconaeus-Plastik bei 62–87%. positiv sein, wenn Irritationen distal des Supinatorschlitzes oder
weiter proximal vorhanden sind.
> Die Aufklärung der Pathogenese des TE hat inzwischen dazu Die palpatorische Untersuchung des Supinatorschlitzes ist
geführt, dass bei Berufsgruppen, die sich arbeitsmäßig durch für die Diagnosestellung besonders wichtig, weil man dadurch
eine überdurchschnittliche Beanspruchung der Pro- und Schmerzausstrahlungen im Bereich des N. radialis nach proximal
Supinationsbewegungen gegen Widerstand auszeichnen, sei- und distal, vor allem aber in Richtung des Epikondylus auslösen
tens der Berufsgenossenschaften berechtigte Ansprüche auf kann, die von den Patienten oftmals selbst angegeben und auch
eine Berufserkrankung anerkannt werden. entsprechend demonstriert werden (⊡ Abb. 17.21a,b). Gerade dieser
366 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
RPNR
SA
ECRB
D3 – Test in
Pronation
a b
Befund ist eine weitere Bestätigung der neurogenen Pathogenese Ein wichtiger Test ist auch der Pro- und Supinationstest gegen
des Tennisellenbogens. Widerstand nach Werner (1979), da er im Ergebnis dem D3-Test
Das Verhalten der groben Kraft und der D3-Test sollten nicht nur überlegen ist und außerdem die komprimierende Wirkung der
in passiver Pronationsstellung überprüft werden (⊡ Abb. 17.21a,b), Supinatorarkade auf den tiefen Radialisast demonstriert.
sondern auch in passiver Supination (⊡ Abb. 17.21c,d) bei gestreck- Differenzialdiagnostisch ist es wichtig, zunächst arthrogene
ten sowie bei gebeugtem Ellenbogengelenk (≥90 Grad). Die da- Erkrankungen und Unfallfolgen auszuschließen. Hierfür genügt
bei gewonnenen Kraft- und Schmerzwerte sollten nach der VAS eine Röntgenuntersuchung des Ellenbogengelenks in zwei Ebe-
punktemäßig bewertet und ebenfalls tabellarisch erfasst werden nen als Basisdiagnostik. Sollte sich diese als nicht ausreichend
(⊡ Abb. 17.20, ⊡ Tab. 17.9). erweisen, müsste die Indikation zu einer Arthroskopie gestellt
17.2 · Spezielle Techniken
367 17
werden. Bei Verdacht auf eine Ruptur im Bereich des Streckseh- Störstelle, sei es in Form eines neurologisch gesicherten PRKS,
nenursprungs genügt zunächst eine sonografische Abklärung. eines TOS oder einer Sudeck-Dystrophie. Bei Verdacht auf eine
Bei unklarem Befund empfiehlt sich eine MRT-Untersuchung, Foramenstenose ist ebenfalls eine neurologische Untersuchung
die auch bei Verdacht auf Bursitis und tiefer gelegene Tumorbil- dringend erforderlich, und zwar zum Ausschluss von radikulären
dungen, vor allem bei schmerzhaften AV-Fisteln, Osteofibromen Störungen. Die Indikation zur OP des Tennisellenbogens sollte in
und Glumustumoren indiziert ist. Radikuläre Störungen müs- diesem Fall auch mit dem Neurologen besprochen werden.
sen durch röntgenologische und neurologische Untersuchungen Bei einem eindeutig nachweisbarem PRKS mit Hypästhesien
abgeklärt werden. Differenzialdiagnostisch kommen vor allem im Bereich des N. cutaneus brachii posterior und des N. cutaneus
auch das TOS und das Anfangsstadium einer Sudeck-Dystrophie antebrachii posterior sollte man den TE ebenfalls nicht primär
in Frage, die man nur dann diagnostizieren bzw. ausschließen operieren, da nach Dekompression des N. radialis am Oberarm
kann, wenn man die gesamte obere Extremität systematisch un- in 9 (81,8%) von 11 Fällen die Symptomatik eines TE nicht mehr
tersucht und die einzelnen pathologischen Befunde dokumentiert nachweisbar ist (⊡ Tab. 17.10). Auch beim TOS sollte man den TE
(⊡ Abb. 19.5). nicht primär operieren, sondern erst den Erfolg einer konser-
Eine neurologische Untersuchung empfiehlt sich allein schon vativen bzw. operativen Behandlung dieses Syndroms abwarten.
aus juristischen Gründen und zur weiteren Absicherung der ge- Nach diesem Eingriff kann eine Heilung einer TE-Symptomatik
stellten Diagnose. Dabei sollte aber expressis verbis Wert auf eine in etwa 75,6% erwartet werden (⊡ Tab. 17.11). Die im Rahmen
Untersuchung nach Kupfer et al. (1998) gelegt werden, da bei der einer Sudeck-Dystrophie vorkommende TE darf auf keinen Fall
bisher üblichen Untersuchung in Mittelstellung des Unterarmes primär operiert werden, und zwar wegen der Gefahr einer Ver-
nur in 5–10% ein entsprechender pathologischer Befund gefunden schlechterung der dystrophischen Verhältnisse mit Anstieg der
werden konnte, was aus heutiger Sicht ebenfalls zur Verunsiche- VAS-Werte. Die Besserungsrate nach erfolgreicher konservati-
rung der Pathogenese des TE beigetragen hat. ver und operativer Behandlung beträgt nämlich in diesem Fall
etwa 70%.
Klassifikation
Aus therapeutischen Gründen sollte man den TE in eine akute, Therapie
eine konservativ therapieresistente und eine chronisch rezidivie- Am Anfang der konservativen Behandlung sollte in jedem Fall
rende Form einteilen. zunächst eine sofortige Ausschaltung oder Veränderung der ana-
mnestisch in Frage kommenden Ursachen in die Wege geleitet
Indikationen und Kontraindikationen werden, da diesem Leiden eine ausschließlich neurogene Genese
Es besteht weltweit Einverständnis darüber, dass der akute TE im Sinne einer Beschäftigungsneuralgie (Bernhardt 1896) zugrun-
zunächst konservativ behandelt wird. Dabei sollte berücksichtigt de liegt. Diese Ursachen können berufs-, aber auch freizeitbedingt
werden, dass die Symptome selbst bei einer schweren Erkrankung sein, wie z. B. das Tennisspielen.
durch alleinige Schonung und Verbot der auslösenden Ursache Bei akutem, sehr schmerzhaftem Krankheitsbeginn stehen
(Arbeitsunterbrechung, Tennisverbot usw.) sowie Verabreichung Schonung unter Vermeidung von Pronationsbewegungen und eine
von einfachen Schmerzmitteln innerhalb von 6 Monaten vollstän- analgetische sowie antiphlogistische Therapie im Vordergrund.
dig abklingen. Bewährt hat sich in diesen Fällen auch die Injektion eines Lang-
Bei Therapieresistenz trotz zusätzlicher Behandlungsmaßnah- zeitanästhetikums, etwa 1 Querfinger unterhalb des Radiuskopfes.
men sollte die Indikation zur Denervation mit indirekter Dekom- Dadurch wird der besonders wichtige rückläufige Supinatorast
pression des tiefen Radialisastes gestellt werden. Dies gilt ebenso ausgeschaltet. Durch Diffusion wird außerdem eine Blockade des
für chronisch rezidivierende Erkrankungen. Dabei kann bei Fehlen tiefen Radialisastes erreicht. Eine gleichzeitige Kombination mit
eines posterioren Schmerzfeldes auf eine zusätzliche Ausschaltung einem Kortikoid kann wegen der bekannten Nebenwirkungen,
der Endfasern des R. muscularis anconaei durch temporäres Ablö- die sich bis zu humeroradialen Kapseldefekten auswirken können,
sen der distalen Trizepsfasern und des Ursprungs des M. ancona- nicht mehr empfohlen werden.
eus verzichtet werden, soweit es sich bei den Patienten nicht um
> Die einzig mögliche spezifische konservative Behandlung des
Angehörige bestimmter Berufsgruppen handelt, die z. B. schwere
TE besteht in der Immobilisierung des betroffenen Armes in
Lasten bei gebeugtem Ellenbogengelenk tragen oder schwere Ar-
Supinationsstellung des Unterarmes, und zwar durch eine
beiten mit Überbelastung der Pro- und Supinatoren gegen Wider-
gut gepolsterte, abnehmbare Oberarmkunststoffschiene.
stand und unter Umständen auch noch unter Einbeziehung der
Trizepsmuskulatur verrichten müssen. Unter diesen Umständen Nur in dieser Position kann eine vollständige Entspannung des
kann es nämlich durch Irritationen der N. radialis am Oberarm via M. supinator einschließlich seiner Arkade erreicht werden und da-
R. muscularis anconaei zu Schmerzausstrahlungen in das posteri- mit eine völlige Druckentlastung des tiefen Radialisastes mit kon-
ore Schmerzfeld kommen. sekutiver Normalisierung der Durchblutung und des intraneuralen
Besonderes Augenmerk sollte man aber auch Sekretärinnen Flows. Schulter- und Fingergelenke können sofort bewegt werden,
und Musikern widmen, die bevorzugt in Pronationsstellung des zumal sich in der Supinationsstellung der genannte Koppelungs-
Unterarmes in schneller Reihenfolge ihre Finger einsetzen müssen, effekt in keiner Weise entfalten kann. Für die Nacht empfehlen
wie dies bei den Streichern im Fall des Bogenarms und bei Pianis- sich Valium und eine Erhöhung des Armes in Abduktionsstellung,
ten sogar beiderseits der Fall ist. In diesen und ähnlich gelagerten wobei Innenrotationen vermieden werden sollten. Über die Dauer
Fällen kann es bei Vorhandensein eines posterioren Schmerzfeldes der Ruhigstellung kann im Einzelfall nur anhand des Lokalbefun-
ebenfalls erforderlich sein, eine komplette Denervation durchzu- des und der Schmerzstärke entschieden werden. Bei Weichteil-
führen. schwellungen ist als erstes der Verband zu überprüfen und ggf. in
Kontraindikationen bestehen vor allem bei Verdacht auf ein fo- einer etwas lockeren Form wiederanzulegen. Die Aufhebung der
kaltoxisches Geschehen, das zunächst abgeklärt und entsprechend Immobilisierung sollte zunächst nur tagsüber unter Aufsicht einer
behandelt werden muss; ferner bei Vorliegen einer übergeordneten Krankengymnastin erfolgen.
368 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
z Anteriores Schmerzfeld: Ablösen des ECRL und Trennung Sicherheitshalber wird hierzu noch das in unmittelbarer Nähe
der Ursprungsportionen der beiden Radialextensoren der Gelenkkapsel gelegene Periost mit dem elektrischen Messer
Nach winkelförmiger Verlängerung der Faszieninzision zwischen inzidiert. In Pronation des Unterarmes wird dann die anterio-
den gut abgrenzbaren Radialextensoren erfolgt dann die Ablösung re und laterale Ursprungsportion des M. supinator dargestellt.
und Isolierung des ECRL mit dem elektrischen Messer unter Um- Hierzu müssen die beiden Radialextensoren noch 2–3 cm weiter
schneidung der anterioren Zirkumferenz des Epikondylus unter nach distal aufgetrennt werden, um Caput und Collum radii exakt
sorgfältiger Darstellung der vorderen humerolateralen Gelenk- überprüfen zu können. Nach vorheriger Inzision der oberfläch-
kapsel, zunächst bis in Höhe des Caput radii. Dadurch werden lichen Faszie kann die Auftrennung der Muskelfasern mit einem
die anterioren intra- und extramuskulär verlaufenden Radiali- gebogenen Klemmchen stumpf durchgeführt werden; dabei stößt
sendfasern, die zum Epikondylus ziehen und auch einen Teil der man in der Tiefe auf eine kräftige gemeinsame Ursprungsplatte
Ursprungssehne des ECRB versorgen, durchtrennt (⊡ Abb. 17.26). der Radialextensoren, die nach Längsinzision von proximal her
370 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 17.26 Zustand nach Ablösung des ECRL bis zur vorderen Gelenk-
kapsel und Trennung der beiden Radialextensoren. Zustand nach Durchtren-
nung des kollateralen Nervengefäßbündels durch Pfeil markiert. Im posterio-
ren Bereich ist der Zustand nach Ablösung der distalen Trizepsfasern und des
M. anconaeus dargestellt. (Aus Wilhelm 2000, mit freundlicher Genehmigung
von Urban und Vogel) ⊡ Abb. 17.28 Zusätzlicher Ursprung des M. supinator vom ECRB durch rot
punktierte Linie gekennzeichnet. Spätere Inzision des M. supinator über dem
distalen Rand des Radiuskopfes durch rote bogenförmige Linie hervorgeho-
ben. (Aus Wilhelm 2000, mit freundlicher Genehmigung von Urban und Vogel)
RPNR
RPNR
SH
EA
SA
SL
ECRL
Y΄
NR
HE
SA ECRB
ECRB
⊡ Abb. 17.30 Zustand nach Auflösung der Koppelung von M. supinator und
ECRB. Höhe der Inzision der anteriolateralen Ursprungsportion des M. supi-
nator durch rote Linie gekennzeichnet. Da alle operativen Schritte in dieser
Region in Pronationsstellung durchgeführt werden müssen, ist die Arkade ⊡ Abb. 17.32 Zustand nach Auflösung der Koppelung und Inzision der an-
angespannt und komprimiert den Nerven. Die kreuzenden Gefäße wurden teriolateralen Ursprungsportion des M. supinator. Die Arkade ist entspannt
aus didaktischen Gründen weggelassen. (Aus Wilhelm 2000, mit freundlicher und der tiefe Radialisast wird nicht mehr komprimiert. (Aus Wilhelm 2000,
Genehmigung von Urban und Vogel) mit freundlicher Genehmigung von Urban und Vogel)
RPNR
SA RPNR
ECRP
M.sup.
Epic. lat desinseriert
ECRB
⊡ Abb. 17.31 Zustand nach Auflösung der Koppelung, deren Basis mit einer
Pinzette gefasst ist
Postoperative Behandlung > Es kann deshalb im Interesse der Patienten nur dringendst
darum gebeten werden, die seit 1991 bewährte und mehr-
▬ Hochlagerung des operierten Armes unter Vermeidung der
fach publizierte Technik der Denervation zu verwenden,
Innenrotation.
vorausgesetzt natürlich, dass man sich für diese Operations-
▬ Aktive Bewegungsübungen der Finger und des Schultergelenks.
methode entscheidet.
▬ Analgetische und antiphlogistische Therapie.
▬ Ziehen der Drainage nach 1–2 Tagen. Verschlimmert wird diese völlig unverständliche publizistische Si-
▬ Erster Verbandswechsel nach Abklingen der Ödemphase nach tuation auch noch dadurch, dass man es nicht einmal für nötig
frühestens 1 Woche. hält, den zu durchtrennenden Nerv überhaupt näher zu bezeich-
▬ Entfernung der Hautfäden nach 10 Tagen. nen, und sich lediglich mit dem Hinweis begnügt, dass »der
▬ Danach Beginn mit aktiven Bewegungsübungen im Ellenbo- schmerzleitende Nerv im intermuskulären Gefäßbündel läuft und
gengelenk. dort durchtrennt wird«.
▬ Von einem vorzeitigen Verbandswechsel wird dringend ab- Diese mangelhafte Information wurde jedoch von Eisenschenk
geraten, da sonst das Risiko einer postoperativen Weichteil- und Lautenbach (2003) durch ihre objektive und prägnante Dar-
schwellung bzw. Nachblutung mit erheblicher Verlängerung stellung der Denervation im selben Buchwerk vollständig kom-
des postoperativen Verlaufes in Kauf genommen werden muss. pensiert und aufgrund der eigenen Ergebnisse auch entsprechend
befürwortet.
Ergebnisse Abschn. 17.2.2 Eine der größten Gefahren bei operativen Eingriffen in der la-
Fehler, Gefahren und Komplikationen teralen Ellenbogenregion besteht darin, dass bei anteriorer Schnitt-
führung der N. cutaneus antebrachii posterior und seine Hauptäste
> Bei Durchsicht der Literatur fällt auf, dass bereits 1982 den
17 Autoren der ersten Publikation der Denervation von Wilhelm
verletzt werden können. Eine Läsion des R. profundus ni. radialis
kann dagegen vermieden werden, wenn die Trennung der beiden
und Gieseler (1962) der Vorschlag einer Erweiterung der
Radialextensoren und die Inzision der anterioren und lateralen
Hohmann-Operation und einer zusätzlichen Durchtrennung
Ursprungsabschnitte des M. supinator in Pronationsstellung des
des N. cutaneus antebrachii posterior unterstellt worden ist
Unterarmes erfolgt.
(Demmer u. Rettig 1982). Dies erfolgte völlig zu Unrecht!
Eine mangelhafte Schmerzausschaltung ist nur dann möglich,
In der angesprochenen Publikation wurde lediglich ausgeführt, wenn die Denervation nicht lege artis durchgeführt und insbeson-
dass »durch epifasziales Abpräparieren des ventralen Hautsubku- dere eine Double Nerve Lesion sowie ein fokaltoxisches Geschehen
tislappens bereits der schmerzleitende Ast des N. cutaneus antebra- übersehen werden. Im letztgenannten Fall kann es postoperativ
chii posterior durchtrennt wird« (Wilhelm u. Gieseler (1962). Von zu einer Beeinträchtigung der Ellenbogengelenkbeweglichkeit und
einer Erweiterung der Hohmann-Operation ist ebenfalls nirgends u. U. sogar zu einer Einsteifung des Gelenks kommen.
die Rede. Auch in späteren Publikationen wurde immer wieder da- Bei Kapselverletzungen genügen wenige Einzelknopfnähte mit
rauf hingewiesen, dass die schmerzleitenden Fasern des genannten resorbierbarem Faden der Stärke 5/0.
Hautnervs, epifaszial blind bzw. unbewusst durchtrennt werden. Es
ist auch nie der Vorschlag gemacht worden, dass erst der genannte > Im Gegensatz zur Denervation mit direkter Dekompression
Hautnerv freipräpariert und dann unterbrochen werden sollte, des tiefen Radialisastes lassen sich narbige Veränderungen
wie dies Weigel und Nerlich (2005) behauptet haben. Ergänzend des Nervengleitlagers nur durch eine indirekte Dekompres-
sei hierzu noch bemerkt, dass nach epifaszialer blinder Durch- sion des N. radialis verhindern, wie dies die höchst unter-
trennung der Nervenendfasern, welche den Epikondylus und die schiedlichen Ergebnisse der beiden Operationsmethoden
Ursprungsportion des ECRB innervieren, noch nie schmerzhafte zeigen (⊡ Tab. 17.14).
17.2 · Spezielle Techniken
373 17
Postoperativ fortbestehende Beschwerden können auch durch wei- den. Danach kommen für die nervöse Versorgung des anterioren
ter proximal gelegene Irritationen des N. radialis und seiner Be- Schmerzfeldes vor allem die in ⊡ Abb. 17.35 (rechts), dargestellten
züge bedingt sein. Nach Feststellung ihrer Lokalisationen erfolgt Endfasern des N. medianus in Betracht. Diese leiten sich von
zunächst eine konservative Behandlung. rückläufigen Muskelästen ab, welche die beiden Ursprungsporti-
Gelegentlich verstärkt auftretende Schmerzen im Bereich des onen des M. pronator teres sowie den M. flexor digitorum com-
Schultergürtels werden ebenfalls konservativ behandelt. Dabei munis versorgen. Die schmerzleitenden Fasern lassen sich bis zur
sollte u. a. auf eine optimale Lagerung des betroffenen Armes Epikondylenspitze und zum medialen Bandapparat verfolgen. Die
in Abduktion unter Vermeidung der Innenrotation geachtet kraniale Zirkumferenz des medialen Epikondylus wird von einem
werden. kurzen Zweig, der gemeinsam aus dem N. medianus und dem
Weichteilschwellungen und Nachblutungen kommen nach zu N. musculocutaneus entspringt, innerviert. Dieser Zweig versorgt
früher Entfernung der Redon-Drainage und Wechsel des Verban- das Periost unterhalb der distalen, vom Septum intermusculare
des vor. Diese Komplikationen lassen sich nur dadurch vermeiden, mediale entspringenden Fasern des M. brachialis. Die Spitze des
dass man die Drainage erst nach Versiegen der Wundsekretion medialen Epikondylus wird auf der vorderen Seite zusätzlich
zieht und den Verband erst nach Ende der Ödemphase wechselt. auch noch durch ein Ästchen eines Hautnervs versorgt, dessen
Bei Infektionen sind Wundabstriche, Wundrevisionen in Ober- makroskopisch nachweisbares Innervationsareal in ⊡ Abb. 17.35
armblutsperre ohne Auswickeln des Armes, Drainage, ein lockerer (rechts) durch ein schraffiertes Areal hervorgehoben ist. Es han-
Wundverschluss durch vorgelegte Nähte, Ruhigstellung und eine delt sich dabei um ein 3 cm langes, dünnes Ästchen, das oberhalb
entsprechende antibiotische Behandlung erforderlich. Zur Behand- des Epikondylus vom R. posterior ni. cutanei antebrachii me-
lung einer postoperativ wohl nur sehr selten auftretenden Sudeck- dialis entspringt und sich dann dichotomisch teilt. Das stärkere
Dystrophie sei auf Kap. 18, 19 und 20 verwiesen. Ästchen zieht dann subkutan in Richtung zur Epikondylenspitze
und innerviert unter büschelförmiger Aufteilung den anterioren
proximalen Bereich der Epikondylenspitze. Kurz darauf zweigt
17.2.3 Die operative Behandlung des sich eine stärkere Nervenfaser ab, die in Begleitung eines kleinen
therapieresistenten Golferellenbogens Astes der A. collateralis medialis distalis schließlich oberhalb des
durch Denervation nach Wilhelm Epikondylus endet (⊡ Abb. 17.36).
Das posteriore Schmerzfeld des GE wird ausschließlich von
Anfang 1962 wurden Recherchen in der Literatur durchgeführt, Gelenk- und Periostästen des N. ulnaris versorgt (⊡ Abb. 17.35,
soweit diese zum damaligen Zeitpunkt erreichbar war. Dabei stellte links). Nach Rüdinger kommen hierfür drei Äste in Frage. Der
sich heraus, dass bis dahin anscheinend noch kein relevantes Ope- obere Gelenknerv ist von unterschiedlicher Stärke und entspringt
rationsverfahren für die Behandlung der therapieresistenten »Epi- bereits mehrere Zentimeter oberhalb des Epikondylus vom Haupt-
condylitis humeri medialis« publiziert worden war. Zwar erwähnt stamm und gelangt dann auf der anteriomedialen Fläche des Caput
Hohmann 1949 diese Lokalisation im Zusammenhang mit dem mediale mi. tricipitis. Hier kann er bereits einen feinen Faden ab-
Tennisellenbogen, vor allem in diagnostischer Hinsicht, beschreibt geben, der die humerale Kapsel über der Fossa olecrani innerviert.
jedoch kein relevantes Operationsverfahren für die Behandlung Danach verläuft der erste Gelenkast etwas vor der Sehne des M.
des Golferellenbogens. Auch in Band 10, Teil 1 der »Allgemeinen triceps und verzweigt sich dann im proximalen Kapselabschnitt,
und Speziellen Chirurgischen Operationslehre« fehlt eine entspre- medial vom Olecranon. ⊡ Abb. 17.35 zeigt als Variation eine Ver-
chende Darstellung (Wachsmuth 1956). bindung zwischen 1. und 2. Gelenknerv, die dann gemeinsam
Diese Tatsache überrascht zunächst, wird jedoch sofort ver- den eben beschriebenen Kapselbereich innervieren. Der mittlere
ständlich, wenn man die sehr geringe Häufigkeit des Golferellen- Gelenknerv ist gewöhnlich etwas stärker als der vorherige und
bogens berücksichtigt. Es war deshalb naheliegend, in Anbetracht versorgt zusammen mit dem Hauptast des oberen Gelenknervs den
der inzwischen erzielten, erfolgversprechenden Operationsergeb- distalen humeroulnaren Kapselabschnitt. Zwischen diesen beiden
nisse des Tennisellenbogens das Prinzip der Denervation auch für ersten Gelenkästen kann noch eine feine Faser direkt aus dem
die Behandlung des therapieresistenten Golferellenbogens (GE) N. ulnaris entspringen, welche die Kapsel im unmittelbaren pos-
einzusetzen (Wilhelm u. Gieseler 1963). terioren Bereich des Epikondylenmassivs innerviert. Der untere
Gelenkast entspringt entweder ebenfalls direkt aus dem N. ulnaris
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie oder aber aus dem proximalen Ulnarisast, der den humeralen Kopf
Der Golferellenbogen (GE), auch Werferellenbogen genannt, ver- des M. flexor carpi ulnaris (FCU) innerviert und mit seinen rück-
ursacht im Gegensatz zum Tennisellenbogen (TE) nur eine geringe läufigen Fasern auch das Lig. collaterale mediale und den distalen
funktionelle Beeinträchtigung der Hand und zeichnet sich außer- medialen Kapselabschnitt erreicht.
dem durch ein relativ kleines Schmerzfeld aus. Dieses beschränkt Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es auch auf
sich häufig nur auf die Spitze und die gesamte Zirkumferenz des der Medialseite einen R. collateralis ni. radialis gibt, der bereits
medialen Epikondylus. In schweren Fällen können aber auch in der Axilla vom Hauptstamm entspringt, und bald danach in
Schmerzareale in der Gegend des medialen Kollateralbandes und enge Beziehung zum N. ulnaris tritt, mit dem er dann das Septum
der humeralen Ursprungsregion der Unterarmbeuger, vor allem intermusculare mediale in posteriorer Richtung durchbricht und,
des M. pronator teres, nachgewiesen werden. Im Gegensatz zum auf der freien Oberfläche des Caput mediale mi. tricipitis nach
TE, dessen Schmerzfeld ausschließlich durch Fasern des N. ra- distal verlaufend, schließlich als Gelenkast im Bereich der Fossa
dialis versorgt wird, erfolgt die Innervation des entsprechenden olecrani endet. Dieser Ast kommt aber für die Schmerzleitung
Areals des GE durch Äste, die sich von zwei Hauptnervenstäm- beim GE nicht in Betracht. Dies gilt auch für einen posterioren
men ableiten, nämlich vom N. medianus (C7–Th1) und N. ulnaris Zweig des R. posterior ni. cutanei antebrachii medialis, der den
(C6–Th1). medialen Rand des Olecranons und den unmittelbar anschließen-
Die Innervation der medialen Epikondylenregion ist bereits den Kapselbereich innerviert. Beide Nervenäste wurden deshalb in
1958, 1963 und 1972 ausführlich von Wilhelm beschrieben wor- ⊡ Abb. 17.35 (links) nicht berücksichtigt.
374 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
Ätiologie
Anamnestisch werden von den Patienten als exogene Ursachen des
GE berufs- und freizeitbedingte Tätigkeiten angegeben, die zu einer
Überbeanspruchung der Oberarm- und humeroulnaren Muskula-
tur führen. Im Berufsleben kann dies entweder durch ein akutes
Ereignis geschehen, wie z. B. durch ein plötzliches Steckenbleiben
eines Pressluftbohrers (sog. Rückschlagverletzung) oder aber in
Form einer chronischen Belastung durch bestimmte Arbeitsab-
läufe, welche mit einer ständigen Beuge- und Streckbewegung des
Ellenbogengelenks verbunden sind, vor allem in Kombination mit
gleichzeitig durchgeführten Pronationsbewegungen. Als typisches
Beispiel sei hierfür die stundenlange Bedienung des Hebels einer
Bohr- oder Stanzmaschine genannt. Als Folge dieser Belastungen
können Druckschäden des N. ulnaris im Bereich seines Sulcus und
des N. medianus in Höhe der Trochlea humeri auftreten, die unter
17 ⊡ Abb. 17.36 Präparatorische Darstellung der Innervation des medialen Epi-
Umständen auch zu entsprechenden Schmerzausstrahlungen in die
mediale Epikondylenregion führen.
kondylus (2) durch einen Ast des R. posterior ni. cutanei antebrachii medialis.
3 N. ulnaris; 4 M. epitrochleoancnaeus; 5 Arcus tendineus mi. flexoris carpi Bei Irritation des N. ulnaris werden von den Patienten mitunter
ulnaris (Aus Wilhelm u. Gieseler, 1963) auch Schmerzausstrahlungen in die beiden äußeren Finger ange-
geben, verbunden mit dem Gefühl des Einschlafens und einer ge-
wissen Minderung der groben Kraft sowie der Feinmotorik. Diese
Symptome finden sich aber auch bei einem beginnenden proxima-
Epidemiologie len Ulnariskompressionssyndrom (PUKS), was nicht verwundert,
Der Golferellenbogen (GE) ist relativ selten. Nach Nigst (1993) da diesem und dem GE die gleichen Kompressionsmechanismen
beträgt seine Häufigkeit nur 5–10% gegenüber 90–95% beim Ten- zugrunde liegen.
nisellenbogen. Das Durchschnittsalter liegt bei 43 (21–65) Jahren Dies gilt auch für den N. medianus. In diesem Fall klagen die
(Vangsness u. Jobe 1991). Eine operative Therapie hielten diese Patienten nicht nur über Schmerzen in der Ellenbeuge und in der
Autoren in 38 (11,4%) von 334 Patienten, die in der Zeit von 1974– Epikondylenregion, sondern auch über Beschwerden im Sinne ei-
1984 behandelt wurden, für erforderlich. Unter den 35 Nachunter- nes beginnenden Pronatorsyndroms. Außerdem geben die Patien-
suchten waren 32 Männer und 3 Frauen. Bei 33 von 35 Patienten ten eine Verstärkung der Schmerzen in der Ellenbeuge beim kräfti-
betraf die Erkrankung den dominanten Arm. Die Seitenverteilung gen Zupacken an. Das Taubheitsgefühl wird dabei als minimal, die
betrug 28:7 zugunsten der rechten Seite. Je nach Umfang des Kran- Kraftminderung dagegen als etwas stärker angegeben.
kengutes liegt die Häufigkeit des GE pro Jahr nach Vangsness und Als endogene Voraussetzung für den GE werden immer noch
Jobe (1991) bei 3,5, nach Schwarz et al. (1985) bei 1,4% und im Insertionstendopathien und degenerative Sehnenprozesse verant-
eigenen Krankengut bei 1,1%. wortlich gemacht. Demgegenüber sprechen anatomische, klinische
17.2 · Spezielle Techniken
375 17
und intraoperative Beobachtungen sowie letzten Endes auch die tienten Schmerzen an der Innenseite des Ellenbogengelenks
überzeugenden postoperativen Ergebnisse dafür, dass es sich bei angegeben, die bei Beugung des Ellenbogengelenks, vor allem
den endogenen Voraussetzungen um funktionell bedingte Druck- gegen Widerstand, wie z. B. beim Tragen von Taschen o. Ä.
schäden unterschiedlichen Ausmaßes des N. medianus und des auftreten oder sich verstärken. Auch bei maximaler Stre-
N. ulnaris handelt. ckung des Ellenbogengelenks, wie z. B. beim Golfspielen oder
Auf sportlichem Gebiet kommen als exogene Ursachen vor beim Tragen und Hochheben von schweren Lasten, werden
allem Golfspielen sowie Speer- und Diskuswerfen in Frage; fer- ebenfalls Schmerzen angegeben. Diese Schmerzausstrahlun-
ner Base- und Racket-Ball sowie Bowling, Gewichtheben und gen werden von einigen Patienten sogar selbst demonstriert
Ski-Langlauf in Frage. Besonderes Interesse in pathogenetischer (⊡ Abb. 17.49). Außerdem werden mitunter auch leichte
Hinsicht verdient dabei das Gewichtheben. Bei dieser Sportart Schmerzausstrahlungen nach proximal und distal angegeben
beobachtete Neugebauer (1974, zit. nach Machacek 1976) nämlich sowie eine leichte Störung der Sensibilität, eine gewisse Beein-
vor allem mediale »Epikondylitiden«, und zwar bei 24 Stemmern trächtigung der groben Kraft und der Feinmotorik.
insgesamt 19-mal. 2. Die maximale Ausdehnung des Schmerzfeldes umfasst nicht
Bekanntlich sehen die Befürworter der tendinogenen Pathoge- nur die entsprechende Epikondylenregion, sondern auch den
nese einen ursächlichen Zusammenhang der bei einem Golferel- Ursprungsbereich der humeroulnaren Muskulatur, und zwar
lenbogen vorhandenen Schmerzen mit einer Insertionstendopathie des M. pronator teres, des M. flexor digitorum superficialis
bzw. einem degenerativen Prozess der vom Epicondylus medialis und des Caput humerale des FCU, einschließlich des medialen
entspringenden Muskeln, und zwar als Folge einer funktionellen Seitenbandes.
Überbeanspruchung derselben. Die daraus zu ziehenden Schluss- 3. Das anteriore Schmerzfeld wird neben einem Periostzweig des
folgerungen, den Schmerz durch eine Zugentlastung in Form ei- R. posterior ni. cutanei antebrachii medialis vor allem durch
ner Sehneneinkerbung bzw. Ablösung der Ursprungsfasern zu Endfasern der für die humeralen Ursprünge des M. pronator
beseitigen, ist auf den ersten Blick durchaus einleuchtend. Es war teres und des M. flexor digitorum superficialis bestimmten
deshalb naheliegend, die operative Behandlung des resistenten GE Muskeläste des N. medianus innerviert (⊡ Abb. 17.35, rechts).
ebenfalls nach dem Hohmann-Prinzip durchzuführend. So berich- Diese Strukturen können durch eine entsprechende Nerven-
tete u. a. Machacek (1976) über vier erstmals erfolgreich operierte blockade bestätigt und dadurch gleichzeitig auch das zugehö-
Patienten, bei denen zur Zugentlastung »die Muskelursprünge am rige Schmerzfeld bestimmt werden.
Epikondylus medialis bis auf den Knochen abgelöst wurden«. Um 4. Als Ursache der anterioren Schmerzausstrahlung sind bereits
welche Muskeln es sich dabei im Einzelnen gehandelt hat, wurde 1963 »neuroirritative Impulse« diskutiert worden, die durch
allerdings nicht erwähnt. den N. medianus vermittelt werden, deren Ursachen aber zu-
Über ein ähnliches Operationsverfahren haben auch Vangs- nächst noch im Unklaren geblieben sind.
ness und Jobe (1991) berichtet, bei dem nach Darstellung des Systematische klinische und intraoperative Untersuchungen
Epikondylus der gemeinsame Ursprung der Unterarmmuskeln ein- des N. medianus und seiner proximalen motorischen Äste
schließlich des humeralen Kopfes des FCU in querer Richtung haben jedoch ergeben, dass es durchaus eine bevorzugte Lo-
durchtrennt, unter Schonung des medialen Seitenbandes abgelöst kalisation für die ursächlich in Frage kommenden Irritationen
und schließlich wieder zurückgeschlagen wird. Nach mehrfachem dieses Nervs gibt, und zwar im proximalen Bereich der El-
Anbohren des Epikondylus werden die abgelösten Unterarmbeuger lenbeuge. Dies bestätigte sich bei 7 der 12 operierten GE der
mit mehreren Nähten in »Ruhelänge« wieder reinseriert, um die vorliegenden Serie und spricht dafür, dass es auch beim GE
normale Spannung dieser Muskeln wiederherzustellen. Trotz die- Schmerzausstrahlungen gibt, die durch eine weiter proximal
ser an sich widersprüchlichen Reinsertion wird von den Autoren in gelegene Nervenirritation verursacht werden. Bei den übrigen
24 (69%) von 34 Fällen über sehr gute und in 10 (19%) über gute 5 Patienten konnte die Ursache letztlich nur in dem eben ge-
Ergebnisse berichtet. Diese sind überraschend, unter pathogenen nannten Bereich vermutet werden.
Gesichtspunkten aber nicht nachvollziehbar, da am Ende des Ein- 5. Verantwortlich für die anteriore Schmerzausstrahlung ist vor
griffs die ursprüngliche Zugbelastung am medialen Epikondylus allem eine Druckschädigung leichteren Grades (Irritation!)
ja wiederhergestellt worden ist. Deshalb stellt sich auch hier die des N. medianus und seiner motorischen Äste im Bereich der
Frage, wodurch letzten Endes in 88% des operativen Krankengutes Trochlea humeri, und zwar verursacht durch direkten Druck
Schmerzfreiheit erreicht werden konnte. Eine kurzfristige Aus- des Lacertus fibrosus bei 5 von 12 Patienten (⊡ Abb. 17.49,
schaltung der Zugbelastung des Epikondylus kommt in diesem Fall ⊡ Abb. 17.50, ⊡ Abb. 17.51).
für den Operationserfolg wohl kaum in Betracht. Berücksichtigt In diesen Fällen findet sich nach Resektion des Lacertus fibro-
man aber die Ausdehnung des entsprechenden Schmerzareals und sus bei Streckstellung des Ellenbogengelenks ein vorgewölbter
dessen nervöse Versorgung durch Endfasern des N. medianus und und verbreiterter N. medianus mit nebeneinander liegenden
N. ulnaris, dann bleibt, wie auch bereits am Beispiel des TE darge- Faszikeln und fehlender subepineuraler Durchblutung in
stellt, nur eine Erklärung, nämlich in Form einer unbewusst durch- Höhe der Trochlea humeri, woraus auch auf eine Störung des
geführten Denervation. Dabei werden beim Ablösen des anterio- intraneuralen Flows geschlossen werden kann.
ren Weichteillappens nicht nur die aus der Subkutis einstrahlenden In den beiden übrigen Fällen, die klinisch zunächst ebenfalls
Nervenfasern zum epikondylären und supraepikondylären Bereich als Kompressionssyndrom des Lacertus fibrosus imponierten,
unbewusst durchtrennt, sondern auch die schmerzleitenden End- fand sich als Hauptursache der Druckschädigung eine mehre-
fasern der Rr. musculares ni. mediani, die für die Versorgung der re Zentimeter breite, tief liegende und straffe Faszienbrücke,
humeroulnaren Muskeln zuständig sind. welche den M. pronator teres mit dem M. brachialis verbindet
Für die Bedeutung der ausschließlich neurogenen Genese des und dabei den N. medianus auch noch in seiner seitlichen Be-
GE sprechen folgende Tatsachen und Schlussfolgerungen: weglichkeit behindert (⊡ Abb. 17.52, ⊡ Abb. 17.53, ⊡ Abb. 17.54).
1. Anamnestische Angaben zu den exogenen Ursachen des GE Nach Resektion dieser Faszie findet sich ebenfalls eine schwe-
(s. oben): Als herausragendes Symptom werden von den Pa- re Durchblutungsstörung sowie eine leichte Verbreiterung
376 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
des Nervenquerschnitts und in je einem Fall sogar noch eine mochlion im distalen Bereich der Epikondylenzirkumferenz
umschriebene Ablösung des Epineurium, sowie eine stärkere findet, die an dieser Stelle in einem mehr oder weniger stump-
Dellenbildung. In Streckstellung des Ellenbogengelenks sind fen Winkel in die Trochlea übergeht (Güney et al. 1977).
die Folgen dieser komprimierenden Faszienplatte besonders 10. Die Dysplasie des medialen Epikondylus stellt neben der Quali-
gut zu erkennen (⊡ Abb. 17.52, ⊡ Abb. 17.53, ⊡ Abb. 17.54). tät der Überdachung des Sulcus ni. ulnaris die Hauptursache des
6. Da der Lacertus fibrosus in die Fascia antebrachii einstrahlt, GE in endogener Hinsicht dar. Ob es dabei zur Subluxation oder
entsteht dadurch bei Anspannung des M. biceps funktionell Luxation des N. ulnaris kommt, hängt in erster Linie von dem
ein gewisser Zuggurtungseffekt, wodurch ein kontrahierter Vorhandensein einer stabilen Überdachung des Sulcus ni. ul-
M. pronator teres noch stärker gegen die Trochlea humeri und naris ab. Diese erfolgt entweder durch den von Gruber (1866)
den darüber hinweg ziehenden M. brachialis gepresst wird. erstmals beschriebenen atavistischen M. epitrochleoanconaeus,
Dies hat zur Folge, dass auch der N. medianus und seine mo- der den Sulcus in querer Richtung überbrückt und von einem
torischen Äste dadurch noch zusätzlich unter Druck geraten Ast des N. ulnaris innerviert wird, oder durch sein ligamentäres
können, was bei zwei Patienten der Fall war. Diese Beobach- Rudiment, nämlich durch das Lig. epitrochleoanconaeum. Der
tung spricht dafür, den Lacertus fibrosus bei der Dekompressi- rudimentäre Charakter dieses Bandes ist nicht zuletzt auch da-
on des N. medianus stets zu resezieren. durch bewiesen, dass es quer angeordnete Muskelfasern enthal-
Eine Nervenirritation durch einen Proc. supracondylaris oder ten kann, welche dem Faserverlauf des M. epitrochleoanconaeus
durch ein Struther-Ligament konnte in der vorliegenden Serie entsprechen. Nach anatomischen Untersuchungen kommt dieser
nicht beobachtet werden. Muskel in 17,9–28,7% vor, nach klinischen Untersuchungen in
7. Das posteriore Schmerzfeld, das auch den Ursprung des Caput 9–17,3% (⊡ Tab. 17.17). Intraoperativ konnte der Muskel in 9,0 –
humerale mi. flexoris carpi ulnaris und des medialen Seiten- 17,3% beobachtet werden (⊡ Tab. 17.18).
bandapparates mit einschließt, wird im Gegensatz zum anteri- Der M. epitrochleoanconaeus und sein ligamentäres Rudiment
oren Bereich ausschließlich von Fasern der drei Gelenkäste des entspringen vom medialen Epikondylenmassiv und setzen an
N. ulnaris versorgt (⊡ Abb. 17.35, links) und kann durch Blockade der gegenüber liegenden Zirkumferenz des Olekranons zwi-
dieses Nervs etwa 2 cm proximal der Epikondylenspitze eben- schen Gelenkkapsel und den auslaufenden Sehnenfasern des
falls ausgeschaltet und auf diese Weise auch bestätigt werden. Caput mediale mi. tricipitis an (⊡ Abb. 17.37).
Bei Bedarf kann von hier aus auch der subkutan verlaufende In Streckstellung des Gelenks nehmen M. epitrochleoancona-
posteriore Ast des N. cutaneus antebrachii medialis blockiert eus und das Ligament eine annähernd rautenförmige Gestalt
werden. an, während es bei zunehmender Beugung infolge Änderung
Derartige routinemäßige Blockaden sind im Gegensatz zur der Entfernung und Verlagerung der Ursprungs- und Ansatz-
Denervation des Handgelenks weder beim GE, noch beim TE punkte zu einer trapezförmigen Ausgestaltung der genannten
erforderlich. Strukturen kommt. Wie aus ⊡ Abb. 17.38 hervorgeht, wird da-
8. Lokal findet sich neben Druckschmerzen, die in einigen Fällen durch gleichzeitig eine erhebliche Verlängerung dieser Struk-
auch auf die Spitze des Epikondylus beschränkt sein können, ein turen bis zu einem Drittel erreicht, die zu einer sehr starken
druckschmerzhafter N. ulnaris, von dem bei zunehmender pas- Anspannung des proximalen Muskel- bzw. Ligamentrandes
siver Beugung des Ellenbogengelenks Schmerzen in Richtung
Epikondylus, mitunter auch bis in den Kleinfinger ausstrahlen.
In diesem Bereich kann auch eine leichte Hypästhesie registriert
werden. Es sind dies Symptome, wie sie durch den Beugetest ⊡ Tab. 17.17 M. epitrochleoanconaeus: Anatomische Untersuchungen
des Ellenbogengelenks auch beim proximalen Ulnariskompres- Autoren Präparate Fälle %
sionssyndrom (PUKS) stets nachgewiesen werden können.
9. Für die Schmerzausstrahlung in den posterioren Bereich Gruber (1866) Erstbeschreibung
kommen in pathogenetischer Hinsicht folgende endogene
Kudo u. Li (1956) 472 85 18,0%
17 Ursachen als prädisponierende Faktoren in Betracht: Bei
normal ausgestaltetem rinnenförmigem Sulcus ni. ulnaris Mumenthaler (1961) 56 10 17,8%
(⊡ Abb. 17.37) verläuft der Nerv dorsal der Ellenbogengelenk-
Bando (1979) 157 45 28,7%
achse und ist dadurch bei Beugung des Gelenks einer ständigen
Zug- und Druckbelastung ausgesetzt, die letztlich durch das
Epikondylenmassiv bedingt und gleichzeitig abgefangen wird.
Dadurch erleidet der Nerv bei Beugung und Streckung des
⊡ Tab. 17.18 M.epitrochleoanconaeus: Klinische Untersuchungen
Gelenks eine ständige Veränderung seines Querschnitts, womit
wiederholte Verschiebungen der einzelnen Faszikel, wechselnde Autoren PUKS M. epitr. %
Druckbelastungen und Zugbeanspruchungen des Nervs sowie
eine sich ständig wiederholende Medialverschiebung des Nervs James (1956) ? 1 -
verbunden sind. Letztere kann durch die Wirkung des Caput Wachsmuth u. Wilhelm (1968) ? 5 -
breve mi. tricipitis auch noch begünstigt werden.
Diese Irritationen führen zu Störungen der nervalen Durch- Vanderpool et al. (1968) ? 2 -
blutung und des axonalen Flows, die letztlich für die Schmer- Kojima et al. (1979) 44 4 9,0%
zausstrahlung und für die Veränderung der Oberflächensensi-
Nigst (1983) 338 31 9,3%
bilität verantwortlich sind.
Bei einem normal ausgeprägten Epikondylus kann sich übri- Eigenes Krankengut: 1962–69 ? 16 -
gens dennoch eine Luxationstendenz zeigen, nämlich dann,
Eigenes Krankengut: 1970–84 208 36 17,3%
wenn der N. ulnaris mit zunehmender Beugung sein Hypo-
17.2 · Spezielle Techniken
377 17
führt, während am distalen Rand nur eine geringfügige Ver- intraoperative Beweis für diesen oben genannten proximalen
längerung registriert werden kann. Kompressionsmechanismus erbracht werden, dessen Folgen
Die Innervation des M. epitrochleoanconaeus erfolgt durch bei ligamentärer Überdachung sogar noch schwerwiegender
einen Zweig, der zusammen mit dem oberen Gelenkast vom ausfallen können, da die proximale Begrenzung des Ligaments
N. ulnaris entspringt (Wachsmuth u. Wilhelm 1968). bei maximaler Anspannung die Funktion einer scharfrandigen
Die Anspannung des Lig. epitrochleoanconaeum ist bereits Struktur ausübt, sodass es bei forcierten Bewegungsabläufen,
von Mumenthaler (1961) beschrieben worden, die unter Um- wie etwa beim Barrenturnen, sogar zu einer akuten Quetsch-
ständen »zu einer Kompression des Nerven im Sulcus selber verletzung des Nervs kommen kann.
führen kann«. In diesem Zusammenhang führt der Autor 12. Bei fehlender oder nur mangelhafter Ausbildung der Überda-
ferner aus, dass »der Nerv bei Beugung des Ellenbogengelenks chung des Sulcus ni. ulnaris luxiert der Nerv mit zunehmen-
zwischen dem tiefer tretenden Triceps und dem Epicondylus der Beugung des Ellenbogengelenks über den distalen Ab-
ulnaris mehr oder minder eingequetscht wird«. schnitt des Septum intermusculare mediale und die Epikon-
11. Bei normaler Ausgestaltung des Sulcus und des Epikondylus dylenspitze nach vorn und distal. Es kommt dadurch zu einer
üben die genannten Strukturen sehr wohl eine schützende fast rechtwinkligen Verlaufsänderung unter den in dieser Posi-
Funktion aus und bewahren den Nerv vor einer kompletten tion maximal angespannten Arcus tendineus des FCU in dem
Luxation. Erst bei endgradiger Beugung zeigt sich eine gewis- relativ engen osteofibrösen Kanal, der von Feindel u. Stratford
se Subluxationstendenz, die bei Dysplasie des Epikondylus (1958) als Kubitaltunnel beschrieben worden ist. Je nach Stär-
schon früher eintritt, und dann zur Einquetschung des Nervs ke der Gelenkbeugung kommt es dabei zu einer mehr oder
zwischen dem maximal angespannten M. epitrochleoanco- minder starken Irritation und Einklemmung des N. ulnaris
naeus oder seinem ligamentären Rudiment und der Epikon- am proximalen Rand des anatomisch gut abgrenzbaren Ar-
dylenspitze führt (⊡ Abb. 17.37, ⊡ Abb. 17.38, ⊡ Abb. 17.39, cus tendineus (⊡ Abb. 17.37, ⊡ Abb. 17.44, ⊡ Abb. 17.45). Diese
⊡ Abb. 17.40). Wenn man intraoperativ diese Position kurzfris- kann bei länger dauernder Beugestellung, wie z. B. während
tig aufrechterhält, kann man nach Ablösen der überdachenden des Schlafes, zu Par- und Hypästhesien führen, die nach
Strukturen mitunter eine leichte Dellenbildung des Nervs und Streckung des Gelenks jedoch rasch wieder verschwinden.
Vernarbungen seines Gleitlagers, auf alle Fälle aber ein Fehlen Diese Beschwerden lassen sich auch durch den Flexionstest
der subepineuralen Durchblutung als Folge der Kompression reproduzieren (Wilhelm 1970b). Im Laufe der Zeit kann dieser
erkennen (⊡ Abb. 17.43). Luxationsmechanismus (Osborne 1957) bei entsprechender
In der Literatur berichtete James (1956) anhand eines Falles Belastung zu bleibenden sensiblen und motorischen Störun-
erstmals über die Möglichkeit einer komprimierenden Wir- gen führen, wie z. B. beim Golferellenbogen bzw. bei dem pro-
kung dieses Muskels, ohne jedoch den Druckmechanismus ximalen Kompressionssyndrom des N. ulnaris.
im Einzelnen darzustellen; dies trifft auch für Vanderpool et Über die Häufigkeit der beiden Luxationsmechanismen infor-
al. (1968) zu. Erst 1968 konnte dann anhand von 5 Fällen der miert ⊡ Tab. 17.19.
rechts links
Diagnostik
> Am Anfang der Untersuchung steht auch hier die Erhebung
einer sorgfältigen Anamnese im Vordergrund.
⊡ Abb. 17.40 Einquetschung des subluxierten N. ulnaris zwischen proxima-
lem Rand des M. epitrochleoanconaeus und Epicondylus medialis (Stern).
HUM humeroulnare Muskulatur; SIM Septum intermusculare mediale; NU Dabei sollten nach Art und Lokalisation der Schmerzen sowie be-
17 N. ulnaris; CMMT Caput mediale mi. tricipitis; kleine Sternchen: Ausdehnung rufs- und freizeitbedingten Überlastungen des Ellenbogengelenks
der subepineuralen Durchblutungsstörung in der Zone der maximalen geforscht werden. Von Bedeutung sind die für eine Überlastung
Druckbelastung des N. ulnaris, durch 2 Sternchen markiert; MEA M. epitroch- in Frage kommenden Bewegungsabläufe. Von großem Interesse
leoanconaeus; AT Arcus tendineus mi. flexoris carpi ulnaris. (Aus Suden u. ist auch die Frage, ob der Patient mit angewinkeltem Ellenbogen
Wilhelm 1987, mit freundlicher Genehmigung von Thieme) schläft und ob die dabei auftretenden Parästhesien nach Strecken
des außenrotierten Armes wieder verschwinden. Wichtig ist auch
die Frage, ob bei maximaler Streckung des Arms Schmerzen in
13. Von ganz besonderer Bedeutung für die Pathogenese des GE der Ellenbeuge auftreten, die zur Innenseite des Ellenbogengelenks
ist sein Auftreten im Rahmen einer sog. Double Nerve Lesion. ausstrahlen. Außerdem sollte nach Missempfindungen und Taub-
So fanden sich unter 100 übergeordneten TOS, die im glei- heitsgefühl in der Hand bei anhaltender Beugung (N. ulnaris) und
chen Zeitraum operiert worden sind, insgesamt 23 (23,0%) Streckung des Ellenbogengelenks (N. medianus) gefragt werden.
GE, die nach transaxillärer Dekompression des Nervengefäß-
stranges bei 19 (82,6%) von 23 Patienten nicht mehr nachweis- > Im Hinblick auf eine evtl. in Frage kommende Verlagerung
bar waren. Unbeeinflusst blieben nur 4 Fälle. des N. ulnaris ist es von allergrößter Bedeutung, nach
14. Ähnliches gilt auch für die Sudeck-Dystrophie, bei der in 1 toxischen Einflüssen (Alkoholabusus), Stoffwechsel- und
(10,0%) von 10 Fällen ebenfalls das klinische Bild eines GE entzündlichen Erkrankungen zu fahnden, die als Fokalto-
aufgetreten und nach transaxillärer Operation nicht mehr xikosen in Frage kommen, da das postoperative Ergebnis,
nachweisbar war. insbesondere vonseiten des verlagerten N. ulnaris u. a. auch
15. Bei Überprüfung des Triggertestes des N. medianus in von einer entsprechenden diagnostischen Abklärung und
Höhe der Trochlea humeri kommt es zur Schmerzausstrah- präoperativen Behandlung dieser Risikofaktoren abhängt.
17.2 · Spezielle Techniken
379 17
Im Rahmen der Untersuchung sollte man auch beim GE auf die chenden Par- und Hypästhesien im Versorgungsgebiet des N. medi-
Möglichkeit einer übergeordneten Irritation der Bezüge des N. me- anus kommen, welche in Beugestellung wieder verschwinden.
dianus (C6–Th1) und des N. ulnaris (C6–Th1) im Bereich der Weitere Provokationsmanöver sind von Spinner (zit. nach
entsprechenden Foramina intervertebralia und des Thoracic outlet Tackmann et al. 1989) angegeben worden. So kann die komprimie-
achten, weil dadurch das Auftreten eines GE bei Vorhandensein rende Wirkung des Lacertus fibrosus auch durch die bei Beugung
entsprechender lokaler Voraussetzungen im Sinne einer Double und Supination des Unterarmes gegen Widerstand auftretenden
Nerve Lesion begünstigt werden kann. Die Besserungsquoten nach Schmerzen nachgewiesen werden.
Operationen von TOS sind mit über 80% eindeutig (⊡ Tab. 17.21). Für die durch den M. pronator teres verursachte Kompression
Außerdem sollte ein, wenn auch seltener Proc. supracondylaris spricht dagegen die Schmerzzunahme bei Streckung des pronierten
als mögliches Irritament nicht übersehen werden. Die Abgrenzung Unterarmes gegen Widerstand.
eines TOS von einer Irritation des N. ulnaris im Bereich des Ellenbo- Besonders wichtig ist in differenzialdiagnostischer Hinsicht der
gens ist einfach und wird durch den Nachweis von Sensibilitätsstö- Beugetest des Mittelfingers bei supiniertem Unterarm gegen Wi-
rungen im Bereich des N. cutaneus antebrachii medialis bestätigt. derstand nach Spinner (1978), da sich dadurch die komprimierende
Lokal wird zunächst das anteriore Schmerzfeld im Bereich der Wirkung der Superfizialissehnenarkade auf den N. interosseus ante-
Ursprünge der humeroulnaren Muskulatur, vor allem des M. pro- rior (Kiloh-Nevin-Syndrom) und andere in der Nähe gelegene bin-
nator teres, und danach das posteriore Schmerzfeld im Bereich der degewebige Anomalien beweisen bzw. ausschließen lässt.
Epikondylen- und angrenzenden Sulcusregion bestimmt. Danach Differenzialdiagnostisch kommen ferner neben Foramenste-
erfolgt die Untersuchung des N. ulnaris im Bereich des Sulcus und nosen und dem TOS traumatisch und arthrogen bedingte Irritatio-
des supraepikondylären Abschnittes, und zwar in Streck- und in nen des Nervs in Betracht.
Beugestellung. Dabei ist auf Druckempfindlichkeit und Beweglich- Röntgenologisch empfehlen sich Aufnahmen des Ellenbogen-
keit des Nervs, auf sein Verhalten bei Beugung im Sinne einer Sub- gelenks in zwei Ebenen zum Ausschluss von arthrogenen Faktoren
luxation oder Luxation sowie auf die Qualität der Überdachung des und tangentiale Aufnahmen des Sulcus ni. ulnaris für den Nach-
Sulcus ni. ulnaris zu achten. In maximaler Beugung sind ein evtl. weis einer Dysplasie des Epikondylenmassivs (⊡ Abb. 17.41).
vorhandener M. epicondyloanconaeus oder dessen ligamentäres Neurologische Untersuchungen des N. ulnaris im Falle ei-
Rudiment straff angespannt und im proximalen Bereich scharfran- nes GE sind nicht zwingend erforderlich, falls ein eindeutiges
dig begrenzt. Der N. ulnaris wird bei Subluxation zwischen diesen Schmerzareal und ein positiver Beugetest nachweisbar sind. Nur
Strukturen und der Epikondylenspitze eingeklemmt und ist hier in bestimmten Fällen wird man aus forensischen und differen-
druckschmerzhaft. In gleicher Weise verhält sich der N. ulnaris bei zialdiagnostischen Gründen derartige Untersuchungen dennoch
Luxation, die ein Fehlen der genannten Überdachung des Sulcus zur veranlassen, zumal durch eine zusätzliche sog. Inching-Technik
Voraussetzung hat. In diesem Fall kommt die Einklemmung bzw. die Lokalisation einer Schädigung des Nervs genau bestimmt wer-
Kompression des Nervs unter dem Arcus tendineus mi. flexoris den kann. Bei diesem Verfahren wird der Sulcus ni. ulnaris von
carpi ulnaris zustande, der an dieser Stelle ebenfalls druckschmerz- distal nach proximal in 10-mm-Abständen mit der Reizelektrode
haft ist. In beiden Fällen kommt es dabei zu einer Schmerzaus- »abgefahren«. Nach Passieren der Läsionsstelle kommt es dann in
strahlung in den posterioren Bereich der Epikondylenregion und typischen Fällen zu einem entsprechenden Latenz- und Amplitu-
zu peripheren Par- und Hypästhesien, welche nach Streckung des densprung (Kastrup et al., im Druck).
Gelenks wieder verschwinden. Dieses Verhalten des N. ulnaris wird Bei klinischem Nachweis einer Irritationslokalisation im Be-
seit 1970 als Beugetest sowohl für die Diagnose eines proximalen reich des N. medianus sollte allein schon aus differenzialdiagnosti-
Ulnariskompressionssyndroms, als auch eines GE verwendet. schen, aber auch aus forensischen Gründen eine neurologische Un-
Demgegenüber wird der Schmerz im anterioren Bereich durch tersuchung in die Wege geleitet werden, nicht zuletzt auch deshalb,
Palpation des Triggerpunktes des N. medianus in Höhe der Troch- um den Patienten ggf. anhand eines weiteren Arguments von der
lea humeri bei gestrecktem Arm verstärkt. Diese Schmerzprovoka- Dringlichkeit eines zweiten operativen Zugangsweges überzeugen
tion kann auch durch Hochheben eines Stuhles bei gestrecktem und zu können.
supiniertem Arm erreicht werden, und zwar durch Erhöhung der
Druckbelastung des N. medianus durch den angespannten Lacertus Klassifikation
fibrosus oder durch eine ggf. vorhandene tiefe kreuzende Faszi- Aus therapeutischen Gründen sollte man auch den GE in eine
enbrücke, die den N. medianus in Höhe der Trochlea behindert akute, eine konservativ therapieresistente und in eine chronisch
(⊡ Abb. 17.53). In diesem Fall kann es auch peripher zu entspre- rezidivierende Form einteilen.
380 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
Indikationen und Kontraindikationen von einfachen Schmerzmitteln. Bei sehr starken Schmerzen kann
auch eine Infiltrationsanästhesie im Bereich des medialen Epikon-
> Ein akut aufgetretener GE ist primär stets konservativ zu
dylus vorgenommen werden.
behandeln.
Bei Therapieresistenz und chronisch rezidivierenden > Lokale Kortikoidinjektionen sollten nicht mehr angewendet
Erkrankungen sollte die Indikation zur operativen Behand- werden.
lung gestellt werden, aber erst nach Ausschluss bzw.
Während der Nachtruhe sollte der Arm unter Vermeidung der In-
erfolgreicher Behandlung eines fokaltoxischen Gesche-
nenrotation hoch gelagert werden. Schulter- und Fingergelenke kön-
hens und einer Stoffwechselerkrankung.
nen sofort bewegt werden. Die Aufhebung der Immobilisierung soll-
Besondere Vorsicht ist auch bei Alkoholabusus geboten. Auch te zunächst nur tagsüber nach entsprechender Anleitung erfolgen.
wenn es möglich wäre, diese Situation zu bessern, sollte man die
Operationsindikation erst nach einer ausführlichen und rechtsver- Technik der Denervation durch zirkuläre Umschneidung
bindlichen Aufklärung durchführen, und zwar am besten durch der medialen Epikondylenregion nach Wilhelm (⊡ Abb. 17.43)
Benennung eines Zeugen. Patientenaufklärung
Bei normalem funktionellem Verhalten des N. ulnaris genügt ▬ Erklärung der in Frage kommenden Operationstechnik und
eine einfache Denervation in Form einer kreisförmigen Umschnei- Information über kombinierte Eingriffe, wie Verlagerung des
dung der medialen Epikondylenregion, wobei der im Sulcus freige- N. ulnaris, zusätzliche Dekompression des N. medianus in der
legte Nerv mithilfe eines kleinen Langenbeck- oder Schielhakens Ellenbeuge oder Revision eines Nervs bei Rezidiveingriffen.
bei Seite gehalten wird. Bei Subluxation und Luxation des Nervs ▬ Operationsdauer 30–60 Minuten, bei Rezidiveingriffen länger.
ist im Falle eines GE eine zirkuläre Denervation mit subkutaner ▬ Übliche postoperative Beschwerden, wie Weichteilschwellung,
anteriorer Verlagerung indiziert. Nachblutung, Infektionen.
Bei klinisch und neurologisch gesichertem Nachweis einer ▬ Restbeschwerden, insbesondere bei unabhängig fortbestehenden
Irritation des N. medianus in der Ellenbeuge ist die Indikation zu Störzonen im Oberarm-, Schulter-, Hals- und HWS-Bereich.
einer zusätzlichen Dekompression dieses Nervs zu stellen. Hierfür ▬ Möglichkeit einer Verletzung des posterioren Astes des N. cu-
kommen in erster Linie die Resektion des Lacertus fibrosus und taneus antebrachii medialis, vor allem bei Rezidiveingriffen
von tief liegenden komprimierenden fibrösen Strukturen, aber und passageren Nervenschäden durch Hakendruck.
auch der erhöhte Druck durch den M. pronator teres auf den Ner- ▬ Einschränkung der Ellenbogenbeweglichkeit (selten: Fokalar-
venhauptstamm und dessen motorische Äste in Frage. thritis!).
Falls die Schmerzausstrahlungen seitens des N. medianus dieje- ▬ Sudeck-Dystrophie; im eigenen Krankengut nicht aufgetreten.
nigen des N. ulnaris bei Weitem überwiegen, kann unter Umstän- ▬ Unschöne Narbe.
den nach entsprechender schriftlicher Aufklärung des Patienten
zunächst auf einen gleichzeitigen Eingriff im Bereich der medialen Instrumentarium
Epikondylenregion verzichtet werden. ▬ Handchirurgisches Instrumentarium.
Kontraindikationen stellen erhöhte Entzündungsparameter ▬ Feines elektrisches Messer.
dar, deren Ursachen nicht abgeklärt werden konnten. Auch bei ei-
ner vorrangigen TOS-Symptomatik sollte man die Operation eines Anästhesie und Lagerung
GE in Anbetracht der hohen Besserungsraten nach einer erfolgrei- ▬ Intubationsnarkose, obere oder untere Plexusanästhesie und
chen Dekompression des Nervengefäßstranges nach Roos (1966) intravenöse Regionalanästhesie.
vorerst noch zurückstellen. Dies gilt ganz besonders auch für die ▬ Rückenlage.
Sudeck-Dystrophie. ▬ Auswickeln des Armes und Anlegen einer kontrollierten
Oberarmblutsperre, Manschettendruck 200–300 mmHg.
Therapie ▬ Lagerung des leicht gebeugten Armes in Abduktionsstellung
17 Auch beim GE sollte am Anfang der konservativen Behandlung auf einem Tuchpolster.
stets die sofortige Ausschaltung der auslösenden und unterhal-
> Dieser Eingriff ist als alleinige Maßnahme nur bei normalem
tenden Noxen beruflicher und freizeitbedingter Art erfolgen, was
funktionellen Verhalten des N. ulnaris indiziert.
sich am einfachsten durch eine vorübergehende Arbeitsunfähig-
keit erreichen lässt. Zur Vermeidung von länger dauernden und Nach Vorbereitung des Operationsgebietes und Markierung der
wiederholten Beugungen des Ellenbogengelenks ist eine ruhigstel- Epikondylenspitze wird die Haut über dem Sulcus ni. ulnaris leicht
lende Behandlung mit einer gut gepolsterten abnehmbaren Ober- bogenförmig längsinzidiert, beginnend je etwa 3–4 cm proximal
armkunststoffschiene erforderlich, die in Beugestellung des Armes und distal der Epikondylenspitze reichend. Zur Schonung des
von 0–30–0 bei gleichzeitiger Mittelstellung des Unterarmes für die R. posterior ni. cutanei antebrachii medialis, dessen Verlauf sehr
Dauer von 2–3 Wochen angelegt wird. variabel sein kann, sollte die Subkutis mit einer feinen Schere
Je nach Schwere des Lokalbefundes sollte diese Schiene zunächst präpariert werden. Durch epifasziale Präparation des anterioren
nicht nur nachts, sondern auch tagsüber getragen werden. Ansonsten Weichteilmantels werden bereits die zur oberen Zirkumferenz des
sind tagsüber stärkere Beugungen im Ellenbogengelenk, vor allem ge- Epikondylus ziehenden Endfasern des genannten Hautnervs blind
gen Widerstand, zu vermeiden, ebenso endgradige Streckbewegungen durchtrennt (⊡ Abb. 17.35 rechts). Danach wird zunächst die ober-
unter Belastung, um eine Druckentlastung sowohl des N. ulnaris, als flächliche Faszie hinter dem Septum intermusculare mediale inzi-
auch des N. medianus zu gewährleisten. Bei gleichzeitig vorhandenen diert und die distal anschließende Überdachung des Sulcus unter
trophischen Störungen mit Hyperhidrose im Ulnarisbereich ist unter sorgfältiger Schonung des N. ulnaris und seiner begleitenden Gefä-
Umständen eine länger dauernde Immobilisierung erforderlich. ße durchtrennt, bei Bedarf auch einschließlich des Arcus tendineus
Lokal und peroral empfiehlt sich zusätzlich eine antiphlogis- des FCU (⊡ Abb. 17.42). Bei Vorliegen eines M. epitrochleoancona-
tische Therapie. Bei stärkeren Schmerzen genügt die Verordnung eus wird dieser zur Eröffnung des Sulcus vom Epikondylus abge-
17.2 · Spezielle Techniken
381 17
⊡ Abb. 17.44 Distaler Kompressionsmechanismus des N. ulnaris (NU). Der ⊡ Abb. 17.46 Luxation des N. ulnaris bei Mitbeteiligung des M. triceps.
Sulcus ni. ulnaris ist nur von der oberflächlichen Faszie bedeckt. Stern: Epicon- Einklemmung des Nervs unter dem Arcus tendineus durch Spatel markiert;
dylus medialis; HUM humeroulnare Muskulatur; SIM Septum intermusculare HUM humeroulnare Muskulatur; NU N. ulnaris; CMMT Caput mediale mi. trici-
mediale; CMMT Caput mediale mi. tricipitis, CUFCU u. CHFCU Caput humerale pitis, Vorderrand durch schwarzen Faden markiert; AT Arcus tendineus,
et ulnare m. flexoris carpi ulnaris; Arcus tendineus mit Pinzette gefasst. (Aus SIM Septum intermusculare mediale, durch schwarzen Faden markiert.
Suden u. Wilhelm 1987, mit freundlicher Genehmigung von Thieme) (Aus Suden u. Wilhelm 1987, mit freundlicher Genehmigung von Thieme)
17 ⊡ Abb. 17.45 Luxation des N. ulnaris und Einquetschung unter dem Arcus
tendineus (kleine Sternchen). FCU M. flexor carpi ulnaris; HUM humeroulnare ⊡ Abb. 17.47 Luxation des N. ulnaris (NU) trotz Ausschaltung der Schubwir-
Muskulatur; NU N. ulnaris; Durchblutungsstörung bis in Höhe des Epicondy- kung des M. triceps (Pfeil; ⊡ Abb. 17.12). AT Durchtrennung des Arcus tendi-
lus medialis (Stern). Der Vorderrand des CMMT erreicht in dieser Position den neus durch schwarze Fäden markiert. Tiefe Aponeurose des M. flexor carpi
Epicondylus medialis. (Aus Suden u. Wilhelm 1987, mit freundlicher Geneh- ulnaris mit Spatel unterfahren. (Aus Suden u. Wilhelm 1987, mit freundlicher
migung von Thieme) Genehmigung von Thieme)
Septum intermusculare mediale ausgiebig keilförmig reseziert, um In den ⊡ Abb. 17,44, 45 und 46 ist das Verhalten des N. ulnaris bei
den verlagerten Nerv nicht zu irritieren (⊡ Abb. 17.48). Anschlie- fehlender Überdachung des Sulcus ni. ulnaris dargestellt. Die Kom-
ßend erfolgt die typische zirkuläre Umschneidung des Epikondylus pression des Nerven erfolgt in diesem Fall durch den bei Beugung des
und eine sorgfältige Blutstillung. Nach Wiederanlegen der Blut- Ellenbogengelenkes straff angespannten Arcus tendineus des FCU.
sperre werden zunächst die anterioren Wundverhältnisse geprüft.
Um das Ausmaß der bogenförmigen Inzision etwas günstiger zu Technik der zusätzlichen Dekompression des
gestalten, können die Wundränder mit feinsten resorbierbaren N. medianus in der Ellenbeuge nach Wilhelm
Nähten adaptiert werden. Erst danach wird die Nervenverlagerung > Dieser Eingriff ist im Rahmen einer operativen Behandlung des
durchgeführt. Um eine Reluxation zu verhindern, muss der Nerv GE nur dann indiziert, wenn klinisch und neurologisch die für
in seinem neuen Bett durch einige resorbierbare Einzelknopfnähte die Schmerzausstrahlung in das Ursprungsgebiet der humeroul-
(4–5/0) retiniert werden, welche die Subkutis mit der oberflächli- naren Muskulatur verantwortlichen Irritationen des N. media-
chen Faszie im anterioren Epikondylenbereich verbinden. nus in Höhe der Trochlea humeri nachgewiesen werden können.
17.2 · Spezielle Techniken
383 17
⊡ Abb. 17.49 Palpatorische Untersuchung des N. medianus in der Ellen- ⊡ Abb. 17.50 Subfaszialer Situs mit Darstellung des Lacertus fibrosus (LF)
beuge, durch Kreuzchen markiert, die im Falle eines Golferellenbogens zur rechts und des medialen Nervengefäßstranges. AB A. brachialis mit Be-
Schmerzausstrahlung via M. pronator teres und M. flexor digitorum superfi- gleitvenen; NM N. medianus; MPT M. pronator teres; LF Lacertus fibrosus;
cialis in Richtung Epikondylenregion (Pfeile) und Hand (blauer Pfeil) führen. MBB M. biceps brachii
Stern: Epicondylus medialis
Als Zugang genügt eine Längsinzision, die im distalen Oberarm- eines Proc. supracondylaris und des Struther-Ligaments beinhalten
abschnitt über dem medialen Rand des M. biceps beginnt, wobei sollte, ist unbedingt erforderlich, da der Nerv gleichzeitig an meh-
die Nn. cut. brachii et antebrachii mediales samt V. basilica medial reren Stellen verschiedenen irritierenden und komprimierenden
der Inzision verbleiben. Knapp oberhalb der Epikondylenlinie wird Strukturen ausgesetzt sein kann, wie sie von Hartz et al. (1981),
die Inzision bogenförmig und in schräger Richtung laterodistal Tackmann et al. (1989) und Nigst (1993) beschrieben worden sind.
bis zur Mitte der Ellenbeuge fortgeführt. Bei Bedarf kann diese Zunächst wird der N. medianus an der Medialseite des Gefäß-
Inzision nochmals bogenförmig oder zickzackförmig nach distal stranges proximal des Lacertus fibrosus dargestellt (⊡ Abb. 17.49,
verlängert werden. Dieser Zugang entspricht dem Verlauf des ⊡ Abb. 17.50, ⊡ Abb. 17.51). Nach Resektion dieser Struktur, die den
N. medianus und dem Oberrand des M. pronator teres und erlaubt M. biceps und den M. pronator teres in Form einer Zuggurtung
nach Durchtrennung der oberflächlichen Faszie die Resektion des verbindet, liegt der druckgeschädigte Nervenabschnitt über der
Lacertus fibrosus und die Revision des N. medianus bis zu seinem Trochlea humeri frei, die vom M. brachialis überquert und abge-
Eintritt in den M. pronator teres. Von hier aus kann auch der polstert wird (⊡ Abb. 17.51). Danach wird der Nerv, ohne ihn aus
Eintritt des N. medianus unter die bogenförmige Arkade des FDC seinem Gleitlager zu heben und anzuzügeln, weiter nach distal bis
erreicht werden. Eine derartige Revision, die auch den Ausschluss zum Eintritt in den M. pronator teres revidiert, wobei zusätzlich
384 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 17.51 Zustand nach Resektion des Lacertus fibrosus. In Streck- ⊡ Abb. 17.53 Zustand nach Resektion des Lacertus fibrosus mit Darstellung
stellung des Ellenbogengelenks erkennt man ein deutlich vorgewölbtes der komprimierenden Faszienbrücke (FB, Pfeil) im Bereich der Trochlea hu-
und verbreitertes Segment (Pfeil) des N. medianus (NM) mit nebenein- meri. N. medianus im proximalen Bereich normal durchblutet, während sich
ander liegenden Faszikeln und fehlender subepineuraler Durchblutung. distal der Faszienbrücke infolge einer fehlenden subepineuralen Durchblu-
MB M. brachialis; PNG paranervales Gleitgewebe, abgelöst; MPT M. pro- tung eine anämische Zone findet. MB M. Brachialis; MPT M. pronator teres;
nator teres VB Vasa brachialia; MBB M. biceps brachii
⊡ Abb. 17.52 Subfaszialer Situs bei Streckstellung des Ellenbogengelenks ⊡ Abb. 17.54 Nach Resektion der Faszienbrücke findet sich ein etwas ver-
mit Darstellung des Lacertus fibrosus (LF). NM N. medianus; VB Vasa brachia- breiterter N. medianus (NM) in Höhe der Druckschädigung mit beginnender
lia; MBB M. biceps brachii Erholung der subepineuralen Durchblutung. MB M. brachialis; PNG paraner-
17 vales Gleitgewebe, abgelöst; MPT M. pronator teres; VB Vasa brachialia
alle in Frage kommenden Kompressionsursachen beseitigt werden. für eine Schmerzausstrahlung in die mediale Epikondylenregion
Bei dieser Gelegenheit sollten auch die an der Medialseite des in Frage. Nach Beendigung der Nervendekompression erfolgt die
N. medianus abgehenden motorischen Äste untersucht werden, die sorgfältige Blutstillung, das Einlegen einer Redon-Drainage und
vor allem durch einen hypertrophischen M. pronator teres kompri- der schichtweise Wundverschluss (Verband, Ruhigstellung und
miert sein können. postoperative Behandlung s. oben).
Proximals des Lacertus fibrosus kann man in der Tiefe eine
weitere komprimierende Struktur finden, die in Form einer derben Ergebnisse
Faszienbrücke den Nerv in querer Richtung kreuzt, komprimiert Im vorliegenden Krankengut von 12 Patienten finden sich kli-
und seine Beweglichkeit beeinträchtigt (⊡ Abb. 17.52, ⊡ Abb. 17.53). nisch und intraoperativ insgesamt 7 eindeutige Druckschäden des
Die erhebliche komprimierende Wirkung hat in diesem Fall zu N. medianus, die in 5 Fällen durch die Einwirkung des Lacertus
einer ausgedehnten Durchblutungsstörung geführt, die distal die- fibrosus und bei 2 Patienten durch eine tief gelegene Faszienbrü-
ser Struktur besonders gut zu erkennen ist. Nach Resektion dieser cke verursacht worden sind. Nur bei einem der 5 Patienten führte
fibrösen Brücke erkennt man das wahre Ausmaß der Druckschä- die alleinige Dekompression des N. medianus zu einer völligen
digung (⊡ Abb. 17.54), nämlich eine ausgedehnte Durchblutungs- Schmerzfreiheit im Epikondylenbereich und zum Abklingen der
störung und eine tangentiale Ablösung des paranervalen Gleitge- in der Hand geklagten Beschwerden (⊡ Abb. 17.49, ⊡ Abb. 17.50,
webes. Auch diese Art der Druckschädigung kommt als Ursache ⊡ Abb. 17.51). Bei den übrigen 4 Patienten musste die medialseitige
17.2 · Spezielle Techniken
385 17
Denervation trotz der anfänglich nur geringen Beschwerden im tere Auftrennung der beiden Ursprungsköpfe des FCU und eine
Ulnarisgebiet in einer zweiten Sitzung nachgeholt werden. Daraus entsprechende spitzwinkelige Korrektur des Nervenverlaufes, der
kann nur der Schluss gezogen werden, beide Eingriffe möglichst in durch einige Nähte, welche die Subkutis im Bereich der Muskelfas-
einer Sitzung durchzuführen, falls der Patient damit einverstanden zie fixieren, gesichert werden muss.
ist. Ansonsten sollte die alleinige Dekompression des N. medianus
> Bei narbiger Einbettung des N. ulnaris kommt in erster Linie
nur auf solche Fälle beschränkt werden, die keine wesentliche Sym-
eine äußere Neurolyse und bei starker Druckschädigung mit
ptomatik im Ulnarisbereich und einen negativen Beugetest auf-
Durchblutungsstörungen auch eine longitudinale Epineuro-
weisen. Unter den 7 genannten Medianusdekompressionen fanden
tomie ohne Verletzung der subepineuralen Gefäße in Frage.
sich postoperativ 5-mal ein sehr gutes und je einmal ein gutes und
befriedigendes Ergebnis. Dagegen sollte auf eine Epineurektomie allein schon wegen der
Die im vorigen Abschnitt beschriebene Dekompression des N. großen Gefährdung der Nervendurchblutung verzichtet werden.
medianus kam nur einmal zur Anwendung (Ergebnis: sehr gut), Auch die interfaszikuläre Neurolyse sollte gerade bei dem an
während bei den übrigen 4 Patienten (Gruppe B) eine medialsei- sympathischen Fasern besonders reichen N. ulnaris nur unter er-
tige Denervation mit Vorverlagerung des N. ulnaris in 2. Sitzung heblichem Vorbehalt diskutiert werden, da in diesem Fall die große
kombiniert werden musste (Ergebnis: je 2-mal sehr gut und gut). Gefahr einer Kausalgie besteht.
Damit ergibt sich ein positives Resultat von 91,6%, das aber wegen Falls äußere Neurolyse und Epineurotomie nicht für die Lö-
des Fehlers der kleinen Zahl nicht überbewertet werden sollte. sung des Schmerzproblems ausreichen, sollte deshalb erst die
Um zur Häufigkeit der Kompression des N. medianus durch Möglichkeit einer Nerveneinbettung zwischen äußerer und tiefer,
den Lacertus fibrosus (Laha-Syndrom) und durch die tiefgele- gefäß- und nervenführender Schicht der Subkutis geprüft werden.
gene Faszienbrücke, die von Nigst (1993) als »fibröses Segel« Dieses Verfahren hat sich auch bei der Cheiralgie bewährt.
beschrieben worden ist, Stellung nehmen zu können, wurden alle Weichteilschwellungen und Nachblutungen können nur da-
Pronatorsyndrome von 1980–1994 überprüft. Dabei fanden sich durch verhindert werden, wenn der Kompressionsverband mit
in 9 (40,9%) von 22 Fällen Laha-Syndrome und bei 6 (27,3%) Pa- elastischer Binde lege artis angelegt, die Redon-Drainage erst nach
tienten Kompressionen durch eine tief gelegene fibröse Struktur, Versiegen der Sekretion entfernt und der erste Verbandswechsel
die sich brückenförmig vom M. brachialis bis zum Oberrand des erst nach Ende der Ödemphase durchgeführt werden, d. h. erst
M. pronator teres erstreckt. Übrigens wurde in dieser Serie auch nach 1 Woche. Der leider immer noch vielerorts gebräuchliche
ein Proc. supracondylaris entdeckt. Verbandswechsel am 1. postoperativen Tag kann allein zu einer bis
Die Erfolgsquote der operativen Behandlung des GE hängt vor zu 3-monatigen postoperativen Behandlung und Arbeitsunfähig-
allem von der Qualität des Nervengleitvermögens nach subkutaner keit führen.
Vorverlagerung ab. Bei Adhäsionen oder gar Vernarbungen des Bei Infektion sind Wundabstriche, Entfernung der Fäden bei
neuen Gleitlagers ist aufgrund der unterschiedlichen Zugbean- oberflächlichen und Wundrevisionen bei tiefer reichenden Pro-
spruchungen der basalen Nervenfaszikel bei Streckung des Ellen- zessen in Oberarmblutsperre, ohne Auswickeln des Armes, erfor-
bogengelenks so gut wie immer mit mehr oder minder starken derlich. Nach Einlegen einer größerkalibrigen Redon-Drainage
Beschwerden zu rechnen, die letztlich für den Operationserfolg kann ein lockerer Wundverschluss durch vorgelegte Nähte vorge-
entscheidend sind. nommen werden. Nach Anlegen des Verbandes erfolgt die Ruhig-
Unter Berücksichtigung des Fehlers der kleinen Zahl, der sich stellung des Ellenbogengelenks und die Hochlagerung des Armes
aus der relativen Seltenheit des GE ergibt, und der unterschiedli- sowie eine entsprechende antibiotische Behandlung. Bei schweren
chen Operationsmethoden, kann bei diesem Krankheitsbild mit Infektionen kann eine Spüldrainagebehandlung erforderlich sein.
einer Erfolgsquote von etwa 90% gerechnet werden. Dabei muss Zur Frage der Behandlung einer postoperativ aufgetretenen
jedoch die Reduzierung der sehr guten Ergebnisse auf 58,3% zu- Sudeck-Dystrophie wird auf Kap. 18, 19 und 20 verwiesen.
gunsten der guten Resultate (33,3%) entsprechend berücksichtigt
werden, wie aus einem Vergleich mit den operativen Ergebnissen
des Tennisellenbogens hervorgeht (⊡ Tab. 17.14, Gruppe A, C1 und 17.2.4 Partielle Denervation und temporäre
C2). Ein befriedigendes Ergebnis konnte nur in 2 Fällen (7,1%) Schmerzausschaltung im Bereich des
gefunden werden (Bewertungsschema in ⊡ Tab. 17.12). Schultergelenks
Er verläuft über den Proc. coracoideus nach lateral, innerviert der A. axillaris und verbindet sich hier schließlich mit dem oben ge-
diesen an seiner Vorder- und Oberseite und versorgt schließlich nannten Gelenkast des N. thoracicus anterior caudalis. Beide Struk-
die Bursa subacromialis und das AC-Gelenk. Kurz vor Eintritt des turen unterlaufen zusammen den lateralen Faszikel des Plexus bra-
N. thoracicus anterior cranialis in den M. pectoralis major zweigt chialis und ziehen dann auf der Vorderfläche des M. subscapularis,
sich ein stärkerer Nervenast ab, der knapp unterhalb des Korakoids zusammen mit einem kleinen Kapselgefäß der A. thoracoacromialis,
zum vorderen Rand des M. deltoideus zieht und dann unterhalb zum Korakoid. Nerv und Gefäße treten dann unterhalb desselben in
dieses Muskels schließlich als Variation eines R. intertubercularis die skapulare Kapsel und in die hier gelegene Bursa subcoracoidea
ni. axillaris sich im Bereich der Vagina synovialis intertubercularis ein, wobei ein feiner Nervenfaden auch die Unterseite des Korakoids
verzweigt (⊡ Abb. 17.58). Diese wird normalerweise von einem und das Lig. coracoacromiale versorgt (⊡ Abb. 17.58).
relativ kurzen Ast des N. axillaris bis in Höhe der Gelenkkapsel Weiter distal entspringen aus dem Fasciculus posterior zwei
innerviert (⊡ Abb. 17.59). Gelenkäste, die in einem leichten Bogen über dem M. subscapula-
Die Innervation des subkorakoidalen Kapselabschnitts ein- ris verlaufend zum Tuberculum minus humeri ziehen. Der unterste
schließlich der hier gelegenen Bursa erfolgt durch einen Ast des Zweig kann dabei einen Teil des in ⊡ Abb. 17.56 dargestellten Inner-
N. thoracicus anterior caudalis (⊡ Abb. 17.58) bzw. des N. musculo- vationsgebietes des N. axillaris übernehmen, der ja ebenfalls dem
cutaneus (⊡ Abb. 17.58). Dieser Gelenkast ist von besonderem Inte- posterioren Faszikel entstammt.
resse, weil zusammen mit ihm auch sympathische Fasern verlaufen,
die vom kranialen Pol des Ganglion stellatum entspringen, zur Rück- Epidemiologie
seite der A. subclavia ziehen und in der Adventitia dieses Gefäßes Die Schultergelenkregion stellt eine bevorzugte Lokalisation von
unter ständiger Abgabe von feinen Fäden nach distal verlaufen. Ei- verschiedenen Schmerzursachen dar, die durch rein lokale Prozes-
ner von ihnen zieht bis zum Ursprung der A. thoracoacromialis aus se, aber auch durch weiter proximal und gelegentlich auch distal
388 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 17.20 Thoracic Outlet-Syndrom (1982–1987): Befunde im Bereich des Schultergürtels. (Mod. nach Wilhelm 1997)
Hinterhauptschmerz 28 → 18 2 3 5
Oberes Zervikalsyndrom 44 → 28 4 6 6
Unteres Zervikalsyndrom 72 → 50 4 10 8
M. trapezius 83 → 49 7 15 12
Plexus brachialis 92 → 64 10 7 11
Fossa supraspinata 34 → 22 1 7 4
Fossa infraspinata 31 → 19 2 7 3
N. accessorius 22 → 8 1 7 6
Processus coracoideus 71 → 46 7 8 10
Akromion 31 → 13 4 8 6
Deltoideusansatz 48 → 37 4 4 3
⊡ Tab. 17.21 Thoracic Outlet-Syndrom (1982–1987): Befunde im Bereich des Ellenbogens und Unterarmes. (Mod nach Wilhelm 1997)
Proximaler Radialistunnel 8→ 4 - 2 2
Mittlerer Radialistunnel 34 → 14 4 8 8
Distaler Radialistunnel 29 → 21 1 3 4
Interosseusneuralgie 22 → 18 - 1 3
Styloiditis radii 18 → 11 1 3 3
17 Epicondylitis humeri ulnaris 23 → 18 1 1 3
Styloiditis ulnae 7→ 4 - 1 2
Brachioradialis-Insertionstendo- 10 → 4 1 1 4
pathie
Tendovaginitis de Quervain 11 → 7 1 1 2
gelegene krankhafte Veränderungen bedingt sein können, und ter- und Akromioklavikulargelenks, vor allem um die auch heute
zwar in Form von Irritationen und Kompressionen des Plexus bra- noch unter dem Sammelbegriff der sog. »Periarthritis humeros-
chialis, einschließlich seiner Ursprünge im Bereich von C4 (–Th 1), capularis« zusammengefassten Erkrankungen der Rotatorenman-
und der peripheren Nerven. schette, insbesondere im Bereich der Sehnenansatzportionen des
Im erstgenannten Fall handelt es sich neben arthrotischen M. supra- und infraspinatus, die zu degenerativen Veränderungen,
und arthritischen sowie rheumatischen Veränderungen des Schul- Sehnenrupturen und zu einer Tendinitis calcarea führen können.
17.2 · Spezielle Techniken
389 17
⊡ Tab. 17.22 Thoracic Outlet-Syndrom (1982–1987): Befunde im Bereich der Hand. (Mod. nach Wilhelm 1997)
Tendovaginitis-Karpalkanal 35 → 15 10 4 7
N. medianus Kompression 79 → 53 11 8 6
Intermetakarpalschmerz 28 → 13 4 5 6
Thenarschmerz 19 → 14 - 2 3
Hypothenarschmerz 7→ 6 - 1 -
Tenovaginitis I–V 38 → 17 3 6 12
R. superficialis N. radialis 9→ 4 - 5 -
Gefühlsstörungen I–V 42 → 33 5 3 1
Handödem 39 → 23 7 6 3
Akroparästhesien 33 → 25 2 4 2
Kraftminderung 75 → 46 12 7 10
Dazu gehören auch Affektionen des Bizepssehnenapparates, der Als weitere lokale Schmerzursachen kommen neben akuten
Bursa subacromialis et subdeltoidea sowie die adhäsive Kapsulitis, und chronischen Verletzungen der Schulterregion sowie den relativ
die auch als »frozen shoulder« bezeichnet wird. Außerdem wurde seltenen Druckschäden des N. suprascapularis auch internistische
bisher auch die sog. Korakoiditis dazugerechnet, in der Annahme, Erkrankungen, wie die Gicht und Pseudogicht, in Frage.
dass es sich bei diesem Leiden um eine Tendopathie handelt. Dies Entfernt liegende Schmerzursachen, wie das Paget-von-Schro-
dürfte jedoch nicht der Fall sein, da diese Schmerzlokalisation be- etter-Syndrom, die Lungentuberkulose und vor allem der Herzin-
vorzugt bei Foramenstenosen (C4–C7) sowie beim Thoracic-Out- farkt führen lediglich zu Schmerzprojektionen in die Schulterge-
let-Syndrom (TOS) und der Sudeck-Dystrophie (CRPS I) auftritt gend und in den Arm. Fernschmerzen können auch durch sub-
und allein durch eine konservative bzw. operative Therapie dieser phrenische Abszesse, Erkrankungen der Gallenwege, des Pankreas
Syndrome sehr erfolgreich behandelt werden kann (⊡ Tab. 17.20, und des Magenduodenalbereiches verursacht werden.
⊡ Tab. 17.21, ⊡ Tab. 17.22).
Im zweiten Fall handelt es sich um Schmerzausstrahlungen, die Ätiologie
durch proximal gelegene Kompressionen der genannten Plexus- Wie eingangs bereits erwähnt, kommt eine partielle Denerva-
wurzeln (Foramenstenosen) und des Plexus brachialis im Bereich tion vor allem für die Behandlung von therapieresistenten un-
des Thoracic Outlet (TOS und Sudeck-Dystrophie) verursacht erträglichen Schmerzeinstrahlungen in die Korakoid- und Ak-
werden, während die distalen Druckschäden die drei Hauptner- romionregion in Frage (⊡ Tab. 17.20), die im Wesentlichen über
venstämme betreffen. Ein schon seit Langem bekanntes Beispiel den R. articularis acromioclavicularis des N. thoracicus anterior
stellt das Karpaltunnelsyndrom dar. In einzelnen Fällen klagen cranialis und über Gelenkfasern des Ganglion stellatum in Verbin-
nämlich einige Patienten primär über Nackenschmerzen und dung mit einem Ast des N. thoracicus anterior caudalis erfolgen
Schmerzausstrahlungen in die vordere Schultergelenkregion. Diese (⊡ Abb. 17.58).
Reaktionen können auch durch palpatorische Untersuchungen des Als Ursache dieser Schmerzen, die einer evtl. operativen Be-
N. medianus im Bereich der Rascetta provoziert werden. Für die handlung bedürfen, kommen neben den Foramenstenosen, deren
Schmerzprojektion kommen vorrangig die Nn. thoracici anteriores Therapie hier nicht zur Diskussion steht, vor allem das TOS und
zusammen mit dem Gelenkast des Ganglion stellatum in Frage, da die oft schwer erkennbaren initialen Formen dieses Syndroms in
sie gemeinsam mit dem N. medianus aus den selben zervikalen Betracht, ebenso die Sudeck-Dystrophie (CRPS I), deren Sympto-
Segmenten (C6–C8) entspringen. Ähnliche Reaktionen können matik in geradezu auffälliger Weise der des TOS gleicht.
auch durch eine Kompression des tiefen Radialisastes im Bereich Schmerzen im Bereich des AC-Gelenks und des Akromions
des Supinatorschlitzes ausgelöst werden, wobei es zusätzlich auch werden vor allem durch arthrotische und arthritische Prozesse so-
noch zu Schmerzausstrahlungen in die laterale Epikondylengegend wie durch das subakromiale Impingement-Syndrom, Verletzungen
(TE) und zur Streckseite des Handgelenks kommen kann (Neural- der Rotatorenmanschette und durch die Tendinosis calcarea sowie
gie des N. interosseus posterior). deren negative Operationsfolgen verursacht.
Eine entsprechende Kompression des N. ulnaris im Bereich des Schultergelenkschmerzen, die im Rahmen einer prä- und post-
Sulcus ni. ulnaris, wie sie bei starker Beugung und dem sog. Flexi- operativen Nachbehandlung einer Schmerzausschaltung bedürfen,
onstest auftritt, kann ebenfalls zu einer Schmerzausstrahlung in die werden in erster Linie durch die primäre Schultersteife, die auch
Schulterregion führen. als adhäsive Kapsulitis bzw. Frozen Shoulder bezeichnet wird, und
390 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
durch die sekundäre Schultersteife verursacht, die postoperativ Von Bedeutung sind ferner Hautfarbe, Temperatur und Trophik
nach Verletzungen und operativen Eingriffen im Schulter-Arm- der Hand. Irritationen des Plexus brachialis im Bereich der obe-
Bereich beobachtet werden kann. Eine weitere, besonders wichtige ren Thoraxapertur können gelegentlich zu Raynaud-Phänomenen
Schmerzursache stellt der sog. periarthritische Anfall dar, wie er im und relativ häufig zu Horner-Syndromen führen. Bei Atrophie der
Rahmen einer Tendinosis calcarea auftreten und neben dem kli- Handbinnenmuskeln sollte man stets an eine Druckschädigung der
nischen Bild auch röntgenologisch durch begrenzte Verkalkungs- unteren Plexuswurzeln denken (C8 und Th1). Durch Pulskontrolle
herde im Bereich der Rotatorenmanschette mit entsprechenden os- bei herabhängendem Arm und Druckbelastung des Schultergürtels
teoporotischen Veränderungen im Bereich des Tuberculum majus sowie durch verschiedene Provokationstests, wie dem Tragetest
humeri bewiesen werden kann. (Anamnese!), dem Abduktionstest (3-Minuten-Faustschluss-Test)
nach Roos (1979) und dem Elevationstest lassen sich erste Hinwei-
Diagnostik se auf eine Mitbeteiligung des Gefäßsystems gewinnen, während
Anamnestisch ist zu erfahren, dass die Patienten neben ihren durch das Redressements des Schultergürtels eine Irritation der
Schmerzen im Schultergelenk sehr häufig auch über Schmerzen im unteren Plexuswurzeln mit Schmerzausstrahlung in den Hand-
Bereich des Hinterkopfes, der Nackenmuskulatur, der Schulter und und Fingerbereich ausgelöst werden kann.
bei Kopfbewegungen klagen ⊡ Tab. 17.20). Ferner werden Ruhe- Eine besonders sorgfältige Untersuchung des Nacken-, Hals-,
schmerzen angegeben, die im Gegensatz zum Bewegungsschmerz Schulter-, Arm- und Handbereichs ist diagnostisch von größter
der Schulter nachts infolge einer vermehrten Zugbeanspruchung Bedeutung. Dabei sollte vor allem auf multiple Schmerzlokalisati-
der Nervenwurzeln durch den nachlassenden Muskeltonus zuneh- onen im Bereich der Nackenmuskulatur, des M. trapezius und der
men, wobei die Schmerzausstrahlungen segmentalen Charakter Schulterblattmuskeln, des Plexus brachialis und des N. accessorius
aufweisen. sowie des Proc. coracoideus, des Akromions, der Tubercula humeri
und des Deltoideus-Ansatzes geachtet werden (⊡ Tab. 17.20). Von
> Motorische Beeinträchtigungen können durch Untersuchung
besonderem Interesse sind auch Druck- und Dehnungsschmer-
der Kennmuskeln festgestellt werden (C5: M. deltoideus, C6:
zen sowie Sensibilitätsstörungen im Bereich der peripheren Ner-
M. biceps und C7: M. triceps), ebenso durch Minderung der
ven und deren Innervationsgebiete (Tennis- u. Golferellenbogen,
groben Kraft.
Styloiditiden). An der Hand sind vor allem Ödembildungen,
Für die nervöse Versorgung des Schultergelenks kommen vor Tendovaginitiden, Druckschmerzen im Bereich des ersten Inter-
allem Gelenkäste des N. suprascapularis (C4–C6), der Nn. subsca- metakarpalraumes sowie des Daumen- und Kleinfingerballens,
pulares (C5–[C7]), der Nn. thoracici anteriores (C5–C8) und des Medianuskompressionen, Sensibilitätsstörungen im Bereich des
N. axillaris (C5, C6) in Frage. oberflächlichen Radialisastes und der Finger sowie Akroparästhe-
Zur genauen Lokalisation von schmerzhaften Bewegungsein- sien beachtenswert. Auch Messungen der groben Kraft sind wich-
schränkungen im Bereich der HWS wird eine segmentale Un- tig (⊡ Tab. 17.21, ⊡ Tab. 17.22).
tersuchung durchgeführt und das Verhalten der Schmerzen bei Eine tabellarische Zusammenfassung dieser Befunde (vgl.
Extension (Besserung) und Kompression der HWS (Verschlech- Kap. 20, Tab. 20.7) erleichtert nicht nur die Untersuchungstech-
terung) überprüft. Für die röntgenologische Darstellung von post- nik, sondern ermöglicht gleichzeitig auch eine wesentlich bessere
traumatischen und degenerativen Gelenkveränderungen sowie von Übersicht, die im Einzelfall die sofortige Verdachtsdiagnose eines
Stenosen der Foramina intervertebralia genügen vorerst Röntgen- TOS stellen lässt (⊡ Tab. 17.20, ⊡ Tab. 17.21, ⊡ Tab. 17.22). Zur Be-
aufnahmen der HWS in 2 Ebenen und in halbschrägen Positio- stätigung dieser Diagnose empfiehlt sich eine Testblockade des
nen. Bei länger anhaltenden segmentalen Beschwerden sollte zum Ganglion stellatum oder des Plexus brachialis. Wichtig sind in die-
Ausschluss eines Bandscheibenprolapses und von tumorbedingten sem Zusammenhang auch Röntgenuntersuchungen der HWS zum
sowie entzündlich-destruierenden Prozessen ohne weitere Verzö- Ausschluss einer Foramenstenose. Eine Übersichtsaufnahme der
gerung eine Computertomografie bzw. Magnetresonanztomografie oberen Thoraxapertur erlaubt eine Beurteilung der Lage des Schul-
und in jedem Fall auch eine neurologische Untersuchung durch- tergürtels und seiner Beziehung zur ersten Rippe. Auch können
17 geführt werden. dadurch Halsrippen und deren Rudimente, besonders breite und
Bei der Diagnose des TOS ist der wichtigste und erste Schritt, wuchtig ausgebildete Querfortsätze von C7 sowie Form- und La-
dass man überhaupt an das Vorliegen eines derartigen Syndroms geveränderungen der erste Rippe und der Klavikula dokumentiert
denkt, zumal die Patienten meist schon selbst auf entsprechende werden. CT- und MRT-Untersuchungen sind nur selten indiziert.
Belastungs- und haltungsabhängige Beschwerden hinweisen. Bei
> Zur Abklärung von Ödemen im Arm- und Handbereich ist
der Inspektion sollte man insbesondere auf einen den Nervenge-
eine funktionelle Phlebografie der V. subclavia unerlässlich.
fäßstrang entlastenden Schulterhochstand bei Vorhandensein einer
Halsrippe achten, ebenso auf einen nach vorn gedrängten Schul- Diese nur geringfügig belastende Untersuchung erlaubt nämlich
tergürtel, wodurch der Nevengefäßstrang ebenfalls eine Entlastung eine genaue Beurteilung der Einflussverhältnisse im Bereich der
erfährt. V. subclavia. Bei Vorliegen von Stenosen, Kompressionen oder gar
Verschlüssen dieses Gefäßes ist mit einer entsprechenden Erhö-
> Von besonderer Bedeutung sind auch Umfangvermehrun- hung des venösen Einlaufdrucks zu rechnen, die röntgenologisch
gen im Arm- und Handbereich und eine evtl. gleichzeitig zur Ausbildung eines entsprechenden Kollateralkreislaufes und
vorhandene Vergrößerung der gleichseitigen Mamma, eine vor allem zu einem Reflux des Kontrastmittels in die V. cephalica
verstärkte Zeichnung der Handrückenvenen und ein sichtba- führt.
rer venöser Kollateralkreislauf im Schulter- und Brustbereich, Als Folge dieser Stauung finden sich Ödembildungen im Arm-,
weil daraus auf eine venöse Abflussbehinderung im Bereich Hand- und Fingerbereich, die durch vergleichende Umfangmes-
der V. subclavia infolge von Stenosen und angeborenen oder sungen und Bestimmungen des Handvolumens durch die Ein-
erworbenen Verschlüssen (»non thrombotic occlusion« und tauchprobe objektiviert werden. Dies gilt auch für die Beurteilung
Paget-von-Schroetter-Syndrom) geschlossen werden kann. der postoperativen Ergebnisse.
17.2 · Spezielle Techniken
391 17
Durch den phlebografischen Nachweis von Kompressionsef- Quadranten, namentlich in die Korakoidregion, ist nur selten
fekten im kostoklavikulären Spalt können auch wichtige Hinweise gegeben, da durch eine rechtzeitige konservative und operative Be-
auf fibromuskuläre und andere irritierenden Strukturen gewonnen handlung von Foramenstenosen und therapieresistenten Thoracic-
werden. Outlet-Syndromen sowie vor allem Sudeck-Dystrophien in den
Als weitere Folge des stauungsbedingten chronischen Ödems meisten Fällen eine erhebliche Besserung der Schmerzen erreicht
finden sich bei TOS-Patienten in 79 (79,0%) von 100 Fällen Me- werden kann (⊡ Tab. 17.20, ⊡ Tab. 17.21, ⊡ Tab. 17.22).
dianuskompressionen, die nach Dekompression der V. subclavia Durch eine partielle Denervation, die sich auf die Ausschaltung
bei 53 (67,1%) von 79 Patienten völlig verschwinden und bei 11 des Gelenkastes des N. thoracicus anterior cranialis beschränkt,
(13,9%) nur noch andeutungsweise nachweisbar sind. Unverändert können auch postoperative Schmerzen in der Region des AC-
blieb der Befund nur bei 6 (7,6%) Patienten. Gelenks nach operativen Eingriffen an den Rotatorenmanschetten
und nach Akromioplastiken erfolgreich behandelt werden.
> Damit und durch entsprechende histologische Untersu-
Demgegenüber stellt die temporäre Schmerzausschaltung
chungen ist die lang gesuchte Pathogenese der sog. idio-
durch Blockade der gesamten Schultergelenkinnervation eine sehr
pathischen Medianuskompression als Folge eines chroni-
erfolgreiche Methode zur Behandlung des sog. akuten periarthriti-
schen Ödems bewiesen (Wilhelm u. Wilhelm 1985).
schen Schmerzanfalles dar. Auch im Rahmen der Nachbehandlung
Eine absolute Indikation zur Arteriografie besteht nur bei Steno- von schmerzhaften Schultersteifen und Adduktionskontrakturen
segeräuschen, Pulsabschwächungen und einer Blutdruckdifferenz kann diese Methode als begünstigende und erfolgversprechende
von 20 mmHg und mehr; ferner bei Verdacht auf ein Aneurysma Maßnahme eingesetzt werden.
der A. subclavia und bei mikroembolischen Verschlüssen der peri- Spezielle Kontraindikationen für eine partielle Denervation
pheren Strombahn. Eine Doppleruntersuchung sollte dieser relativ bestehen nur bei hochgradiger krankheits- und altersbedingter
invasiven Diagnostik stets vorausgehen. Einschränkung der Operabilität, während die temporäre Schmerz-
Falls die Indikation zu einer operativen Behandlung eines the- ausschaltung keiner Einschränkung bedarf.
rapieresistenten TOS gegeben ist, sollten präoperativ unbedingt die
Entzündungsparameter, der ASL-Titer, die Rheumafaktoren, die Therapie
Harnsäure und leberspezifischen Laborwerte bestimmt werden. Bezüglich der Behandlung der verschiedenen Faktoren im HWS-
Ein Alkoholabusus sollte ausgeschlossen werden. Fokaltoxikosen Bereich wird auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen.
müssen präoperativ unbedingt saniert werden. Eine ausführliche Darstellung der gesamten Problematik des
Bei zusätzlichem Vorhandensein von trophischen und sekre- Thoracic-Outlet- und -Inlet-Syndroms findet sich bei Roos (1976,
torischen Störungen, von auffallenden Veränderungen der Tem- 1979), Wilhelm und Wilhelm (1985), Gruß et al. (1987), Tackmann
peratur und der Hautfarbe, von Sensibilitätsstörungen im Bereich et al. (1989), Leffert (1991), Narakas (1991), Mummenthaler et al.
des N. cutaneus antebrachii medialis und des Autonomgebietes des (1998), Bahm (2006), Millesi und Schmidhammer (2006), Prescher
N. ulnaris, aber auch in dem medianusinnervierten Gebiet, sollte und Schuster (2006).
man vorrangig immer eine Sudeck-Dystrophie (CRPS I) in Erwä- Die konservative und operative Therapie der Sudeck-Dystro-
gung ziehen. Dies gilt auch für Berührungs-, Druck-, Bewegungs- phie wird in Kap. 18, 19 und 20 besprochen.
und Ruheschmerzen sowie für den Nachweis einer Allodynie und
Minderung der groben Kraft. Technik der partiellen Denervation im Bereich des
Als weiterführende Untersuchungen sind zum Nachweis einer vorderen oberen Quadranten des Schultergelenks
derartigen Dystrophie ebenfalls Blockaden des Ganglion stellatum nach Wilhelm
oder des Plexus brachialis sowie orientierende Röntgenaufnahmen Die Indikation zur partiellen Denervation im Bereich der Korako-
der Hand (Knochenatrophie), der oberen Thoraxapertur und vor idregion sollte niemals ohne eine entsprechende Testausschaltung
allem eine funktionelle Phlebografie der V. subclavia in Adduk- gestellt werden, bei der zunächst nur die anteriore Innervation des
tions- und Abduktionsstellung des Armes von 90° durchzufüh- Proc. coracoideus und des subkorakoidalen Raumes infiltriert wer-
ren. Diese Untersuchung ist bei der Sudeck-Dystrophie besonders den, um nicht eine mögliche Schmerzausstrahlung über den obe-
wichtig, weil sich daraus wichtige Hinweise für die Prognose dieses ren extramuskulär verlaufenden Gelenkast des N. suprascapularis
Leidens und insbesondere für die Dringlichkeit einer rechtzeitigen zu übersehen (⊡ Abb. 17.55). Gegebenenfalls kann eine derartige
Operationsindikation ableiten lassen, wovon letztendlich der Er- Schmerzleitung anschließend durch Blockade des N. suprascapu-
folg eines kurativen Eingriffes abhängt. laris ergänzt werden.
Eine Arteriografie ist bei der Sudeck-Dystrophie nur bei den Der 6–8 cm lange Hautschnitt beginnt direkt unterhalb der
oben bereits genannten Indikationen wünschenswert. Auf eine Klavikula in Höhe des Proc. coracoideus und folgt entlang des
szintigrafische Untersuchung der Hand kann dagegen verzichtet Innenrandes des M. deltoideus nach distal. Nach Inzision der
werden, da diese Methode unspezifisch und der Phlebografie in Fascia mi. deltoidei lateral des Verlaufes der V. cephalica wird zu-
prognostischer Hinsicht unterlegen ist (Weitere Einzelheiten zu nächst dieses Gefäß so freipräpariert, dass es im Verbund mit dem
diesem Thema Kap. 18, 19 und 20). M. pectoralis major verbleibt. Dabei müssen kreuzende Gefäße
und einmündende Äste der V. cephalica ligiert und durchtrennt
Klassifikation werden. Die Äste des N. thoracicus anterior cranialis, die für die
Aus therapeutischen Gründen sollte man die Schmerzen im Schul- Innervation der Pars clavicularis mi. deltoidei bestimmt sind, soll-
terbereich in eine akute, eine konservativ therapieresistente und ten möglichst erhalten werden (⊡ Abb. 17.58, ⊡ Abb. 17.59). Nach
eine chronisch rezidivierende Form einteilen. Einsetzen eines stumpfen Hakens findet sich in der Tiefe die Fascia
pectoris profunda, deren mediale Anteile als Fascia clavipectoralis
Indikationen und Kontraindikationen den M. subclavius und M. pectoralis minor umhüllen. Die Fas-
Die Indikation für eine partielle Denervation zur Ausschaltung zie in der Mitte des Trigonum deltoideopectorale wird als Fascia
unerträglicher Schmerzausstrahlungen in den vorderen oberen thoracoaxillaris und lateral hiervon als Fascia thoracobrachialis
392 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
bezeichnet. Nach Anschlingen des N. thoracicus anterior cranialis innerviert der Gelenkast neben dem Korakoid auch das genannte
und seiner begleitenden Gefäße, welche die klavikuläre Portion des Band und die Bursa subcoracoidea (⊡ Abb. 17.59) und zieht dann
M. deltoideus versorgen, wird dann der Faszienabschnitt am Vor- als R. articularis acromioclavicularis zum AC-Gelenk. Die Dener-
derrand des kurzen Bizepskopfes längs inzidiert. Danach liegt der vation wird mit dem elektrischen Messer blind durchgeführt, wo-
Oberarmkopf frei, sodass nunmehr die in den lateralen Rand der bei die Weichteile über dem Proc. coracoideus basisnah an seiner
Ursprungssehne des kurzen Bizepskopfes einstrahlenden Fasern anteriomedialen Seite längs durchtrennt werden (⊡ Abb. 17.60).
des Lig. coracoacromiale bogenförmig reseziert werden können, Danach erfolgt die Ausschaltung des R. articularis des Gan-
wodurch man einen besseren Einblick in den subkorakoidalen glion stellatum, der sich hinter der A. axillaris einem etwas stär-
Raum erhält. Sollte dies, wie bei muskulären und adipösen Pa- keren Gelenkast des N. thoracicus anterior caudalis anschließt.
tienten nicht genügen, müsste entweder die sehnige Ursprungs- Der gemeinsame Stamm dieser Äste unterläuft dann den lateralen
portion des Bizepskopfes inzidiert oder aber gleich die Spitze des Faszikel, zieht auf der Vorderfläche des M. subscapularis zum
Proc. coracoideus nach Anlegen eines Bohrkanals mit einer Vib- Proc. coracoideus und tritt unterhalb desselben in die skapulare
riersäge abgetrennt werden, wonach die gemeinsamen Ursprünge Kapsel ein, wo er auch die Bursa synovialis subcoracoidea versorgt.
des M. biceps und M. coracobrachialis nach medial weggehalten Ein feiner Nervenfaden zieht an der Unterseite des Korakoids wei-
werden können, während der Ursprung des M. pectoralis minor ter und innerviert auch das Lig. coracohumerale (⊡ Abb. 17.58).
erhalten bleibt (⊡ Abb. 17.60). Nach Resektion der vom Lig. coracoacromiale in den kurzen
Als erstes wird der Gelenkast des N. thoracicus anterior crani- Bizepskopf einstrahlenden Fasern wird dann ein stumpfer Haken
alis ausgeschaltet, der die Lamina cribrosa infraclavicularis der Fa- eingesetzt, mit dem die Ursprungssehne dieses Muskels, erforder-
scia pectoris profunda durchbricht und sich vor dem M. subclavius lichenfalls auch die osteotomierte Spitze des Korakoids mit den
nach lateral wendet und dann, direkt vor dem Lig. coracoclavicu- hier entspringenden Armmuskeln vorsichtig beiseite gehalten wird.
lare verlaufend, den Proc. coracoideus überquert. An dieser Stelle Danach werden erst der Fasciculus lateralis und der N. musculocu-
17
⊡ Abb. 17.60 Anatomisch-topografische Verhältnisse im Bereich des vorderen Zugangs zum Schultergelenk. R. art. acromioclavicularis des N. thoracicus
anterior cranialis; Durchtrennung dieses Nervs durch dünnen schwarzen Pfeil markiert. Punktierte Linie: Abtrennung der Korakoidspitze oberhalb der Vasa tho-
racoacromialia. Gestrichelte Linie: Ausdehnung der Resektion der vom Lig. coracoacromiale einstrahlenden Fasern in den lateralen Rand des kurzen Bizepskop-
fes. Stark gebogener, dicker Pfeil: Zugang zur Bursa subcoracoidea und zum Gelenkast des Ganglion stellatum. Leicht gebogener, starker Pfeil: Leichte Außenro-
tation des Caput humeri. V. thoaracoacromialis in Bereich des Proc coracoideus aus optischen Gründen reseziert. (Nach v. Lanz u. Wachsmuth 1959)
17.2 · Spezielle Techniken
393 17
taneus lokalisiert und während der Präparation unter dem Schutz Klavikula ergibt sich dann etwas lateral dieser Längsachse, etwa
eines etwas tiefer gesetzten Hakens gehalten. Dabei muss eine 1 Querfinger hinter dem AC-Gelenk, die genaue Einstichstelle.
Druckschädigung dieser Strukturen unbedingt vermieden werden. Nach entsprechender Desinfektion wird dann eine kurze Nadel
Die Präparation erfolgt entlang des oberen Randes des M. sub- (Nr. 12 oder 14) auf eine 10-ml-Spritze aufgesetzt und senkrecht
scapularis, wobei auch die Vorderfläche der Bursa subcoracoidea bis zum Knochenkontakt eingeführt. Nach orientierender Aspi-
dargestellt wird, um auch noch die beiden oberen intramuskulär ration werden dann etwa 3 ml eines Lokalanästhetikums langsam
verlaufenden Gelenkäste der Nn. subscapularis ausschalten zu kön- injiziert. Hierbei hat sich in den letzten Jahren vor allem Naropin®
nen, falls dies erforderlich sein sollte. Hierzu muss der obere Teil (Ropivacain) bewährt.
des M. subscapularis von der humeralen und skapulären Kapsel Für die Ausschaltung der anterioren Gelenkäste (⊡ Abb. 17.56,
scharf abgelöst werden. Nach Beendigung dieser Präparation wird ⊡ Abb. 17.57, ⊡ Abb. 17.58, ⊡ Abb. 17.59) ist eine weitere Injektion
das gesamte unterhalb des Korakoids verbleibende Füllgewebe un- erforderlich. Zur Orientierung dient wiederum die Längsachse des
ter sorgfältiger Schonung der Bursa subcoracoidea exzidiert. Proc. coracoideus. In diesem Fall muss eine längere Kanüle (Nr. 12
oder 2) verwendet werden. Der Einstich erfolgt direkt über der Spit-
> Die Denervation kann also auch unterhalb des Proc. coracoi-
ze des Korakoids, von wo aus man die oberflächlichen Weichteile
deus blind durchgeführt werden.
fächerförmig bis zur Klavikula infiltriert. Hierfür reichen 3–5 ml
Nach Überprüfung der Blutstillung, Naht der inzidierten Bizeps- eines Lokalanästhetikums (⊡ Abb. 17.60, ⊡ Abb. 17.61). Durch die-
sehne bzw. Reposition der Korakoidspitze und Osteosynthese mit- se Blockade wird der R. articularis ni. thoracici anterior cranialis
tels Zugschraube oder zweier transossärer Drahtcerclagen sowie ausgeschaltet. Nach Umspritzen des Proc. coracoideus zieht man
nach Einlegen einer Redon-Drainage wird der schichtweise Wund- dann die Nadel in die Subkutis zurück, senkt die Spritze um etwa
verschluss durchgeführt. Nach Anlegen eines leicht komprimie- 70° nach medial und infiltriert das Gewebe unterhalb des Korakoids
renden Verbandes, der auch den Arm einschließen sollte, erfolgt fächerförmig in posterolateraler Richtung bis zum Schultergelenk.
die Ruhigstellung des Armes in Anteversion auf einer Abduktions- Dadurch werden die Gelenkäste des N. thoracicus anterior caudalis
schiene und diejenige des Unterarmes in Mittelstellung. Die aktive und des Ganglion stellatum sowie die intramuskulär verlaufenden
Mobilisierung des Schultergelenks erfolgt von der Abduktions- Äste der Nn. subscapulares ausgeschaltet. Unterhalb des Proc. cora-
schiene aus. coideus wird dabei ein größeres Depot in der Tiefe zwischen M. sub-
Falls erforderlich, kann von diesem Zugang aus natürlich auch scapularis und kurzem Bizepskopf gesetzt, da in dieser mit lockerem
eine Ausschaltung der übrigen intramuskulär verlaufenden Ge- Füllgewebe ausgestatteten Gleitschicht die meisten extramuskulär
lenkäste der Nn. subscapulares durchgeführt werden, wobei es verlaufenden, schmerzleitenden Fasern vorhanden sind. Hierfür
genügt, die Insertion des M. subscapularis, wie bei der Operation werden etwa 5–6 ml Ropivacain benötigt. Durch allmähliche Diffu-
nach Eden-Hybinette, knapp proximal der sehnigen Ansatzportio- sion des Anästhetikums werden schließlich auch die Gelenkäste des
nen zu durchtrennen und den proximalen Stumpf bis zum Beginn N. axillaris erreicht (⊡ Abb. 17.56, ⊡ Abb. 17.58, ⊡ Abb. 17.59).
der skapulären Kapsel scharf abzulösen und danach wieder zu
reinserieren.
Eine eventuell erforderliche Ausschaltung des kranialen extra-
muskulär verlaufenden Gelenkastes des N. suprascapularis, wel-
cher die Rückseite des Processus coracoideus und das AC-Gelenk
innerviert, benötigt einen zusätzlichen posterioren Zugang. Die
erforderliche Inzision erfolgt etwa 2 cm oberhalb und parallel zur
Spina scapulae, und zwar unter Ablösung des Trapeziusansatzes.
Der Gelenknerv zweigt sich unmittelbar nach Passieren der In-
cisura scapulae vom Hauptstamm ab und verläuft extramuskulär
nach lateral.
Da der N. thoracicus anterior cranialis nicht nur den Proc. co-
racoideus, sondern auch noch das AC-Gelenk innerviert, können
durch die alleinige Resektion dieses Nervs nach den Erfahrungen
von Dellon (2007) auch fortdauernde Schmerzen nach Operatio-
nen von Rotatorenmanschettendefekten und nach Akromioplasti-
ken erfolgreich behandelt werden.
Frühestens 5 min nach Beendigung der Blockade überzeugt Für die Anwendung von Carbostesin, Bupivacain und Naropin
man sich durch Befragen des Patienten und Palpation der vor- (Robivacain) ist ein genaues Studium der Gebrauchsinformation
her festgestellten druckschmerzhaften Areale von dem inzwischen unerlässlich. Dies gilt auch für das Vorhandensein der in Frage
eingetretenen Erfolg. Bei schmerzhaften Schultersteifen lässt man kommenden Notfallmedikamente, einschließlich eines Anti-
zunächst feindosierte, später ggf. in steigendem Maße aktive Bewe- konvulsivums, wie Thiopental-Natrium, in einer Dosierung von
gungen durchführen, die durch vorsichtiges manuelles Mitführen 1–3 mg/kg KG i. v. oder Diazepam 0,1 mg/kg KG i. v.
des Armes durch den Arzt bzw. durch eine Krankengymnastin
> Eine entsprechende Ausrüstung für das Monitoring, für die
unterstützt werden. Dadurch lassen sich nach relativ kurzer Zeit
Intubation und Beatmung sowie für die Wiederbelebung ist
Abduktionsgrade von 45–60° erzielen, womit das erste Ziel der Be-
obligat.
handlung, nämlich die Befreiung des Armes aus seiner Zwangslage
und dessen Lagerungsmöglichkeit auf einer Abduktionsschiene
erreicht wäre. Von da aus erfolgt dann die weitere Mobilisierung Ergebnisse
des Gelenks nach den hierfür bekannten Richtlinien. Die erste partielle anteriore Denervation des Schultergelenks ist
Bei einem hoch akuten periarthritischen Schmerzanfall und 1960 an der Chirurgischen Universitätsklinik Würzburg durch-
auch bei einer schmerzhaften Schulterkontraktur im Rahmen ei- geführt worden. Am Aschaffenburger Lehrkrankenhaus konnten
nes Thoracic-Outlet-Syndrom oder gar einer Sudeck-Dystrophie in der Zeit von 1970 bis 1985 nur 5 Patienten mit Erfolg operiert
empfiehlt es sich, zunächst noch weitere 5 min zu warten und erst werden. Eine Nachuntersuchung des gesamten Krankengutes seit
dann den Arm vorsichtig und unter Beachtung der Schmerzgrenze 1960 bis 1985 konnte wegen Vernichtung der Unterlagen nicht
in der erforderlichen Abduktionsstellung bei leicht gebeugtem El- mehr durchgeführt werden.
lenbogengelenk und einer Mittelstellung des Unterarmes auf einer Die postoperativen Ergebnisse bei TOS-Operationen im Be-
gut gepolsterten Abduktionsschiene lagern zu können. Erst dann reich der Schulterregion sind in ⊡ Tab. 17.20 dargesellt. Die entspre-
sollte eine orientierende Röntgenuntersuchung des Schultergelenks chenden Resultate der Sudeck-Operationen finden sich in Kap. 20
sowie eine lokale und perorale antiphlogistische und Schmerzthe- (⊡ Tab. 19.2).
rapie eingeleitet werden. Für die Nachtruhe empfiehlt sich wegen Das Injektionsverfahren zur Schmerzausschaltung wurde 1963
des muskelentspannenden Effekts vor allem Valium in einer Dosie- nach einer 3-jährigen Erprobung publiziert. Die Erfolge und Vorteile
rung von zunächst 5 mg. dieser Methode konnten bereits 1967 durch Groß bestätigt werden.
Als Vorteile dieser Methode sind folgende Gesichtspunkte
anzuführen: Fehler, Gefahren und Komplikationen
1. Technisch einfaches Vorgehen, das auch in einer für die Not- Bei der partiellen Denervation im Bereich des vorderen oberen
falltherapie entsprechend eingerichteten Praxis durchgeführt Quadranten der Schultergelenkregion besteht vor allem die Gefahr
werden kann. einer Verletzung der V. cephalica und der A. thoracoacromialis
2. Verhütung von zusätzlichen Schmerzen bei lokaler Infiltrati- sowie für eine Druckschädigung des N. musculocuteanus und des
onsanästhesie, z. B. im subakromialen Raum. lateralen Fasciculus infraclavicularis durch brüskes Einsetzen und
3. Erhaltenbleiben einer ausreichenden Motorik des Schulter- Halten des stumpfen Hakens. Neben den üblichen Komplikationen
gürtels. kann es postoperativ auch zu einem thrombotischen Verschluss
4. Abkürzung der krankengymnastischen und postoperativen der V. subclavia kommen.
Behandlungsdauer. Bei der temporären Blockade des N. suprascapularis besteht
5. Da auch die sympathische Versorgung des Schultergelenks un- vor allem die Gefahr einer Injektion in die begleitenden Gefäße,
terbrochen wird, kann man auf die technisch weitaus schwie- falls kein Aspirationsversuch durchgeführt worden ist. Bei der
rigeren und komplizierteren Verfahren der Stellatum- und infrakorakoidalen Blockade besteht ebenfalls die Gefahr einer ver-
Plexusanästhesie verzichten. sehentlichen Punktion der Vasa axillaria, falls die Nadel mithilfe
6. Für passive Bewegungsversuche besteht noch eine ausreichen- der aufgesetzten Spritze nicht in posterolateraler Richtung einge-
17 de Schmerzhemmung, sodass die erzielte Schmerzfreiheit nur
im Rahmen eines physiologischen Redressements ausgenutzt
führt wird; die Folge wäre eine intravasale Injektion des Anästhe-
tikums, die zu erheblichen toxischen Störungen führen könnte.
werden kann. Um dies zu vermeiden, sollten vor und während der Applikation
entsprechende Aspirationsversuche durchgeführt werden und die
Wahl und Dosis des Lokalanästhetikums Injektion des Anästhetikums nur sehr langsam erfolgen, und zwar
Für diagnostische Zwecke sowie zum Anlegen von Verbänden bei steigenden Dosen von zunächst 25 mg/min bis maximal 50 mg/
genügt ein Kurzzeitanästhetikum, wie z. B. eine 1%ige Xylocain- min, d. h. 3,6 ml bis maximal 6,6 ml/min. Bei versehentlicher
oder Scandicain-Lösung ( Kap. 3). Punktion der genannten Gefäße muss außerdem mit Nachblutun-
Für therapeutische Blockaden empfiehlt sich dagegen ein gen gerechnet werden, auch bei Punktion der A. axillaris.
Langzeitanästhetikum, wie z. B. Carbostesin, bei dessen Anwen-
dung jedoch die wesentlich höhere Toxizität zu berücksichtigen ist.
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Die Dosierung für Jugendliche ab 15 Jahren und bei Erwachsenen
beträgt 2 mg/kg KG. Bei einer einmaligen Applikation bei einem
Fingergelenke und Handgelenk
durchschnittlichen Körpergewicht von 75 kg sollte eine Gesamtdo-
sis von 60 ml der 0,25%igen und 30 ml der 0,50%igen Lösung nicht
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398 Kapitel 17 · Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität
17
18
18.1 Allgemeines
⊡ Abb. 18.5 Anatomie der schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden Systeme. (Aus Lanz und Wachsmuth 1982)
Bewusste und unbewusste Verhaltensweisen prägten den Verlauf Familiäre Häufung. Das CRPS kann familiär gehäuft auftreten.
und die Symptome der sympathischen Reflexdystrophie (»reflex Ein Muster der Vererbung fanden de Rooji et al. (2009) nicht. Eine
sympathetic dystrophy« – RSD – ist eine synoyme, nicht mehr angeboren erhöhte Gefährdung, an einem CRPS zu erkranken,
gebrauchte Bezeichnung für das CRPS). Bewegungsstörungen ver- sollte Anlass geben zu einer erhöhten Wachsamkeit.
schlimmern sich durch Ängstlichkeit. Als »Kinesiophobia« wird
die Angst vor Bewegung bezeichnet. Die Anpassungsstörung des
Verhaltens ist kein Zeichen einer Psychopathologie. Die Vermu- 18.1.3 Ätiologie
tung einer »RSD-Persönlichkeit« entbehrt der Grundlage.
Das Selbst wird geschützt durch das Immunsystem, durch das Krankheit kann definiert werden als »Störung des Integriertseins«
»Schmerzsystem« und durch das »Angstsystem«. Gemäß dem Prin- eines Systems auf einer oder mehreren seiner Integrationsebenen.
zip der Gegenseitigkeit oder der Entsprechung kann ein Ausfall Eine Integrationsstörung entspricht einer Verletzung, die der Hei-
der Rückmeldungen, in denen sich der Körper selbst »zu eigen lung, d. h. der Reintegration, bedarf.
nimmt« dazu führen, dass Teile des Körpers als »fremd« empfun- Die Ursache des CRPS ist nicht bekannt.
den werden, d. h., nicht mehr zum eigenen Körper gehörig. Das zunehmende Wissen über seine Entstehung, vor allem
Auch die Kenntnisse über die Vorgänge bei einer »Ent-Zün- über seinen im Beginn umkehrbaren Verlauf, erhellt das für die Er-
dung«, bildlich gesprochen: der Entfachung eines »Brandes« im krankten und für ihre Helfer bedrohend wirkende, dunkle Geheim-
Gewebe, lassen die Empfindungen und Zeichen bei einem CRPS nis. Ist das CRPS das unabwendbare und nicht zu beeinflussende
besser verstehen. Schicksal des Kranken? Nein! Der Ausgang des Abwehrkampfes
Ein Gewebeschaden setzt die Mediatoren der Entzündung frei. des Selbst gegen die eigene Hand, weil diese bedrohend schmerzt,
Die Zeichen einer Entzündung sind: Rötung (Rubor), Überwär- ohne dass ein Arzt die Ursache erklären konnte, ist ungewiss. Meist
mung (Calor), Schwellung (Tumor), gestörte Funktion (Functio gewinnt das Selbst, indem es sich seine Hand wieder aneignet,
laesa), Schmerz (Dolor). Die aus weißen Blutzellen (Makrophagen, bevor diese auf Dauer ausgegliedert wird. Diese Tatsache der meist
Granulozyten und Thrombozyten) freigesetzten Mediatoren, u. a. erfolgreichen natürlichen Heilung dürfen alle Beteiligten nicht aus
Histamin, Serotonin, Bradykinin, lösen als »Schmerzstoffe« selbst den Augen verlieren, während und wenn sie ihre Aufmerksamkeit
Schmerz aus. Prostaglandine vermehren die Schmerzempfindlich- auf die Entstehung dieser Krankheit richten. Ohne das schützende
keit. Zusammen mit Leukotrienen, plättchenaktivierendem Faktor, Wissen, dass das Selbst in den allermeisten Fällen siegt, kann die
Stickstoffmonoxid und »aktiven Sauerstoffspezies« erweitern die Vertiefung in die Betrachtung der Entstehung und des Verlaufes
anderen Mediatoren, bis auf Prostaglandin F2α, das zu einer Va- des CRPS bei Betroffenen im Einzelfall eine Verschlimmerung be-
sokonstriktion führt, die Kapillaren und bewirken Rötung und fürchten lassen. »Diagnosen können zu einem Teil des pathogenen
Überwärmung. Fast alle Mediatoren erhöhen die Gefäßpermeabi- Geschehens werden«.
lität. Infolge der Exsudation schwillt das entzündete Gewebe. Die Die wissenschaftlichen Anhalte zur Annahme einer angebore-
Erregung der Nozizeptoren kann Schmerz auslösen, und sie stört nen Anlage von CRPS-Kranken dazu, dass bei ihnen die neurogene
die Bewegung. Entzündung leichter ausgelöst wird und heftiger verläuft als bei
Die Endothelzellen insbesondere der postkapillären Venolen den meisten Menschen, sollte nicht mehr Angst auslösen als das
bilden Eiweiße, die zur Einwanderung von Granulozyten in das Wissen, dass Rothaarige leichter einen Sonnenbrand bekommen
entzündete Gewebe führen, und sie bilden Zytokine. Durch die als Schwarzhaarige oder einige Menschen schneller und heftiger
Freisetzung proteolytischer Enzyme aus den Lysosomen der Pha- als andere auch mit einer Rötung der Haut ihre innere Berührung
gozyten werden Zelltrümmer, Fremdmaterial und Bakterien auf- zeigen.
gelöst und abgebaut, aber auch das umliegende Gewebe wird Einblicke in die Entwicklung der Krankheit können auf ver-
beschädigt oder zerstört. Aktive Sauerstoffspezies und Sickstoff- schiedenen Ebenen gewonnen werden. Betrachtet werden können
monoxid töten Bakterien, aber auch eigene Zellen. Die Zytokine die Wirkungsweise der Moleküle, die die Überträgerstoffe von
der Makrophagen, Interleukin-1 und Tumornekrosefaktor α lösen Zellbotschaften sind, das Verhalten der am Entzündungs- und Ab-
die »Akute-Phase-Reaktion« der Entzündung aus. Durch die Ent- wehrkampf beteiligten Zellen, das informierende periphere Ner-
zündung können Immunreaktionen ausgelöst werden. vensystem und das verarbeitende, deutende und beeinflussende
zentrale Nervensystem, das in ganz persönlicher Weise das eigene
18 > Bewegung beeinflusst offenbar das Immunsystem.
Verhalten der Person von den angeborenen Anlagen steuern lässt
So wirken die beim Sport gebildeten Radikale »wahrscheinlich oder das eigene Verhalten mit der Hilfe von Helfenden und selbst
langfristig wie ein Impfstoff gegen oxidativen Stress. Antioxidanzi- mit der Hilfe seiner Sinne in den Griff bekommt. Chronischer
en können diesen Impfeffekt unterdrücken.« Schmerz ist eine biopsychosoziale Erkrankung.
Aus Europa wurde eine höhere Häufigkeit – 26,2/100.000/Jahr Die »Sprache des Körpers« beim CRPS kann verstanden werden als
– berichtet als aus Amerika – 5,5/100.000/Jahr. Ein mehrfaches Botschaft einer »Abstoßungsreaktion« einer Hand, wenn diese das
familiäres Auftreten bei CRPS I konnte von De Rooii und Mitar- Selbst bedroht durch eine Ausbreitung des »Brandes« der Entzün-
beitern festgestellt werden, ein Nachweis für einen Erbgang wurde dung in der Hand auf das Selbst. Das Selbst versucht sich zu schüt-
allerdings nicht gefunden. zen, indem es das »Feuer« der Entzündung erstickt, dem Feuer die
Der Altersgipfel liegt bei 40–60 Jahren, aber auch ältere Men- Sauerstoffzufuhr entzieht durch eine Drosselung der Durchblu-
schen und Kinder können an einem CRPS erkranken. Frauen sind tung. Oder es versucht, das Feuer klein zu halten und ausbrennen
doppelt so häufig betroffen wie Männer, die Hände mehr als dop- zu lassen in der Hand, die zum Schutz vor der Ausbreitung des
pelt so häufig wie die Füße. Brandes vom Selbst getrennt wird. Der angeborene Selbstschutz
18.1 · Allgemeines
405 18
des Körpers entscheidet: »life before limb«. Doch der Versuch des kann ein »Teufelskreis« beginnen, der als »CRPS« bezeichnet wird
Selbstschutzes durch den Versuch der Abstoßung muss scheitern. (⊡ Abb. 18.8). Zu Anfang ist die Entwicklung umkehrbar.
Beim CRPS gelingt dem Körper der »Brandschutz« nicht.
> Die pathophysiologischen Konzepte für die Entstehung des
Ist es der Versuch selbst, der Versuch der Trennung von der
CRPS ergänzen sich: eine überschießende neurogene Ent-
schmerzenden Hand, der als Schmerz empfunden wird? Weil jeder
zündung, eine pathologische sympathikoafferente Kopplung
Schmerz die Empfindung einer Trennung ist und weil Schmerz
und periphere und zentrale neuroplastische Veränderungen.
trennend wirkt (⊡ Abb. 18.7)?
Ein krankhafter Dauerschmerz in einer ehemals verletzten Über die »acute entzündliche Knochenatrophie« schrieb Sudeck
Hand ist eine Empfindung, die davor warnt und daran hindert, (1900): »Die Fälle hatten alle das Gemeinsame, dass es sich um eine
diese Hand zu bewegen und zu nutzen. acute Entzündung des Handgelenks handelte, mit frühzeitig auftre-
Wenn die Empfindung eines Schmerzes, meist wie bei einer tender Steifigkeit und Schmerzhaftigkeit der Fingergelenke und sehr
Entzündung, unverstehbar quälend ist und länger dauert als die bald – nach mehreren Wochen – stark ausgeprochener Atrophie
Heilung einer Wunde der Hand, wenn Zeichen einer Entzündung des ganzen Handskelettes. Nur selten gelang es, völlige Funktions-
nicht nur empfunden werden, sondern für jeden erkennbar sind, fähigkeit wiederherzustellen.« Sudeck (1900) wies auch schon auf
wenn die ehemals verletzte Hand aus Angst vor dem quälen- einen der häufigsten Auslöser des CRPS hin, die Immobilisation:
den Schmerz nicht mehr als die eigene Hand wahrgenommen »Die meisten Fälle, die theils mehrere Wochen gar nicht, theils mit
wird, sondern als nutzlos, fremd, bedrohend abgelehnt wird, dann fixierenden (die sämtlichen Finger mit einbegreifenden) Verbänden
behandelt waren und mit völlig unbeweglichen Fingern in das Kran-
kenhaus kamen, blieben dauernd wesentlich in der Funktion nicht
nur des Handgelenks, sondern auch der Finger behindert.« Eine
schlechte Beweglichkeit der Finger war 10 Jahre nach Colle-Fraktu-
ren signifikant korreliert mit den Zeichen einer Algodystrophie (Al-
godystrophie ist eines der vielen Synonyme für ein CRPS). Zu enge
Gipsverbände können eine Algodystrophie auslösen.
Immobilisierung verstärkt die Schonung. Eine Immobilisie-
rung habe auch bei Ratten die Zeichen einer neurogenen Ent-
zündung nach einem Knochenbruch verstärkt. Zeichen einer
Entzündung, verbunden mit krankhaften Schmerzen prägen das
CRPS. Eine prospektive Studie an 829 Patienten unterstützte das
Konzept einer überschießenden Entzündung, bestätigte aber nicht
die üblicherweise vertretene Auffassung vom Ablauf des CRPS in
3 Phasen. Stattdessen wurde eine Einteilung in eine warme und in
eine kalte Form des CRPS vorgeschlagen. Auch Groeneweg et al.
(2006) unterschieden eine »warme Dystrophie« mit den Zeichen
einer neurogenen Entzündung von einer »kalten Dystrophie«. Jede
Entzündung hat eine »neurogene Komponente«.
⊡ Abb. 18.7 »Mein Schmerz« nannte unsere Patientin ihr Bild. Der von der Das Konzept der neurogenen Entzündung wird damit be-
Hand ausgehende Schmerz sprengt den Schädel, trennt die Wahrnehmun- gründet, dass in laborchemischen Untersuchungen die klassischen
gen der Sinne und die Empfindungen, raubt der Person ihre Ruhe und ihren humoralen und zellulären Veränderungen fehlen und dass vor al-
Einklang (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin) lem die Mechano-Hitze-insensitiven C-Fasern (CMiHi), die zu den
a b c d
⊡ Abb. 18.8 Patient mit einem CRPS seiner rechten Hand, die schmerzte und nutzlos geworden war, trotz seines starken Willens und seiner Motivation. a Beim
Versuch, mit der rechten Hand an den Mund zu greifen, betrug der kleinste Abstand zwischen der als Bedrohung empfundenen Hand und dem Gesicht etwa
20 cm. b Eine Woche nach ganztägigen Übungen seiner Sinneswahrnehmungen des Begreifens von sich selbst mit seiner »abgelehnten« Hand während einer
stationären Therapie mit Schmerztherapie, Ergotherapie (Spiegeltherapie), Physiotherapie und psychologischer Verhaltenstherapie konnte der Patient mit sei-
ner rechten Hand seinen Hals begreifen. Der Handchirurg und Autor, der das erste ärztliche Gespräch mit ihm führte, ihn aufklärte und anleitete, begleitete ihn
als seine »Vertrauensperson«, die ihn täglich anleitete, während der multidisziplinären Schmerztherapie unter der Leitung der Koautorin. Anlässlich der Erstvor-
stellung hielt derselbe Patient seine rechten Finger regungslos in der gleichen Haltung sowohl beim Versuch des Faustschlusses (c), als auch beim Versuch ihrer
Streckung (d)
406 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
Chemorezeptoren gehören, im Rahmen von Axonreflexen Neuro- Kopplung auch beim CRPS des Menschen spricht, dass bei Patien-
peptide freisetzen. Die von Hitzereizen oder mechanischen Reizen ten, bei denen eine Sympathikusblockade die Schmerzen linderte,
nicht erregbaren Chemorezeptoren werden durch die Einwirkung die subkutane Injektion von Noradrenalin die gleichen Schmerzen
von Entzündungsmediatoren aktiviert und sensibilisiert. auslöste, die sie vor der Sympathikusblockade hatten. Das Vorhan-
Auch sekundäre Sensibilisierungen im ZNS sollen entscheidend densein sympathischer Neurone verstärkt die Plasmaextravasation
von diesen durch Hitze und durch mechanische Reize nicht erreg- im Beisein von Entzündungsmediatoren, möglicherweise vermittelt
baren Chemorezeptoren ausgelöst werden. Die von den CMiHi durch die Wirkung von Prostaglandin. An sympathischen Ner-
ausgeschütteten Neuropeptide Substanz P und das »calcitonine- venendigungen wird neben Noradrenalin auch das Neuropeptid Y
gene-related peptide« (CGRP) vermitteln die Plasmaextravasation (NPY) freigesetzt. NPY ist ein Vermittler der opioidunabhängigen
und so die ödematöse Schwellung. Die erweiternde Wirkung von Schmerzhemmung. Beim CRPS sei dies im Plasma vermindert.
CGRP auf die Blutgefäße führt zur Überwärmung und Rötung der
Haut. Außerdem bewirkt das Neuropeptid CGRP ein vermehrtes Die Beteiligung des peripheren und des zentralen Nerven-
Schwitzen (Hyperhidrose). systems beim CRPS
Die elektrisch induzierte Freisetzung von Substanz P soll nur bei Peripher beginnt bei längerem Andauern eines Schadensreizes die
CRPS-Patienten auftreten. CGRP wurde auch elektrisch induziert Steigerung der Empfindlichkeit der Schadensmelder im Umbau
freigesetzt und wurde in erhöhter Konzentration auf der an einem der Zellmembran der Nozizeptoren mit Expression neuer Rezep-
CRPS erkrankten Seite und im Serum nachgewiesen. Die Ursache toren und in der Änderung der Verteilung von Ionenkanälen. Die
der gesteigerten neurogenen Entzündung könnte aufgrund neuerer Schwelle, oberhalb derer ein Reiz eine Schadensmeldung bewirkt,
Untersuchungen die verletzungsbedingte Freisetzung von Zytoki- ist herabgesetzt. Infolge der Verletzung eines Nervens melden die
nen sein, die eine Entzündung auslösen: Interleukine und der Tu- schnellen Aβ-Fasern, die normalerweise den Reiz einer Berührung
mor-Nekrose-Faktor (TNF) steigerten die Bildung und Freisetzung leiten, eine Berührung als Schmerz – »Aβ-pain«. Die Wahrneh-
von Neuropeptiden aus C-Fasern. Vor allem der TNF-α sei erhöht mung von Berührung als Schmerz (Allodynie) ist Zeichen für ei-
gewesen in der Gliedmaße, die vom CRPS betroffen war. Der lösli- nen Schaden eines Nervens. Die geschädigten Aβ-Fasern lösen vor
che TNF-α-Rezeptor I habe sich als Prädiktor für eine Hyperalgesie der Empfindung von Schmerz und unabhängig davon instinktive
erwiesen. Die Hyperalgesie wird als erstes Symptom einer neuroge- Reflexantworten aus.
nen Entzündung beim CRPS betrachtet. Bei einer Hyperalgesie ist Ein Schaden eines peripheren Nerven verändert auch die »re-
die sonst hohe Reizschwelle für eine Schmerzempfindung herabge- zeptiven Felder« im Hinterhorn des Rückenmarks. Die Degene-
setzt, die Antwort auf schmerzhafte Reize wird verstärkt, oder ein ration von C-Fasern verringert die Synapsen in der 1. und der
Schmerzempfinden entsteht spontan. Zytokine, Nervenwachstums- 2. Schicht, in denen die Fasern enden. An deren Stelle sprossen
faktor (NGF) und TNF verstärken die neurogene Entzündung durch Aβ-Fasern, die Druck und Berührungsempfindung vermitteln, aus
Vermehrung der Bildung von Neuropeptiden und lösen Immunre- den Schichten 4 und 5, in denen die Aβ-Fasern enden. Infolge-
aktionen aus. Eine lang dauernde Schonung oder Immobilisation be- dessen werden Hinterhornneurone, die sonst Schmerzreize wei-
einflusst die Sekretion von Neuropeptiden. Auf die Beteiligung eines terleiten, durch Reize von Berührungsrezeptoren erregt und eine
Autoimmungeschehens deutet die Bindung von Autoantikörpern an Allodynie ausgelöst.
die Oberfläche von peripheren autonomen Neuronen.
> Ein CRPS verändert auch die Arbeitsweise des Hirns.
Ist das CRPS eine Autoimmunkrankheit? Bei einer Autoim-
munkrankheit greift der Körper Teile seines Selbst an, weil er sie Bildgebende Methoden konnten zeigen, dass die »Abbildung« der
als »fremd«, nicht mehr als »eigen« erkennt. Der Körper, nicht nur Hand in der Hirnrinde beim CRPS schrumpft und sich nach einer
das Hirn stellt die Sinnfrage: »Nutzt mir diese schmerzende Hand? erfolgreichen Behandlung wieder vergrößert.
Nutze ich diese schmerzende Hand?« Nicht nutzende und nicht ge- Die Störung der Selbstwahrnehmung der vernachlässigten Hand
nutzte, schmerzende und gefährdende Teile werden »abgeschaltet«, im »Homunculus« wurde als sog. Neglekt mit der funktionellen
abgebaut, abgelehnt. Der Erwerb oder der Erhalt einer Fähigkeit Kernspintomografie abgebildet. Auch eine Aktivierung von Hirntei-
lohnt nur, wenn er nutzt, zum Erhalt des Lebens und zur Verbin- len, die mit der affektiv-motivationalen Schmerzverarbeitung in Ver-
dung mit dem Leben. »Life before limb«. »Use it or lose it«. Was bindung gebracht werden, konnte so gezeigt werden. Neuropathi-
nutzt, wird genutzt, und was genutzt wird, nutzt. Gebrauch mehrt sche Schmerzen entstehen nach einer Schädigung oder Erkrankung
18 die Fähigkeit. Unpaare Organe können nicht »abgeschaltet« wer- afferenter Systeme im peripheren oder zentralen Nervensystem.
den ohne den Verlust des Lebens. Anders die Glieder. Zum Erhalt Die Schmerzen sind krankhaft, weil sie in Ruhe auftreten, oft
des Lebens müssen Glieder im Notfall »abgeschaltet« werden. quälend brennend, auch ohne vorangegangene Belastung und auch
Die augenfälligen, einseitigen autonomen Störungen beim unerklärlich von selbst einschießend, weil sie ausgelöst werden
CRPS, Rötung und Überwärmung der Haut und vermehrte durch einen Lufthauch, bei zarter Berührung und regelmäßig
Schweißbildung, unabhängig von der Entzündung, weisen auf eine durch Bewegung. Können diese auch krank machenden Schmerzen
zentrale Regulationsstörung im sympathischen System. verstanden werden als Schmerzen der Person, die diese Schmerzen
Bei einer CRPS-bedingten Abkühlung der betroffenen Glied- empfindet infolge der »Trennung« von ihrer kranken Hand, wegen
maße könnte die Minderung der Durchblutung auf eine Über- des Verlustes der »abgeschalteten«, »abgestoßenen« Hand für ihr
empfindlichkeit der Blutgefäße zurückgeführt werden, weil eine Selbst? Kann der neuropathische Schmerz beim CRPS im übertra-
vermehrte Dichte von α-Adrenorezeptoren der Hautgefäße nach- genen Sinne als Deafferenzierungsschmerz infolge des Verlustes
gewiesen wurde. Die Verbindung zwischen dem efferenten sympa- der Wahrnehmung der Hand verstanden werden? Als Deafferen-
thischen System mit dem afferenten nozizeptiven System wird noch zierungsschmerzen werden neuropathische Schmerzen bezeichnet,
kontrovers diskutiert. Tierexperimentell wurde nach Nervenläsio- deren Ursache die vollständige Trennung großer Nervenstämme
nen eine Expression von α-Adrenorezeptoren auf nozizeptiven Af- ist, z. B. nach einer Amputation.
ferenzen nachgewiesen, die daraufhin durch Katecholamine direkt Nicht nur Hunde heben ihre verletzte Pfote, auch uns ist die-
erregbar wurden. Für das Vorliegen einer sympathisch-afferenten ser schützende Reflex angeboren, der die Heilung des verletzten
18.1 · Allgemeines
407 18
Differentialdiagnose. Ausgeschlossen werden müssen andere
Erkrankungen, die die Symptome hinreichend erklären oder zu-
sätzlich verschlimmern. Erkrankungen des rheumatischen For-
menkreises, posttraumatische Arthritiden, Kompartment- oder
Kompressionssyndrome, posttraumatische Nervenschäden, die
durch eine operative Behandlung gebessert werden können, ein
sog. Thoracic-Outlet-Syndrom oder Folgen einer längeren Nicht-
benutzung und psychiatrische Erkrankungen.
Klinische Untersuchung
Anamnese, Inspektion und Palpation
Wir fragen: »Wann und wie wurde Ihre Hand geschädigt? Wie
wurde Ihre Hand behandelt? Wurden Ihre Finger geschient? Was
mussten Sie vorher tun mit Ihrer Hand bei Ihrer beruflichen Tätig-
keit, im Alltag, beim Sport? Hatten Sie vor diesem Ereignis schon
einmal Schmerzen, eine Verletzung oder eine Gebrauchsstörung an
dieser Hand? Was stört Sie gegenwärtig am meisten, der Schmerz
oder die Störung der Bewegung? Was erwarten Sie, nach der Be-
handlung wieder mit der Hand tun zu können? Bitte deuten Sie mit
dem anderen Zeigefinger dorthin, wo Sie den stärksten Schmerz
unmittelbar nach der Schädigung spürten und dorthin, wo Sie den
⊡ Abb. 18.9 »Schockstarre«. Viele CRPS-Kranke starren auf ihre entfremdete stärksten Schmerz nun empfinden.«
Hand wie das sprichwörtliche »Kaninchen auf die Schlange«. Andere meiden Die Untersuchung durch Ansehen in Ruhe beschreibt trophi-
gebannt ihren Anblick. (Aus König 2009, mit freundlicher Genehmigung von sche und vegetative Veränderungen/Seitenunterschiede. Gemes-
Rowohlt) sen werden die Armumfänge, die aktiven Bewegungsausmaße der
Arm-, Hand-, Daumen- und Fingergelenke und die Kraft des
Grobgriffes.
Nach einer rechtlich erforderlichen schriftlichen Einwilligungs-
Gliedes fördert durch die Hemmung seiner Wahrnehmung und erklärung des Patienten zeichnen wir einen Videofilm auf von der
seines Gebrauchs. Die Person wird vor bedrohendem Schaden Geste der »Denkerhaltung«. Wir fordern den Patienten auf: »Bitte
bewahrt durch die »Ausgliederung«, die Entfremdung von der greifen Sie mit »der« Hand so zum Mund wie beim Nachdenken«.
nicht mehr als eigen empfundenen Hand. Gleichzeitig starren viele Eine Störung der Wahrnehmung »der« Hand bildet sich ab in der
die »gefährdende« Hand ebenso reflexartig und angstvoll an, weil Störung der Gestik.
diese Hand nicht mehr zu ihrem Selbst gehört. Die/der an CRPS
> Die betastende Untersuchung erfolgt beidseits gleichzeitig
Erkrankte starrt auf die als Bedrohung empfundene Hand wie
mit beiden Händen des Untersuchers an beiden Händen des
sprichwörtlich »das Kaninchen auf die Schlange« (⊡ Abb. 18.9).
Untersuchten zur Erkennung von Unterschieden in der Wahr-
Solange die Finger nicht unumkehrbar steif, minderdurchblu-
nehmung von Berührungen und/oder einer Druckempfind-
tet und ernährungsgestört sind, können sie wieder »angeschaltet«
lichkeit im Seitenvergleich.
und als »eigen« kennengelernt werden.
Solange der CRPS-Kranke über außergewöhnliche Schmerzen bei
> Wenn das Zeitfenster der Umkehrbarkeit der Zeichen des
Berührung klagt, raten wir von einer betastenden Untersuchung
CRPS genutzt wird, heilt das CRPS.
ab. In jedem Falle empfehlen wir eine einfühlsame Behutsamkeit
Wenn die Gewebe der Hand und des zentralen Nervensystems beim Betasten.
nicht mehr umkehrbar geschädigt sind, werden Behinderung und Die Diagnose wird nur durch die Befragung und durch die
Schmerzen auf Dauer die Regel. Dann »heilen« die Hand und die Untersuchung durch Ansehen und Betasten gestellt. Die Erschei-
Person mit einem bleibenden Schaden. nungen und Zeichen der neurogenen Entzündung und trophische
Störungen sind leicht zu erkennen. Bei 829 Patienten mit einer
sympathischen Reflexdystrophie – einer nicht mehr gebrauchten
18.1.4 Diagnostik Bezeichnung mit der gleichen Bedeutung wie der jetzt gebräuchli-
chen CRPS – fanden Veldmannet al. (1993) häufiger die Zeichen/
Verlauf. Der Verlauf ist zu dokumentieren zu Beginn und wäh- Symptome einer Entzündung: Schmerz (93%), Farb- (92%) und
rend der Behandlung und bei Entlassung aus der Behandlung: Temperaturunterschiede (92%) und Bewegungseinschränkung
▬ Befragung und schriftliche Dokumentation der Äußerungen (88%) bzw. Schwäche (95%) und Ödem (69%) als trophische Stö-
des CRPS-Kranken, zu dem, was ihn am meisten stört und zu rungen, Atrophien von Muskeln (55%), Knochen (38% fleckige
dem, was er erwartet vom Verlauf seiner Erkrankung und von oder diffuse Osteoporose), Haut (40%), Nägeln (27% )oder ver-
der Behandlung. mehrtes Schwitzen (47%).
▬ Foto- und Videografie, Die zur Zeit anerkannte Definition des CRPS wurde von Har-
▬ Diagnosetabelle nach Harden et al. (s. unten), den et al. (2007) verfasst und lautet frei übersetzt: »Komplexes regi-
▬ Schmerzfragebogen, onales Schmerzsyndrom beschreibt ein Muster schmerzhafter Be-
▬ DASH-Fragebogen (»disability of arm shoulder hand«, frei findlichkeiten, die gekennzeichnet sind durch einen andauernden
übersetzt: subjektive Einschätzung der Gebrauchsfähigkeit des (von selbst und/oder ausgelöst) örtlich begrenzten Schmerz, der
Armes und der Hand). offenbar unverhältnismäßig ist in seiner Dauer und in seinem Aus-
408 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
maß zum üblichen Verlauf irgendeiner bekannten Verletzung oder Wenn die Schädigung, die das CRPS angeblich auslöste, falsch dia-
irgendeines bekannten Schadens. Der Schmerz ist örtlich begrenzt gnostiziert wurde, kann es sein, dass auch die Diagnose des CRPS
(nicht beschränkt auf das Versorgungsgebiet eines Nerven oder auf nicht stimmt, weil die Unverhältnismäßigkeit des Zusammenhangs
ein Dermatom), und er hat üblicherweise ein körperfernes Vor- entscheidend ist für die Antwort auf die 1. Frage. So können
herrschen von unnormalen sensorischen, motorischen, sudomo- die Erscheinungen und Zeichen unverhältnismäßig sein zu der
torischen, vasomotorischen und/oder trophischen Befunden. Das Annahme einer »Synovialitis« 6 Monate nach einer auslösenden
Syndrom ist unterschiedlich in seinem Verlauf. Für die klinische Schädigung. Die Erscheinungen und Zeichen können aber nach
Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein« (⊡ Tab. 18.1). 6 Monaten die verhältnismäßige Reaktion auf Belastungen des
Die Erfragung von Erscheinungen des CRPS in 3 oder 4 der Handgelenks sein, wenn in Wahrheit das Band zwischen Kahnbein
4 Kategorien und die Feststellung von Zeichen des CRPS in 2 der und Mondbein geschädigt ist. Dann erklärt diese andere Diagnose
4 Kategorien erlaubt nicht die Diagnose des CRPS! die Erscheinungen und Zeichen besser.
d »Motor/Trophic«
Steife der Finger o o 18.1.5 Klassifikation
Schwäche o o
Zittern o o
18 Muskeln gehorchen nicht o o Die in Deutschland mit dem Namen von Sudeck (1900) verbun-
Trophische Störungen, dene Krankheit einer entzündlichen Dystrophie wurde in eng-
Veränderungen/Seiten- lischsprachigen Ländern »reflex sympathetic dystrophy« (RSD)
unterschiede: genannt, bis 1995 der Name mit internationaler Anerkennung in
Haare o o
»complex regional pain syndrome« (CRPS) geändert wurde.
Nägel o o
Aus systematischen Gründen wird noch unterschieden zwi-
Haut o o
schen einem CRPS Typ I, ohne Läsion eines Nerven, und einem
4. Keine andere Diagnose erklärt die Symptome und Zeichen CRPS Typ II, mit Läsion eines Nerven, bei dem die neurologischen
besser: o ja Ausfälle durch die Nervenläsion hinzukommen.
Für die Diagnose müssen die Punkte 1 und 4 erfüllt sein und zusät- > Die Einteilung des CRPS in Stadien wurde statistisch nicht
zlich: belegt.
Für die klinische Diagnose:
in 3 der 4 Kategorien mindesten je eine berichtete Erscheinung und Stattdessen werden Subtypen der Krankheit vermutet, und zwar ein
in 2 der 4 Kategorien mindesten je ein untersuchtes Zeichen. »florides CRPS«, ähnlich der klassischen Beschreibung des RSD, und
Für Forschungszwecke: zwei »begrenzte Formen«. Bei der einen begrenzten Form herrschen
in 4 der 4 Kategorien mindesten je eine berichtete Erscheinung und
vasomotorische Zeichen vor, bei der anderen stehen neuropathische
in 2 der 4 Kategorien mindesten je ein untersuchtes Zeichen.
Schmerzen und sensorische Abnormitäten im Vordergrund.
18.1 · Allgemeines
409 18
Das floride CRPS soll die stärksten motorischen und tro- Schmerz (»Schmerzen verstehen«; Butler u. Moseley, 2005), durch
phischen Zeichen und Veränderungen im Knochenszintigramm, die gleichzeitige medikamentöse Schmerztherapie, durch die phy-
möglicherweise in Zusammenhang mit »disuse« (Osteopenie), und sio- und ergotherapeutische Förderung der Abschwellung und der
die kürzeste Dauer der drei Untergruppen haben. Der Subtyp schmerzlosen natürlichen Bewegungen, der Wahrnehmung und des
mit vorherrschend neuropathischen Schmerzen und sensorischen Gebrauchs der Hand und in Einzelfällen durch verhaltenstherapeu-
Abnormalitäten könnte das CRPS II, widerspiegeln, früher auch tische Übungen des Umgangs mit psychischen Begleitstörungen.
»Kausalgie« genannt wegen des brennenden Schmerzes. Die Be- Jede der verschiedenen Behandlungsformen der gleichzeitigen viel-
deutung einer Einteilung nach Temperaturunterschieden, »war- schichtigen Behandlung dient nur dem einen Zweck, dem CRPS-
mes« und »kaltes« CRPS ist noch unklar. Die Muster der Tempera- Kranken das Lernen zu ermöglichen und zu fördern, dass beide
turunterschiede können sich im Verlauf ändern. Hände dem Hirn dabei helfen, die »ausgegliederte« Hand wieder
»einzugliedern«. Die gesunde Hand dient dem Hirn als Vorbild für
schmerzfreie Bewegungen mit natürlichem Ablauf. Die heilende
18.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Hand hilft dem Hirn bzw. dem Selbst, sich wieder zu begreifen. Die
gleichzeitige vielschichtige Behandlung fördert das Lernen, sich von
Ein an seiner Hand erkrankter CRPS-Patient wird häufig den um den eigenen Händen führen und heilen zu lassen.
Hilfe bitten, dem er die Kompetenz für die Gewebe der Hand zu- So wie die gesunde Hand das Vorbild für die kranke Hand ist,
traut, also einen Handchirurgen. so kann eine Person des Vertrauens das Vorbild für das Selbst des
CRPS-Kranken sein. Diejenige Person aus dem Kreise der Behan-
> Ein erfahrener Handchirurg, der sich nicht nur als Handwer-
delnden (⊡ Abb. 18.10) wird am ehesten das Vertrauen des CRPS-
ker, sondern auch als Arzt versteht, kann einem an seiner
Kranken gewinnen,
Hand Leidenden – nach sorgfältigem Ausschluss eines Scha-
▬ die selbst eine Vorstellung vom Ablauf der Heilung hat. Die
dens, der nur von einem Handchirurgen durch einen Eingriff
Übertragung dieser Vorstellung hat Erfolg, wenn der CRPS-
zu bessern ist – überzeugend erklären, dass er dem an seiner
Kranke ihre Verwirklichung erfährt. Die Linderung der
Hand Leidenden nicht mit dem Messer helfen kann.
Schmerzen und die Vermehrung des Nutzens seiner Hand
Der Handchirurg hat die einmalige Gelegenheit, die Herausfor- überzeugen ihn und fördern sich gegenseitig;
derung anzunehmen, sich der Hilfe suchenden Person als Person ▬ die das Vertrauen des CRPS-Kranken in seine beiden eigenen
ihres Vertrauens anzubieten, die die gemeinsame Behandlung mit Hände stärkt;
Vertretern anderer Fachgebiete nach den Bedürfnissen des Kran- ▬ die dem CRPS-Kranken die eigene Fähigkeit zur Förderung
ken veranlasst und vom Beginn bis zur Entlassung aus der Behand- seiner Heilung zutraut und die durch dieses Zutrauen das
lung begleitet. Wachsen des Selbstvertrauens des Kranken fördert.
Bei einem CRPS an der Hand ist eine möglichst frühzeitige
interdisziplinäre neurofunktionelle Rehabilitation angezeigt durch: Pragmatische Planung der speziellen Schmerztherapie
Lösung der Angst durch Förderung des Verständnisses für diese Die Behandlung berücksichtigt die persönlichen Bedürfnisse des
Störung der Heilung und durch die Förderung des Verstehens von CRPS-Kranken, erkennbar an den objektiven Zeichen, den subjek-
schmerz-
therapeutisch
tätiger schmerz-
handchirurgisch Anästhesist therapeutisch
tätiger tätiger
Unfallchirurg/ Neurologe
Orthopäde
Verhaltens-
therapeutisch
Handchirurg orientierter
Person des Psychologe
Vertrauens
neurofunktionell
orientierter
CRPS Physio
Kranker Therapeut
Rehamanager neurofunktionell
des orientierter ⊡ Abb. 18.10 Eingliederung des CRPS-Kranken in
Kostenträgers Ergo den Kreis seiner Helfer. Eine Vertrauensperson be-
Therapeut gleitet den Kranken während der Behandlung, auch
wenn die Verantwortung für die Leitung der ärztli-
chen Behandlung schwerpunktbezogen wechselt
410 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
tiven Symptomen (⊡ Tab. 18.1) und am Verlauf des CRPS. Die in- 18.1.7 Therapie
dividuell ausgerichteten und vielschichtigen Basistherapien, ohne
Medikamente und mit Medikamenten, ermöglichen – nach un- Die biopsychosoziale Medizin kann als Lehre der Beziehungen
serem ergänzenden Konzept – dem CRPS-Kranken durch neuro- verstanden werden.
funktionelle physiotherapeutische und ergotherapeutische Anlei-
> Die Therapie gibt dem Patienten Antworten, die ihm zeigen,
tung – nicht durch passives »Beüben« (!) – das Lernen mithilfe sei-
dass die Zeichen verstanden werden, die er auf körperlicher,
ner eigenen Sinne. Eine verhaltensorientierte Psychotherapie hilft
psychischer und sozialer Ebene unbewusst sendet.
zur Überwindung der Bewegungsangst. Voraussetzung dafür ist
die gleichzeitige (!) medikamentöse Unterstützung der Linderung Wenn sich Patient und Arzt als Personen begegnen, entsteht eine
seiner krank machenden bzw. neuropathischen Schmerzen und gemeinsame Wirklichkeit zwischen Arzt und Patient. Das CRPS
die Besserung der Symptome einer neurogenen Entzündung. Die betrifft die ganze Person. Deshalb muss die Behandlung »biopsy-
Wahl der Medikation erfolgt aufgrund der Schmerzcharakteristi- chosozial« sein.
ka der klinischen schmerztherapeutischen Diagnose (Anamnese, Das Ziel unseres Beitrages ist es, dem CRPS durch Aufklärung
Untersuchung, Auswertung eines Schmerzfragebogens und eines und Verständnis vorzubeugen, es zu entzaubern, wenn es schreckt,
Schmerztagebuches). In Betracht kommen die Gabe von Kortison, und alle Helfenden aus der ihnen von vielen Kranken zugedachten
Bisphosphonaten und/oder Kalzitonin und DMSO-Creme. Je nach falschen Rolle der Heiler zu erlösen. Alle »Behandelnden« haben mit
dem Charakter des Schmerzes und seiner Dynamik werden Anti- Beteiligung des CRPS-Kranken die Aufgabe – keine kleinere und
depressiva und/oder Antikonvulsiva ggf. kombiniert mit Opioiden keine größere – den natürlichen Ablauf einer vollständigen Heilung
gegeben mit dem Ziel, die Schmerzen so weit zu lindern, dass der des CRPS – die Wiedervereinigung des Selbst mit der ausgeglieder-
Patient in die Lage versetzt wird, selbst aktiv zu üben. ten Hand – zu ermöglichen, zu erleichtern, zu beschleunigen. Leider
Tritt keine wesentliche Besserung ein, sollen diagnostisch Sym- heilt die Natur das CRPS meist nicht vollständig. Zu oft heilt zwar
pathikusblockaden vorgenommen werden. Im Falle einer Schmerz- die neurogene Entzündung, aber die kranke Hand bleibt ausge-
reduktion von über 50% ist eine Serie angezeigt. gliedert, wenn dieser instinktiven Ausgliederung nicht vorbeugend
In seltenen schweren und therapierefraktären Fällen können oder spätestens von Beginn der Behandlung an entgegengewirkt
nach dem Ausschluss einer psychischen Komorbidität und nach wird. Betroffene und Helfende sind oft hilflos, weil die körperlichen
eindeutiger, dokumentierter Austestung, invasive Therapien zum Zeichen und die Empfindungen ohne die »alten« und die neuesten
Einsatz kommen, wie die elektrische Stimulation des Rückenmarks Erkenntnisse, die wir in Abschn. 18.1.1 und Abschn. 18.1.3 angeris-
(»spinal cord stimulation«, SCS; Abschn. 15.2.3). Je früher das sen haben, nicht verstehbar sind. Die »Sprache des Körpers« ist auch
CRPS diagnostiziert wird und vom Beginn an individuell gleichzei- dem Willen nicht zugänglich. Die übliche Behandlung hilft oft nicht,
tig und vielschichtig behandelt wird, desto besser sind die Ergeb- wenn diese nur medikamentös schmerzlindernd, nur handtherapeu-
nisse und die Prognose (⊡ Abb. 18.11). tisch, nur psychologisch verhaltenstherapeutisch, nur handchirur-
a b c
18
d e f
⊡ Abb. 18.11 65-jährige Patientin mit einem CRPS ihrer linken Hand, vor der Behandlung. Obere Bildreihe: Linker Handrücken und Finger sind geschwollen,
die Finger regungslos beim Versuch des Faustschlusses und beim Versuch ihrer Streckung: a beide Handrücken, b beide Hände beim Versuch des Faustschlus-
ses, c beide Hände beim Versuch der Fingerstreckung. Untere Bildreihe: die Hände derselben Patientin. Nach 3 Wochen stationärer multidisziplinärer Therapie
war die linke Hand abgeschwollen und die Finger wurden wie rechts gebeugt und gestreckt: d beide Handrücken, e beide Hände von der Speichenseite beim
Versuch des Faustschlusses, f beide Hände beim Versuch der Fingerstreckung
18.1 · Allgemeines
411 18
gisch invasiv oder nur schmerztherapeutisch invasiv oder dies nach- sehr seltenen Fällen trotz des Versuches der Vorbeugung und trotz
einander und nicht gleichzeitig und ohne eine Vertrauensperson einer sachgemäßen interdisziplinären Behandlung schicksalhaft
erfolgt, z. B. einen mit dem CRPS vertrauten Handchirurgen. sein kann. Aber ein Handchirurg und ein handchirurgisch tätiger
Der an seiner Hand am komplexen regionalen Schmerzsyn- Unfallchirurg und/oder Orthopäde, der die Gefahr und ihre Auslö-
drom Erkrankte beansprucht die Persönlichkeit, die Intuition, das ser kennt, wird weniger Patienten haben, die unter dieser zwar selte-
Wissen und das Einfühlungsvermögen des Arztes in jedem Hand- nen, aber in Einzelfällen schicksalhaften »unvollständigen« Heilung
chirurgen. Die Aufgabe eines Chirurgen erschöpft sich nicht in länger leiden, als die Heilung der verletzten Gewebe dauerte.
seiner handwerklichen Tätigkeit. Der Chirurg schafft als Hand- Die Angst, der Schmerz und die Schonung einer ehemals
werker – die Bezeichnung »Chirurg« ist eine Zusammensetzung verletzten, fortdauernd schmerzenden, zu nichts nutzenden Hand
der griechischen Worte für Hand =»cheir« und für Werk =»ergon« werden vertrieben von wachsendem Mut, von der spürbaren Lin-
– die Voraussetzung für die Heilung der Gewebe durch die vorü- derung von Schmerzen, von der erneuten Wahrnehmung der
bergehende Wiedervereinigung der durch eine Wunde getrennten Hand und vom erfolgreichen Gebrauch dieser Hand.
Teile von Geweben. Mut, Wahrnehmung ohne Schmerzempfindung und Gebrauch
Wenn nur das Gewebe heilt, aber nicht der Mensch als Einheit, erhöhen die Schmerzschwelle und helfen, die zunächst reflexartig
und wenn dieser Mensch nicht dauernd wiedervereinigt wird mit verletzungsbedingt, dann krankhaft geschonte Hand wieder dau-
seinen Gemeinschaften, von denen er ein Teil war vor der Verletzung erhaft mit dem Hirn zu vereinen im Sinne der eingangs genannten
seiner Hand, wenn also die geheilte kleinere Einheit nicht in der grö- Definition von Heilung. Die Wiedereingliederung der vom Selbst
ßeren aufgeht und die Heilung auf diese Weise unvollendet bleibt, einstmals instinktiv ausgegliederten Hand, kann nur die Person
wenn die ehemals geschädigte Hand nicht mehr zu ihm gehört, ihm selbst vollbringen, die an einem komplexen regionalen Schmerz-
fremd geworden ist und auch noch schmerzt – oder fremd, weil sie syndrom ihrer Hand leidet. Dieser erkrankten Person kann mit
schmerzt? – wenn die schmerzende Hand ihn stört, ja, ihn zu bedro- bester Aussicht auf ihre Heilung eine Vertrauensperson helfen, die
hen scheint, dann ist der Boden für ein sog. CRPS bereitet. versteht, woran die kranke Person leidet und die ihr zu helfen weiß.
Denn jede Verletzung trennt nicht nur Gewebe, sondern re- Der Kranke wird sein Vertrauen dem Menschen schenken, von
flexartig die verletzte Hand von Hirn und Gemüt. Das Hirn schal- dem er glauben kann, dass dieser ihm helfen kann. Wie der Kranke
tet eine heilende, gebrauchsgestörte Hand ab, wenn diese keinen sich selbst einschätzt, was er sich vorstellt über sein Leiden, was
Nettonutzen behalten hat oder wiedergewinnt. Die unfallchirur- er darüber wirklich weiß und wem er glaubt, bestimmen wesent-
gische Faustregel »life before limb« gibt diesem in der Entwick- lich den Verlauf der krankhaft schmerzenden Störung, denn: der
lungsgeschichte vielfach bewährten und verwirklichten Prinzip Kranke kann sich seine Heilung nicht vorstellen.
Ausdruck, nach dem auch unsere Intuition, unser »Bauchgefühl« Der an einem CRPS einer Hand Erkrankte benötigt die Hilfe
uns unbewusst lenkt. Auch wenn der Verstand sagt: »ich brauche von Therapeuten, Ärzten, Helfern, um lernen zu können, wieder
doch meine verletzte Hand dringend«, kann das »Bauchgefühl« selbst über seine infolge des CRPS ausgegliederte Hand zu bestim-
bestimmen, welches sagt: »Die verletzte Hand hat nicht mehr men. Die krankhafte Fremdbestimmung des Selbst seiner Person
meine Gestalt, ist hässlich, sie stört mich, weil ich sie nicht nutzen durch die sie scheinbar »bedrohende Hand« wird abgelöst von der
kann, sie schmerzt so, dass die Schmerzen mich bedrohen. Ich will Selbstbestimmung über die heilende eigene Hand.
von meiner verletzten Hand nichts mehr wissen, ich würde sie Neue Impulse kommen aus der Neurologie und aus der Zu-
am liebsten nicht mehr wahrnehmen.« Das angeborene Verhalten sammenarbeit von Neurologen und Orthopäden. »Train the brain«,
kann uns nicht nur schützen und lenken, sondern auch hemmen, und zwar
hindern und in die Irre führen. Der Handchirurg hat meist als ers- ▬ durch die Nutzung der Wechselwirkung zwischen den Händen
ter die Gelegenheit, die jedem angeborene reflexartige Schonung und dem Hirn, (⊡ Abb. 18.12)
einer verletzten Hand zu erkennen und der hierin gründenden ▬ durch Lernen mit Hilfe der Sinne:
Gefahr einer dauerhaften Störung ihres Gebrauches vorzubeugen. ▬ durch Förderung der Hirnleistungen, die instinktiv/reflexartig
durch eine Verletzung oder durch einen Schaden an einer
> Eine Verzögerung des natürlichen Heilverlaufes ist vermeid-
Hand gehemmt sind:
bar durch die Anleitung zur Wahrnehmung und zum Ge-
▬ durch Förderung bzw. Bahnung der Wahrnehmung der »abge-
brauch der verletzten Hand während der Heilung.
schalteten« Hand und
Wirkt der Schmerz fort, der die natürliche, instinktive Schonung ▬ durch Förderung bzw. Bahnung des Vorstellungsvermögens
der verletzten Hand auslöste, wächst die Gefahr der Entwicklung der Bewegung und des Gebrauchs der heilenden Hand
eines CRPS. a) durch das Begreifen des eigenen Körpers mit der heilen-
den Hand und
> Unter allen Umständen muss die Ausbildung eines »Schmerz-
b) durch Nachahmung des Vorbildes der gesunden Hand bei
gedächtnisses« verhindert werden, damit die plastischen
gleichzeitigen Bewegungen beider Hände mit Blick auf die
Veränderungen des peripheren Neurons, des Hinterhorns im
gesunde Hand und
Rückenmark und im Hirn nicht entstehen.
c) durch Nutzen des Gelernten nach der Faustregel: »Ich
Als Arzt hilft der Handchirurg oder der handchirurgisch tätige nutze, was mir nutzt«.
Unfallchirurg und/oder Orthopäde einem an seiner Hand erkrank-
ten CRPS-Patienten, sich die heilende Hand wieder zu eigen zu Unsere Eingebung bzw. Intuition fördert das Nutzen nur, wenn
machen. Dazu brauchen der erstbehandelnde Arzt und der Kranke und weil es nutzt. Deshalb ist die »Zielgröße« der Behandlung des
die Hilfe von neurofunktionell orientierten Ergotherapeuten und CRPS die Wiedergewinnung des Nutzens der kranken Hand: Den
Physiotherapeuten, von schmerztherapeutisch tätigen Anästhesis- sinnlichen Wahrnehmungen des Tastens und Sehens kann sich das
ten oder Neurologen und von Rehamanagern der Kostenträger. Hirn nicht entziehen, wenn ihm dafür »die Augen geöffnet« wer-
Kein Handchirurg und kein handchirurgisch tätiger Unfallchir- den und wenn es wieder begreifen lernt. Das Hirn sendet erst dann
urg und/oder Orthopäde kann immer ein CRPS verhindern, das in wieder Signale an die Hand, wenn es Signale von ihr empfängt.
412 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
Auch Biphosphonate hemmen die Aktivität der Osteoklasten. tidepressivums mit einem Antikonvulsivum und einem Opioid
Ihre schmerzlindernde Wirkung wird bei CRPS nach Brüchen von sinnvoll (belegt durch Studien, die zur Behandlung neuropathi-
Knochen genutzt. Ihre Wirkung bei CRPS nach einer Verletzung schen Schmerzen durchgeführt wurden): z. B. Oxycodon retard
von Weichgeweben ist nicht bewiesen. Wir geben z. B. Alendronat Tbl. ab 2-mal 10 mg/Tag oder Tramadol retard Tbl. von anfangs
7,5 mg Infusion in 250 ml NaCl 0,9%, für 3 Tage. 2-mal 100 mg bis zur höchsten Tagesdosis von 400 mg. Eine Al-
ternative ist die perkutane Applikation von Opioiden als Pflaster.
Medikamente gegen neuropatische Schmerzen Zur Erleichterung der Wahl des Präparats gibt es einen »Opioid-
Kennzeichnend für das CRPS sind neuropathische Schmerzen, kalkulator« mit den Äquivalenzdosierungen für die verschiedenen
häufig als Dauerschmerz mit Verstärkung in Ruhe und nachts, und Opioidpräparate.
ein ohne erkennbare Ursache »von selbst« entstehender Schmerz, Vor der Gabe von Opioiden bzw. Morphin sind die Patienten
oft brennend und pochend und immer wieder ausgelöst durch insbesondere über die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahme
zarte Berührung und vor allem durch Bewegungen der zunächst der Medikamente, das Verbot von Alkohol sowie bei jeder Dosi-
durch eine überschießende Entzündung heilen »wollenden«, aber sanpassung über die Einschränkung der Fahrtüchtigkeit aufzu-
wegen der Schmerzen krank machenden Hand. Die Behandlung klären. Alle diese Besonderheiten sind in einem »Patientenvertrag
mit Medikamenten kann angepasst werden an die persönlichen zur Therapie mit Morphin bei Patienten mit Schmerzen, die nicht
Bedürfnisse nach einer quantitativen sensorischen Testung (QST) durch Krebs hervorgerufen werden« gebündelt (erhältlich über
und/oder an die geklagten Empfindungen und an die durch ärztli- die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes). Diesen
che Untersuchung festgestellten Zeichen (⊡ Tab. 18.2). Vertrag muss der Patient vor Therapiebeginn zusammen mit dem
Die wichtigsten Substanzgruppen für die Behandlung der neu- Arzt unterschreiben.
ropathischen Schmerzen sind Antidepressiva und Antikonvulsiva. »Radikalfänger« werden empfohlen unter der Vorstellung,
Die schmerzlindernde Wirkung der Antidepressiva beruht auf damit freie Radikale zu binden, die während des Entzündungs-
der Hemmung der Wiederaufnahme von Botenstoffen für Schmerz prozesses entstehen und diesen unterhalten. Sie werden topisch
(Noradrenalin und Serotonin) im ZNS sowie auf einer Blockade appliziert. Zum Beispiel wird Dimethylsulfoxid (DMSO) 50% als
der Natriumkanäle der neuronalen Synapsen. fettige Creme 4-mal am Tag auf die schmerzende Haut aufgetragen.
Aus der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva (TZA) hat sich Systemisch wird Vitamin C (1 g i.v. am Tag) gegeben. Für die Wir-
das Amitriptylin bewährt. Es wird in einer Dosierung von anfänglich kung dieser Therapie steht der Nachweis noch aus.
10–20 mg eingesetzt. Je nach Wirkung bzw. Nebenwirkung kann bis Der Verlauf soll täglich beobachtet und dokumentiert werden.
auf 75 mg (max. 150 mg) auftitriert werden. Aufgrund seiner sedie- Wenn Vitamin C nicht hilft, soll es nach einigen Tagen abgesetzt
renden Komponente verbessert Amitriptylin die Schlafqualität, wenn werden, weil dort, wo die Konzentration von freien Radikalen
es abends verordnet wird. Über den verzögerten Wirkungseintritt erhöht ist, die Bioverfügbarkeit der Antioxidantien zu gering sein
erst 1–2 Wochen nach Beginn der Einnahme und über das Erreichen soll.
der stärksten Wirkung erst nach 6–8 Wochen muss der Patient auf- N-Acetylcystein wird in einer Dosierung von 3-mal 200 mg
geklärt werden. Eine Alternative zu Amitriptylin sind Antidepressiva beim »kalten« CRPS gegeben. Seine Wirkung ist noch nicht nach-
der neueren Generation wie z. B. Duloxetin, die ihre Wirkung schnel- gewiesen.
ler entfalten (4 Tage) und ggf. bei Patienten, die bei der Behandlung Umschriebene Hautflächen, die krankhaft empfindlich auf Be-
mit Amitriptylin stark unter Müdigkeit und Gewichtzunahme leiden, rührung sind, können durch die topische dermale Applikation
weniger derartige Nebenwirkungen hervorrufen. von Lokalanästhetika wie Lidocain (Versatis 5%) oder Prilocain
Antikonvulsiva können bei Patienten mit CRPS schmerzlin- (EMLA-Creme) örtlich betäubt werden.
dernd wirken. Bewährt haben sich Gabapentin und Pregabalin. Capsaicin-Salbe verursacht nach längerem Auftragen 4-mal
Die Anfangsdosis von Gabapentin 300 mg abends wird, täglich täglich über 4–6 Wochen (Salbe) oder einmalig (Pflaster) eine re-
verteilt auf 3 Einnahmen, gesteigert bis zum Eintritt der Wirkung, versible Degeneration nozizeptiver Afferenzen.
höchstens bis auf 1800 mg/Tag. Bei einer Niereninsuffizienz muss Die Beachtung der folgenden Empfehlungen fördert die not-
die Dosis angepasst werden. wendige Mitwirkung der Patienten und die Anpassung der medi-
Pregabalin fördert zusätzlich den Schlaf und wirkt angstlösend. kamentösen Therapie an den Krankheitsverlauf:
Bei der einschleichenden Dosierung muss das Alter des Patienten ▬ Aufklärung über jedes Medikament: über die Medikamenten-
berücksichtigt werden. Nach den ersten 25 mg abends wird die klasse, über seine Wirkungen und Nebenwirkungen; Retard-
Tagesdosis individuell gesteigert von 3-mal 25 mg bis zur höchsten präparate sind zu bevorzugen;
Tagesdosis von 300 mg. ▬ Anpassung der Dosis individuell nach Wirkung und Neben-
Wenn die Schmerzen die Bewegung der heilenden Hand hin- wirkung;
dern, ist besonders in der Akutphase die Kombination eines An- ▬ Kontrolle der Wirkung der Behandlung täglich.
414 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
Operative Therapie
Beseitigung einer Schmerzursache
Ursachen für Schmerzen, die durch eine handchirurgische und/
oder chirurgische Behandlung gebessert oder gar beseitigt werden
können, müssen vom erstbehandelnden Handchirurgen erkannt
werden (s. Differenzialdiagnosen). Ein bestehendes CRPS ist keine
Kontraindikation für einen handchirurgischen Eingriff, sondern
erfordert einen solchen, wenn eine Ursache für Schmerzen oder
für eine Abflussstörung des Blutes aus dem Arm ( Kap. 20) hier-
durch gebessert oder beseitigt werden. Neuropathische Schmerzen
wegen eines posttraumatischen Schadens eines peripheren Nervs,
z. B. eines Astes des Ramus superficialis des Nervus radialis oder
des Ramus palmaris Nervi mediani können nach positiver Test-
ausschaltung oft durch einen handchirurgischen Eingriff gebessert
werden. Auch Schmerzen bei einem CRPS infolge der Heilung ei- ⊡ Abb. 18.13 Betäubung des Ganglion stellatum des sympathischen Grenz-
nes Bruches der körperfernen Speiche in Fehlstellung können eine stranges (»ganglion local Opioid application«, GLOA) wegen eines CRPS an
Indikation zu einem handchirurgischen bzw. unfallchirurgisch- der rechten Hand eines 51-jährigen Mannes
orthopädischen Eingriff sein, wenn die Indikation nach den Regeln
der Kunst dafür gegeben ist, wenn eine Linderung der Schmerzen
von dem Eingriff zu erwarten ist und wenn die postoperative Wei- Patienten, die schon Kontrakturen und Versteifungen haben. Eine
terbehandlung in einem Zentrum erfolgt, in dem die dafür not- Plexuskatheteranästhesie ist selten indiziert in der akuten Phase
wendige interdisziplinäre Zusammenarbeit gewährleistet ist. des CRPS, weil die Entzündungsreaktion in der Hand gesteigert
Für die Einschätzung der Bedeutung der operativen Therapie werden kann und weil der Lernprozess (s. Basistherapie ohne Me-
für die Integrationsstörung des CRPS gilt, wie für die anderen dikamente) unterbrochen wird.
Arten der Behandlung auch: Die operative Therapie ist beim CRPS Die intravenöse regionale Sympathikusblockade (IVRB) mit
nur ein Glied in der Kette der Behandlungsarten, deren wichtigstes einer Mischung von Guanetidin 10 mg/ml, mit Solu Dekortin
Glied der Kranke selbst ist (⊡ Abb. 18.10). 100 mg, und Naropin 0,1%, ad 40 ml wird durch eine oberflächliche
Vene der betroffenen Hand in den blutleer gewickelten und mit
Minimalinvasive Therapie einer Blutsperre vom Kreislauf getrennten Arm infundiert. Das Gu-
> Alle (minimal-) invasiven Therapiemaßnahmen sollten hierin anetidin ist für diese Indikation nicht zugelassen. Deshalb muss der
ausgebildeten und erfahrenen Ärzten in spezialisierten Zent- Patient nach Aufklärung darin schriftlich einwilligen. Da die Wir-
ren vorbehalten bleiben. kung für das CRPS nicht nachgewiesen wurde, weil die Behandlung
schmerzhaft ist und ein CRPS verschlimmern kann, wird diese Art
Sympathikusblockade der Behandlung in der Leitlinie zum CRPS nicht empfohlen.
Sympathikusblockaden helfen nur bei einer Untergruppe von Patien-
ten mit einem CRPS, wenn ihr Schmerz »sympathisch unterhalten« Spinal-Cord-Stimulation (SCS)
ist. Ein vom sympathischen Nervensystem unterhaltener Schmerz Die Spinal-Cord-Stimulation (SCS) ist eine rückenmarksnahe Elek-
(»sympathetically maintained pain«, SMP) wird erkannt durch die trostimulation. Wenn eine Probestimulation erfolgreich war, wird
schmerzlindernde Wirkung zweier Probeblockaden. Eine Probeblo- in den Periduralraum eine Stimulationssonde implantiert, die
ckade des Sympathikus ist erst angezeigt, wenn die Basistherapie durch einen subkutan implantierten Impulsgeber gesteuert wird.
ohne und mit Medikamenten die Schmerzen und die Schwellung Die SCS wird nur für Patienten empfohlen, denen alle anderen
bzw. verstärktes Schwitzen nicht linderte. Eine Überlegenheit der Arten von Behandlungen nicht geholfen haben, und wenn eine
Intervention am Sympathikus ist gegenüber Placebo nicht bewiesen. psychische Begleiterkrankung durch eine fachspezifische Untersu-
Jedoch hat sich die Methode seit Jahren in der Behandlung des CRPS chung ausgeschlossen wurde.
etabliert aufgrund von positiven Erfahrungen bei vielen Patienten.
18 Ganglion-stellatum-Blockaden (»ganglion local opioid applica- Intrathekale Gabe von Baclofen
tion«, GLOA) werden bei einem »floriden« CRPS mit den Zeichen Mit der intrathekalen Gabe von Baclofen haben wir ebenso wie
einer Schwellung, Rötung und einer vermehrten Schweißabson- mit der Sympathektomie keine eigene Erfahrung. Nach einer Aus-
derung bevorzugt angewandt. Manche CRPS-Kranke empfinden testung mittels Bolusgabe wird laut Literatur Baclofen als GABA-
nicht nur eine Linderung dieser Symptome, sondern auch ihrer Rezeptor-Agonist bei chronischen CRPS, die mit dystonen Be-
Schmerzen. Voraussetzung für eine Serie von max. 10 Blockaden wegungsstörungen einhergehen, intrathekal kontinuierlich über
ist der Nachweis einer Verminderung der Schmerzen um mindes- implantierte Pumpen gegeben.
tens 50%, sowie ein Anstieg der Hauttemperatur (um mehr als 2° C
an der kranken Hand) infolge von 2 diagnostischen Sympathikus- Operative Therapie nach A. Wilhelm Kap. 20
blockaden. Am Ganglion stellatum wird insgesamt ein Volumen
von 4-5 ml injiziert, bestehend aus Buprenorphin 0,15 mg und 4ml
Ropivacain 0,1% (⊡ Abb. 18.13). 18.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Vor der operativen Sympathektomie wird gewarnt.
> Das CRPS kommt auch bei Kindern vor.
Kontinuierliche Plexusanästhesie
Eine kontinuierliche Plexusanästhesie über die Implantation ei- Kinder erkranken noch seltener an einem komplexen regionalen
nes Katheters für etwa 1 Woche kann indiziert sein bei CRPS- Schmerzsyndrom als Erwachsene.
18.2 · Spezielle Techniken
415 18
> Meistens sind ältere Mädchen betroffen, zu Beginn ihrer Alter von etwa 13 Jahren ohne Medikamente 92% der Mädchen
körperlichen und persönlichen Reifung zur Frau. zunächst symptomfrei machte. Die Mädchen wurden täglich über
1–2 Wochen angeleitet zu Übungen – 4 Stunden aerobische und
Wie beim CRPS der Erwachsenen wirkt eine oft harmlos erschei- funktionell ausgerichtete Bewegungen und 1–2 Stunden Hydro-
nende Verletzung der Glieder scheinbar unverhältnismäßig und therapie und Desensibilisierung. 77% der Mädchen wurden auch
unerklärlich krankhaft schmerzend und behindernd fort. Anders psychologisch beraten. Rezidive traten bei 31% auf, davon 79%
als bei Erwachsenen scheinen auffallend bei heranwachsenden innerhalb der ersten 6 Monate nach Behandlung. In einer anderen
Frauen die Sprunggelenke und Füße häufiger als die Handgelenke Mitteilung wurde allerdings über 42 Langzeitverläufe von CRPS
und Hände betroffen, und die ehemals verletzten Glieder sind berichtet, die in der Kindheit (Alter <16 Jahren) begonnen hatten,
meist kalt. Die Prognose scheint bei rechtzeitiger interdisziplinärer und im Erwachsenenalter keine bessere Lebensqualität hatten als
Behandlung günstiger zu sein als bei Erwachsenen. bei Verläufen von CRPS, die erst im Erwachsenenalter begannen.
Es ist unabdingbar, dass jeder Behandler die Kinder mag und Nach durchschnittlich 12 Jahren klagten 52% der 42 Patienten
ihnen gerne hilft. Das Team muss gut kommunizieren. Eine früh- über Schmerzen.
zeitige Schmerzlinderung, spezialisierte Physiotherapie und Ver- Wird das Nervensystem sensibilisiert für die Empfindung von
haltenstherapie bahnen bei Kindern und Heranwachsenden noch Schmerz durch die Hemmung von Muskelarbeit? Sind Menschen,
wirksamer als bei Erwachsenen einen meist günstigen Verlauf. die besonders empfindlich auf einen Mangel an Bewegung reagie-
Aber auch bis ins Erwachsenenalter fortbestehende schmerzhafte ren, stärker gefährdet, an einem CRPS zu erkranken als solche, die
Behinderungen sind beschrieben. Umso größer ist die Verantwor- auch ohne regelmäßiges Muskeltraining gesund bleiben? Sollten
tung aller handchirurgisch und handtherapeutisch Tätigen, bei solche Menschen ihr Leben lang ihre Muskeln trainieren?
Kindern, bei Heranwachsenden und besonders bei Mädchen in der Seit Sudeck vor mehr als 100 Jahren die Störung beschrieb,
Pubertät an ein komplexes regionales Schmerzsyndrom zu denken, die heute »komplexes regionales Schmerzsyndrom« (CRPS) heißt,
wenn Erscheinungen berichtet und Zeichen festgestellt werden, die zieht sich wie ein roter Faden durch alle Mitteilungen, dass offenbar
bei den diagnostischen Kriterien eines CRPS (⊡ Abb. 18.1) genannt ein Zusammenhang besteht zwischen der Verhinderung von natür-
sind. Ein normales Knochenszintigramm schließt insbesondere bei licher Bewegung und der Gefahr, an einem CRPS zu erkranken. Ist
Kindern und Heranwachsenden ein CRPS nicht aus. die Verhinderung von Bewegung die unverzichtbare Bedingung für
Das seltenere Vorkommen und der günstigere Verlauf des eine Erkrankung an einem CRPS? Heilt und verhindert Bewegung
CRPS bei Kindern und Heranwachsenden sind vereinbar mit der ein CRPS? Viele Zeichen sprechen für ein Ja als Antwort auf diese
Vorstellung vom komplexen regionalen Schmerzsyndrom als dem Fragen, mit den Ergänzungen: bei geerbter körperlicher Veran-
körpersprachlichen Ausdruck einer Fortdauer der trennenden lagung, bei einer Veränderung der Persönlichkeit aufgrund einer
Wirkung einer Verletzung. Bei einem CRPS trennen Angst, re- hormonellen Umstellung oder seelischer Belastungen, bei einem
flektorische Schonung und Schmerz das ehemals verletzte Glied Verlust, einer Trennung von Gemeinschaften.
auffallend lange vom Selbst der ehemals mitverletzten Person. Der Vor dem Hintergrund auch der neueren Erkenntnisse über
natürliche Schmerz infolge des Schadens der Gewebe verselbst- das CRPS bei Kindern und Heranwachsenden gilt für alle hand-
ständigt sich im »Schmerzgedächtnis« als Ursache und Folge von chirurgisch und handtherapeutisch Tätigen die Warnung: Jede
Angst vor Bewegung und aufgrund einer reflektorischen »Ausblen- (!) Schienung schadet. Eine Schienung, die unsachgemäß die Un-
dung«, und »Ausgliederung«, des ehemals verletzten Gliedes aus terarmmuskelpumpe blockiert – und das tun alle Schienen, die
dem Selbst der Person. Die krank machenden Schmerzen trennen palmar vom Unterarm bis zu den Grundgliedbeugefurchen der
die Erkrankten von ihren Gemeinschaften. Finger und darüber hinaus reichen – kann in sehr seltenen Fällen
Kinder und Heranwachsende können eine unnatürlich lange bei dazu veranlagten Kindern und Heranwachsenden die Entwick-
»Ausblendung« und »Ausgliederung« leichter überwinden als Er- lung eines CRPS fördern, mit der Dauerfolge von Schmerzen und
wachsene, weil sie allgemein einen stärkeren Drang haben, sich zu Behinderungen.
bewegen, »sich leichter vergessen« im Tun, weil sie unvorsichtiger
> Jeder Arzt, der Schienen an der Hand anlegt oder anlegen
und »mutiger« sind, weil sie leichter unbewusst lernen mithilfe
lässt, sollte die Gefahr einer unsachgemäßen Schienung auch
ihrer Sinne, weil sie ein ehemals verletztes Glied schneller wieder
für seine jungen Patienten kennen und vermeiden.
eingliedern und weil ihr natürliches Verhalten offenbar die Heilung
der noch kleinen und dennoch starken Persönlichkeiten fördert. Wir sind davon überzeugt, dass auch bei Kindern und Heranwach-
Zum Nachdenken über einen Zusammenhang zwischen einem senden anlässlich der ersten (!) Behandlung die Anleitung zum
Mangel, einer Hemmung oder gar Verhinderung von Bewegung Begreifen mit der verletzten Hand um den Mund und zum Be-
und Muskelarbeit einerseits und der Empfindung von Schmerz wegen beider Hände gleichzeitig nach dem Vorbild der gesunden
andererseits regt die Mitteilung an, dass 8 Mädchen, die einen von Hand, spielerisch auch mit gekreuzten Unterarmen, einer Dystonie
ihrer Mutter geerbten Schaden ihrer Mitochondrien hatten, auch infolge reflektorischer Schonung, einer Ausblendung der verletzten
an einem CRPS erkrankten, und die Feststellung, dass die Behand- Hand und einem CRPS vorbeugt.
lung des Mitochondrienschadens auch das CRPS besserte oder
heilte. Eine medizinische Trainingstherapie bessert die oxidative
Kapazität der Mitochondrien bei einer Erkrankung der Mitochon- 18.2 Spezielle Techniken
drien und auch von gesunden Mitochondrien. Trizyklische Anti-
depressiva (Amitriptylin) haben bekanntermaßen Wirkungen auf 18.2.1 Vorbild der heilen Hand
Mitochondrien, einschließlich der Entkoppelung der oxidativen
Phosphorylierung. Zusätzlich zur bereits im Abschn. 18.1.7.1 beschriebenen konser-
Die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Muskelarbeit vativen Therapie leiten wir an zur Überwindung des angeborenen
und der Empfindung von Schmerz wird auch nahegelegt durch und unbewussten Verhaltens mithilfe der eigenen Sinne und der
die Mitteilung, dass die CRPS-Behandlung von 103 Mädchen im beiden eigenen Hände: zur Überwindung der Hemmung der Be-
416 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
wegung, zur Überwindung der »Ausgliederung« und der »Aus- richteten Bewegungen beider Hände (⊡ Abb. 18.15). Die Bewegung
blendung« der heilenden Hand. der Finger ohne die Empfindung der schmerzauslösenden Anspan-
Bei den Übungen der natürlichen Bewegungsabläufe beim nung der Muskeln vermindert die Hemmung der Bewegung.
Faustschluss und der Fingerstreckung mit der heilen Hand
> Die Kreuzung der Unterarme bringt die heilende Hand in den
(⊡ Abb. 18.14) lernt der Betroffene, dass die (unvollständige) Bewe-
Raum der »gesunden« Körperseite, der das Hirn infolge des
gung seiner Finger keine Anspannung von Muskeln benötigt, wenn
geübten besseren Gebrauchs der »Gebrauchshand« unbe-
bei entspannten Muskeln am Unterarm die Wirkung der Schwer-
wusst mehr Aufmerksamkeit schenkt.
kraft die heile Hand abwechselnd hohlhandwärts und handrücken-
wärts fallen lässt. Wie schwach ist die Kraft, die er von seinen vor- Die Wahrnehmung ist raumbezogen, nicht gliedbezogen. Der be-
gespannten Muskeln am Unterarm fordern muss, um seine Finger wusste Blick ist gerichtet auf die gesunde Hand als Vorbild für die
vollständig zu beugen und zu strecken. Erst wenn er die gesunden Bewegungen der zu heilenden Hand (⊡ Abb. 18.16). Zur Entlastung
Finger mit der geringsten nötigen Anspannung ihrer Muskeln – vom Gewicht der Arme können diese mit den Ellenbogen auf
am Unterarm und in der Hand – sicher bewegt, wenn er »so weit einen Tisch gestützt werden. Durch die Drehung der Hände nach
ist«, wie ein 11-jähriges Mädchen einmal sagte, dann nimmt er die innen fallen diese handflächenwärts und die Finger strecken sich
heilende Hand mit, beteiligt sie an den gleichzeitigen und gleichge- ohne Anspannung ihrer Muskeln am Unterarm, nur durch ihre
»Zügelung« durch die Sehnen ihrer langen Streckmuskeln. Die
Drehung der Hände nach außen lässt diese bei entspannten Mus-
keln handrückenwärts fallen. Dabei werden die Finger ohne An-
spannung ihrer Muskeln gebeugt nur durch ihre »Zügelung« durch
die Sehnen ihrer am Unterarm tief und oberflächlich gelegenen
Beugemuskeln. Die natürlichen und Kraft sparenden Bewegungen
der Finger nutzen die Vorspannung ihrer Muskeln.
> Die Beteiligung des CRPS-Kranken an der Förderung seiner
Heilung durch die Nutzung seiner Sinne (⊡ Abb. 18.12) ist das
unersetzliche Bindeglied, das die Kette der Behandlungsmaß-
nahmen schließt (⊡ Abb. 18.10).
Der CRPS-Kranke braucht bildlich gesprochen »Fluchthilfe« aus
dem lähmenden und blendenden »Schutzreflex«, Befreiung von
der »Schockstarre« (⊡ Abb. 18.9).
Viele CRPS-Kranke starren auf ihre eigene ausgegliederte Hand
»wie das Kaninchen auf die Schlange«, weil sie sie zu bedrohen
scheint, andere vermeiden den Anblick ihrer »fremd« gewordenen
⊡ Abb. 18.14 Skizze der »natürlichen« Bewegungen der Finger, mit Nutzung Hand. Der »Schutzreflex« zwingt auch zur ständigen Beobachtung
der Vorspannung ihrer Sehnen vom Unterarm. (Aus Berger u. Hierner 2008) der scheinbar fremden und bedrohenden, CRPS-kranken Hand
18.2.2 Spiegeltherapie
a c
⊡ Abb. 18.20 Die Schienung der Finger in sog. »Funktionsstellung« auf einer
palmaren 4-Finger-Schiene schaltet die Hand im Hirn ab
Hand zeigt, erst mit der gesunden Hand zu üben und dann die
⊡ Abb. 18.19 Die »Denkermaske« versinnbildlicht den Zusammenhang zwi- Übungen mit beiden Händen gleichzeitig und mit dem bewussten
schen Denken und Begreifen Blick auf die gesunde Hand als Vorbild zu üben. Selbstverständlich
dürfen Verbände nicht den Abfluss der Lymphe und den venösen
Rückfluss stauen. Wickeln Sie möglichst keine Binden um das
bindet wieder die nicht mehr wahrgenommene Hand mit dem Handgelenk und die Mittelhand und in gar keinem Falle bis über
Hirn. Die ehemals verletzte, und bei einem CRPS die Person verlet- die Fingergrundglieder (⊡ Abb. 18.20)!
zende Hand, ist anzusehen und zu begreifen als »heilende« Hand, Bei Wunden an der Mittelhand und den Fingergrundgliedern,
im doppelten Wortsinn. Die Hand heilt mit einer überschießenden z. B. nach einer Operation wegen Dupuytren-Fingerkrümmung
Entzündung und sie heilt die Person, wenn diese sich mit der »hei- benutzen wir Baumwollhandschuhe, die in der Industrie unter
lenden« Hand begreift. Gummihandschuhen getragen werden. Schienen aus Gips oder
Die heilende Hand einigt die Person mit Hilfe der Sinne, wenn Kunststoff, die angewickelt werden, wenn sie noch weich sind,
die Person sich die heilende Hand mit Vermittlung des »Herzens«, und die Mittelhand zusammenpressen, dürfen nicht so erhärten!
mit Mut und mit »wohlwollender Neugier« wieder zu eigen macht. Während der Erhärtung müssen Sie oder Ihre Mitarbeiter mit
Mit ihrem zunehmenden Nutzen vereinigt die heilende Hand die Ihren beiden Händen die zusammengepresste Mittelhand wieder
Person mit Gemeinschaften. entfalten, indem Sie mit Ihren Daumen den 2. und den 5. Mittel-
handknochen von palmar nach dorsal drücken. Während dieser
Maßnahmen können Sie aufklären und anleiten für das notwendi-
18.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen ge Handeln mit beiden Händen zur Förderung der Heilung.
Eine unbewusste Schonung kann als alleinige Ursache ein
> Handchirurgie ist nicht harmlos. Ödem und eine Dystonie auslösen! Eine schädlich wirkende Schie-
nung kann zusammen mit anderen Ursachen Grund für ein CRPS
Scheinbar »kleine« Eingriffe können auch bei anscheinend nicht werden (⊡ Abb. 18.21).
prädisponierten Personen ein CRPS auslösen. Die Anzeige zu ei- Die Unterlassung oder Verzögerung dieser Anleitungen und
18 nem handchirurgischen Eingriff muss deshalb streng gestellt wer- Hilfen ( Abschn. 18.1.7.1) kann der Grund für eine Hinderung
den, und auch vor »kleinen« Eingriffen ist vor der zwar seltenen der Heilung der Person, für eine vermeidbar lange Dauer der Ar-
aber nicht auszuschließenden Gefahr eines CRPS, das schlimms- beitsunfähigkeit und im schlimmsten Falle, wenn dazu noch krank
tenfalls zum Verlust der Gebrauchsfähigkeit der zu operierenden machende Schmerzen wirken, der Grund für die Entkoppelung der
Hand führen kann, aufzuklären und zu warnen. Heilung zu einem CRPS sein.
Andere körperliche Ursachen, die die Beschwerden erklären
> Der erstbehandelnde Handchirurg hat die unwiederbringliche
und die durch einen handchirurgischen oder einen chirurgischen
Gelegenheit, einem CRPS vorzubeugen durch Aufklärung und
Eingriff gebessert werden können (s. Differenzialdiagnose), müs-
Anleitung.
sen durch einen erfahrenen Handchirurgen ausgeschlossen sein.
Ohne eine therapeutische Aufklärung durch den Handchirurgen Nur der erfahrene Handchirurg hat die notwendige Autorität, dem
und durch den Handtherapeuten werden nur sehr wenige an einer CRPS-Kranken glaubhaft zu versichern, dass keine fortbestehende
Hand Verletzte und/oder Operierte von sich aus die verletzte Hand oder zu bessernde Schmerzursache seine Beschwerden erklärt.
auf ihrem Kopf ablegen, die Finger bewegen mit ihren eigenen Handchirurgen, handchirurgisch tätige Unfallchirurgen, Or-
Muskeln am Unterarm, den Arm ausstreichen mit der anderen thopäden und Plastische Chirurgen, Physiotherapeuten und Er-
Hand, und vor allem, sich mit der heilenden Hand um den Mund gotherapeuten dürfen die Erkenntnisse von Neurologen und von
begreifen. Noch weniger werden versuchen, die Übungen, die ih- schmerztherapeutisch tätigen Anästhesisten dankbar annehmen
nen die Physiotherapeutin bzw. Ergotherapeutin an ihrer heilenden und ihren Patienten zu Gute kommen lassen. Das handchirurgi-
18.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
419 18
a b
c d
e f
⊡ Abb. 18.21 CRPS der rechten Hand einer 29-jährigen Patientin nach Katzenbiss am Unterarm 4 Wochen zuvor. a Oberarmschienung mit Einschluss aller
Finger bis zu den Endgliedern, b Handrückenödem mit eingedrückter Delle, c beide Hände beim Versuch des Faustschlusses, die rechten Finger in gleicher
Stellung wie auf der Schiene, d beide Hände beim Versuch der Fingerstreckung, die rechten Finger in gleicher Stellung wie auf der Schiene, e, f die Hände
derselben Patientin : 4 Wochen nach Beginn der Behandlung konnte sie ihre linken Finger wieder frei bewegen
420 Kapitel 18 · Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS)
sche Ziel der Gleichzeitigkeit von Heilung und Wiederherstellung Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten.
der Funktion darf sich nicht auf die Bewegungsfestigkeit handchi- Springer, Heidelberg
rurgisch geschaffener Verbindungen von Geweben – Knochen, Birklein F, Rowbotham M C (2005) Does pain change the brain? Neurology
Sehnen, Blutgefäßen, Nerven, Haut mit Fettgewebe – beschränken. 65: 666–667
Gleichzeitig braucht jeder Verletzte mehr oder weniger die Hilfe zu Birklein F, Schmelz M (2008) Neuropeptides, neurogenic inflammation
and complex regional pain Syndrome (CRPS). Neurosci Letters 437:
lernen, seine heilende Hand wahrzunehmen, zu nutzen und wieder
199–202
als eigen anzunehmen.
Birklein F, Baron R, Maier C, Sommer C, Tölle TR, Gradl G, Löscher W, Humm A
»Die Hand hängt am Hirn«. Je mehr Handchirurgen, handchirur- (2008) Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome
gisch tätige Unfallchirurgen, Orthopäden und Plastische Chirurgen, (CRPS) In: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; 4.
schmerztherapeutisch tätige Neurologen und Anästhesisten, Physio- Aufl. Thieme, Stuttgart
therapeuten, Ergotherapeuten und Rehamanager der Kostenträger Blaes F, Tschernatsch M, Braeu ME, Matz O, Schmitz K, Nascimento D, Kaps M,
diese nur scheinbar banale Feststellung nicht nur als Erklärungs- Birklein F, (2007) Autoimmunity in Complex-Regional pain Syndrome.
möglichkeit für die erschreckenden und rätselhaften Erscheinungen Ann N Y Acad Sci 1107: 168–173
des CRPS an der Hand begreifen, sondern diese schlichte »Erkennt- Breidert M, Hofbauer K (2009) Placebo: Missverständnisse und Vorurteile.
nis« nutzen für die Hilfe zur Vorbeugung und zur Umkehrung der Dtsch Ärztebl Int 106: 751–755
Bruehl S, Harden RN, GalerBS, Saltz S, Bertram M,Backonja M, Gayles R, Ru-
krankhaften Entwicklung in ihrem Beginn, desto weniger CRPS
din N, Bhugra MK, Stanton-Hicks M (1999) External validation of IASP
wird es geben und umso schneller wird ein CRPS heilen.
diagnostic criteria for Complex Regional Pain Syndrom and proposed
Beim CRPS löst der krankhafte und krank machende Schmerz research diagnostic criteria. Pain 81: 147–154
einer neurogenen Entzündung einen angeborenen »Schutzreflex« Bruehl St, Harden RN, Galer BS, Saltz S, Backonja M, Stanton-Hicks M (2002)
aus, der die Hand, die die Person zu bedrohen scheint, ausgliedert Complex regional pain syndrom: are there distinct subtypes and se-
und die Heilung hindert. Die bewusste und unbewusste Überwin- quential stages of the syndrom? Pain 95: 119–124
dung der instinktiven Lähmung und der Ausblendung der eigenen Bunnell St, Böhler J (1958) Die Chirurgie der Hand, Teil 1. Wilhelm Maudrich,
Hand ist die unersetzliche Eigenleistung der Person zur Wiederein- Wien
gliederung der fremd gewordenen Hand. Butler DB, Moseley LM (2005) Schmerzen verstehen. Springer, Heidelberg
Die Ausgliederung ihrer Hand macht die am CRPS erkrankte Butler S H, Nyman M, Gordh T (1999) Immobility in volunteers produces signs
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Person krank. Jede Form einer »Behandlung« bzw. »Beübung«, die
Congress on Pain, August 22–27, 1999, Vienna, Austria
nicht erkennt, dass die Ausgliederung ihrer Hand die erkrankte
Butler S H, Nyman M, Gordh T (1999) PET Changes with immobilisation; Is
Person krank macht, und die nur die Symptome der Krankheit zu this evidence for a Neglect-like state? Abstracts, 9th World Congress on
bessern versucht, wie den Schmerz oder die Störung der Bewegun- Pain, August 22–27, 1999, Vienna, Austria
gen, oder jede Therapie, die nur die betroffenen Teile des Körpers Covington EC (1996) Psychological issues in reflex sympathetic dystrophy. In:
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CRPS-Kranke, nämlich die Ausgliederung der Hand, vergisst sie Seattle, S 191–215
ebenso wie der CRPS-Kranke. Das Übersehen und die Nichtbe- DeGood DE, Shutty MS (1992) Assesment of Pain Beliefs, Coping, and Self-
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Sinne, aber das Ausblenden des Schutzreflexes durch die Behan-
Devor M (2009) Ectopic discharge in A-beta afferents as a source of neuropa-
delnden trägt zur Verzögerung oder zur Verhinderung der heilen-
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den Eigenleistung der Person bei. Devor M (2009) Editorial. Nerves hurt. Eur J Pain 13: 1–2
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der sie »an die Hand nimmt« und die Behandlung vermittelt. Diese Engel GL (1995) Wie lange noch muß sich die Wissenschaft der Medizin auf eine
Person des Vertrauens erklärt ihr, auf welche Weise die verschiede- Weltanschauung aus dem 17. Jahrhundert stützen?. In: Uexküll T von (Hrsg)
nen Formen der Behandlung wirken und sie fordert und überwacht Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München, S 3–11
die Beteiligung des CRPS-Kranken an seiner eigenen Behandlung Field J, Protheroe DL, Atkins RM (1994) Algodystrophy after Colles fractures is
nach der Faustregel: »Mit den eigenen Sinnen und den eigenen associated with secondary tightness of casts. J Bone Joint Surg 76–B: 901–5
18 Händen«. Therapien können die Wiedereingliederung der »verlore- Field J, Warwick D, Bannister GC (1992) Features of algodystrophy ten years
after colle’s fracture. J Hand Surg 17B: 318–320
nen« Hand zwar fördern, aber nicht bewirken. Die eigentliche Hei-
Gallagher RM (2007) Diagnostic Criteria for CRPS: Balancing the needs of
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19
19.1 Allgemeines
Das CRPS I gilt in der Handtherapie als eines der heute immer noch
am schwersten zu therapierenden Krankheitsbilder. In vielen thera-
peutischen Büchern wird über CRPS I und deren ergo- und physio-
therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten geschrieben. Innerhalb
des Literaturangebots fällt auf, dass es im deutschsprachigen Raum
kein einheitliches Behandlungskonzept gibt. Daher ist es nicht ver-
wunderlich, dass sich sehr viele Experteninventarisierungen mit un-
genügendem wissenschaftlichem Hintergrund finden lassen. Daher
scheint eine evidenzbasierte Medizin, vor allem im Bereich der phy-
sikalischen Therapie, welche einen Eckpfeiler des Behandlungskon-
zepts des CRPS I darstellt, fast unmöglich. Vielleicht liegt darin mit
begründet, dass nur ein Viertel der CRPS-Patienten nach 18 Mona-
ten wieder ihre ursprüngliche Arbeit aufnehmen konnte, bei einem
weiteren Viertel blieb die Arbeitsunfähigkeit bestehen. Daher ist es ⊡ Abb. 19.1 CRPS-I-Patient im Stadium I
langfristig wichtig, die Therapie auf eine möglichst evidenzbasierte
allgemeingültige Vorgehensweise zu beschränken. Auf diesem Fun-
dament und dem momentanen internationalen Wissenstand beruht als Entstehungsursache von CRPS I (van der Laa u. Jan 1997).
im weitesten Sinne diese Konzeption in der konservativen Therapie Freie Radikale entstehen auch bei normalen physiologischen Stoff-
des CRPS I (⊡ Abb. 19.1). wechselprozessen, z. B. bei einer Muskelkontraktion und der da-
mit verbundenen Bewegung. Im Normalfall können körpereigene
Stoffwechselreaktionen diese freien Radikale neutralisieren. Bei
19.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und einer Entzündung kann es zu einer Dysbalance zwischen der
Physiologie Anzahl freier Radikale und deren Neutralisierung kommen. So-
mit entsteht ein Überschuss an freien Radikalen im Gewebe, ein
19.1.2 Epidemiologie Kap. 18 sog. oxidativer Stress. Freie Radikale sind aufgrund von mehreren
ungepaarten Elektronen sehr reaktionsfreudig und können oxida-
19.1.3 Ätiologie Kap. 18 tive Reaktionen vielfältiger Art auslösen (Zalpour). Insbesondere
beim CRPS I kommt es zur Bildung von freien Radikalen, welche
19.1.4 Diagnostik Kap. 18 zur massiven Ausprägung der lokalen Entzündung mit beitragen.
Passive und aktive Muskel- und Gelenkmobilisationen vonseiten
19.1.5 Klassifikation Kap. 18 der Therapeuten sowie die Verrichtung von Alltagsaktivitäten der
Patienten würden diesen Prozess noch begünstigen und somit zur
19.1.6 Indikationen und Differentialtherapie Kap. 18 Verstärkung der Entzündungsreaktion beitragen. Da DMSO als
Antioxidans freie Radikale bindende Eigenschaften besitzt, liegt
19.1.7 Therapie Kap. 18 hier die Begründung in der Indikation beim CRPS. Somit kann
die Applikation von DMSO helfen, die Entzündungsreaktion beim
Konservative (nichtoperative) Therapie CRPS I zu mindern und eine entsprechende Schmerzreduktion zu
Die Handtherapie ist ausgerichtet auf: erwirken. Zudem ermöglicht DMSO eine frühzeitige passive und
▬ eine Wiederherstellung des verloren gegangenen Muskeltonus, aktive handtherapeutische Mobilisation von Muskeln und Gelen-
der Muskelkraft und -ausdauer und der Gelenkbeweglichkeit, ken bei gleichzeitiger Neutralisierung von entzündungsfördernden
▬ eine Rückbildung von Kontrakturen und freien Radikalen.
▬ eine Prävention von solchen Funktionsstörungen. In einer Studie von Langendijk et al. (1993) wurde in einer
Fallserie von 38 CRPS-I-Patienten (17 Männer und 21 Frauen im
Lokale schmerz- und entzündungshemmende Alter zwischen 10 und 77 Jahren) DMSO 50%tig in einer Salben-
medikamentöse Therapie unter Berücksichtigung form (»cremor vasilini cetomacrogolis«) angewandt. Die Creme
der Reduktion von freien Radikalen innerhalb wurde 5-mal täglich auf die betroffene Extremität aufgetragen. Im
19 einer handtherapeutischen Bewegungstherapie Falle von Hautirritationen sollte die Frequenz von 3-mal täglich ge-
beim CRPS I wählt werden. Zusätzlich zur Behandlung mit DMSO wurden alle
Medikamentöse Reduktion von freien Radikalen beim CRPS I Patienten und deren Therapeuten dazu angeleitet, unter Berück-
Dimethylsulfoxid ((CH3)2SO) oder kurz DMSO sowie N-Acetylcy- sichtigung der Schmerzgrenze, Bewegungsübungen auszuführen.
stein (NAC) wirken vermutlich durch eine Verminderung der im Die Patienten wurden während eines ganzen Jahres, nach vorher
Rahmen der Gewebetraumatisierung beim CRPS I freigesetzten festgelegten Diagnosekriterien, immer wieder aufs Neue beurteilt.
zytotoxischen und die Nozizeptoren reizenden freien Radikale Bei 36 Patienten (97%) konnte eine erfolgreiche Therapie beobach-
(Rüegg 2010). Obwohl es sich bei DMSO um ein Arzneimittel han- tet werden. Die Hauttemperatur normalisierte sich und das Ödem
delt, kann es durch seine Anwendungsform als Creme auch vom sowie die Hautrötung hatten sich zurückgebildet. Auch konnte
Handtherapeuten angewandt werden. Wichtig sind bei der Arbeit eine signifikante Schmerzreduktion erwirkt werden. Der Patient
mit DMSO die Einbindung und eine schriftliche Einverständniser- und der Therapeut gaben über den Therapieverlauf ein positives
klärung des behandelnden Arztes. Statement ab. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen in einer Dop-
Der Gebrauch von DMSO zur Behandlung von CRPS-I-Pa- pelblinstudie Zuurmond et al. (1996). Sie verglichen die Behand-
tienten gründet auf der Theorie einer übermäßigen Entzündung lung von 32 akuten CRPS-I-Patienten mit DMSO 50%tig in einer
19.1 · Allgemeines
425 19
Sauerstoffsynthese und somit zu einer erhöhten Freisetzung von
freien Radikalen führt, sollte das Auftragen der DMSO-Salbe im
Vorfeld einer Bewegungstherapie erfolgen. Im Anschluss ist die von
der Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Neurologie adaptierte
Mobilisation (unter Brücksichtigung der manuellen Therapie) und
Aktivierung über die rumpfnahen Gelenke (BWS/HWS – Schulter-
gürtel – Ellenbogen – Hand) indiziert. Da DMSO auch eine ödem-
reduzierende Wirkung zugesprochen wird (Langendijk) kann von
einer Lymphdrainage abgesehen werden. Zudem haben Studien
gezeigt, dass eine Lymphdrainage keinen wesentlichen Einfluss auf
die Ödemreduktion hinsichtlich eines CRPS I hat. Um nächtliche
Aktivitäten mit der betroffenen Extremiät auszuschließen, d. h. der
somit möglichen Freisetzung von freien Radikalen vorzubeugen,
ist die Adaption einer Nachtlagerungsschiene anzuraten.
⊡ Abb. 19.3 Biofeedback-System in der Therapie ⊡ Abb. 19.5 Globale aktive Bewegungsübung
Ergänzende Maßnahmen
Zwischen den einzelnen Therapiephasen sowie mehrmals täglich
soll der CRPS-I-Patient seinen betroffenen Arm für ca. 45 Minu-
ten hochlagern (List) und somit auch entlasten. Damit wird der
⊡ Abb. 19.4 Manuelle Therapie am Handgelenk hydrostatische Gewebedruck vermindert und eine weitere Ödem-
reduktion angebahnt. Zudem sind leichte Ellenbogen- und Schul-
terübungen anzuraten. Die Extremität wird dabei vom Patienten
werden. Eine gute Hilfe stellen bei entzündlichen Prozessen auch mehrmals, d. h. im möglichst schmerzfreien Bewegungsausmaß, in
EMG bzw. Biofeedback-Systeme dar (⊡ Abb. 19.3). Abduktion und Elevation geführt. Diese Übung dient der Präventi-
Am Beispiel des Radiokarpalgelenks erfolgt eine schmerzlin- on von sekundären Bewegungseinschränkungen von Schulter und
19 dernde Traktion aus der aktuellen Ruhestellung dieses Gelenks in Ellenbogen sowie zur weiteren Unterstützung der Ödemreduktion
den Traktionsstufen 0, I und II (Bayer). Die Traktion wird dabei (Fleischhauer et al.). Auch mittels dieser kleinen Maßnahmen kann
über einen definierten Zeitraum gehalten oder intermittierend eine weitere Schmerzlinderung erwirkt werden. Wichtig ist, den
bzw. oszillierend angewandt; auch über kombinierte Druck- und CRPS-I-Patienten zu motivieren sich selbst aktiv am Genesungs-
Zugtechniken, sog. Push-pull-Technik, kann schmerzsenkend über prozess zu beteiligen.
die Regulierung der Kapselspannung Einfluss genommen werden Bei sehr akuten und schmerzhaften CRPS-I-Prozessen kann
(Streeck). Akzessorische Techniken beinhalten passive Bewegun- eine Bewegungsanbahnung über die kontralaterale Seite in Erwä-
gen, die aktiv in den zu therapierenden Gelenken physiologisch gung gezogen werden. Die Behandlung wird über die gesunde Seite
nicht durchführbar sind (Maitland). Sie dienen als Gradmesser für eingeleitet, d. h. mittels rhytmischer Bewegungen an den rumpfna-
die Einschränkung der betroffenen Gelenke (⊡ Abb. 19.4). hen Gelenken unter Einbindung des gesamten Körpers. Mittels des
Zeigen sich bereits Defizite des Gelenkspiels (»joint play«), bie- arthrokinetischen Reflexbogens kann die intersegmentale nervöse
ten sich manuelle Gleitmobilisationen an, die unter Berücksichti- Verknüpfung die vegetative Regulation auf der betroffenen Seite
gung der arthrokinematischen Gegebenheiten entsprechend der spe- fördern. Der Bewegungsprozess wird zunehmend von der CRPS-I-
zifischen Gelenkkurvatur, orientiert an der Konkavität durchgeführt Hand übernommen.
19.1 · Allgemeines
427 19
Schmerzhemmende Maßnahmen auf segmentaler
Ebene und Prävention bzw. Behandlung von
segmentalen- und insbesondere von zentralen
Schädigungen (Chronifizierung) beim CRPS I
Schmerzhemmende segmentale Techniken im Rahmen einer mul-
tidisziplinären CRPS-I-Therapie erfolgen unter zwei Voraussetzun-
gen. Erstens versteht auch der Handtherapeut unter dem CRPS I ein
mehrdimensionales und komplexes Krankheitsbild und zweitens
ist er in der Lage auf die vielschichtigen Probleme seines Patienten
einzugehen. Segmentale manualtherapeutische Techniken verfolgen
zwei Ziele. Sie sollen regulierend auf die einem Segment zugehöri-
gen Gewebe einwirken und damit pathologische Gewebsreaktionen,
die durch ein CRPS I ausgelöst werden, positiv beeinflussen. Neben
den klinischen Symptomen wie Dysästhesie, Hyperalgesie und Al-
lodynie kommt es beim CRPS I auch zu motorischen Störungen, die
die Koordination, die Feinmotorik und die Kraft betreffen (Nickel
u. Mailhöfner). Die Symtome müssen sich nicht auf einen lokalen
Bereich beschränken; sie können sich in der segmentalen Ebene
darstellen. Durch die Sensibilisierung des peripheren und zentralen
Nervensystems können neurodynamische Tests Indikatoren für ein ⊡ Abb. 19.6 Mobilisation der Kostovertebralgelenke aus Bauchlage
CRPS I sein. Zusätzlich kommt es bei den Segmenttechniken zu ei-
nem therapeutischen Nebeneffekt: Für die Dauer der Handtherapie
kann der Patient schlechter fokussieren, er ist abgelenkt und damit
für Therapieaspekte zugänglicher. Allgemeine Begleiterscheinungen
wie Schonhaltungen, Ausweichbewegungen und Vermeidungsstra-
tegien können als solche erkannt, zwischen Patient und Handthe-
rapeut kommuniziert und so vermieden bzw. reduziert werden.
Folgende Gewebe können über das Segment therapiert werden:
▬ Haut: Bindegewebsmassage, thermische Applikationen;
▬ Muskulatur: postisometrische Relaxation (PIR), Stabilisation
und Training, Triggerpunkttherapie, Massage, Elektrotherapie
etc.;
▬ Gelenke: translatorische Gleitmobilisation, Traktion und Kom-
pression sowie grundsätzliche Haltungsschulung.
erklären. Eine der Aussagen dieser Theorie besagt, dass eine Akti- Moseley zeigte 2004 Patienten mit CRPS I der oberen Extremität
vität in den großen myelinisierten primär afferenten Nervenfasern Bilder von linken und rechten Händen in verschiedenen Stellungen.
(A-Fasern) über inhibitorische Kreisläufe, in der oberflächlichen Er zeichnete auf, wie lange die Patienten benötigten, um zu erken-
Lamina des dorsalen Rückenmarkhornes, die Transmission von nen, ob eine linke oder eine rechte Hand dargestellt wurde. Die Pati-
Aktivität in den kleineren unmyelinisierten primär afferenten Fa- enten konnten die nicht betroffene Extremität schneller zuordnen als
sern (C-Fasern) inhibiert . Zusätzlich zu diesen inhibitorischen die der pathologischen Seite. Je länger das CRPS I fortbestand, umso
Vorgängen auf Rückenmarksebene scheinen diese großen myeli- länger dauerte die Reaktionszeit. Bei 45% der Patienten bestand ein
nisierten Fasern auch noch spezifische Schmerzkontrollzentren Zusammenhang zwischen der Zeit, welche zur Erkennung benötigt
im Hirnstamm zu aktivieren, welche ihrerseits über absteigende wurde, und der vom Patienten eingeschätzten Schmerzintensität,
Bahnen die Schmerzweiterleitung zu höheren Zentren kontrollie- welche er erfahren würde, wenn er seine Extremität in die gezeigte
ren können (Ottoson u. Lundeberg). Vermutlich spielt auch die Position bringen müsste. Der Autor konnte keine direkten Zu-
Freisetzung endogener Morphin-(Opiat-)ähnlicher Substanzen bei sammenhänge zwischen den momentan tatsächlich empfundenen
der Schmerzunterdrückung eine Rolle. Das Prinzip der TENS- Schmerzen und dem Zeitfaktor zur Erkennung und Zuordnung der
Anwendung beruht also auf einer Aktivierung der A-Fasern, deren Handbilder feststellen. Er erklärte diese Befunde mit der Hypothese,
Aktivitätsschwelle niedriger liegt als die der C-Fasern, ohne dass dass beim CRPS I eine Umstrukturierung des sensorischen und mo-
hierbei die C-Fasern mit gereizt werden. torischen Kortex in Abhängigkeit von der Persistenz der Symptome
Für die Wirksamkeit einer TENS-Therapie bei CRPS-I-Patien- stattfindet. Außerdem vermutete er einen Schutzmechanismus auf
ten bestehen noch keine wissenschaftlichen Beweise (Nederlandse imaginärer Ebene, d. h., dass bereits bei der Planung einer Bewegung
Vereniging van Revalidatieartsen en Nederlandse Vereniging voor die zentrale Ebene die zur Ausführung der Bewegung geschätzten
Anesthesiologie). Fest steht allerdings, dass die TENS-Behandlung, Schmerzen mit im Empfinden berücksichtigt. Dies würde auch den
mit Ausnahme von allergischen Hautreaktionen, bei ungefähr 10% Zusammenhang zwischen geschätzter Schmerzintensität und Zuord-
der Patienten ohne Risiko als zusätzliche Therapie beim CRPS I nung der Seitenzugehörigkeit eines Bildes erklären.
ausprobiert werden kann. Hierbei scheint die Behandlung allein McCabe, Haigh, Halligan u. Blake (2003) fanden bei 5 von
Sinn zu machen, wenn sie vom Patienten als wirksam erfahren 16 CRPS-I-Patienten einen übertragenen Schmerz. Dieser war nur
wird. Dem Patienten kann dabei die Freiheit gegeben werden em- bei geschlossenen Augen durch Berührung oder Reizung mittels
pirisch die Stimulationsparameter mitzubestimmen, um so eine Nadelstich auslösbar und verschwand gleichzeitig mit dem Reiz.
maximal komfortable Parästhesie zu erreichen (⊡ Abb. 19.8). Das Erstaunliche an dieser Entdeckung war der Fakt, dass der
übertragene Schmerz nicht etwa in einem Segment, sondern in
CRPS-I-Behandlung auf der zentralnervösen Ebene einem dem gereizten Areal auf Penfields kortikalem Homunkulus
Ist eine lokale und segmentale Therapie nur bedingt oder wir- nahe liegenden Körperteil (Nasen-Wangen-Areal) auftrat. Außer-
kungslos, muss über eine zentrale Mitbeteiligung nachgedacht wer- dem konnte der übertragene Schmerz auch umgekehrt werden.
den. Einen direkten Hinweis auf eine zentrale Mitbeteiligung kön- Durch die Reizung des Körperteils, wo der Schmerz auftrat, wurde
nen zudem auch die Primärsymptome geben. Neben Schmerzen ist eine übertragene Empfindung in den Körperabschnitt der ersten
bei 76% der Patienten mit CRPS I das Imponieren von handschuh- Reizung herbeigeführt. Die Autoren sahen hierin einen Beweis
förmigen Sensibilitätsstörungen wie Hyperästhesien oder eine ver- für das Stattfinden einer zentralsensorischen Reorganisation bei
minderte Fähigkeit zur Lokalisation taktiler Stimuli ein direkter CRPS-I-Patienten.
zentraler Hinweis. Auch diese Symptome lassen sich bereits im Neben diesen empirischen Beweisen für eine zentrale Reorga-
Frühstadium neuroanatomisch nicht mit der Läsion eines periphe- nisation gibt es mittlerweile auch einige funktionale Magnetreso-
ren Nervs, des Plexus oder einer Nervenwurzel erklären. nanzuntersuchungen der betroffenen Hirnareale, welche eine Neu-
strukturierung bei CRPS-I-Patienten belegen. So konnten Maihöf-
ner, Handwerker, Neundörfer u. Birklein durch die Untersuchung
von 12 CRPS-I-Patienten der oberen Extremität, mittels einer Ma-
gnetresonanzenzephalografie, eine signifikante Schrumpfung des
Abstands der Repräsentation des 1. und 5. Fingers auf dem primä-
ren sensorischen Kortex sowie des Abstandes zwischen der Mitte
der Hand und der unteren Lippe, im Vergleich zur gesunden Seite,
belegen. Das erklärt auch, warum Patienten eine Misslokalisation
im Bereich der ipsilateralen Unterlippe und Wange bei Berührung
19 der CRPS-I-Hand empfunden haben (Nickel u. Maihöfner). Die
Schrumpfung korrelierte mit den durch im »McGill-Fragebogen«
gefundenen Schmerzen sowie mit der mechanischen Hyperalgesie
(Maihöfner, Handwerker, Neundörfer u. Birklein). Zusätzlich wa-
ren die zu der betroffenen Extremität gehörenden magnetischen
Felder (Messung der somatosensorisch evozierten Magnetfelder,
SEF), als Folge auf einen taktilen Reiz signifikant größer als die
der gesunden Extremität. Zu dem gleichen Ergebnis kamen auch
Juottonen, Gockel, Silén, Hurri, Hari u. Forss. Außerdem fan-
den sie eine Veränderung der Reaktivität des 20-Hz-Rythmus
des motorischen Kortex auf den taktilen Stimulus, woraus sie
ein Veränderung der Inhibitionsvorgänge des motorischen Kortex
schlussfolgerten. Sie kommen daher zu dem Ergebnis, dass chroni-
⊡ Abb. 19.8 TENS-Applikation HWS und BWS sche Schmerzen zu einer Beeinflussung der zentralen, taktilen und
19.1 · Allgemeines
429 19
motorischen Verarbeitung führen können. Ähnliche Phänomene der 2. Phase wurden den Patienten Bilder der betroffenen Hand ge-
sind auch nach Armamputationen beschrieben worden. zeigt und sie wurden aufgefordert sich vorzustellen, ihre Hand in die
Wie bereits bei Phantomschmerzen in Studien belegt, soll auch auf den Bildern gezeigte Stellung zu bewegen. Dies sollten sie auch
die Problematik beim CRPS I in einem Missverhältnis zwischen 3-mal in jeder wachen Stunde ausführen, wobei der Schwerpunkt
der motorischen Intention und dem propriozeptiven Feedback nicht auf der Schnelligkeit, sondern der Genauigkeit der vorgestell-
liegen. Bei Phantomschmerzen wird vermutet, dass der motorische ten Bewegung lag. Auch hier zeichnete ein Programm die Dauer,
Kortex nach wie vor Befehle zu der nicht mehr vorhandenen Ext- welche zur Ausführung benötigt wurde, auf. Die 3. und letzte Phase
remität sendet, welche jedoch nicht ausgeführt werden können. Es bestand aus Spiegeltherapie. Hierbei wurde der betroffene Arm des
kommt also nicht zu dem erwarteten propriozeptiven Feedback. Patienten in einer sog. »Mirror Box« versteckt, an deren medialer
Werden Bewegungen mit der gesunden Extremität mittels eines Seite sich ein Spiegel befand. So sah der CRPS-I-Patient anstelle sei-
Spiegels ausgeführt, bekommt das Gehirn über die Augen die In- nes betroffenen Armes das Spiegelbild seiner gesunden Extremität.
formation, dass beide Extremitäten vorhanden seien. Damit wird Dem Patienten wurden wieder 20 verschiedene Bilder, diesmal mit
ein visuelles Feedback für Bewegung geliefert. Wegen der Ähnlich- weniger aufwendigen Handhaltungen, gezeigt. Er sollte dann die
keit der Veränderung des sensorischen Kortex beim CRPS I mit dargestellte Haltung 10-mal zu jeder wachen Stunde langsam und
Amputationspatienten, wird diese Form der Therapie mittlerweile flüssig mit beiden Händen annehmen. Hierbei sollte der CRPS-I-
auch bei CRPS-I-Patienten eingesetzt. Patient vor allem auf das Spiegelbild seiner gesunden Extremität
Eine weitere Methode zur Behandlung der zentralen Kom- achten. Stiegen die Schmerzen während oder direkt nach der Spie-
ponente beim CRPS I könnten imaginäre Bewegungen (»motor geltherapie, so sollten die Probanden die Übungen unterbrechen.
imagery«) mit dem Ziel das »Gehirn zu trainieren« sein. Diese Es wurde von jedem CRPS-I-Patienten Buch über die Therapie ge-
Behandlung kann auch mit der Spiegeltherapie kombiniert wer- führt. Als Messung füllten die Patienten die »Neuropatic Pain Scale«
den. Dass imaginäre Bewegungen überhaupt einen Einfluss auf (NPS) vor dem Beginn der Studie nach 2, 4, 6 und 12 Wochen aus.
die CRPS-I-Symptomatik haben, konnten Moseley et al. (2008) Außerdem wurde der Fingerumfang gemessen. Alle Messungen
erst kürzlich belegen. Sie forderten 37 Patienten mit chronischen wurden von einem geblindeten Therapeuten ausgeführt. Nach den
Schmerzen (wovon 18 CRPS-Patienten waren) auf, sich die Aus- ersten 6 Wochen konnten bereits 2 und nach 12 Wochen 4 Patien-
führung einiger Bewegungen, deren Endhaltung sie auf einem Foto ten der Interventionsgruppe die Diagnosekriterien für CRPS I nicht
sahen, vorzustellen. Sofort nach der imaginären Bewegung sowie mehr halten. Sowohl auf dem NPS, dem Fingerumfang, wie bei der
1 Stunde später wurden Schmerz und Schwellung der betroffe- Zeit zur Erkennung der Seitenzugehörigkeit einer gezeigten Hand,
nen Extremität gemessen. Bei allen CRPS-I-Patienten waren die konnten mit dem Programm signifikante Verbesserungen erreicht
Schmerzen und die Schwellung sofort nach den vorgestellten Be- werden. Diese Verbesserungen hatten auch 6 Wochen nach Beendi-
wegungen höher als davor. Während der imaginären Bewegungen gung des Programms Bestand. In der Kontrollgruppe, welche 2- bis
wurde keine muskuläre Aktivität gefunden. Die Kontrolle erfolgte 3-mal wöchentlich mit einfacher Physiotherapie behandelt wurde,
mittels Elektromyogramm. Somit haben die hier aufgetretenen konnten, bis zum Zeitpunkt des Wechsels in das Behandlungs-
Reaktionen mit großer Wahrscheinlichkeit einen kortikalen, nicht programm, keine Änderungen der 3 Variablen gemessen werden.
aber über Stimulation nozizeptiver Afferenzen hervorgerufenen Während des Behandlungsprogramms verbesserten sich dann auch
Ursprung. bei diesen Patienten alle gemessenen Werte signifikant und 2 von
Die handtherapeutische Relevanz dieser Studien liegt darin, ihnen erfüllten nach 12 Wochen die Diagnosekriterien nicht mehr.
dass es auf zentralnervöser Ebene beim CRPS I zu Veränderun- Daraus kann geschlossen werden, dass ein zentrales Behandlungs-
gen kommt. Somit sollte heutzutage das CRPS I nicht länger nur programm effektiver ist, als die normal weitergeführte therapeuti-
auf einer peripheren und segmentalen Ebene behandelt werden. sche Betreuung beim CRPS I.
Vielmehr sind Veränderungen in der Größe und der Organisa-
tion unserer somatosensorischen Karte sowie Veränderungen im
motorischen Kortex und bei der Körperwahrnehmung deutliche
Zeichen für eine zusätzliche kortikal bezogene Therapie.
In einer einfach geblindeten randomisierten kontrollierten Stu-
die stellte Moseley (2004) ein Therapieprogramm (»graded motor
imagery«; ⊡ Abb. 19.9) zur Behandlung chronischer CRPS-I-Pati-
enten vor. Hierzu wurden 13 Patienten mit CRPS I der oberen Ex-
tremität nach nicht komplizierten Handgelenkfrakturen, bei denen
die Symptome bereits länger als 6 Monate bestanden, in zwei Grup-
pen randomisiert. Die Kontrollgruppe setzte die bisherige Behand-
lung fort und sollte bei Gelingen des Programms anschließend als
»Cross-over«-Gruppe von der gleichen Behandlung profitieren. Die
Interventionsgruppe wurde einem »Motor-Imagery«- Programm
unterzogen. Die Dauer der Intervention betrug 6 Wochen und teilte
sich in drei 2-wöchige Phasen auf. In Phase 1 wurden den Patienten
aus einem Pool von 84 Bildern Hände gezeigt und die CRPS-I-Pa-
tienten mussten die Seitenzugehörigkeit der Hand erkennen, indem
sie einen von zwei Knöpfen auf einem Computer drückten (links
oder rechts). Die Patienten bekamen ein Notebook mit den Bildern
mit nach Hause und sollten diese Aufgabe 3-mal (ungefähr 10 min)
in jeder wachen Stunde ausführen. Hierbei wurden die Zeit zur Er-
kennung und die Erkennungsrate vom Notebook aufgezeichnet. In ⊡ Abb. 19.9 »Graded-Motor-Imagery«-Trainingskarte
430 Kapitel 19 · Therapie des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS-I) aus handtherapeutischer Sicht
In einer weiteren ähnlichen Studie untersucht der gleiche Au- Bewegen war dahingegen nur erfolgreich, wenn es auf die Seiten-
tor (Moseley) den Effekt seines »Motor-Imagery«-Programms bei zugehörigkeitserkennung folgte. Auch die Spiegeltherapie war nur
Patienten mit Phantomschmerz nach Amputation, Patienten mit nach dem imaginären Bewegen und nicht nach der Seitenzugehö-
Schmerz nach Durchtrennung des Plexus brachialis sowie CRPS- rigkeitserkennung effektiv.
I-Patienten. Hierzu wurden 51 Patienten, wovon 37 CRPS-I-Pati- Somit kann eine Symptomverbesserung nicht auf eine erhöhte
enten waren, in 2 Gruppen randomisiert. Die Interventionsgruppe Aufmerksamkeit für die betroffene Extremität zurückgeführt wer-
wurde mit dem gleichen 6-wöchigen »Graded-Motor-Imagery«- den. Weil die Patienten der Gruppe 1 größere Verbesserungen
Programm, die andere mit Standardmedikation und mindestens erzielten als die anderen Gruppen, aber auch weil imaginäres
einmal in der Woche mit Physiotherapie behandelt. Zur Mes- Bewegen und Spiegeltherapie nur in der richtigen Reihenfolge zu
sung sollten die Patienten 5 Aktivitäten nennen, welche seit der Verbesserungen führten, ist damit die Theorie einer schrittweisen
Verletzung nicht mehr wie gewohnt ausgeführt werden konnten, Aktivierung motorischer Netzwerke im Kortex beim CRPS I an-
und auf einer numerischen Skala (NRS) zwischen 0 (nicht mehr zunehmen. Außerdem liefert diese Studie eine weitere Bestätigung
ausführbar) und 10 (normal ausführbar) angeben, wie gut die Auf- der Wichtigkeit, gehirnspezifisches Training mit in die Therapie
gabe momentan gelingt. Des Weiteren wurde von den Patienten bei CRPS-I-Patienten einzubeziehen.
ein McGill-Schmerzfragebogen ausgefüllt sowie die Schmerzen Mit Erreichen einer annähernden Schmerzfreiheit geht der
auf einer VAS-Skala angegeben und vor und nach der Therapie CRPS-I-Patient in ein Stabilisations- und in ein alltagsbezogenes
bei CRPS-I-Patienten überprüft. Für die Patienten mit Phantom- Reaktivierungsprogramm »graded exposure« über.
schmerz wurden außerdem noch Hyperalgesie und Allodynie der
Stümpfe sowie Schwellung, Temperatur und motorische Störungen Wiederherstellung von spezifischen Bewegungs-
bei den Plexus-Patienten gemessen. Alle Therapeuten, welche Mes- abläufen, von Alltagsbewegungen »graded exposure«
sungen vornahmen, waren geblindet. Sofort nach der 6-wöchigen und Stabilitätstraining beim CRPS I
Behandlung ergab sich wieder für die Interventionsgruppe gegen- Beim CRPS-I-Patienten gehen zunehmend die aktive Kontrolle
über der Kontrollgruppe eine deutliche Durchschnittsverbesserung über die Bewegungen, das Gefühl für die Kraftdosierung von ge-
des Schmerzes und bezüglich der Aktivitäten. zielten Aktivitäten, das Gefühl für die Stellung einer Extremität im
In einer dritten Studie will der gleiche Autor (Moseley) her- Raum sowie die Geschwindigkeit und Beschleunigung einer zielge-
ausfinden, worauf die Wirksamkeit seines Behandlungsprogramms richteten Bewegung verloren. Auch fällt dem CRPS-I-Patienten der
beruht. Er stellt hierfür zwei mögliche Hypothesen in den Raum, Wechsel von abgestuften, unterschiedlichen Kontraktionsformen
welche es zu untersuchen gilt. Zum einen könnten die Verbes- selbstverständlich erscheinender motorischer Abläufe im Alltag
serungen durch eine erhöhte Aufmerksamkeit für die betroffene schwer. Die Konzentration und Fixierung auf die offensichtliche
Extremität entstehen. Zum anderen könnte das Programm schritt- Einschränkung und die nicht enden wollenden Schmerzen mani-
weise kortikale Mechanismen in Gang setzen, welche eine Verbin- pulieren und dirigieren nicht nur die motorischen Bewegungsab-
dung zu Bewegungsmechanismen haben, ohne jedoch Schmerzen läufe, sie verändern das Bewegungsverhalten des betroffenen Pati-
auszulösen. Er stellt daher die Hypothese auf, dass, sofern die enten immens. Die Selbstständigkeit geht verloren und es können
Wirkung wirklich nur auf einer erhöhten Aufmerksamkeit beruht, neben dem starken Schmerzgeschehen psychische Erkrankungen
die Reihenfolge der einzelnen Phasen keine Rolle spielen dürfte. entstehen. Dieser Tatsache muss sich ein Handtherapeut bewusst
Passiert jedoch etwas auf kortikale Ebene, so müssten sich durch sein; ein CRPS-I-Patient darf nicht als Summe physiologischer De-
Abänderung der Phasenreihenfolge auch die Therapieeffekte ver- fizite verstanden werden, sondern als ein in seiner Wahrnehmung
ändern. Um diese Hypothesen zu überprüfen, wurden 20 CRPS- und Darstellung irritierter und eingeschränkter Mensch. Einfachs-
I-Patienten mit Beschwerden (länger als 6 Monate) in 3 Gruppen te Bewegungsabläufe müssen somit hinterfragt, geübt, kontrolliert
randomisiert. Die Gruppenbehandlung unterschied sich hierbei und verfeinert werden. Dynamometer helfen bei der Aufstellung
lediglich in der Reihenfolge der einzelnen Phasen des »Graded- von Übungs- bzw. Trainingsparametern, können sich motivie-
Motor-Imagery«-Programms (Seitenzugehörigkeit erkennen, ima- rend für den CRPS-I-Patienten auswirken und dokumentieren
ginäres Bewegen, Spiegeltherapie). Zusätzlich wurden die Phasen die therapeutische Entwicklung. Auch die inflammatorische Kom-
in ihrer Dauer modifiziert, sodass alle Therapiephasen ungefähr ponente des CRPS I kann bei aktiven Übungen als Indikator für
gleich lang waren, um einer unterschiedlichen Gewichtung durch Überdosierungen beobachtet werden. Hier helfen kontinuierliche
den Faktor Zeit vorzubeugen. Gruppe 1 wurde so in der vom Hautmessungen, verlässlich auf überschießende Reaktionen bzw.
»Graded-Motor-Imagery«-Programm bekannten Reihenfolge be- Überforderungen zu reagieren, und helfen somit diese über eine
handelt: Seitenzugehörigkeit erkennen – imaginäres Bewegen – komplette Therapieeinheit zu vermeiden (⊡ Abb. 19.10).
19 Spiegeltherapie. Gruppe 2 hatte die Reihenfolge: imaginäres Be-
wegen – Seitenzugehörigkeit erkennen – imaginäres Bewegen;
und Gruppe 3 Seitenzugehörigkeit erkennen – Spiegeltherapie
– Seitenzugehörigkeit erkennen. Gemessen wurden Schmerzen auf
der »Neuropahtic Pain Scale« (NPS) sowie die Ausführung von
5 Aktivitäten auf einer numerischen Skale (NRS). Alle Messungen
wurden von einem für die Therapie geblindeten Therapeuten
durchgeführt. Nach 12 Wochen war in Gruppe 1 die Verbesserung,
sowohl für die Schmerzen (NPS) als auch für die Aktivitäten (NRS)
im Vergleich zu Gruppe 2 und 3 signifikant, d. h. 70% der Patien-
ten konnten in Gruppe 1 und nur 20% in Gruppe 2 und 3 eine Re-
duktion ihrer Schmerzen (NPS) um 50% erzielen. Die Erkennung
der Seitenzugehörigkeit erreichte unabhängig von der Reihenfolge
immer eine Verbesserung beim CRPS-I-Patienten. Das imaginäre ⊡ Abb. 19.10 Kraftmessung mittels Dynamometer
19.2 · Spezielle Techniken
431 19
Jeder handtherapeutische Versuch, forciert gegen die beschrie- Ausführung
benen Einschränkungen vorzugehen, scheitert. Die geduldige, Der CRPS-I-Patient wird in der Therapie über die Inhalte, Wir-
schmerzfreie Reduktion auf elementare Bewegungsabläufe, die das kung und Ausführung bzw. Abfolge des Graded Motor Imagery
aktuelle sensomotorische Leistungsvermögen des Patienten wider- Training instruiert. Der CRPS-I-Patient muss 3 Stadien über je
spiegeln und ihn gezielt wieder zum Herrn seiner Bewegungen 2 Wochen durchlaufen. Die Therapie wird primär als Heimtraining
verhelfen, sind therapeutisch indiziert. durchgeführt. Geübt wird zu jeder wachen Stunde 3-mal für insge-
Sowohl folgende isotonische als auch isometrische Trainings- samt 10 Minuten, d. h. pro Tag für ca. 1–1,5 Stunden). Nach jeder
programme sind schmerzfrei und für den Patienten nachvollzieh- Übungseinheit muss er ein Protokoll führen über Tag und Uhrzeit,
bar anzuwenden, möglichst mit Alltagsbezug. Die Dosierung der Schmerzlevel, Stimmung, Stadium, Schmerzverlauf (vorher–nach-
einzelnen Übungen stellt die eigentliche Herausforderung an den her) sowie besondere Auffälligkeiten beschreiben und das Ergebnis
Therapeuten dar. Biofeedback-Systeme unterstützen hier die thera- (wie schnell und akkurat die Ausführung möglich war) in Form
peutische Arbeit und geben dem Patienten Sicherheit. Patient und einer Punktzahl vermerken – Schmerzprotokoll. In den Therapie-
Therapeut können EMG-gestützt die muskuläre Aktivität einzelner stunden werden die Protokolle überprüft und gemeinsam mit dem
Bewegungen analysieren und zur nicht betroffenen Seite verglei- Patienten besprochen. Das Schmerzgeschehen sollte sich mit dem
chend kontrollierend darstellen. Erreichen des nächsten Übungsstadiums stets bessern (VAS-Kont-
Die aktiven isotonischen und isometrischen Übungseinhei- rolle). Um die Schwierigkeit im Laufe der Zeit auszubauen, werden
ten sind zunächst nicht gewichtstragend, d. h. für die betroffene vom Patienten die zur Therapie benutzten Karten nach seinem
Extremität nur gering belastend. Erst wenn die Reaktionen des Schmerzempfinden in 4 Kategorien eingeschätzt. Damit teilt der
Patienten es zulassen, werden einzelne Übungen mit Trainingsge- Handtherapeut die Kategorien in unterschiedliche Schwierigkeits-
rät zwischengeschaltet. Gleichzeitig kann damit begonnen werden, grade ein (Kategorie 1 = leicht; Kategorie 4 = schwer). Dieser Ab-
kardiovaskuläre Fortschritte über entsprechende Übungseinheiten lauf wird für jede Phase von Patient und Therapeut neu beurteilt.
zu erarbeiten, um die Durchblutung der Extremitäten zu fördern Die unterschiedlichen Kategorien können dann nach dem Zeitplan
und allgemein den Haltungstonus und das psychische Wohlbefin- in ⊡ Tab. 19.1 ihren Einsatz finden. Mit dieser Vorgabe kann der
den zu verbessern. Patient die Schwierigkeit innerhalb der einzelnen Phasen langsam
steigern (⊡ Abb. 19.11, ⊡ Abb. 19.12).
Ergänzende komplementäre Behandlungstechniken
beim CRPS I
Auch die Anwendung von Akupunktur wird heute bei der Behand-
lung eines CRPS I oft mit in Erwägung gezogen. Empfohlen wird
für die Behandlung ein Zeitraum von 3 Wochen, 5-mal wöchentlich
date / time
über 30 Minuten. Bei 18 Patienten konnte eine Verbesserung der
Schmerzen sowie eine Senkung der Temperatur unter das Aus- pain level (none) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 (worst)
gangsniveau vor der Therapie verzeichnet werden. Die Nadelsetzung
or draw / describe your
auf standardisierten und nicht standadisierten Akupunkturpunkten mood in the face below
mood
führte gleichermaßen zum Erfolg. Eine Symptomfreiheit konnte
nicht erwirkt werden (Ernst et al.). Somit eignet sich die Akupunktur game
sicherlich als Begleittherapie, sollte aber als Alternative, abhängig
vom jeweiligen Interesse des CRPS-I-Patienten, eingesetzt werden. comment
Bezugnehmend auf einer Studie von Grunert et al. konnten
durch das autogene Training 20 CRPS-I-Patienten (Cold-Typ), bei
15–60 Behandlungen, 2-mal wöchentlich je 60 Minuten, eine deut- ⊡ Abb. 19.11 Graded Motor Imagery Training: Schmerz- und Bewegungs-
liche Schmerzhemmung und ein Wärmeempfinden in der betrof- protokoll
fenen Extremität wahrnehmen; 14 CRPS-I-Patienten waren sogar
in der Lage, ihre berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Auch
das autogene Training könnte somit eine weitere Alternative für die
Therapie des CRPS I darstellen.
Materialien
▬ 1 Set »Graded Motor Imagery Pack« mit 48 Handfunktions-
karten,
▬ Dokumentationsbögen,
▬ 1 therapeutischer Spiegel 40×60 cm bzw. 60×40cm ⊡ Abb. 19.12 Graded Motor Imagery Training: Trainingsset
432 Kapitel 19 · Therapie des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS-I) aus handtherapeutischer Sicht
⊡ Abb. 19.13 Graded Motor Imagery Training: Phase 3 ⊡ Abb. 19.14 Graded Motor Imagery Training: Phase 3
Phase 1. Die 48 Handfunktionskarten werden gemischt und vom gewählten Maßnahmen müssen hierbei weitgehend schmerzfrei
CRPS-I-Patienten werden spontan jeweils 20 Karten ausgewählt. Der sein. Eine Salbenapplikation von DMSO 50% und manualthera-
Patient soll möglichst schnell und der Reihe nach die jeweilige Hand peutische Mobilisation, d. h. von den proximalen Gelenken aus-
nach der Händigkeit »rechts« oder »links« imaginär zuordnen. gehend, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Einzelbehandlung.
Auch wird die DMSO-50%-Creme vom CRPS-I-Patienten 3- bis
Phase 2. Aus den 48 gemischten Karten werden wieder 20 aus- 5-mal täglich eigenständig auf die CRPS-Extremität aufgetra-
gewählt. Der CRPS-I-Patient muss sich jetzt geistig die bildlich gen. Die Applikation der DMSO-50%-Salbe ist unabhängig vom
dargestellte Handpositionen in einem Bewegungsablauf vorstellen. Erfolg des Graded Motor Imagery Trainings über 17 Wochen
Wichtig ist diese Übung nicht nach Schnelligkeit, sondern auf Prä- fortzuführen.
zision der gedachten Bewegung auszuführen.
Phase 3. Der Therapiespiegel wird seitlich zum CRPS-I-Patienten 19.2.2 Verhaltensprogramm »Graded Exposure«
platziert und die erkrankte Hand wird hinter dem Spiegel platziert, nach De Jong et al. (2005)
sodass sie für den Betroffenen nicht sichtbar ist. Die gesunde Ext-
remität muss vom Patienten im Spiegelbild für die erkrankte Hand Parallel zum Stabilitätstraining wird mit dem CRPS-I-Patienten
wahrgenommen werden (⊡ Abb. 19.13). ein ADL-bezogener Status (»activities of daily living«) erstellt. Der
19 CRPS-I-Patient soll sich bewusst im Alltag Situationen aussetzen,
Wiederum werden aus den 48 Handfunktionskarten 20 ausgewählt welche er als bedrohlich empfindet (Konfrontationshase). Alle pro-
und der CRPS-I-Patient muss jetzt die gezeigten Handpositio- blembezogenen Alltags- und Berufsverrichtungen sind im Nach-
nen in eine bilaterale Bewegung ausführen. Das Auge visualisiert hinein systematisch zu erfassen (Angsthierarchieliste). Der Hand-
die Bewegung der gesunden Hand im Spiegelbild und projiziert therapeut wählt jeweils eine für den CRPS-I-Patienten akzeptable
diese Ausführung auf die pathologische Extremität. Das Gehirn Problembewegung aus und macht diese dem CRPS-I-Patienten
bekommt somit die notwenigen Afferenzen für eine physiologi- einmal vor (Konfrontationsphase). Der CRPS-I-Patient wird dazu
sche Bewegung. Bei der Spiegeltherapie ist auf eine symmetrische ermutigt, das entsprechende Bewegungsmuster zu Hause so oft wie
Ausführung mit beiden Händen zu achten, da eine asymmetrische möglich zu wiederholen, d. h. bis sich die dazugehörigen Ängste
Ausführung die Symptome verschlimmern kann. Die betroffene reduzierten. Mit Besserung des jeweiligen Übungsauftrags werden
Extremität ist somit stets die Seite, welche die Möglichkeit der Be- aus dem ADL-Status weitere Bewegungsabläufe als Heimtraining
wegung vorgeben sollte (⊡ Abb. 19.14). dem CRPS-I-Patienten aufgetragen (⊡ Abb. 19.15).
Parallel sollte ggf. mit weiteren handtherapeutischen segmen- Ziel des gesamten Therapiekonzeptes sollte stets die berufliche
talen und lokalen Einzelbehandlungen fortgefahren werden. Alle und soziale Wiedereingliederung des CRPS-I-Patienten sein.
19.2 · Spezielle Techniken
433 19
19.2.3 Stabilitätstraining
19.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen Dauty M, Renaud P, Deniaud C, Tortellier L. & Dubois C (2001) Conséquences
professionnelles des algodystrophies. Ann Réadaptation Méd Phys 44:
89–94
So unterschiedlich die Meinungen bezüglich des Aufbau eines
De Jong JR, Vlaeyen JW, Onghena P, Cuypers C, den Hollander M, Ruijgrok J
CRPS-I-Therapiekonzepts auch sein mögen, so herrscht doch in (2005) Reduction of pain-related fear in complex regional pain syndrome
einigen Punkten Einigkeit. Ziel der Handtherapie beim CRPS I type I: The application of graded exposure in vivo. Pain 116: 264–275
ist i. Allg. einerseits eine Schmerzlinderung und andererseits die Dicke E, Schliack H, Wolff A (1982) Bindegewebsmassage, 11. Aufl. Hippokra-
Wiederherstellung einer normalen Funktion, also die Verhinde- tes, Stuttgart
rung einer Defektheilung durch Nichtgebrauch der Extremität. Diemer F, Sutor V (2007) Praxis der medizinischen Trainingstherapie. Thieme,
Spezifischer bedeutet dies, dass die Handtherapie auf eine Wieder- Stuttgart
herstellung des verloren gegangenen Muskeltonus, der Muskelkraft Diener H.C, Putzki N (2008) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der
und -ausdauer, der Gelenkbeweglichkeit sowie einer Rückbildung Neurologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart
von Kontrakturen beim CRPS I abzielt bzw. diese verhindern soll. Edel H (1991) Fibel der Elektrodiagnostik und Elektrotherapie, 6. Aufl. Verlag
Gesundheit, Berlin
Hierbei dürfen die handtherapeutischen Maßnahmen auf keinen
Ernst E, Resch K, Fialka V, Ritter-Dittrich D, Alcamioglu Y, Chen O et al. (1995)
Fall zu aggressiv gewählt werden, da sich sonst die Symptome
Traditional acupuncture for reflex sympathetic dystrophy: a randomised,
des CRPS I verstärken und sich dadurch der Verlauf bezüglich sham-controlled, double-blind trial. Acupuncture Med 13 (2): 78–80
Schmerz und Funktion verschlechtern kann. Passive, aggressive Fleischhauer M, Heimann D, Hinkelmann U (2002) Leitfaden Physiotherapie
ROM-Tests (»range of movement«) sollen vermieden werden. in der Orthopädie und Traumatologie. Urban & Fischer, München
Der CRPS-I-Patient soll vielmehr aktiv unterhalb der Schmerz- Flor H, Nikolajsen L, Staehelin Jensen T (2006) Phantom limb pain; a case of
grenze üben, um so sein ROM zu erhalten oder zu verbessern. maladaptive CNS plasticity? Nat Rev Neurosci 7: 873–881
Dabei sollte jedoch bedacht werden, dass es durch Muskelarbeit Frisch H (2009) Programmierte Untersuchung des Bewegungsapparates.
beim CRPS I zu einer Zunahme des Sauerstoffbedarfs und damit Springer, Heidelberg
zur Entstehung freier Radikale kommen kann. Sudeck selbst for- Gifford L (2000) Schmerzphysiologie. In: van den Berg F (Hrsg) Angewandte
mulierte 1942 in seiner letzten Arbeit schon folgenden Leitsatz Physiologie Band 2, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart
Giunta RE, Prommersberger KJ (2010) Handchirurgie, Mikrochirurgie, Plasti-
für die Behandlung von CRPS I: »Der Ausdruck Entzündung
sche Chirurgie – Schwerpunkt: Komplexes regionales Schmerzsyndrom,
ist ein Wegweiser für die Behandlung, geradezu ein Programm«
42. Jahrgang, Thieme, Stuttgart
und deutete damit an, dass am Anfang vor allem Regeneration Grunert B, Devine C, Sanger J, Matloub H, Green D (1990) Thermal self-
im Vordergrund steht und auf die durch die Entzündung verur- regulation for pain control in reflex sympathetic dystrophy. J Hand Surg
sachten Schmerzen »gehört« werden muss. Als Richtschnur für 15A: 615–618
die Therapieintensität ist daher vor allem der Nachtschmerz von Hasselblatt A (1999) Ergotherapie in der Orthopädie. Eine Einführung in die
Bedeutung. Wegen der Dynamik des Krankheitsbildes CRPS I fachspezifischen Behandlungstechniken. 3. Aufl. Stam, Köln
muss die Behandlung flexibel und individuell abgestimmt erfolgen Heisel J, Jerosch J (2007) Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane
und sollte sich nach anamnestisch fassbaren Therapiereaktionen – Allgemeine und spezifische Schmerztherapie. Springer, Heidelberg
richten. Die stadienbezogenen Therapiekonzepte beim CRPS I Jull G, Richardson C, Hodges P (1996) New advances in exercise to rehabili-
tate spinal stabilisation. Skript zum IFOMT preconference course, Lille-
wie z. B. das Algorithmus-Therapiekonzept nach Stanton-Hicks
hammer Norwegen 4: 19–20
et al. von 1998 und 2002 für CRPS sind fragwürdig und scheinen
Juottonen K, Gockel M, Silén T, Hurri H, Hari R. u. Forss N (2002) Altered
angesichts der fließenden Übergänge des Krankheitsbildes CRPS central sensorimotor processing in patients with complex regional pain
kaum umsetzbar. syndrome. Pain 98: 315–323
Die optimalen Voraussetzungen für die Therapie des CRPS I Kaltenborn F.M (2005) Manuelle Therapie nach Kaltenborn – Untersuchung
werden aber erst durch die gezielte Zusammenarbeit von Hand- und Mobilisation der Gelenke, Teil I: Extremitäten, 12. Aufl. Norli, Oslo,
therapeuten, Ärzten und ggf. einem Psychotherapeuten, die in- 44–48
nerhalb eines multidisziplinären Teams agieren, hergestellt. Somit Koch-Remmele R, Kreutzer R (2007) Funktionskrankheiten des Bewegungs-
bewegt sich der CRPS-I-Patient in einem Umfeld der kombinierten systems nach Brügger. Springer, Heidelberg
Schmerzkontrolle, in dem optimale Bedingungen für die Rehabili- Köck F, Borisch N, Koester B, Grifka J (2003) Das komplexe regionale Schmerz-
tation des Patienten vorzufinden sind. syndrom Typ I (CRPS I) Orthopäde , 32: 418–431
Koesling C, Bollinger Herzka T (2008) Ergotherapie in der Orthopädie, Trau-
Als Summe kann somit auch dieses komplexe CRPS I-Behand-
matologie und Rheumatologie. Thieme, Stuttgart
lungsmodell nur einen Versuch einer annähernden evidenzbasier-
Kolster B.C, Marquardt H (2004) Reflextherapie. Springer, Heidelberg
ten Therapie darstellen. Es ermutigt zu einer interdiziplinären Vor- Kolster BC (2003) Massage. 2. Aufl. Springer, Heidelberg
gehensweise zwischen den verschieden Berufsgruppen von Ärzten,
19 Handtherapeuten und Psychologen. Zudem soll es motivieren die
Kränzlin, M, Felder M, Schlumpf U, Troeger H, Kopp H, Thali A. et al. (2002)
Therapie der Algodystrophie. In: Bär E, Felder M, Kiene B, Bär E, Felder
Forschung von weiteren evidenzbasierten Therapien für dieses M, Kiene B (Hrsg) Algodystrophie (complex regional pain syndrome 1).
Krankheitsbild CRPS I zu forcieren, um mit weiteren Erkenntnis- Luzern: Suva, S 61–70
sen ein standardisiertes und international gültiges CRPS-I-Thera- Langendijk P, Zuurmond W, van Apeldoorn H, van Loenen HA, de Lange J
piekonzept zu erwirken. (1993) Goede resultaten van behandeling van acute refelectoir-sympa-
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20
⊡ Abb. 20.2 Variationen des M. scalenus minimus und des Lig. pleurovertebrale. (Aus von Lanz u. Wachsmuth 1955)
Weiter proximal stoßen die Muskeln der Vorder- und Rück- kann relativ häufig durch einen M. scalenus minimus oder durch
wand in Höhe des Schultergelenks zusammen, weshalb im Spitzen- dessen ligamentäres Rudiment erfolgen. Außerdem können diese
bereich die Pyramide nur 3-seitig begrenzt wird. Strukturen auch als Irritamente in Frage kommen (⊡ Abb. 20.25).
Durchtrennt man die Fascia axillaris in Höhe der 3. Rippe Normalerweise entspringt der M. scalenus minimus vom
in querer Richtung, dann findet man im mittleren Bereich der Querfortsatz des 7. Halswirbels und setzt an der Innenseite der
oberflächlichen Schicht des Achselfüllgewebes die V. thoracoepi- 1. Rippe an. Sein Ursprung kann zusätzlich auch noch bis in Höhe
gastrica und die sie begleitenden Lymphgefäße und etwas medial des 5. Wirbelkörpers reichen. In diesem Fall setzt der relativ breite
hiervon die Vasa thoracica lateralia. In tieferer Schicht stößt man Muskel manchmal auch an der Pleurakuppe als sog. M. scale-
am Oberrand des M. latissimus dorsi auf den ihn innervierenden nopleuralis an (⊡ Abb. 20.2).
N. thoracodorsalis und dessen begleitende Gefäße. Bei weiterer Derartige Haltezüge, die vom seitlichen Umfang der Halswir-
Präparation gelangt man in der Tiefe auf den M. serratus lateralis belkörper entspringen, können ebenfalls hinter der A. subclavia
und auf den über diesem im lateralen Bereich senkrecht verlaufen- ansetzen. Als Lig. pleurovertebrale strahlen sie manchmal auch vor
den N. thoracicus longus. der A. subclavia ein und behindern dieses Gefäß. Die häufigsten
Die nächste Struktur, die weiter proximal, etwa in Höhe der Sonderfälle des M. scalenus minimus und des Lig. pleurovertebrale
mittleren Axillarlinie gefunden werden kann, stellt der N. inter- sind in ⊡ Abb. 20.2 zusammengefasst.
costobrachialis dar, dessen Fasern sich aus dem N. intercostalis II Demgegenüber entspringen M. scalenus anterior vom 3.–6.
und III abzweigen (⊡ Abb. 20.25). und der M. scalenus medius sogar vom 2.–7. Querfortsatz. Hinter
Etwas weiter laterokranial finden sich die Vasa thoracica su- dem M. scalenus medius findet sich noch der M. scalenus poste-
periora, die in den ersten Interkostalraum münden und deren Ur- rior, der von den Querfortsätzen des 4.–6. Halswirbels entspringt
sprung an der Unterseite der Vasa subclavia erfolgt. Nach Ligatur und im Gegensatz zu den vorgenannten Muskeln jedoch erst an
und Durchtrennung der Vasa thoracica superiora und Extension der 2. Rippe ansetzt.
des Armes in Abduktionsstellung liegen dann die 1. Rippe und Bei der präparatorischen Darstellung des M. scalenus anterior
die darüber zum Arm hinweg ziehenden Gefäße sowie der Plexus sind nach von Lanz und Wachsmuth (1955) insgesamt 6 Variatio-
brachialis frei. Im anterioren Bereich dieser Region, die im inter- nen zu beachten:
nationalen Schrifttum als Thoracic Outlet bezeichnet wird, findet 1. Der Muskel kann fehlen, im Übrigen auch zusammen mit den
sich ein auffallend sehniger Ursprung des M. subclavius von der beiden anderen Treppenmuskeln.
Knochen-Knorpel-Grenze der 1. Rippe, der die V. subclavia an 2. Der Muskel kann hinter der A. subclavia an der 1. Rippe ansit-
der Unter- und Vorderseite bogenförmig umgreift (⊡ Abb. 20.25). zen und mit dem M. scalenus medius verschmolzen sein.
Dieser Muskel setzt an der Unterseite des Schlüsselbeines an und 3. Obwohl ein Hiatus scalenorum vorhanden ist, kann die
kann bei stärkerer Ausbildung die V. subclavia auch von kranial A. subclavia den Muskel durchbohren und spalten.
her komprimieren. Hinter der Vene verläuft der M. scalenus ante- 4. Bei langen Halsrippen kann der Muskel auch an diesen anset-
rior, der am Tuberculum scaleni ansetzt und mit seinem Ausläufer zen.
die genannte Vene ebenfalls unterlaufen und komprimieren kann. 5. Der M. scalenus anterior kann mit dem M. scalenus medius
Außerdem trennt er die V. von der A. subclavia. Die Ansatzportion auch Ursprungsbündel austauschen.
dieses Muskels kann am Hinterrand, aber auch in ganzer Breite 6. Die Ursprünge können innig mit den Mm. intertransversarii
ausgesprochen sehnig ausgestaltet sein und dann bei funktioneller zusammenhängen.
Beanspruchung des Schultergürtels zu einer Irritation der A. sub- 7. Bei Fehlen des M. scalenus minimus ist zu beachten, dass die-
clavia und der mit diesem Gefäß nach peripher verlaufenden ser Muskel durch eine bandartige Struktur ersetzt sein kann,
sympathischen Fasern führen, die sich vom Ganglion stellatum die als Lig. pleurocostale entweder vom Proc. costotransversa-
ableiten (⊡ Abb. 20.25, ⊡ Abb. 20.27). rius des 7. Halswirbels oder vom Hals der 1. Rippe entsprin-
Unmittelbar anschließend an die A. subclavia verläuft in dem von gen kann und dann im Bereich der Pleurakuppe ansetzt.
den Mm. scaleni anterior et medius begrenzten Fach, das als Hiatus
scalenorum bezeichnet wird, unter normalen Bedingungen auch der Die meisten der genannten Strukturen lassen sich erst nach Ablö-
Plexus brachialis (C4–Th1). Eine Trennung dieser beiden Strukturen sen der Mm. scaleni anterior et medius darstellen.
440 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
Um die Verhältnisse im Bereich der Pleurakuppe exakt beurtei- der A. thoracica interna und verläuft dann normalerweise medial
len zu können, ist die Resektion der 1. Rippe erforderlich, wodurch dieses Gefäßes an der Rückseite der V. subclavia in die obere Tho-
gleichzeitig der Nerven-Gefäß-Strang dekomprimiert wird. In die- raxapertur. Auch hier gibt es einige Variationen, die Beachtung
sem Bereich ist die Pleura parietalis zusätzlich durch eine lockere verdienen. So kann der N. phrenicus sehr selten auch auf der Vor-
Verschiebeschicht gegenüber der Brustwand geschützt (sog. Fascia derseite der V. subclavia verlaufen oder dieses Gefäß mit anterioren
endothoracica). Im Bereich der Pleurakuppe ist diese Faszie zu- und posterioren Teilzügen umschlingen. Er kann die Vene auch
sätzlich auch noch durch eine Membrana suprapleuralis gesichert, zentral in einem Knopfloch durchdringen. Mit einem Nebenphre-
die auch als Sibson-Faszie bezeichnet wird. nicus, der aus C8 und Th1 entspringt, muss ebenfalls, wenn auch
20 Bei starker Ausprägung kann diese Membran zu einer Kompres- sehr selten, gerechnet werden, der hinter der V. subclavia verläuft
sion der V. subclavia in posterior-anteriorer Richtung (⊡ Abb. 20.10) und sich dann unterhalb dieses Gefäßes mit dem Hauptstamm des
und bei Einschluss der Vasa thoracica interna und des N. phreni- N. phrenicus verbindet. Ein Nebenphrenicus soll in 10% vorkom-
cus sogar zu einer streifenförmigen Stenose des Gefäßes führen men (von Lanz u. Wachsmuth 1955).
(⊡ Abb. 20.12). Wenn man nach Abklärung der anatomisch-topografischen
Erst nach stumpfem Ablösen und Herabdrücken der Pleur- Verhältnisse im Bereich der oberen Thoraxapertur die Pleur-
akuppe sowie Resektion der Sibson-Faszie lassen sich dann die to- akuppe bis unterhalb der V. subclavia stumpf löst und nieder-
pografisch anatomischen Verhältnisse im Bereich der Hinterwand drückt, wird der Einblick auf die oberen Brustwirbelkörper frei.
der V. subclavia und den normalerweise dahinter in der oberen Hier findet sich nach Entfernung von Füllgewebe der obere tho-
Thoraxapertur verlaufenden Strukturen abklären. rakale Sympathikusstrang mit seinen Rr. communicantes und
Der N. phrenicus (C3–5) verläuft auf der Vorderfläche des Ganglien, die in Lamellen der Fascia prävertebralis eingelagert
M. scalenus anterior (Leitmuskel!), überkreuzt die Abgangsstelle sind.
20.1 · Allgemeines
441 20
Das Ganglion cervicale caudale ist regelmäßig vorhanden,
⊡ Tab. 20.1. M. Sudeck (1984–1991 und 2000–2002) – Therapie-
meist aber mit dem ersten thorakalen Ganglion zu einem relativ resistente Fälle
großen, unregelmäßigen und sternförmigen Gebilde verschmol-
zen, dem Ganglion stellatum. Dieses liegt in einem Grübchen zwi- Patient Auslösende Patient Auslösende
schen dem Querfortsatz des 7. HWK und dem Hals der 1. Rippe Nr. Ursachen Nr. Ursachen
(⊡ Abb. 20.3).
1 Radiusfraktur 11 Radiusfraktur
Am einfachsten ist es, wenn man zunächst das 3. thorakale
Ganglion, falls nicht vorhanden, das 2. Ganglion aufsucht, an- 2 Tennisellenbogen 12 Quetschverletzung
schlingt oder durchtrennt und dann die weitere Präparation in
3 Schulterprellung 13 Fraktur MC II
kranialer Richtung durchführt. Bei einem meist vorhandenen
Ganglion stellatum sollte man nicht nur die Rr. communicantes, 4 Handprellung 14 Bowling
sondern auch die an der Medialseite abgehenden Fasern der
Nn. cardiaci inferiores freilegen, um diese im Falle einer Sym- 5 Kahnbeinoperation 15 Strecksehnenruptur
D IV
pathikusresektion durch eine entsprechende Resektion des infe-
rioren Abschnittes des Ganglion stellatum erhalten zu können. 6 Radiusfraktur 16 Radiusfraktur
Bei einem isoliert liegendem Ganglion T1 ist dies nicht immer
7 Hohlhandphlegmone 17 TE-OP n. Hohmann
möglich (⊡ Abb. 20.3).
Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass 8 Fraktur MC II–IV 18 TE-OP n. Hohmann
vom Ganglion stellatum auch ein relativ starker Ast zur A. subcla-
via abgeht und diese plexusförmig in peripherer Richtung umgibt. 9 Handprellung 19 Schweißdrüsenabszess
Ein stärkerer Zweig versorgt dabei die Korakoidregion und den 10 Schnittverletzung 20 V. a. Kahnbeinfraktur
subkorakoidalen Raum.
20.1.2 Epidemiologie Abschn. 18.1.2 und auslösende Faktoren müssen auch die Foramenstenosen im
unteren HWS-Bereich und die zervikalen Bandscheibenprolapse
20.1.3 Ätiologie gerechnet werden. Unter den iatrogenen Ursachen sind außerdem
vor allem paravasale Injektionen von Kontrastmitteln, Zytostatika
Zur Frage der Anatomie der schmerzleitenden und schmerzverar- und anderen Medikamenten und die versehentliche Injektion in
beitenden Systeme ist bereits im Abschn. 18.1.1 Stellung genom- einen Nerven, z. B. in den N. medianus, zu nennen. Auf internis-
men worden, ebenso zur Frage der Ätiologie, die nach allgemeiner tischem Gebiet sind u. a. Hemiplegien und vor allem Herzinfarkte
Ansicht immer noch als ein ungelöstes Problem angesehen wird, als auslösende Faktoren zu nennen.
obwohl die Bedeutung eines erhöhten Sympathikotonus schon seit
> Zur Lösung des Problems der Pathogenese der Sudeck-
Leriche (1923) als neurale Ursache bekannt ist. Dies gilt auch für
Dystrophie fehlte bis vor Kurzem nur noch der Beweis für den
auslösende und begünstigende Faktoren.
»zweiten Schlüssel« (Lankford 1993).
Dabei fällt auf, dass die Entstehung der Dystrophie nicht von
der Schwere eines Traumas abhängt. Ja es ist geradezu auffallend, Erste Hinweise dafür konnten bereits Anfang der 80er Jahre des
dass diese Krankheit oftmals nach ganz banalen Verletzungen, wie vergangenen Jahrhunderts gefunden werden, und zwar in Form
Prellungen der Hand oder der Schulterregion und Verstauchun- einer phlebografisch nachweisbaren Stenose der V. subclavia (Wil-
gen auftritt, wobei der verzögerte Verlauf bis zur vollkommenen helm u. Wilhelm 1985), die letztlich als übergeordnete Ursache
Ausprägung der Dystrophie oftmals 1–3 Monate dauert und daher einer vaskulären peripheren Störung in Frage kommt.
diagnostisch im Anfangsstadium meist nur sehr schwer beur-
> Vereinfacht dargestellt, dürfte demnach die Pathogenese der
teilt werden kann. Zunehmende Ödembildungen und Einschrän-
Sudeck-Dystrophie im Wesentlichen auf einer übergeordne-
kungen der Handfunktion stehen dabei anfangs im Vordergrund
ten vaskulären und neuralen Ursache beruhen (⊡ Abb. 20.4).
(⊡ Tab. 20.1).
Erste Hinweise auf die Bedeutung einer Beeinträchtigung des
Besonders auffallend ist auch die Häufigkeit der Sudeck-Dys-
venösen Abflusses für diese Dystrophie hat übrigens bereits
trophie nach Radiusfrakturen, für die in erster Linie Druckschäden
Sudeck 1931 als Folge einer Thrombose der V. femoralis be-
durch Gipsverbände angeschuldigt werden. Dabei ist jedoch zu
schrieben.
bedenken, dass bei einer Immobilisierung der Fraktur in Prona-
tionsstellung nach den Untersuchungen der Pathogenese des Ten- Wie sich inzwischen herausgestellt hat, liegt die primäre Ursache
nisellenbogens der R. profundus ni. radialis durch die Supinatorar- des schmerzhaften Ödems nicht im Bereich der Hand, wo man
kade einer ständigen Druckbelastung ausgesetzt ist, die nach den bisher eine venöse Einflussbehinderung als Folge einer sympathi-
Untersuchungen von Werner (1979) 40–50 mmHg beträgt. Dieser kusgesteuerten Verengung der Venolen angenommen hat, sondert
Druck reicht bereits aus, um die intraneurale Durchblutung und weiter proximal, nämlich in Höhe der oberen Thoraxapertur, und
den axonalen Flow zu unterbrechen, wodurch Schmerzafferenzen zwar in Form einer Stenose der V. subclavia. Hierdurch wird der
ausgelöst werden können. venöse Rückstrom je nach Umfang der Beeinträchtigung der Ab-
Auffallend häufig entstehen derartige Dystrophien auch nach flussverhältnisse schon normalerweise mehr oder minder beein-
Arthroskopien (2,3%), vor allem des Handgelenks und nach Me- trächtigt, sodass es bei einem plötzlich auftretenden vermehrten
dianusdekompressionen, und zwar in 5%, wobei es sich jedoch um arteriellen Einstrom (Run-in), wie dies nach Traumen und operati-
leichtere Formen einer Reflexdystrophie handelt. Auch entzünd- ven Eingriffen der Fall ist, zu einer venösen Stauung und dadurch
liche Prozesse, vor allem an der Hand, können eine Dystrophie letztlich zu einem akuten Ödem kommt, welches schließlich zu
auslösen (⊡ Abb. 20.36, ⊡ Abb. 20.37). Als weitere begünstigende einer Erhöhung des subfaszialen Druckes führt.
442 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
Erhöhte
Akutes Ödem sympathische Aktivität
Schmerz-Affenzen Schmerz-Efferenzen
Immobilität
»Circulus vitiosus«
⊡ Abb. 20.4 Pathogenese des M. Sudeck. (Aus Wilhelm 1997b, mit freundli-
cher Genehmigung von Thieme)
⊡ Abb. 20.6 Handödem links infolge einer hochgradigen Stenose der V. sub-
clavia nach Operation einer Dupuytren-Kontraktur. (Aus Wilhelm u. Wilhelm
1985, mit freundlicher Genehmigung von Thieme)
Die Folgen des Ödems führen aber nur dann zu einer abnor-
men sympathischen Reaktion, falls bei dem Patienten bereits vor
Beginn der Erkrankung eine erhöhte sympathische Aktivität vor- Die beiden wichtigsten kausalen Faktoren der SD sind nunmehr
handen gewesen ist. bekannt und radiologisch durch Phlebo- und Arteriografie lokali-
Ursächlich kommen hierfür, von zentralen Mechanismen ab- sier- und dokumentierbar. Die sog. »individuelle Bereitschaft« zur
gesehen, vor allem Irritationen und Kompressionen der unteren Sudeck-Dystrophie (Hackethal 1958) dürfte damit in erster Linie
Plexuswurzeln durch den Innenrand der 1. Rippe und durch fi- auf eine venöse Abflussbehinderung im Bereich der V. subclavia
bromuskuläre Strukturen sowie der postganglionären sympathi- und ein daraus resultierendes Missverhältnis zwischen arteriellem
schen Fasern, welche die A. subclavia begleiten, in Frage. Zufluss und venösem Abfluss bei einer gleichzeitig vorhandenen
Die abnorme sympathische Aktivität führt dann infolge Va- erhöhten Sympathikusaktivität zurückzuführen sein. Bei norma-
sokonstriktion zu einer weiteren Verschlechterung der durch die lem sympathischem Reflexgeschehen führt die Venenstenose unter
20 Ödembildung ohnehin beeinträchtigten Mikrozirkulation, Gewe- den gleichen äußeren Bedingungen (Operation, Trauma usw.) da-
beperfusion und des Zellstoffwechsels. Als Folge hiervon kommt gegen nur zu einem Handödem. ⊡ Abb. 20.5 und ⊡ Abb. 20.6 zeigen
es zu Ischämie und Azidose und durch die Wirkung der dabei ein derartiges Beispiel.
entstehenden algogenen Substanzen zu einer Steigerung der Erreg-
> Die Sudeck-Dystrophie ist durch die Einführung der funkti-
barkeit der Nozizeptoren mit konsekutiver Erhöhung der Schmerz-
onellen Phlebografie endlich berechenbar geworden, was
afferenzen.
nicht nur in therapeutischer und prognostischer, sondern
Die Sudeck-Dystrophie wird manifest, sobald die Summe aller
nicht zuletzt auch in forensischer und versicherungsrechtli-
Schmerzafferenzen und -efferenzen zu einem »Overstress« und
cher Hinsicht von großer Bedeutung ist.
zur Immobilität mit daraus resultierender Reduktion von schmerz-
hemmenden mechanozeptiven Afferenzen führt. Als Folge hiervon Unter Würdigung der dargestellten anatomisch-topografischen und
tritt bekanntlich ein »Circulus vitiosus« ein (Zimmermann u. pathophysiologischen Gegebenheiten könnte man den M. Sudeck
Handwerker 1984). somit auch als schwerste Form eines TOS und TIS bezeichnen.
20.1 · Allgemeines
443 20
20.1.4 Diagnostik Ergebnisse der verschiedenen Testverfahren sowie der Sympathi-
kusblockaden angegeben werden.
Bei der diagnostischen Beurteilung einer therapieresistenten Dys- Bei akuten Dystrophien mit hohen Schmerzwerten sollte man
trophie kommt es zunächst auf eine exakte Anamnese an, in deren den Stauungs- und Ischämietest allerdings nur ausnahmsweise
Rahmen auch die in Frage kommenden auslösenden Ursachen, ausführen, falls dies aus diagnostischen Gründen unbedingt erfor-
wie operative Eingriffe, Arbeits-, Sport- und Verkehrsverletzungen derlich sein sollte. Für die Beurteilung der Stadien II und III der
sowie häusliche Unfälle, entzündliche Prozesse, Herzerkrankungen Dystrophie können diese Untersuchungsmethoden jedoch durch-
usw. abgeklärt werden müssen. Von größtem Interesse ist außer- aus empfohlen werden.
dem die Entwicklung der Erkrankung aus Sicht des Patienten, Die Abklärung der neuralen Ursache der Sudeck-Dystrophie
vor allem aber die bisherige Dauer der Erkrankung und die Art ist nur durch eine sorgfältige und systematische Untersuchung
der durchgeführten Behandlung. Dabei sollte insbesondere auch der oberen Extremität einschließlich der Hals- und Nackenre-
die Frage geklärt werden, ob der Patient optimal mit adäquaten gion möglich. Die wichtigsten Ergebnisse einer derartigen Unter-
Schmerzmitteln versorgt oder diese Medikamente nur bei Bedarf suchung und die entsprechenden postoperativen Resultate sind
angeordnet wurden, da sich hieraus wichtige Gesichtspunkte für in den ⊡ Tab. 20.2, ⊡ Tab. 20.3 und ⊡ Tab. 20.4 dargestellt. Entspre-
die Prognose der Erkrankung ergeben. Ebenso wichtig ist eine ge- chende Vergleichsbefunde des TOS finden sich in Abschn. 17.2.4.
naue Überprüfung der krankengymnastischen Behandlung, wobei Die Indikation zu einer neurologischen Untersuchung ist vor
insbesondere der Frage, ob aktiv oder passiv bewegt wurde, größte allem bei peripheren Nervenkompressionssyndromen und aus dif-
Bedeutung zukommt. Von Interesse ist ferner, welche invasiven ferenzialdiagnostischen Gründen gegeben.
Maßnahmen, wie Akupunkturen, Blockaden des Plexus brachialis Zur Sicherung der Diagnose sollte in jedem Fall nach Ab-
und des Ganglion stellatum und intravenöse regionale Blockaden schluss der Untersuchung eine Sympathikusblockade in Form der
mit Guanethidin usw., durchgeführt worden sind. Stellatum- oder Plexusanästhesie mit dem Langzeitanästhetikum
Um eine lückenlose Erfassung aller pathologischen Befunde im Naropin® durchgeführt werden, wodurch man dem Patienten
Bereich des Schultergürtels, der Ellenbogen- und Unterarmregion gleichzeitig das mögliche Ausmaß der Schmerzausschaltung durch
sowie der Hand zu garantieren und die für die Nachuntersuchung eine transaxilläre Dekompression des Nerven-Gefäß-Stranges mit
so wichtigen präoperativen Befunde in übersichtlicher Weise sofort zusätzlicher Sympathikusresektion demonstrieren kann.
zum Vergleich heranziehen zu können, empfiehlt sich dringend Als Standard-Röntgenuntersuchungen sind zunächst Aufnahmen
das Anlegen einer tabellarischen Dokumentation (⊡ Abb. 20.7). In der Hand in 2 Ebenen und der unteren HWS im a. p. und halb-
dieser sollten alle in Frage kommenden Schmerzlokalisationen, schrägen Strahlengang erforderlich. Hierdurch sollen Entkalkungen
neurologische Befunde und sonstigen Untersuchungsergebnisse, des Handskeletts und mögliche Foramenstenosen abgeklärt werden.
wie Gelenkfunktion, vergleichende Umfangsmaße, Untersuchun- Besonders wichtig in operativer Hinsicht sind Spezialaufnahmen der
gen der Volumina beider Hände (Eintauchprobe) und des venösen oberen Thoraxapertur, um rechtzeitig über das Vorhandensein einer
Einlaufdrucks enthalten sein. Neben Hautfarbe und -temperatur Halsrippe, eines ungewöhnlich langen Querfortsatzes des 7. Halswir-
sollten auch Stärke und Ausmaß der Ödembildungen, die verschie- belkörpers und eines Steilstandes oder einer Hypoplasie der 1. Rippe
denen Schmerzqualitäten einschließlich der Allodynie und die informiert zu sein, da diese Strukturen vor allem für eine Kompres-
Hinterhauptschmerz 4 → 2 - 1 1
Oberes Zervikalsyndrom 5 → 3 - 2 -
Unteres Zervikalsyndrom 8 → 5 1 1 1
M. trapezius 9 → 6 2 1 -
Plexus brachialis 9 → 5 3 1 -
Fossa supraspinata 2 → 2 - - -
Fossa infraspinata 4 → 3 - - 1
N. accessorius 3 → 2 - - 1
Processus coracoideus 6 → 3 - 2 1
Acromion 3 → 3 - - -
Deltoideusansatz 4 → 3 1 - -
Tel.
Anamnese: Nachunter-
suchung am:
OCS
UCS Fu. Phlebo.: V. subclavia
Trapezius
Plexus brachialis Angio.: A. subclavia
Fossa supraspinata
Fossa infraspinata Langfingerfunktion
N. accessorius Defizit D2 D3 D4 D5
Styloiditis ulnae OA
M. brachioradialis-ISTP EL
TV HW dorsalis UA
TV de Quervain HW
TV Karpalkanal MH
*Beurteilung von Schmerzen (nach VAS s. Tab.11) und neurologischen Befunden: minimal = ((+)),
leicht = (+), stark = +, sehr stark = ++
**SG = Schultergelenk, EG = Ellenbogengelenk, HG = Handgelenk
20 sion des Plexus brachialis und der A. subclavia in Frage kommen. erlaubt diese Untersuchungsmethode keine verbindliche Aussage in
Eine Halsrippe oder deren bindegewebiger und knorpeliger Ansatz prognostischer Hinsicht, auch kann aus dem Untersuchungsergeb-
an der 1. Rippe können sogar die hintere Skalenuslücke verkleinern nis nicht abgeleitet werden, ob ein Patient für eine konservative oder
und zu einer Abwinkelung des Plexus brachialis und der A. subclavia für eine evtl. erforderliche operative Behandlung in Frage kommt.
führen. Ein entlastender Schulterhochstand legt bereits klinisch den Da die Symptomatik der Sudeck-Dystrophie in auffallender
Verdacht auf eine Halsrippe nahe. ⊡ Abb. 20.8 gibt einen Überblick Weise derjenigen eines TOS ähnelt, wurde deshalb die funktio-
über die Variationsmöglichkeiten der Halsrippenbildung. nelle Phlebografie, wie sie bei diesem Syndrom obligat ist, auch
Die 3-Phasen-Knochenszintigrafie kann am Anfang des Stadi- beim Morbus Sudeck als diagnostische Maßnahme eingeführt, um
um 1 der Erkrankung ein hilfreiches diagnostisches Hilfsmittel sein, auch bei dieser Erkrankung die Abflussverhältnisse im Bereich der
aber sie ist nicht spezifisch! Eine szintigrafische Mehranreicherung V. subclavia zu überprüfen, in der Hoffnung, dadurch eine nach-
kann nämlich auch durch andere Erkrankungen verursacht werden, vollziehbare Erklärung für das bei dieser Dystrophie akut auftre-
wie entzündliche, infektiöse und tumoröse Prozesse. Vor allem aber tende Ödem zu finden.
20.1 · Allgemeines
445 20
Lokalbefund:* praeop.: postop.: Handvolumen - Eintauchprobe
re. li. re. li.
Med.-Kompression re. (ml) li.
Golferellenbogen praeop. postop. praeop. postop.
N. cut. antebr. med.
Sensib.: D1, 2, 3, 4, 5 Venöser Einlaufdruck
TV: D1, 2, 3, 4, 5 re. (cmH 2O) li.
Grobe Kraft
Hand-UA-Ödem Therapeutische Blockaden
Hautfarbe Ggln. stellatum:
Hauttemperatur Plexus brachialis:
Ruheschmerz Guanethidin:
Berührungsschm.,Allodynie Focus: Pille:
Druckschmerz Laborwerte:
Bewegungsschmerz Blutzucker: Blutbild:
Hyperhidrosis Leberwerte:
Trophische Störungen BSG: CRP:
praeop.: postop.:
Test-Verfahren: ASL: Rh-Faktor:
re. li. re. li.
Tragetest Nierenwerte:
Abduktionstest n. Roos Urin:
Elevationstest Sudeck’sche Dystrophie (CRPS I)
Redress. d. Schultergürtels Alter: Stadium: Seite:
Stauungstest Einweisender Arzt / Klinik:
Ischämie-Test
Sympath. Blockade
Bisherige Behandlung und Verlauf:
D a tu m : Untersuchender Arzt:
⊡ Tab. 20.3 M. Sudeck (1984–1991): Ellenbogen und Unterarm. (Aus Wilhelm 1997)
Proximaler Radialistunnel 3 → 2 1 - -
Mittlerer Radialistunnel 9 → 4 3 - 2
Distaler Radialistunnel 9 → 3 3 1 2
Interosseusneuralgie 7 → 4 1 1 1
Styloiditis radii 7 → 5 2 - -
Styloiditis ulnae 4 → 3 1 - -
Brachioradialis-Insertionstendopathie 6 → 3 2 1 -
Tendovaginitis de Quervain 3 → 2 - 1 -
Handödem 10 → 8 2 - -
erhöht 6 → 6 - - -
Hauttemperatur
erniedrigt 4 → 1 2 1 -
Sensibilitätsstörungen 10 → 6 4 - -
Berührungsschmerz 5 → 3 1 1 -
Druckschmerz 10 → 8 1 1 -
Bewegungsschmerz 10 → 8 2 - -
Ruheschmerz 10 → 8 2 - -
herabgesetzt 5 → 2 1 2 -
Grobe Kraft 2 1 2 -
nicht prüfbar 5 →
N. medianus-Kompression 7 → 4 2 1 -
(No. 3, 4 und 7 nicht geprüft) 3 → 2 1 - -
Weichteilatrophie 1 → - 1 - -
Knochenatrophie 9 → 5 3 1 -
20 Summe 106 = 100% 68 = 64,1% 26 = 24,5% 11 = 10,4% -
Die funktionelle Phlebografie wird bei dieser Erkrankung un- Als Kontrastmittel wird »Ultravist 300« verwendet, und zwar
ter Berücksichtigung der Schmerzgrenze in Adduktion und Ab- als Bolus von 30 ml/KM-Serie.
duktion des Armes, falls möglich bei 0–60–0 Grad durchgeführt,
und zwar in liegender oder sitzender Position. Aufnahmen in > Die Injektion sollte nach Anlegen einer venösen Stauung in
Elevationsstellung sind bei der Sudeck-Dystrophie nicht unbedingt die V. basilica erfolgen, um die Beurteilung des Refluxes in
erforderlich und sollten wegen der damit verbundenen relativ star- die V. cephalica bei einer wesentlichen Abflussstörung im Be-
ken Schmerzen eher vermieden werden. reich der V. subclavia nicht zu gefährden
20.1 · Allgemeines
447 20
⊡ Abb. 20.9 Röntgenologische Darstellung einer intravenösen Druckmes- ⊡ Abb. 20.10 Präoperative Phlebografie der linken V. subclavia (Sternchen).
sung im Bereich der V. axillaris, V. subclavia und der V. brachiocephalica dex- Breitflächige p.-a. Kompression durch die Fascia endothoracica. Kompression
tra. Infolge eines guten Kollateralkreislaufes findet sich in der V. axillaris ein der V. axillaris durch einen kräftigen M. pectoralis major
völlig normaler Druckwert
⊡ Abb. 20.15 Postoperativ ist die in ⊡ Abb. 20.12 dargestellte Stenose nicht
mehr nachweisbar, ebenso der Reflux in die V. cephalica. VA = V. axillaris. (Aus
Wilhelm 2007)
a b
> Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, bei derartigen
Handödemen immer auch an die Möglichkeit einer Venenste-
nose zu denken.
Die demonstrierten angiografischen Befunde sprechen zusammen ⊡ Abb. 20.22 Inferiore Impression der A. subclavia (AS), verursacht durch
mit den intraoperativ gefundenen Beeinträchtigungen der A. sub- einen hypertrophen M. scalenus anterior mit zusätzlicher Behinderung
clavia dafür, dass nicht nur die unteren Plexuswurzeln, wie bereits des Gefäßes durch einen M. scalenus minimus (weißer Pfeil). Erklärung der
bekannt, sondern auch die genannte Arterie als Ausgangspunkt sym- Beschriftung in ⊡ Abb. 20.20. (Aus Wilhelm 1997b, mit freundlicher Geneh-
pathischer Efferenzen angesehen werden muss. Die Behinderung migung von Thieme)
20.1 · Allgemeines
451 20
⊡ Tab. 20.5 M. Sudeck (1984–1991 und 2000–2002) – Intraoperative Befunde (NOP = 20), irritierende und komprimierende Strukturen.
(Aus Wilhelm 2007)
a
In den oben genannten Zeiträumen fand sich nur einmal eine Halsrippe bei einer konservativ behandelten Sudeck-Dystrophie im Stadium III
Differenzialdiagnostik
Differenzialdiagnostisch muss die Sudeck-Dystrophie vor allem
von der Kausalgie (CRPS II) abgegrenzt werden, deren Schmerzlo-
kalisation im Gegensatz zum M. Sudeck auf das Versorgungsgebiet
des geschädigten peripheren Nerven beschränkt ist. Besonders
charakteristisch sind außerdem oberflächliche Spontanschmerzen
und die sog. Allodynie, die jedoch keine wesentlichen orthosta-
tischen Reaktionen erkennen lassen. Auch sind sie durch den
sog. Ischämietest nicht beeinflussbar. Auffallend ist ferner, dass
optische, akustische, emotionale, vor allem aber sexuelle Reize zu
unerträglichen Schmerzverstärkungen führen können. Außerdem
zeichnet sich die Kausalgie durch Fehlen von peripheren Ödemen
und Veränderungen der Hauttemperatur aus. Die Schmerzausbrei-
tung kann schließlich auch die gegenseitige Extremität betreffen,
was als Alloparalgie bezeichnet wird.
⊡ Abb. 20.23 Längliche Stenose der A. subclavia durch komprimierende > Ähnliche Phänomene kann man übrigens auch bei der
Einwirkung des M. scalenus anterior (weiße Pfeile) und eines M. scalenus mi-
Sudeck-Dystrophie beobachten, und zwar im Bereich der ge-
nimus (schwarze Pfeile). (Aus Wilhelm 1997b, mit freundlicher Genehmigung
genseitigen oberen Extremität und des gleichseitigen Beins.
von Thieme)
Letztere verschwinden schlagartig nach oberer thorakaler
Sympathikusresektion.
dieser Arterie durch fibromuskuläre Strukturen, wie sie in ⊡ Tab. 20.5 Differenzialdiagnostisch sind außerdem arthritische, vor allem
dargestellt sind, führt nämlich automatisch zu einer ständigen Irrita- aber posttraumatische und postoperative Ödeme (⊡ Abb. 20.5,
tion der mit der A. subclavia und A. axillaris verlaufenden postgan- ⊡ Abb. 20.6) und die Thrombose der V. subclavia (Paget-v. Schro-
glionären Sympathikusfasern. Diese lassen sich makroskopisch u. a. etter-Syndrom) in Betracht zu ziehen. In Zweifelsfällen sollte man
bis zum anterioren Abschnitt des Schultergelenks und der subkora- auch an eine Selbstverstümmelung denken. Ein nichtabnehmbarer
koidalen Region verfolgen, wodurch sich die beim M. Sudeck, aber Unterarmfaustgips kann in diesem Fall zur Lösung des Problems
auch beim TOS vorhandenen Schmerzprojektionen in diese Region führen!
erklären lassen, die fälschlicherweise unter dem Begriff der sog. Ko-
rakoiditis bekannt geworden sind ( Abschn. 17.2.4; Tab. 20).
20.1.5 Klassifikation Abschn. 18.1.5
Plexus brachialis und intraoperative Befunde
Irritationen und Kompressionen des Plexus brachialis werden am 20.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
häufigsten durch den scharfen Innenrand der 1. Rippe und durch
basale fibröse arkadenförmige Strukturen, die auch die A. subcla- Die Indikation zur transaxillären Dekompression des Nerven-
via unterlaufen können, verursacht. Dadurch kam es allein bei 7 Gefäß-Strangs mit oberer thorakaler extrapleuraler Resektion des
von 20 Patienten zu einer substanziellen Schädigung der unteren Tractus sympathicus unter Einbeziehung der ersten 3 Ganglien ist
Plexuswurzeln in Form von subepineuralen Einblutungen und rin- nur bei therapieresistenten Dystrophien und hochgradigen Steno-
nenförmigen Impressionen. Auch Irritationen durch fibröse Struk- sen der V. subclavia gegeben. Sie sollte optimalerweise innerhalb
turen und durch einen kräftigen M. scalenus minimus stellen keine der ersten 9 Monate gestellt werden. Bei Stenosen der V. subclavia
Seltenheit dar. von 50% und mehr sollte die Operation bereits nach 2–3 Monaten
⊡ Tab. 20.5 zeigt eine Übersicht über die in Frage kommenden durchgeführt werden, um ein sehr gutes oder gutes Ergebnis er-
irritierenden und komprimierenden Strukturen im Bereich der reichen zu können, nicht zuletzt auch deshalb, um dem Patienten
Vasa subclavia und des Plexus brachialis. länger dauernde postoperative Behandlungen und Schmerzen zu
452 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
ersparen und ihm nicht zuletzt auch seinen Arbeitsplatz erhalten Da die Symptomatik einer Sudeck-Dystrophie in auffallender
zu können. Weise derjenigen eines Thoracic-Outlet-Syndroms gleicht, wurden
Nach Roos1 (1977) kann die transaxilläre Operation bei gege- auch bei diesen Dystrophien u. a. Phlebografien durchgeführt,
bener Indikation zum großen Vorteil für den Patienten auch bilate- die als Ursache einer venösen Abflussbehinderung eine Stenose
ral, und zwar gleichzeitig durchgeführt werden. im Bereich der V. subclavia ergaben. Diese Beobachtung führte
zum Entschluss, therapieresistente Dystrophien ebenfalls durch
Kontraindikationen eine transaxilläre Dekompression des Nerven-Gefäß-Stranges mit
Die wichtigste Kontraindikation stellt die Kausalgie (CRPS II) dar, Resektion des oberen thorakalen Sympathikusabschnittes zu be-
da in diesem Fall der schmerzhafte Prozess nicht durch das Tho- handeln. Dieser Eingriff wurde vom Autor bisher bei 26 Patienten
racic Outlet, sondern durch eine umschriebene Verletzung eines durchgeführt. Weitere Operationen sind inzwischen in Deutsch-
peripheren Nerven verursacht wird. Ansonsten gelten die Kon- land und England durchgeführt worden (⊡ Tab. 20.12). Über die
traindikationen, die allgemein für operative Eingriffe ähnlichen ersten drei erfolgreich operierten Dystrophien konnte bereits 1985
Ausmaßes in Frage kommen. berichtet werden.
Ob und inwieweit bei den relativ seltenen doppelseitigen Er-
krankungen und den zu spät überwiesenen Patienten eine Kontra-
indikation besteht, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Der 20.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
vom Autor angegebene Memantine-(Axura®-)Test kann für diese Abschn. 18.1.8
Entscheidung sehr hilfreich sein.
Bei diesem Test wird Memantine einschleichend dosiert, und 20.2 Spezielle Techniken
zwar:
▬ in der 1. Woche ½ Tbl. (5 mg): morgens, 20.2.1 Technik der transaxillären Dekompression
▬ in der 2. Woche 2-mal ½ Tbl. (10 mg): 5–0–5, des Nerven-Gefäß-Stranges und extrapleura-
▬ in der 3. Woche (15 mg): 10–0–5, le Resektion des oberen Grenzstranges bzw.
▬ in der 4. Woche (20 mg): 10–0–10, Neurotomie der Rr. communicantes, die zu
▬ ab der 5. Woche kann die Dosis bei guter Verträglichkeit auf den unteren Plexuswurzeln verlaufen
(25 mg): 15–0–10 und
▬ ab der 6. Woche bis auf maximal (30 mg) erhöht werden: Patientenaufklärung und
15–0–15 Operationseinwilligung
Vor Beginn einer konservativen bzw. operativen Behandlung
Sobald der Patient eine Schmerzbesserung angibt, kann die Dosis kommt es zunächst darauf an, den hilfesuchenden, verängstigten
wieder ausschleichend reduziert werden. Dies gilt ebenso für den und nicht selten missverstandenen Patienten über die eigentliche
Patienten, der nur über Nebenwirkungen klagt. Im ersten Fall kann Ursache dieser organischen Erkrankung aufzuklären. Mit Rück-
die Indikation bejaht werden, im zweiten Fall jedoch nur unter sicht auf den Patienten sollte dabei auf eine zusätzliche Diskussion
größtem Vorbehalt. über die mögliche Bedeutung von Veränderungen im Zentralner-
vensystem bewusst verzichtet werden, da hierbei die große Gefahr
besteht, dass der Patient den Eindruck bekommt, dass Verände-
20.1.7 Therapie rungen in psychischer Hinsicht von Ärzten und Handtherapeuten
als mögliche Ursache der Erkrankung angesehen werden könnten!
Als Meilenstein der operativen Behandlung von Sudeck-Dystro- Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass die Frage, ob es sich
phien kann die von Ehlert (1974) angegebene multiple Faszioto- bei den zentralen Veränderungen um eine auslösende Ursache
mie angesehen werden, die auf der Annahme eines subfaszialen oder nur um ein sekundäres Phänomen handelt, immer noch nicht
Druckanstiegs beruht. Durch dieses Verfahren konnten nicht nur geklärt werden konnte.
sofortige Schmerzfreiheit erreicht, sondern auch die Folgen dieser Bei dem Aufklärungsgespräch sollte auch darauf geachtet wer-
Dystrophie vermieden werden. Der gleiche Effekt wurde 1984 den, dass nahverwandte Familienmitglieder mit anwesend sind,
auch von Sudmann und Sundsford erreicht, und zwar durch eine damit sie ebenfalls darüber informiert werden können, um welche
ausgedehnte beugeseitige Unterarmfasziotomie mit gleichzeitiger Erkrankung es sich bei dem Patienten handelt, welche Behand-
Medianusdekompression. lungsmöglichkeiten in Frage kommen und mit welchem Verlauf
⊡ Tab. 20.6 M. Sudeck (1984–1991 und 2000–2002): OP bei Therapieresistenza (N = 20; Geschlecht: 16 Frauen, 4 Männer; Alter: 21–73 Jahre, ∅ = 45 Jahre).
20 (Aus Wilhelm 2007)
Operationsverfahren
a Stadium II: 16-mal, Stadium III: 4-mal (Patient 5, 12, 13 und 15)
b
OP mit zusätzlicher periarterieller Sympathektomie: 2-mal
20.2 · Spezielle Techniken
453 20
in etwa gerechnet werden kann. Nur dadurch kann man davon Selbst nach einem unmittelbaren guten postoperativen Er-
ausgehen, dass dem Patienten im Kreise seiner Familie das nötige gebnis kann es infolge mangelnder Schonung und einer unerwar-
Verständnis für seine Situation entgegengebracht und das notwen- teten Traktionsschädigung des Plexus brachialis sogar zu einer
dige Gefühl der Geborgenheit und des Rückhaltes in seiner Familie wesentlichen Verschlimmerung des postoperativen Befunds und
vermittelt wird. der erzielten Schmerzwerte kommen. Verantwortlich hierfür ist in
In bestimmten Fällen kann es auch sinnvoll und notwendig erster Linie eine weitere Beeinträchtigung des schmerzdämpfenden
sein, den Arbeitgeber nach Rücksprache mit den Angehörigen ent- Hinterhornsynapsensystems, die je nach Dauer und Schwere des
sprechend zu informieren. Entsprechendes gilt auch für diejenigen schmerzhaften Prozesses sogar zu einer absoluten Therapieresis-
Krankenkassen, die sich weigern, für einen Sudeck-Patienten die tenz führen kann.
Kosten für einen stationären Aufenthalt oder für teure Schmerz- Um den erzielten Erfolg zu sichern, muss der operierte Arm
pflaster zu übernehmen. während der Nachtruhe in Abduktion (Funktionsstellung) und
Erklärung des Operationsprinzips und der beiden verschie- tagsüber auf einem Abduktionskissen mit Zuggurtung gelagert
denen Techniken der Sympathikusausschaltung im oberen Brust- werden, wodurch u. a. vor allem Zugschäden des Arm-Nerven-
bereich (Resektion der Ganglien T I–III bzw. Neurotomie der Geflechts vermieden werden können. Aus diesen Gründen muss
Rr. communicantes). auch das Tragen von Taschen, das Händeschütteln und das freund-
Resektion des N. intercostobrachialis zur prophylaktischen schaftliche Klopfen auf die Schulter unbedingt vermieden werden.
Schmerzausschaltung am Oberarm, vor allem bei schweren, ver- Dies gilt erfahrungsgemäß ebenso für Erschütterungen, wie sie
alteten Dystrophien mit erheblicher schmerzhafter Einsteifung der durch Autofahren und Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erlit-
Schultergelenkbeweglichkeit. ten werden können.
Bewegungsübungen im Bereich der Gelenke des operierten
Mögliche bleibende Folgen Arms dürfen nur aktiv unter ärztlicher und krankengymnastischer
1. Lidspaltenverengung (sog. Horner-Syndrom), meist temporär, Anleitung durchgeführt werden, mit der Zielsetzung, dass diese
Besserungen auch noch nach mehreren Jahren möglich. Therapie auch von dem Patienten selbst durchgeführt werden
2. Trockenheit der Haut im Arm-, Brustkorb-, Hals- und Ge- kann.
sichtsbereich auf der operierten Seite. Aufklärung und Operationseinwilligung sollten nicht nur nach
3. Herabsetzung der Sensibilität an der Oberarminnen- und den üblichen Vorschriften, sondern, falls möglich, auch durch ei-
-streckseite als Folge der Durchtrennung des N. intercostobra- nen Zeugen unterschrieben werden.
chialis.
Komplikationen Instrumentarium
1. Intraoperative Blutung: Nachblutung aus der A. intercostalis I. ▬ Stirnlampe, Lupenbrille bei Bedarf
2. Infektion, Embolie trotz Prophylaxe. ▬ Einmalmesser
3. Verletzung des unteren Armnervenstranges (Handschwäche!). ▬ Feines elektrisches Messer
4. Einriss des Rippenfells über der Lungenspitze. Kleinere Einris- ▬ 1 Präparierschere 28 cm; BC 281; Aeskulap
se sind harmlos und bedürfen keiner Naht. Größere Einrisse ▬ 1 Präparierschere 23 cm; 11-943-23; Martin
werden durch Naht versorgt. ▬ 1 Nadelhalter 23 cm; BM O36R; Aeskulap
5. Verletzung der Lungenspitze mit Luftaustritt. Intraoperative ▬ 1 Nadelhalter 18 cm; BM 12; Aeskulap
Versorgung durch Naht. Postoperativ aufgetretener Pneumo- ▬ 2 Overholt 28/27 cm; Nr. 4; Ullrich
thorax: Behandlung mit Brustkorb-Saugdrainage. ▬ 1 Kornzange 20 cm; BF U47; Aeskulap
6. Erneute Kompression der rechten Armvene durch übermäßige ▬ 1 Drahtzange 20 cm; FO 640; Aeskulap
Narbenbildung möglich. ▬ 1 abgewinkelter Luer 28 cm nach Wilhelm; Fa. Ullrich Ulm
7. Postoperative Ergussbildung im Rippenfellraum. Bei Rippen- ▬ 1 Rippenraspa lang winkelförmig 30 cm nach Roos; Fa. Ullrich
fellverletzungen Ablaufen des Ergusses über die intrapleurale ▬ 1 Rippenraspa kurz winkelförmig 20 cm
Drainage (Kopftieflage); ansonsten Behandlung durch Punkti- ▬ 2 Rippenraspa rund (re./li.) a 17 cm
on oder Drainage. ▬ 1 Raspa rund 18,5 cm; FK 350; Aeskulap
8. Bindehautentzündung (Sandgefühl). ▬ 1 TOS-Spatel nach Roos 35 cm; Fa. Ullrich
9. Rippenfellreizung bei Ergussbildung möglich. ▬ 1 »Großvater«-Leberspatel; BT 758; Aeskulap
10. Postoperatives Auftreten einer Interkostalneuralgie mit Schmer- ▬ 1 chir. Pinzette 30 cm; BD 563; Aeskulap
zen im oberen Brustkorbbereich, die sich bei Einatmung ver- ▬ 2 chir. Ewald-Pinzetten fein, mittelstark; Fa. Fehling/Aeskulap
stärken. Behandlung konservativ, bei Persistenz operativ durch ▬ 2 anat. Ewald-Pinzetten fein, mittelstark; Fa. Fehling/Aeskulap
Neurotomie zur Entspannung der Nn. intercostales. ▬ 1 anat. Pinzette 30 cm; 12-100-30; Martin
▬ 1 anat. Pinzette 30 cm; 24-388-30; Martin
Erfolgsgarantie ▬ 2 Langenbeck-Haken 14 cm (Spatellänge); BT 528; Aeskulap
Eine Erfolgsgarantie für eine Besserung der Schmerzen und der ▬ 2 Langenbeck-Haken 10 cm (Spatellänge); EAZ-5; Fehling
Beweglichkeit im Bereich der Gelenke des operierten Armes
kann nicht gegeben werden. Allerdings bestehen gute Aussichten
in bis zu 90%, falls der Eingriff rechtzeitig im Verlauf der ersten Operationstechnik
3–9 Monate nach Beginn der konservativen Behandlung durch- Der technisch einfachste und für den Patienten schonendste Zu-
geführt werden kann. Bei fortgeschrittenen therapieresistenten gangsweg stellt in jeder Weise das transaxilläre Vorgehen dar.
Erkrankungen mit schmerzhafter Einsteifung des Schultergelenks Die Lagerung des Patienten erfolgt in Seitenlage (⊡ Abb. 20.24).
kann die Operation nur unter großem Vorbehalt empfohlen Nach Vorbereitung und Abdeckung des Operationsareals wird der
werden. steril eingepackte Arm vom zweiten Assistenten in Abduktionsstel-
454 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
⊡ Abb. 20.27 Darstellung eines sehr stark ligamentär veränderten M. sca- ⊡ Abb. 20.28 Intraoperative Darstellung der anatomischen Strukturen im
lenus anterior, unter dem rechten Haken ist die V. subclavia erkennbar. (Aus Bereich der vorderen und hinteren Scalenuslücke. V V. subclavia, A A. sub-
Wilhelm u. Wilhelm 1985, mit freundlicher Genehmigung von Thieme) clavia, P Plexus brachialis; Ansatz des M. scalenus anterior an der 1. Rippe
(Sternchen) und des M. scalenus medius (2 Sternchen).
456 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
Training behandlungsmäßig vor dem Problem der Mobilität und steifung, was therapeutisch mancherorts – zwar in guter Absicht –
stellt die Basis für die Wiedergewinnung der Feinmotorik und der leider aber immer noch zu einem voreiligen Aktionismus verleitet.
Gesamtwahrnehmung des operierten Armes dar« (Tenyér 2000). Dieser führt im Laufe der Zeit zu einer ständigen Verschlimmerung
»Diese Behandlung sollte vorerst nur in Form einer Vibrations- des funktionellen Befundes und der durch die Operation erreich-
therapie durchgeführt werden, die im weiteren Verlauf durch eine ten Schmerzwerte mit einem entsprechenden »Endergebnis«, wie
Behandlung mit harten Bürsten, Igelball usw. (bewegliche Reize, sich dies bei Nachuntersuchungen nachweisen lässt (⊡ Tab. 20.11,
Wirkung über Reflexbogen) ergänzt wird. Erst danach sollte die Patient 11, 17 u. 18).
Therapie mit weichen Bürsten, Pinseln sowie in Form von stati- Besonders deprimierend gestaltete sich der Verlauf bei einer
schen Reizen (Stimmgabel, Holz- und Metallstifte, glatte und raue noch in Behandlung stehenden Patientin, die 5-mal pro Woche
Oberflächen) durchgeführt werden« (Tenyér 2000). über einen Zeitraum von 2 Jahren passiv behandelt wurde, und
»Diese Therapie wirkt sich bekanntlich in Form einer konsen- zwar durch Abbiegen des Handgelenks über einer Tischkante und
suellen Reaktion auch auf den operierten Arm aus, sodass, je nach durch passieves Beugen der Finger, in der Absicht, dadurch einen
Ausmaß der postoperativ erreichten Schmerzbesserung, nach etwa Faustschluss erreichen zu können; und dies ist kein Einzelfall!
3–4 Wochen mit dieser Therapie auch am operierten Arm begon- Mit Gewalt kann man bei der Behandlung der Sudeck-Dys-
nen werden kann, wobei behandlungsbedingte Schmerzafferen- trophie, auch in ihrem postoperativen Verlauf, nur Negatives er-
zen in jeder Weise selbstverständlich vermieden werden müssen. reichen! Anstatt dessen sind vielmehr Feinfühligkeit, Verzicht auf
Die im weiteren Behandlungsverlauf auftauchenden Probleme und alle Maßnahmen, die zu schädlichen Schmerzafferenzen führen,
Verschlimmerungen des Lokalbefundes sollten stets mit dem be- und eine individuelle, beruhigende und geduldige Behandlung des
handelnden Operateur besprochen werden« (Tenyér 2000). Patienten gefragt.
Für die Handtherapeuten entsteht bei dieser Erkrankung mit- Wie unnötig und schädlich jeder derartige passive Aktionis-
unter ein großes Problem, nämlich die Angst vor einer Gelenkver- mus ist, demonstrieren die ⊡ Abb. 20.32, ⊡ Abb. 20.33, ⊡ Abb. 20.34,
458 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
⊡ Abb. 20.33 Die präoperative seitliche Aufnahme der erkrankten Hand ⊡ Abb. 20.36 Diese Abbildungen zeigen ein massives Hand- und Unter-
zeigt eine hochgradige Strecksteife aller Finger armödem bei einer Sydeck-Dystrophie I, aufgetreten nach Operation einer
ausgedehnten Hohlhandphlegmone und die Rückbildung des Ödems
innerhalb von 4 Tagen. Wegen einer hochgradigen Stenose der V. subclavia
(⊡ Abb. 20.16) ist die Patientin bereits nach 2 Monaten operiert worden. Die
postoperative Behandlung konnte bereits nach 6 Monaten abgeschlossen
werden (Patient 7). (Aus Wilhelm 1997b)
Postoperative Ergebnisse
⊡ Abb. 20.34 Postoperativ findet sich am Nachmittag des Operationstages Zur Beurteilung des angewandten transaxillären Operationsverfah-
eine freie Streckung aller Finger und eine vollständige Rückbildung der rens wurden zunächst exemplarisch die Bildserien von 4 Patienten
Hautfalten über den genannten Gelenken (19, 7, 4 und 8) vorgestellt (Patient 19: ⊡ Abb. 20.32, ⊡ Abb. 20.33,
20.2 · Spezielle Techniken
459 20
⊡ Abb. 20.37 Rückbildung des Ödems innerhalb von 4 Tagen. Postoperati- ⊡ Abb. 20.39 Freie Streckfunktion der Finger 2 Monate nach der Operation,
ves Ergebnis s. ⊡ Tab. 20.9 und ⊡ Tab. 20.10 (Aus Wilhelm 1997b) deutliche Weichteilatrophie i. B. der Hand
⊡ Abb. 20.38 Sudeck-Dystrophie II bei einer »non-thrombotic-obstruction« ⊡ Abb. 20.40 Vollständiger Faustschluss der Finger, deutliche Weichteilatro-
der rechten V. subclavia (Patient 4, ⊡ Abb. 20.18). Das Ödem ist infolge einer phieauch i.B. des Unterarms
ausgezeichneten Kollateralkreislaufbildung auf die Hand beschränkt. Bereits
geringste Bewegungsversuche führten zu einer ganz erheblichen Schmer-
zäußerung; der VAS-Wert lag in Ruhe bei 8–10. Die Hand ist in einer Beu-
ge- und Adduktionsstellung der Finger vollkommen »versteift«. Nach einer
2-monatigen postoperativen Behandlung war der Patient schmerzfrei und
verfügte bereits über eine vollständige Fingerstreckung und einen komplet-
ten Faustschluss. (Aus Wilhelm 1997b)
⊡ Abb. 20.34, ⊡ Abb. 20.35; Patient 7: ⊡ Abb. 20.36, ⊡ Abb. 20.37; Pati-
ent 4: ⊡ Abb. 20.38, ⊡ Abb. 20.39, ⊡ Abb. 20.40; Patient 8: ⊡ Abb. 20.41,
⊡ Abb. 20.42).
Postoperativ konnten in dem Behandlungszeitraum von 1984–
1991 nach einer durchschnittlichen Vorbehandlungszeit von 9 Mo-
naten in 70% sehr gute, in 20% gute und in 10% ein befriedigendes
Ergebnis erreicht werden.
Eine postoperative Behandlung mit Valoron® N war nur bei
3 von 10 Patienten erforderlich (⊡ Tab. 20.10, Patient 2, 8 u. 9).
Ansonsten wurden nur Antiphlogistika, Psychopharmaka, Neuro-
bion® und einfache Schmerzmittel, wie Paracetamol, verabreicht. ⊡ Abb. 20.41 Sudeck-Dystrophie II nach 11-monatiger konservativer Be-
An Komplikationen waren lediglich ein Pneumothorax, der handlung (Patient 8). Operationsindikation wegen erheblicher Schmerzen,
drainiert, und eine Nachblutung aus der A. intercostalis I, die aus- Behinderung der Fingerstreckung und Fehlen der groben Kraft. Nach 5-mo-
geräumt werden musste, zu beklagen. natiger Nachbehandlung war die Patientin beschwerdefrei
460 Kapitel 20 · Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I)
⊡ Abb. 20.42 Bei dieser Patientin lag außerdem eine erhebliche Einschrän- Adjuvanzien
kung des Faustschlusses vor (postoperative Funktion ⊡ Tab. 20.9, ⊡ Tab. 20.10)
Kortikoide Amitriptylin Quaddelungen
a
maximale Schmerzwerte bei starker Belastung
⊡ Tab. 20.9 M. Sudeck (1984–1991): Wiederherstellug der Kraft und Fingerfunktion. (Aus Wilhelm 1997b)
Patient Nr. Kraft (%) Beugedefizit (NRHA in cm) Streckdefinzit (NRTA in cm) Nachuntersuchung
Postop. (Jahre)
0–0–0–0,5 0–0–0–0
0–0–0–0 0–0–0–0
1–0,5–0–0 0–1–2–0
0–0–0–0 0–0–0–0
0,5–0–0–0 1–1–1–1,5
0–0–0–0 0,5–0–0–1
1–2–3,5–3 0–1,5–2–3,5a
0–0–0–0 0–0–0–0
1,5–2,5–2–1,5 0–0–1–0
4–3,5–4–3 0–2,5–2,5–0b
a
präop. postop. total Schmerz Horner-S. Bewertung
1 14 9 23 - - sehr gut
2 8 6 14 - - sehr gut
5 19 1 20 - - sehr gut
6 3 4 7 - - sehr gut
7 2 6 8 - - gut
8 11 5 16 - - sehr gut
10 9 9 18 ((+)) - gut
∅ (Monate) 9 9 18
⊡ Tab. 20.11 M. Sudeck: Operationsergebnisse (2000 – VIII 2002). (Aus Wilhelm 1997b)
16 18 1→ 19 ⎯ ((+)) 1 a (+), ⎯ c 1* →
3→ c2→
20 19 27 30 ((+)) ((+)) 1 a ((+)), b 80°
∅ Monate 43 11 54 Ergebnisse: sehr gut = 40%; gut = 20%; befriedigend = 10%; ohne Erfolg = 20%
a präop. Schultersymptomatik [ ((+)) ⎯ ++ ]; b präop. Schulterkontraktur, Abduktionsumfangumfang; c Sympathikusresektion, Anzahl der Ganglien; d alleinige
Durchtrennung von Rr. communicantes, Anzahl; * auffallend langes Ganglion
a Bewertung: 1–4
b
(Patient 20): Zustand nach schwerer Traktionsschädigung des rechten Plexus brachialis am 2. postoperativen Tag durch Fremdverschulden. Handfunktion
nicht verwertbar. Postoperatives Resultat schmerzmäßig gut
c Durchschnittswerte nach Extrapolation von Patient 13
20.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
463 20
⊡ Tab. 20.12 Operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie – Sammelstatistik (1984–2002). (Aus Wilhelm 2007)
Univ. Klinik für Plastische und Wiederherstellungschirurgie Aachen 1 1-mal sehr gut c
Bradford Teaching Hospital Dpt. Trauma/Orthopaedics Bradford 27 (+2)e 17-mal sehr gut und gut d
(1994–2006) 4-mal befriedigend
6-mal ohne Erfolg
a
Postoperative Behandlung bei 6 Patienten, die bis 2007 operiert wurden, noch nicht abgeschlossen
b
Persönliche Mitteilung von Prof. Dr. J. D. Gruß.
c Ergebnis einer eigenen Nachuntersuchung
20
In allen Bereichen der kindlichen Entwicklung spielt die Hand und Europaweit gibt es kein gemeinsames Handfehlbildungsregister, in
speziell der Daumen eine wichtige Rolle. Dies gilt für die Ausbil- dem alle Patienten dokumentiert werden. In Dänemark existiert
dung der motorischen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten sowie seit 1983 ein Register, das alle Fehlbildungen von Neugeborenen
für die Sprachentwicklung. Die Komplexität der Handfunktion und Totgeburten verzeichnet. Die meisten epidemiologischen Da-
wird durch die lange Phase der Perfektionierung widergespiegelt, ten zu den einzelnen Fehlbildungen beziehen sich auf eine Publi-
die sich über mehrere Jahre erstreckt und von ulnar nach radial – kation von Birch-Jensen aus dem Jahr 1949, wobei die Polydaktylie
vom Kraft- zum Präzisionsgriff – erfolgt. Die Hände dienen nicht nicht erwähnt wird. Generell wird angenommen, dass angeborene
nur als »Greiforgan«, sondern sind ein Ausdrucksorgan für Bezie- Fehlbildungen 1–2% aller Neugeborenen betreffen, 10% davon
hungen und Kreativität. Sie ermöglichen es uns, auf die Umwelt entfallen auf die obere Extremität. Um eine bessere Datenlage zu
einzuwirken und sie zu verändern. Sie sind großteils dafür verant- schaffen sprechen sich Weber et al. (2005) für eine Meldepflicht
wortlich, dass wir unser Leben »in der Hand haben«, es gestalten von Gliedmaßenfehlbildungen aus.
und beeinflussen können ( Kap. 2). ⊡ Tab. 21.1 gibt einen Überblick über die häufigsten Fehlbil-
Was passiert aber, wenn ein Kind mit einer fehlgebildeten dungsarten, die Häufigkeit sowie die Geschlechterverteilung und
Hand zur Welt kommt? Wenn die Hand durch die veränderte Ana- die Assoziation mit anderen Fehlbildungen.
tomie nicht gebrauchsfähig ist oder Finger, besonders der Daumen,
gänzlich fehlen? Aus der Erfahrung weiß man, dass sich Kinder mit
fehlgebildeten Händen auch ohne Operation im täglichen Leben 21.1.3 Ätiologie
sehr gut und rasch zurechtfinden und erstaunlich gute Bewegungs-
muster erlernen. Es gibt allerdings Fehlbildungen – meist im Rah- Um den 26. Tag nach der Konzeption entwickelt sich in der Embry-
men von Syndromen –, bei denen ein Kind zeitlebens einer Hilfe onalperiode die obere Extremitätenknospe zwischen den 9.–12. So-
(meist der Mutter) bedarf. miten, welche die Regionen C5–Th8 widerspiegeln. Nach Carnegie
Das Ziel eines chirurgischen Eingriffs an einer fehlgebilde- entspricht die Extremitätenentwicklung den Stadien 12–23 und
ten Hand ist dem Kind das Greifen zu ermöglichen. Dies ist für durchläuft hierbei 5 Organisationsphasen:
die Selbstständigkeit des Kindes und seine gesamte psychomo- 1. Induktion der Knospe,
torische Entwicklung wichtig, damit keine Entwicklungsverzö- 2. Festlegung der Achsen,
gerung auftritt. Nicht zu vernachlässigen ist die psychosoziale 3. Progressionszone,
Entwicklung eines fehlgebildeten Kindes, welches im Alter von 4. Differenzierung und
etwa 3 Jahren sein »Anderssein« bemerkt und daher im Kinder- 5. Abgrenzung der Fingerstrahlen.
garten einem großen emotionalen Stress ausgesetzt ist. Mit der
frühen chirurgischen Intervention, welche an Chirurgen und Während der Induktion durch den Wachstumsfaktor FGF 8 entsteht
Anästhesisten hohe technische Anforderungen stellt, wird neben die Extremitätenknospe, welche aus einem länglichen Mesoderm-
der Verbesserung der Handfunktion auch eine Verbesserung des kern und einer darüber liegenden dünnen Schicht Ektoderm auf-
Aussehens angestrebt. gebaut ist. Zu einem Auswachsen der Extremitätenanlage kommt
Die Aufgabe des Handchirurgen besteht in der Beratung der es entlang der Randleiste, die eine Verdickung des Ektoderms
Eltern über die Therapiemöglichkeiten und den besten Zeitpunkt darstellt (AER, »apical ectodermal ridge«). Es werden Signale ans
für die Operation. Es gilt, die verschiedenen Verfahren sorg- Innere gesendet, wodurch das Mesenchym proliferiert (Progressi-
fältig hinsichtlich Machbarkeit und Nutzen abzuwägen, wobei onszone) und die Extremität von proximal nach distal auswächst.
auch konservative Methoden erwähnt werden müssen. Ferner Mesoderm und Randleiste halten sich hierbei gegenseitig aktiv – die
sollte der Operateur, besonders im Falle von assoziierten Fehl- Wachstumsfaktoren FGF 2 und 8 sowie MSX 1 und 2 sind dafür
bildungen und Syndromen, mit anderen ärztlichen Fachgebieten verantwortlich. Nun wird ein Koordinatensystem aufgebaut; dieses
(Neonatologe, Kiefer-, Neuro-, Kinderchirurg, Pädiater, Radio- verläuft proximal und distal (durch den FGF-Gradienten), dorsal
loge, Genetiker) und Psychologen sowie Ergotherapeuten eng und ventral (durch differenzielle Genexpression) sowie anterior
zusammenarbeiten. Die genaue Planung bezüglich Diagnostik und posterior (bzw. prä- und postaxial oder radial und ulnar durch
und Therapie, vor allem aber die Aufklärung über die Ope- den Shh-Gradienten). Basierend auf Positionsinformation durch
ration und Führung der Eltern des Kindes fällt in das Aufga- die sog. HOX-Gene entstehen nun während der Musterbildung
bengebiet des Handchirurgen. Die Korrektur von angeborenen Ober- und Unterarm, Hand und Finger. HOXa 9–13 sind hierbei
Handfehlbildungen ist also ein komplexes und vielschichtiges für die proximodistale Entwicklung zuständig, HOXd 9–13 für die
Thema. radioulnare. Nun findet in der Gewebedifferenzierung die Unter-
scheidung in Knorpel, Knochen, Muskel, Nerven und Gefäße statt.
Auch werden in dieser Phase an der sog. Handplatte durch gezielte
21.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Apoptose von distal nach proximal in den Interdigitalräumen die
21 Physiologie Finger gebildet – bedingt durch das Fehlen der Wachstumsfaktoren.
Die Finger können ca. ab dem 41. Tag unterschieden werden und
Neben dem Wissen über die Anatomie und die Entwicklung der sind etwa 10 Tage später vollständig getrennt. Die Entwicklung der
Hand ( Kap. 65; z. B. Knochenwachstum) müssen dem Handchi- oberen Extremität dauert insgesamt etwa 26 Tage (⊡ Abb. 21.1).
rurgen Normvarianten von Gefäß- und Nervenabgängen sowie Postpartal setzt sich die Reifung bzw. das Wachstum der ver-
Muskel- und Sehneninsertionen bekannt sein. Vor allem aber muss schiedenen Gewebe fort. Die zeitliche Reihenfolge des Auftretens
der Operateur Wissen und Erfahrung um die Besonderheiten der von Knochenkernen (⊡ Abb. 21.2) und der Schluss der Epiphysen-
einzelnen Handfehlbildungen und deren anatomischen Gegeben- fugen (⊡ Abb. 21.3) im Bereich der oberen Extremität sind zeitlich
heiten mitbringen. breit gestreut und lassen so eine Bestimmung des Skelettalters zu.
21.1 · Allgemeines
471 21
⊡ Tab. 21.1 Epidemiologische Informationen zu den häufigsten Handfehlbildungen. Die Angaben variieren in der Literatur hinsichtlich Geschlechts-
verteilung und Inzidenz
Daumenhypoplasie 1:10.000–1:21.000 1:1 60% bilateral, unilateral meist rechts, oft in Kombination mit
Radiusdefekt
Syndaktylie 1:100–1:2.000 2:1 1. ZFF 10%, 2. ZFF 22%, 3. ZFF 47%, 4. ZFF 21%
Arthrogryposis multiplex 1:10.000 k.A. Typischerweise bilateral und symmetrisch, häufig assoziiert
congenita mit Klumpfüßen
Kamptodaktylie Prävalenz ca. 1% 1:1, ab dem 2. In 2/3 bilateral, Häufigkeit nimmt nach radial ab
Lebensjahr >w
Klinodaktylie Prävalenz 1,5–19,5% k.A. 5. Finger häufiger als der Daumen betroffen
Polydaktylie 1:1.000–1:2.000 4:3 Häufiger Dopplung radial bzw. ulnar als zentral, in 30-40%
bilateral
Triphalangealer Daumen 1:25.000 k.A. Häufig in Kombination mit Doppeldaumen, radialer Klump-
hand, Daumenhypoplasie
Hyperphalangie der Finger Sehr selten, ca. 120 Fälle in 1:1 Häufig assoziiert mit Klinodaktylie des Kleinfingers, Brachy-
der Literatur metakrapie, Klumpfuß, Hüftdysplasie
Makrodaktylie Sehr selten, ca. 165 Fälle in 1:1 Meist 2. und 3. Finger betroffen
der Literatur
Schnürring-Komplex 1:10.000–1:15.000 k.A. Obere Extremität häufiger als untere Extremität betroffen
ZFF Zwischenfingerfurche
postaxial
D5 tose
D4 Apop
Progressionszone
(MSX 1, 2)
D3
Hoxd 9
proximal distal
Hoxd 10
D2 Hoxd 11
Randleiste (FGF 2, 8) Hoxd 12
D1
Hoxd 13
Handplatte
präaxial Extremitätenknospe FGF 8
Die Erkenntnis der molekularen Mechanismen in der em- Zahl der Progenitoren, welche die Knospe formieren, der Proli-
bryonalen Entwicklung der Hand führte zum Verständnis von ferationsrate und der Häufigkeit des Zelltodes. So kann z. B. die
Genmutationen, welche für das Entstehen von Handfehlbildungen, Polydaktylie ihre Ursachen in diesen 3 Faktoren haben und auf
besonders in Fällen von bilateralen Defekten, verantwortlich sein einen Defekt in der Menge des FGF-Wachstumsfaktors oder im
können. Shh-Signaltransduktionspfad sowie auf die fehlenden Apoptose an
Wie viele Finger sich aus der Handplatte entwickeln, ist ab- der Präachse zurückzuführen sein. Im Falle des Doppeldaumens
hängig von dem zur Verfügung stehenden Gewebe und somit der konnte die Ursache für die veränderte Shh-Signaltransduktionskas-
Größe der Extremitätenknospe. Diese wird beeinflusst von der kade am Chromosom 7q36 gefunden werden.
472 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Processus coracoideus
Apophysis curvaturae,
Apophysis corporis, 1. J. 15.–16. J.
Clavicula
Apophysis apicis, 15.–16 J. Corpus, 8. W Extremitas sternalis,
18.–20. J.
Acromion, 15.–18. J.
Os subcoracoideum, 10.–12. J.
Facies articularis, 18. J.
Caput humeri, 12.–15. M.
Scapula
Corpus, 8. W
Tuberculum maius, 2.–3. J.
Tuberculum minus, 2.–3. J. Margo vertebralis,
18.–19. J.
Angulus caudalis,
15.–18. J.
Olecranon, 8.–12. J.
Corpus radii, 7. W.
Acromion, 18.–19. J.
Epiphysis sternalis,
21.–24. J.
Synostosis epiphysis
primariae et Os subcoracoideum,
apophysium tuberculorum, 18. J.
5. J.
Angulus caudalis,
20.–21. J.
Cavits glenoidalis, 19. J.
Synostosis epiphysis
secundariae, 14.–16. J.
Olecranon, 13.–17. J.
Capitulum ulnae,
Epiphysis distalis, 21.–25 J. 20.–24. J.
Os metacarpi pollicis,
Epiphysis proximalis,
15. –20. J.
Epiphysenfigen
(Sonderfälle) Epiphysis distalis
metacarpi II–V, 15.–20. J
Epiphyses proximales
phalangium I–V, 20.–24. J.
Bei Fehlbildungen, die familiär vorkommen, ist der Verer- Handfehlbildungen auch immer nach weiteren Fehlbildungen zu
bungsmodus häufig autosomal dominant mit großer intrafamiliärer suchen (⊡ Abb. 21.4).
Variabilität. Ein Beispiel dafür ist das Spalthandsyndrom (SHFM,
»split hand foot malformation«), für welches 5 verschiedene Gen-
loci gefunden werden konnten. Für die rezessive Form des Spalt- 21.1.4 Diagnostik
handsyndroms wurde bisher nur eine Mutation gefunden.
Auch exogene Noxen, wie Viren (z. B. das Rötelnvirus) oder Die Diagnostik von Handfehlbildungen beginnt mit den Ultra-
Medikamente, können für Fehlbildungen der oberen Extremität schalluntersuchungen während der Schwangerschaft. Der beste
verantwortlich gemacht werden. Zwischen 1957 und 1961 wurde Zeitpunkt ist im Rahmen des Organscreenings in der 21. Schwan-
ein sprunghafter Anstieg von verschiedenen Handfehlbildungs- gerschaftswoche (SSW) bzw. zwischen Ende des 1. und Anfang
arten in den Ländern beobachtet, in welchen die Substanz Tha- des 2. Trimenons. Aufgrund der Größe der Hand (etwa 8–9 mm in
lidomid (ein Beruhigungs- und Schlafmittel unter dem Namen der 11. SSW) und der Kindeslage ist die vollständige Abbildung oft
Contergan® bzw. Softenon®) zugelassen worden war. Laut dem nicht einfach. Vielfach kann die obere Extremität nicht zur Gänze
deutschen Bundesverband Contertangeschädigter e. V. wurden in dargestellt werden. Isolierte Handfehlbildungen sind schwer zu er-
Deutschland etwa 5.000 Kinder mit verschiedenen Fehlbildungen kennen. Bei assoziierten Fehlbildungen oder Syndromen kann nach
geboren. Je nach Zeitpunkt der Einnahme treten unterschiedliche Fehlbildungen der Hände gesucht werden, doch treten aufgrund der
Schädigungen auf. So kommt es zwischen dem 32. und 38. Tag Schwere anderer Fehlbildungen die Veränderungen an den Händen
post menstruationem (pm) zu einem Fehlen der Ohrmuschel und oft in den Hintergrund. Im Durchschnitt beträgt die Entdeckungs-
zu einer Fazialisparese, zwischen dem 40. und 42. Tag zu Arm-, rate von einfachen und komplexen Fehlbildungen des muskuloske-
zwischen dem 43. und 46. Tag zu Bein- und zwischen dem 48. und lettalen Systems in der 23. SSW laut Eurofetus-Studie 17 vs. 73%.
50. Tag zu Daumenfehlbildungen. Die Dosis von Thalidomid hat Wird eine Handfehlbildung während der Schwangerschaft er-
keinen Einfluss auf das Ausmaß der Fehlbildung. Die teratogene kannt, besteht bei vielen Eltern als erste Reaktion Unsicherheit
Wirkung der Substanz dürfte auf antiangiogenen Mechanismen hinsichtlich der Zukunft ihres Kindes. In dieser Phase scheint es
beruhen, wobei unreife Blutgefäße zur Gänze zerstört und reifere sinnvoll, die Eltern früh über postnatale Therapiemöglichkeiten
in ihrem Wachstum gehemmt werden. aufzuklären. Häufig werden Fehlbildungen an der Hand jedoch
Da exogene Noxen alle Organe, die sich in einer sensiblen Ent- erst nach der Geburt diagnostiziert. Die Zusammenarbeit zwischen
wicklungsphase befinden, schädigen können, ist bei angeborenen den einzelnen Fachdisziplinen ist hierbei genauso wichtig wie ein
Fetalperiode
Embryonalperiode in Wochen in Wochen Geburtstermin
1 2 3 4 5 6 7 8 9 16 20–36 38
Periode der sich gibt die häufigsten Lokalisationen der Teratogenwirkungen an. Gehirn
teilenden Zygote,
Implantation ZNS Gaumen Ohr
und zweischichtige Herz Auge Ohr
Auge
Keimscheibe Herz
Arm
Beine
Zähne äußeres Genitale
Zentralnervensystem
Herz
Arm
Auge
Beine
Zähne
21 Gaumen
gewöhnlich
keine Anfälligkeit äußeres Genitale
gegen Teratogene
mehr Ohr
funktionelle Defekte
Abort schwere morphologische Anomalien und kleinere morphologische Anomalien
⊡ Abb. 21.4 Schematische Darstellung der kritischen Perioden in der Embryonalentwicklung. (Aus Berger u. Hierner 2008)
21.1 · Allgemeines
475 21
Ansprechpartner für die Eltern, der die Planung der weiteren diag- um ggf. prä- und postoperative Ergebnisse eines Kindes sowie
nostischen und therapeutischen Schritte übernimmt. postoperative Daten mehrerer Kinder in einer statistischen Aus-
Da Handfehlbildungen vielfach ein Erscheinungsbild eines wertung vergleichen zu können.
Syndroms sind, muss das Kind vom Neonatologen oder Pädiater
durchuntersucht werden. So kann z. B. eine Radiusfehlbildung iso-
liert, aber auch im Rahmen eines TAR-Syndroms vorkommen, bei 21.1.5 Klassifikation
dem auch eine Thrombozytopenie vorliegt. Besteht der Verdacht
einer karyotypischen Aberration, ist eine genetische Untersuchung Angeborene Handfehlbildungen sind ein äußerst heterogenes
empfehlenswert. Krankheitsbild. Sie können von minimalen, kaum sichtbaren Ver-
Seitens des behandelnden Hand- oder Kinderchirurgen ist änderungen bis zum Fehlen von ganzen Gliedmaßenteilen reichen.
ebenfalls eine ausführliche klinische Diagnostik mit Kategorisie- Aus diesem Grund ist es sehr schwierig, eine einheitliche Klas-
rung der Fehlbildung inklusive Fotodokumentation sinnvoll. Ein sifikation der Handfehlbildungen zu formulieren. Viele Autoren
präoperatives Röntgen in 2 Ebenen von beiden Händen ist obligat. haben versucht, eine Einteilung vorzunehmen – die derzeit letzte
Bei komplexen Fehlbildungen (z. B. bei einer Triplikation des und gültige Fassung von Swanson, die auch von der International
Daumens) ist die Durchführung einer Multislice-(MS-)Angio-CT zu Federation of Societies for Surgery of the Hand (IFSSH) anerkannt
erwägen. Sie hat gegenüber der traditionellen Angiografie und dem wurde, wurde nach morphologischen Kriterien vorgenommen und
konventionellen Röntgen Vorteile (⊡ Abb. 21.5). Es wird dabei Kont- umfasst 7 Kategorien (⊡ Tab. 21.2).
rastmittel in eine periphere Vene injiziert. Die gegenüber der konven- In der Praxis wird zusätzlich eine Klassifikation der einzelnen
tionellen Röntgenuntersuchung erhöhte Strahlenbelastung und die Fehlbildungen vorgenommen und nach zunehmendem Schwere-
bei der Untersuchung von Kleinkindern nötige kurze Sedierung muss grad werden teratologische Reihen aufgestellt. Schwierigkeiten in
gegen den Nutzen der Darstellung von Einzelheiten aufgewogen wer- der Kategorisierung ergeben sich aber erneut bei kombinierten
den. Insgesamt liegt die Strahlenbelastung bei der Angio-CT bei etwa Defekten und es gibt auch Fehlbildungen, die nicht in eine Kate-
0,5 mSv im Vergleich von 0,1 μSv eines normalen Handröntgens. gorie passen.
Der funktionelle Handstatus, häufig durchgeführt von den Er-
gotherapeuten, stellt bei älteren Kindern ein wertvolles Instrument
für die Evaluierung des präoperativen Status, des postoperativen 21.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Verlaufs und des Therapieerfolges sowie die Möglichkeit einer
Qualitätskontrolle dar. Standardisierte Verfahren, wie die Messung Von Fehlbildung zu Fehlbildung und Fall zu Fall kann es hinsicht-
der Beweglichkeit aller Hand- und Fingergelenke nach der Neu- lich der Indikation und der verschiedenen Therapiemethoden gro-
tral-0-Methode, Kraftmessungen der Grobkraft, des Spitz-, Drei- ße Unterschiede geben. Aus diesem Grund werden diese Punkte in
punktgriffs und der Opposition zu den Fingerspitzen sowie ein den einzelnen Kapiteln ausführlich besprochen.
Koordinationstest, z. B. der »9-Hole-Peg-Test«, im Seitenvergleich
oder bei bilateralen Fehlbildungen im Vergleich zu einer gesunden
altersgleichen Population stehen hier zur Verfügung. Zusätzlich zu 21.1.7 Therapie
objektiven Messdaten ist die Beobachtung des Kindes beim Spielen
wertvoll. Die Eltern können über den Einsatz der fehlgebildeten Das Ziel jeglicher Therapie bei Handfehlbildungen stellt das Errei-
Hand im täglichen Leben Hinweise zur Funktionalität liefern. Es chen einer von der Schwere der Fehlbildung abhängigen optimalen
empfiehlt sich ein einheitliches Dokumentationsblatt zu erstellen, Greiffunktion sowie eines guten ästhetischen Ergebnisses dar.
⊡ Tab. 21.2 Klassifikation der angeborenen Fehlbildungen der oberen Extremität (IFFSH)
C Symphalangie
E Kontraktur Weichteile: Arthrogryposis, Pterygium, schnellender Finger, Fehlen der Strecksehnen, Daumen-
hypoplasie, Kamptodaktylie, Windmühlenflügeldeformität
Knochen: Klinodaktylie, Kirner-Deformität, Deltaknochen
III. Doppelbildungen
A Daumenpolydaktylie (präaxial)
B Dreigleidriger Daumen, Hyperphalangie
C Polydaktylie der Finger: zentrale (Polysyndaktylie), ulnare Polydaktylie (postaxial)
IV. Überentwicklung (Gigantismus) des ganzen oder von Teilen des Arms
Makrodaktylie
V. Unterentwicklung (Hypoplasie)
VI. Schnürring-Komplex
Madelung-Deformität
Konservative (nichtoperative) Therapie den Korrektureingriff das Greifen für das Kind gravierend ändert,
Die Versorgung mit Prothesen wird dann die Therapie der Wahl da die Adaptation der veränderten Greiffunktion und die Integ-
sein, wenn für ein Kind keine operative Therapie in Frage kommt ration der umgestalteten Hand spielerisch, schneller und leichter
und das Kind sowie dessen Eltern eine solche wünschen (z. B. erfolgt. Das ist beispielsweise bei der Pollizisation des Zeigefingers
Symbrachydaktylie vom peromelen Typ). Es gibt auch konservative der Fall. Neben psychologischen Gründen (die Kinder werden
Therapiemethoden zur Vorbereitung von Operationen wie z. B. die wegen der Fehlbildung vielfach diskriminiert) sind das Verhindern
redressierende Schienentherapie vor der Korrekturosteotomie im zusätzlicher Deformierungen an Knochen und Gelenken durch
Falle der radialen Klumphand. Fehlwachstum sowie die bessere Anpassungsfähigkeit der verschie-
denen Gewebe an die durch die Operation veränderten Aufgaben
Operative Therapie dieser Strukturen weitere wichtige Argumente für eine operative
Je nach Fehlbildung kommen verschiedene Operationen zum Ein- Therapie im 1. Lebensjahr.
satz, um dem Kind eine funktionsfähige Hand zu ermöglichen. Bei bilateralen Hand- oder assoziierten Fußfehlbildungen ist
Wichtig ist die langjährige Erfahrung des Handchirurgen, die die Korrektur von beiden Fehlbildungen nacheinander in einer
Beachtung der allgemeinen Operationsprinzipien (Schnittführung, Sitzung oder ein paralleles Vorgehen in 2 Teams zu überlegen. In
Operation mit Lupenbrille und Mikroinstrumentarium, ggf. auch der detaillierten Planung des schrittweisen Vorgehens muss auch
21 unter dem Mikroskop) sowie die ständige Weiterbildung und in- auf mögliche assoziierte Fehlbildungen Rücksicht genommen und
terne Qualitätskontrolle. die Korrektur der Hand auf einen späteren Zeitpunkt verschoben
Zu welchem Zeitpunkt welcher Eingriff notwendig ist, ent- werden. So wird z. B. beim M. Apert immer der Schädel wegen
scheidet der Operateur – die Ansichten reichen von »so früh wie der Gefahr der Entwicklung eines Hydrocephalus aufgrund des
möglich« bis zu »nach Abschluss des Wachstums«. Zwar ist am erhöhten Hirndrucks zuerst korrigiert, bevor die Hände operiert
älteren Kind die Präparation der Strukturen oftmals einfacher, die werden. Weiterhin sind mögliche Korrektur- und/oder Nachfol-
Gefahr der Verletzung von Epiphysenfugen, Nerven und Gefäßen geoperationen zu bedenken. Eine regelmäßige Nachuntersuchung
somit geringer – jedoch wird von den meisten Autoren ein frühzei- bis zum Abschluss des Wachstums ist daher notwendig, um Ver-
tiger Eingriff empfohlen. Dieser ist dann sinnvoll, wenn sich durch änderungen, wie z. B. durch Narbenzüge entstandene Skelettdefor-
21.1 · Allgemeines
477 21
mitäten, zu erkennen und frühzeitig eingreifen zu können. Diese
Kontrolltermine dienen auch der internen Qualitätskontrolle und
der ständigen Evaluierung des eigenen Behandlungskonzepts.
Postoperative Maßnahmen
Als postoperative Maßnahme ist die Ergotherapie unverzichtbar
im interdisziplinären Behandlungskonzept. In spielerischer Art
werden Funktionen trainiert und die neue Handfunktion im Alltag
des Kindes umgesetzt. Je nach Alter des kleinen Patienten sind die
Eltern mehr oder weniger stark eingebunden. Das tägliche Spiel
mit der korrigierten fehlgebildeten Hand ist absolut notwendig,
um neben dem guten funktionellen auch ein gutes ästhetisches
Ergebnis zu erzielen. Dazu müssen die Eltern instruiert werden,
wie sie die Sensibilität, die Feinmotorik und die Kraft an der be-
troffenen Hand ihres Kindes fördern und die Narben gepflegt und
massiert werden können.
Die Anfertigung von thermoplastischen Schienen, präoperativ
zur Vorbereitung oder postoperativ zur Lagerung der operierten
Hand und zur Unterstützung der neu gewonnenen Funktion, ge-
hört ebenfalls zum Aufgabengebiet der Ergotherapie. Wenn für das
Kind notwendig, können die Eltern bezüglich der Verwendung von
Hilfsmitteln beraten und diese zur Erleichterung des Alltags indivi-
duell angefertigt werden. So wird der Gebrauch der fehlgebildeten
Hand gefördert und kann immer mehr Funktionen bei alltäglichen ⊡ Abb. 21.6 Statische Fingerschiene zur präoperativen Weichteildehnung
Aufgaben übernehmen. Eine Knöpfelhilfe kann z. B. das An- und vor dem Korrektureingriff einer Klinodaktylie am Kleinfingerendglied
Ausziehen erleichtern oder eine Griffadaptation des Besteckes das
Essen mit Messer und Gabel ermöglichen. Die Selbstständigkeit
und somit das Selbstwertgefühl des Kindes können so gefördert
werden. Schienenbehandlung
Schienen aus thermoplastischem Kunststoff werden von den Hand-
Handtherapie bei angeborenen Fehlbildungen therapeuten immer individuell an die jeweilige Kinderhand ange-
Dunja Estermann passt. Keinesfalls dürfen Druckstellen oder Abschnürungen auftre-
ten. Aus diesem Grund ist auf ein leichtes Material (z. B. 1,6 mm
Erfahrungen in der Handtherapie haben gezeigt, dass Kinder mit dicker thermoplastischer Kunststoff) und auf weiche Polsterungen
Handfehlbildungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Alltag, sowie gepolsterte Flauschbandverschlüsse zu achten. Regelmäßige
beim Spielen und bei anderen Greifaktivitäten außerordentlich Termine müssen mit den Eltern vereinbart werden, um zu kontrol-
geschickt sind. In fast allen Fällen können operative Eingriffe die lieren, ob die Schiene korrekt angelegt wird und ob das Kind noch
Funktion und Ästhetik der Kinderhände wesentlich verbessern nicht aus der Schiene herausgewachsen ist.
und somit einen beachtlichen Gewinn der Lebensqualität der Ziele der Schienenbehandlung können sein, eine knöcherne
betroffenen Kinder bewirken. Eine enge, direkte, vertrauensvolle, Struktur sowie Weichteile
interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen dem Ärzte-, Thera- a) präoperativ oder postoperativ aufzudehnen,
peuten- und Pflegeteam, den Eltern und den Kindern selbst ist eine b) postoperativ zu lagern und
wichtige Grundvoraussetzung zum Erreichen des bestmöglichen c) eine Schutzfunktion zu erfüllen.
postoperativen Ergebnisses. In der Handtherapie wird individuell
auf das Alter, die Lebensumstände und die jeweiligen Fähigkeiten Beim prä- und postoperativen Aufdehnen wird meist nachts eine
des Kindes eingegangen. Vorhandene Stärken werden gestärkt und statische Schiene und tagsüber stundenweise (z. B. 4-mal täg-
Schwächen geschult. lich 30 min) eine dynamische Schiene getragen. In dieser Weise
können Fehlbildungen wie die Klinodaktylie (⊡ Abb. 21.6; Ab-
> Ein Schwerpunkt der Handtherapie ist es, durch Tätigsein im
schn 21.2.9), die radiale Klumphand ( Abschn. 21.2.13) und die
Alltag und beim Spielen den Gebrauch der operierten Hand
Windmühlenflügeldeformität ( Abschn. 21.2.6) behandelt werden.
zu trainieren und Greiffunktionen zu optimieren.
Bei der Kampto- und Klinodaktylie ist eine Schienenbehandlung
Um einen kurzen Überblick in die Handtherapie bei angeborenen über Jahre hinweg notwendig, um eine Verbesserung der Finger-
Fehlbildungen zu geben, wird nachstehend auf die wichtigsten stellung zu bewirken.
Maßnahmen in der Handtherapie eingegangen Bei der radialen Klumphand und Windmühlenflügelde-
Diese haben als Ziel eine/n möglichst formität verbessert das präoperative Vordehnen der Weichteil-
▬ schmerzfreien Gebrauch, und Gelenkstrukturen das postoperative Ergebnis. Postoperativ
▬ freie Gelenkbeweglichkeit, aufgedehnt werden müssen vor allem Narbenzüge, falls sie zu
▬ maximale Handfunktion, longitudinal geschnitten wurden und eine Bewegungseinschrän-
▬ größtmögliche Selbstständigkeit im Alltag, kung bzw. Deviation eines Gelenks oder Fingers verursachen
▬ uneingeschränkten Handeinsatz beim Spielen, könnten.
▬ normales taktiles Empfinden, Die postoperative Lagerung ist beispielsweise nach einer Synd-
▬ kraftvolle Greiffunktion der betroffenen, operierten Hand. aktylietrennung in V-Form außerordentlich wichtig, um die Abduk-
478 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
⊡ Abb. 21.7 V-Schiene nach Syndaktylie-Trennung D III/IV, um postoperativ ⊡ Abb. 21.9 Statische Schiene zur Lagerung nach Korrektur einer radialen
die Weite der Kommissur zu erhalten Klumphand, um eine Rezidivdeviation zu verhindern
⊡ Abb. 21.8 Schiene zur postoperativen Stabilisierung des Neo-Daumens ⊡ Abb. 21.10 Zwillingsschiene D III/D IV nach Operation an einer Spalthand
nach Zeigefingerpollizisation
Narbenbehandlung
Der Narbenbehandlung kommt in der Handtherapie bei Hand-
fehlbildungen eine ganz wesentliche Bedeutung zu, da das Nar-
bengewebe im Wachstum der Kinderhand nicht gleich elastisch
ist wie das umliegende Haut- und Bindegewebe. Es kann daher zu
Deviationen, Bewegungseinschränkungen, narbigen Syndaktylien
und Minderwuchs kommen. Um dem entgegenzuwirken, muss
in der Therapie eine intensive Narbenbehandlung vorgenommen
werden, die auch den Eltern gezeigt wird, damit sie diese regelmä-
ßig zu Hause fortsetzen können. Als Maßnahmen eignen sich Mas-
sagen mit leichtem Druck und kreisenden Bewegungen – entweder
manuell ausgeführt oder mit einem kleinen Massagegerät. Dazu
können eine Fettcreme, Ringelblumensalbe, Johanniskrautöl oder
spezielle Narbensalben verwendet werden. Frühe aktive Mobilisa-
tion und eine vorsichtige Dehnung durch passive Mobilisation wir-
ken sich ebenfalls günstig auf die Narbenelastizität aus. Bestehen ⊡ Abb. 21.11 Vacuumpumpenset zur Narbenbehandlung
bereits kontrakte, longitudinale, palmare Narben, so müssen diese
durch eine gezielte Schienenbehandlung aufgedehnt oder, falls dies
über 3 Monate hinweg keinen Erfolg bringt, operativ korrigiert Schmerzgrenze und des Weichteilwiderstands achsengerecht passiv
werden. Bei einer Neigung zu hypertrophen Narben empfiehlt bewegt.
Waldner-Nilsson (2009) die Anwendung einer Kompressions- und
Silikonauflage, damit das Narbengewebe weicher und somit elas- Training von Alltagsaktivitäten
tischer wird. Wärmeanwendungen z. B. durch Paraffinpackungen Der Alltag eignet sich ausgezeichnet, um Greiffunktionen der
und Ultraschallbehandlungen wirken sich ebenfalls günstig auf die betroffenen, operierten Hand zu üben. Wesentlich dabei ist, dass
Narbenelastizität aus. Bei eingezogenen, adhärenten Narben kann das Kind möglichst viel Selbstständigkeit im Alltag erlangt, dass
eine Vacuumpumpe (⊡ Abb. 21.11) verwendet werden, um das ver- die Aktivitäten sinnvoll sind und dass die Grifftechniken häufig
klebte Narbengewebe durch Unterdruck vom darunter liegenden wiederholt werden. Als Motivation zum Greifen nach einer Polli-
Bindegewebe zu lösen. Diese Technik darf bei kleinen Kindern zisation kann dem Kind nach der Schienenabnahme (6 Wochen
nicht eingesetzt werden, da sie schmerzhaft sein und Hämatome postoperativ) z. B. ein Stück Brot oder Keks zum Essen angeboten
verursachen kann. Eine jährliche Narbenkontrolle soll mit den werden (⊡ Abb. 21.12), das es selber mit dem »neuen Daumen« er-
Eltern des Kindes bis zum Ende des Wachstums vereinbart werden, greift und zum Mund führt ( Abschn. 21.2.7). Auch das Zeichnen
damit auf Komplikationen rechtzeitig konservativ oder operativ und Schreiben hat einen motivierenden Aufforderungscharakter
reagiert werden kann. für Kinder (⊡ Abb. 21.13). Beim Baden, Eincremen, Anziehen, Fri-
sieren etc. kann die betroffene Hand vom Kind selbst eingesetzt
Aktive und passive Mobilisation werden, sofern das Kind alt genug dazu ist, alle Wunden verheilt
Manuelle Mobilisationstechniken dürfen an betroffenen knöcher- und die Gelenke zum aktiven Bewegen vom zuständigen Chirur-
nen und Weichteilstrukturen nur nach Rücksprache mit dem zu- gen freigegeben worden sind.
ständigen Chirurgen durchgeführt werden. Dieser gibt auch die
aktive Bewegung und Belastungserlaubnis der betroffenen Hand Hilfsmittel
zur gegebenen Zeit frei. Aus diesem Grund ist die direkte Zusam- Hilfsmittel werden angeboten, um Kindern den Gebrauch ihrer
menarbeit zwischen Therapeuten und Chirurgen von sehr großer Hand im Alltag zu erleichtern. Als Beispiel dafür dienen Griffver-
Wichtigkeit. dickungen an Stiften und Besteckgriffen (⊡ Abb. 21.14) oder indivi-
Die aktive Mobilisation muss postoperativ an allen nicht be- duell angefertigte Alltagshilfen, wie z. B. ein Lenkstangenhaken bei
troffenen Gelenken sofort erfolgen. Sobald alle offenen Wunden Peromelie, damit dem fingerlosen Kind das Radfahren ermöglicht
verheilt sind, erweist sich der Beginn der aktiven Greifübungen in wird (⊡ Abb. 21.15).
einem lauwarmen Wasserbad als vorteilhaft.
Bei der passiven Mobilisation eines bestimmten Gelenks muss Funktionelle Spiele
dieses vom Therapeuten proximal der Gelenkfalte fixiert wer- Viele spezielle Greiffunktionen lassen sich durch den Einsatz von
den. Die Phalanx distal des Gelenks wird unter Einhaltung der funktionellen Spielen ausgezeichnet üben, bereiten den Kindern
480 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
⊡ Abb. 21.12 Brot ergreifen nach Pollizisation des Zeigefingers bei Daumen-
hypoplasie – Alltagsaktivitäten zu Trainingszwecken
21
Freude und bieten Erfolgserlebnisse. Zum Erlernen des Grobgriffs
können Stabspiele eingesetzt werden, wie das Holzstab-Reversi-
Spiel (⊡ Abb. 21.16), für den Schlüsselgriff eignet sich das Ergreifen
von und Hantieren mit kleinen Spielsachen (⊡ Abb. 21.17) und
zum Üben des Spitzgriffs können dem Kind feinmotorische Stäb-
chenspiele oder ein Stecknadel-Solitär-Spiel angeboten werden
⊡ Abb. 21.14 Griffverdickungen als Möglichkeit zur Förderung der Selbst- (⊡ Abb. 21.18). Das Kind soll stets ermutigt werden, die betroffene
ständigkeit Hand zum Spielen einzusetzen und bilaterales Hantieren vorzuneh-
21.1 · Allgemeines
481 21
21.2.1 Syndaktylie
Spezielle Therapie
Technik der Syndaktylietrennung zwischen zwei a b
Fingern
Das Ziel der Operation ist die Bildung einer tiefen Kommissur
zwischen den beiden betroffenen Fingern und die Bedeckung
der Fingerseitenflächen mit Haut. Der Umfang der beiden syn-
daktylen Finger ist immer deutlich kleiner als jener der beiden
getrennten Finger. Aus diesem Grunde ist entsprechend viel Haut
zur Bedeckung der Seitenflächen nötig. Die Kommissurbildung
erfolgt durch 2 dreieckige, dorsal und palmar proximal gestielte
Lappen, welche gegeneinander vernäht werden (⊡ Abb. 21.24). Es
kann auch ein breiter dorsaler Lappen umschnitten und nach
palmar eingenäht werden. Hsu et al. (2010) verwenden bei inkom-
pletter einfacher Syndaktylie einen modifizierten V-Y-Lappen vom
Handrücken, um den Zwischenfingerraum (ZFR) zu formen. Nach
weiter distal hat sich die bis an die Mittellinie der zu trennenden
Finger reichende zickzackförmige Inzision bewährt. Die dadurch c
gebildeten Läppchen, palmar und dorsal, werden an den Finger-
seitenflächen vor allem in Höhe der Gelenke gegeneinander genäht
(⊡ Abb. 21.23b). Besonders ist auf die Bildung von schmalen Fin-
gerkuppenlappen zu achten, um einen neuen Nagelfalz zu bilden
(⊡ Abb. 21.25). Die Zwischenräume in Höhe der Grund-, Mittel-
und Endglieder werden mit meist quer liegenden Transplantaten
versorgt. Es ist darauf zu achten, dass bei frühkindlichem Opera-
tionszeitpunkt die Winkel der zickzackförmig geschnittenen Läpp-
chen spitz (15–20°) sind (⊡ Abb. 21.26). Dadurch verringert sich im
Wachstum das Risiko einer Longitudinalisierung der Narben.
Bei der Trennung der Finger ist auf die distale Teilung der Ge-
fäßnervenbündel zwischen den verbundenen Fingern zu achten.
Zur Erreichung einer tiefen Kommissur muss eines der beiden
d
Gefäße durchtrennt und der Nerv mikrochirurgisch geteilt werden.
Die Durchtrennung einer Arterie kann später zu Durchblutungsstö-
⊡ Abb. 21.23 4-jähriger Knabe mit kompletter, häutiger Syndaktylie D III/IV.
rung führen. Es scheint in ausgewählten Fällen nötig zu sein, zuerst
a Linke Hand präoperativ, b Bildung des Nagelwalls durch langen, schmalen
eine Mikroklemme auf das zu durchtrennende Gefäß zu setzen und
Fingerkuppenlappen. Zur Bedeckung der Defekte an den Fingerseitenflächen
die Blutleere kurzfristig zu öffnen. Wenn der Finger trotz Klem- werden spitzwinkelige Läppchen von palmar und dorsal vor allem in Höhe
mung ausreichend durchblutet ist, kann das Gefäß durchtrennt der Gelenke gegeneinander vernäht, c 9 Jahre postoperativ – tiefe Kom-
werden. Diese Vorsichtsmaßnahme ist besonders bei Trennung von missur, eingeheilte Transplantate und gut geformte Nagelwälle, d palmare
3 benachbarten syndaktylen Fingern zu empfehlen. Die Durchtren- Ansicht beider Hände, links nach Syndaktylietrennung, rechts inkomplette
nung der Gefäße muss im Operationsbericht dokumentiert werden. häutige Syndaktylie
Die Entnahme der Vollhaut wird in der Leistenregion durchgeführt,
wobei 1 oder 2 elliptische Areale mit einer Breite von bis zu 3 cm
bei Kindern im Alter von 1–2 Jahren verwendet werden können. 5/0 und 6/0 resorbierbaren Fäden das Korium genäht und mit einer
Im Laufe weiterer Operationen können dieselben Entnahmestel- fortlaufenden Naht 5/0 die Haut verschlossen.
len genommen werden. Bei größeren Defekten verwenden wir Das Vollhauttransplantat muss entfettet werden. Die Einnaht er-
Haut vom Unterbauch. Es sollte darauf geachtet werden, dass die folgt nach Öffnen der Blutleere mit 6/0-Fäden. Bei größeren Trans-
Haut von einem später nicht haartragenden Körperteil stammt. Die plantaten empfiehlt es sich, kleine Öffnungen in das Transplantat zu
Hautentnahmestellen werden nur gering unterminiert, mit einigen schneiden und vor Anlegen des Verbandes unter dem Transplantat
484 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
a b
21
21.2.2 Apert-Syndrom Zwischen Ring- und Kleinfinger sowie zwischen Daumen und
Zeigefinger besteht häufig eine häutige Syndaktylie. Die plumpen,
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie kurzen Mittelhandknochen (MHK) IV und V zeigen nicht selten
Das Apert-Syndrom wurde 1906 erstmals beschrieben und ist eine eine Synostose. Aufgrund der mangelhaft angelegten Handbinnen-
Form der Syndaktylie. Es ist ein komplexes Syndrom mit Fehlbil- muskulatur sind die ZFR eng. Der Daumen zeigt in der Regel eine
dung an beiden Händen und Füßen, mit koronarer Kraniosynos- plumpe kurze Phalange mit einer Klinodaktylie nach radial.
tose, Hypoplasie des Mittelgesichts, Stellungsanomalien der Zähne Nerven- und Blutgefäßabzweigungen sind nach distal verlagert,
und Hypertelorismus. In den meisten Fällen liegt eine Intelligenz- Sehnen können fehlen, falsch inserieren oder verschmolzen sein. Die
minderung vor. Ellenbogengelenke können häufig nicht gestreckt werden (Cubitus
An den Händen sind Knochen, Gelenke und Weichteile be- valgus), die Schultergelenke sind in der Abduktion eingeschränkt.
troffen. Es besteht eine komplette Syndaktylie zwischen D II–V
mit Verwachsungen der Fingerkuppen. Die Finger sind kurz und Klassifikation
zeigen Symphalangien. Zwischen dem Zeige- und Ringfinger sind Nach Blauth und Schneider-Sickert (1976) können 3 Typen von
meist Knorpel-Knochen-Brücken zwischen den Phalangen ausge- Handfehlbildungen beim Apert-Syndrom unterschieden werden;
bildet und die Endglieder sind zu einer Platte fusioniert. In aus- Upton (1991) hat diese funktionelle Klassifikation übernommen
geprägten Fällen ist nur ein Nagelband vorhanden (⊡ Abb. 21.28a). (⊡ Abb. 21.29).
⊡ Abb. 21.29 Klassifikation der Handfehlbildungen beim Morbus Apert. Typ I – »spade hand«: häutige Syndaktylie der Finger, teilweise komplexe Syndaktylie
zwischen 3. und 4. Finger, isolierter Daumen, welcher verkürzt, verbreitert und nach radial abgewinkelt ist. Typ II – »spoon hand, mitten hand«, »Geburtshel-
ferhand«: Akrosynostose der Finger, häutige Syndaktylie des Daumens mit den anderen Fingern. Typ III – »rosebud hand«, »Löffelhand«: komplette häutige
und knöcherne Syndaktylie aller Finger
488 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Es kann in der 1. operativen Sitzung parallel oder nachein- eine Ruhigstellung in palmarer Abduktion des Daumens in einem
ander an beiden Händen bei Upton Typ III der Daumen und der Unterarmgips bis zur 4. postoperativen Woche.
Kleinfinger vom syndaktylen Komplex der Finger II–IV getrennt
werden. Die derben Bindegewebszüge im 1. ZFR werden reseziert Fehler, Gefahren und Komplikationen
und der M. abductor pollicis brevis teilweise abgetrennt. Zur Er- Abschn. 21.2.1
reichung eines weiten und tiefen 1. ZFR bietet sich ein dorsaler Zuker et al. (1991) empfehlen nach Durchtrennung der Knochen-
proximal gestielter Dehnungs-Lappen an. Die meist nur häutig brücken die Finger mit Kirschner-Draht in Abduktionsstellung
syndaktylen Fingern IV/V werden durch dorsale und palmare zu fixieren und die freiliegende Spongiosa mit einem Leisten-
zickzackförmige Inzisionen getrennt. Zur Deckung der Defekte lappen zu bedecken. Diese Methode erfordert einen großen pfle-
an den Fingerseitenflächen werden Vollhauttransplantate aus der gerischen Aufwand sowie weitere Operationen und kann daher
Leiste entnommen. nicht empfohlen werden. Ashmead und Smith (1995) versuchten
Bei dieser Operation werden auch die Knorpel- und Kno- durch Expanderimplantation am Handrücken Hauttransplantate
chenbrücken zwischen D II–IV osteotomiert und reseziert – dies zu vermeiden. Aufgrund aufgetretener Hautperforation und In-
erfolgt durch einen dorsalen Zugang, wobei die Haut an den Fin- fektionen wird dieses Verfahren nicht mehr empfohlen. Die von
gerkuppen nicht durchtrennt wird. Anschließend wird in den Os- Fearon verwendete gerade Inzision zur Trennung der Finger bei
teotomiespalt ein 2–3 mm dünnes Silikonplättchen eingelegt und der Apert-Hand kann aufgrund der Gefahr einer Longitudina-
die Hautinzision wieder verschlossen. Um das Silikonplättchen lisierung der Narben während des Wachstums nicht empfohlen
bildet sich eine gut durchblutete Gleitschicht aus. Die endgültige werden.
Trennung der Finger wird ca. 3–4 Wochen nach der 1. Opera-
tion ausgeführt (⊡ Abb. 21.28c). Das Silikonplättchen wird entfernt
und auf der ausgebildeten Gleitschicht werden Vollhauttransplan- 21.2.3 Symbrachydaktylie
tate eingenäht. Es wird wie bei der häutigen Syndaktylietrennung
vorgegangen und eine Kuppenlappenplastik zur Herstellung des Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
Nagelwalls durchgeführt. Auch hier werden beide Hände in einer Mit der Bezeichnung Symbrachydaktylie wird eine große Gruppe
Operation versorgt. Durch die möglichst vielen gleichzeitigen ope- von Handfehlbildungen mit Längenreduktion der Fingerstrahlen
rativen Schritte werden die notwendigen Krankenhausaufenthalte in Kombination mit einer Syndaktylie definiert, die einseitig auf-
gering gehalten (⊡ Abb. 21.28d). tritt. Poland (1841) beschreibt in einigen Fällen ein assoziiertes
Sugihara et al. (1991) beschreiben 2 Rechtecklappen knapp Fehlen des M. pectoralis major oder eine Thoraxdeformität – die-
proximal der Nagelmatrix nach Trennung der Endgliedknochen- ses Syndrom wird deshalb auch Poland-Syndrom genannt.
brücken und zur Bedeckung der freiliegenden Knochen. Die Ätiologie ist bisher noch unbekannt, es werden aber exo-
Aufgrund des kurzen Daumens, der radialen Klinodaktylie so- gene Entstehungsursachen vermutet. De Smet und Fabry (1998)
wie des immobilen CMC- und des fehlenden IP-Gelenks kann kein diskutieren eine Unterbrechung der Blutversorgung der Extremi-
Spitzgriff ausgeführt werden. Mit einer Verlängerung des Daumens tätenknospe.
kann ein guter Seitgriff erreicht werden.
Die Korrektur des klinodaktylen Daumens kann entweder Klassifikation
gleichzeitig mit der 2. Fingertrennung oder zu einem späteren Die teratologische Reihe der Symbrachydaktylie wurde von Müller
Zeitpunkt durchgeführt werden. Von der Streckseite des kurzen 1937 aufgestellt, die jeweils eine Zunahme der Schwere der Fehlbil-
Daumens wird ein Lappen abpräpariert, die Ansätze der kurzen dung beschreibt und von verkürzten und syndaktylen Fingern bis
Daumenmuskeln sowie die Strecksehne werden abgelöst. Es wird zur Handlosigkeit mit sog. Fingerbürzeln reicht.
eine verlängernde Osteotomie mit Geradstellung des Daumens Von peripheren Hypoplasien oder transversalen Defekten kann
durch Einbringung eines Radius- oder Beckenkammspans durch- man die Symbrachydaktylie durch die mehr oder weniger gute Er-
geführt. Die Stabilisierung erfolgt über eine temporäre Arthrodese haltung der Endphalangen abgrenzen. Es kommt eine Brachyme-
mittels Kirschner-Draht (⊡ Abb. 21.28e-g). sophalangie an einem oder allen Fingern vor, die Syndaktylie kann
Dao et al. (2001) erreichen eine radiale Winkelkorrektur des häutig, partiell oder komplett auftreten und die Mittelhandstrahlen
Daumens ohne Osteotomie. Dabei wird der Ansatz der Abductor- sind hypoplastisch, partiell oder total aplastisch.
pollicis-brevis-Sehne abgelöst und an der radialen Seite der Basis Blauth und Gekeler stellten 1971 in Anlehnung an die te-
des Grundgliedes reinseriert sowie eine Kapsulotomie radial am ratologische Reihe eine Klassifikation der Symbrachydaktylie in
MCP-Gelenk durchgeführt. Matsumoto et al. (2002) berichten 4 Gruppen auf:
über gute Ergebnisse der Daumenverlängerung durch einen Mini- ▬ Typ I – Kurzfingertyp: Brachymesophalangien und/oder Feh-
Fixateur externe. Im jugendlichen Alter sollte nach Fearon (2003) len einer oder mehrerer Mittelphalangen (⊡ Abb. 21.30);
zur Verbesserung der Greiffunktion vor allem am Zeigefinger eine ▬ Typ II – Spalthandtyp: Fehlen eines Fingers oder mehrerer
Winkelosteotomie erfolgen. mittelständiger Handstrahlen (⊡ Abb. 21.31);
▬ Typ III – monodaktyler Typ: sämtliche Finger fehlen, nur der
21 Postoperative Therapie Daumen ist erhalten;
Die Verbände werden wie nach Syndaktylietrennung mit Fettga- ▬ Typ IV – peromeler Typ: sämtliche Finger fehlen.
ze, trockenen gelegten Tupfern, Watte-, Papier- und elastischen
Binden durchgeführt. Die Fingerkuppen bleiben im Verband frei Yamauchi und Tanabu (1998) präzisieren aufgrund der Röntgen-
und können so hinsichtlich der Durchblutung kontrolliert werden. aufnahmen nach tri-, di-, mono- und aphalangealem, ametakarpa-
Die Kinder werden am 2. postoperativen Tag ohne Verbandwech- lem, akarpalem und Unterarmamputationstyp.
sel entlassen. Die Nahtentfernung erfolgt 10 Tage postoperativ Das Auftreten einer beidseitigen Symbrachydaktylie ist selten.
in Kurznarkose. Nach dieser erfolgt die Pflege der Hände im Differenzialdiagnostisch kommen ein Spalthandsyndrom oder ein
Handbad mit Öl. Nur nach der Operation am Daumen erfolgt Schnürringsyndrom in Frage.
21.2 · Spezielle Techniken
489 21
⊡ Abb. 21.30 3 Monate alter Knabe mit Sym- ⊡ Abb. 21.31 1-jähriger Knabe mit Symbrachy- ⊡ Abb. 21.32 4 Jahre alter Knabe mit Sym-
brachydaktylie vom Kurzfingertyp rechts daktylie vom Spalthandtyp links brachydaktylie vom peromelen Typ links, Ver-
sorgung mit Behelf zum Halten einer Gabel
a a
b b
a b
⊡ Abb. 21.35 3 Wochen alter Knabe mit Freeman-Sheldon-Syndrom. a Eingeschlagener Daumen und gebeugte Finger an der linken Hand, b Zustand nach
intensiver Dehnung (Schienenbehandlung aller Finger) und 2 Jahre postoperativ nach gleichzeitiger Operation der beiden eingeschlagenen Daumen – Ver-
breiterung der 1. ZFR durch Resektion von Bindegewebe und Muskelfaszien, Kerbung der M. adductor pollicis und M. interosseus dorsalis I und Einbringen
eines dorsalen Rotations-Dehnungs-Lappens. Arthrodese der MCP-Gelenke
Freeman-Sheldon-Syndrom oder einer Arthrogrypose und kommt brevis und des 1. dorsalen Interosseusmuskels sowie Verlängerung
auch beim Pterygium-Syndrom vor. Bei zusätzlicher mentaler Re- der Haut durch Z-Plastik, Schmetterlingsplastik, Einsetzen eines
tardation, einer Ganganomalie sowie Aphasie spricht man vom Hauttransplantats oder durch einen dorsalen Rotations-Dehnungs-
MASA-Syndrom. Beim eingeschlagenen Daumen ist das MCP- Lappen kann der Daumen nun abgespreizt werden (⊡ Abb. 21.35b).
Gelenk, beim Triggerdaumen hingegen das IP-Gelenk gebeugt. Um die Stellung aufrechtzuerhalten werden 2 quere Kirschner-
Drähte zwischen 1. und 2. MHK eingebracht und die Hand für
Klassifikation 3–6 Wochen im Daumeneinschlussgips ruhiggestellt.
Nach Weckesser et al. (1968) wird der eingeschlagene Daumen wie Bei Schwäche oder Fehlen des M. extensor pollicis longus
folgt eingeteilt. kann gleichzeitig mit der Weichteiloperation oder im Alter von
▬ Typ I: isolierter eingeschlagener Daumen, durch Schwäche 3–5 Jahren eine Sehnenverlagerung einer der beiden Zeigefinger-
oder Fehlen des M. extensor pollicis longus und/oder brevis strecksehnen durchgeführt werden. Eine Verstärkung der Funktion
hervorgerufen; des M. abductor pollicis brevis erreicht man entweder durch Verla-
▬ Typ II: mit zusätzlicher Beugekontraktur der Finger kombi- gerung des M. abductor digit minimi oder, wie Flatt empfiehlt, mit
niert; der oberflächlichen Beugesehne des Ringfingers. Kann die Beu-
▬ Typ III: kombiniert mit radialer Hypoplasie (Muskel, Sehnen, gefehlstellung des Daumens im MCP-Gelenk nicht ausgeglichen
Knochen); werden, ist eine Arthrodese angezeigt. Bei Weckesser Typ IV ist
▬ Typ IV: kombiniert mit radialer Polydaktylie; die Amputation des doppelt angelegten Daumens und die Verwen-
dung der in diesem vorhandenen Sehnen zur Umlagerung auf den
Von McCarroll wurden 1985 2 Typen des Pollex adductus unter- verbleibenden Daumen indiziert.
schieden:
▬ Typ I, bei dem die passive Korrektur möglich ist; Postoperative Therapie
▬ Typ II, bei dem sie nicht möglich ist; mit Haut- und Weichteil- Eine Daumenruhigstellung in maximaler Radialabduktion und
kontraktur, fehlender Streckung des Daumens und Schwäche Extension während der Nacht ist 3 Monate lang nötig, wenn der
des Kapsel-Bandapparats. ZFR erweitert oder die kleinen Daumenmuskeln abgelöst wur-
den. Eine statische Daumen-Handgelenk-Schiene wird in leichter
Indikation und Operationszeitpunkt Handgelenk- und maximaler Daumenextension angefertigt, so-
Bis zum 2. Lebensjahr ist die konservative Schienenbehandlung fern ein Sehnentransfer der Extensor-indicis-Sehne als Ersatz für
(3–6 Monate in Abduktion und Extension des Daumens) zu emp- den fehlenden Daumenstrecker erfolgte. Diese Handgelenk- und
fehlen. Kinder ab dem 2. Lebensjahr sprechen wegen der Schrump- Daumenstellung gewährleistet ein spannungsfreies Einheilen der
fung der Weichteile meist nicht mehr auf eine Schienenbehandlung transponierten Sehne. Zur vorsichtigen passiven Mobilisation un-
an und müssen operiert werden. ter Einhaltung der Schmerzgrenze und des Weichteilwiderstandes
kann die Schiene ab der 2. postoperativen Woche 1- bis 2-mal täg-
Spezielle Therapie lich abgenommen werden.
Die operative Therapie erfolgt zur Erweiterung des 1. ZFR und Eine weitere Möglichkeit des Sehnengleitens bietet eine umge-
die Methoden variieren je nach Grad der Kontraktur. Durch die kehrte Kleinert-Schiene, die 6 Wochen lang getragen wird. Grund-
Entfernung der geschrumpften Faszie, Desinsertion oder Verlän- voraussetzung dafür ist eine gute Zusammenarbeit mit einem
gerung des M. adductor pollicis, opponens pollicis, flexor pollicis bereits größeren Kind.
492 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Klassifikation
Nach Watanabe et al. (2001) werden 4 klinische Stadien des ange-
borenen »Trigger-Daumen« beschrieben:
▬ Stadium 0: normal;
▬ Stadium 1: »Hängenbleiben« in Flexion oder Extension, aktive
Lösung mit Schnappen des Daumens;
▬ Stadium 2: »Hängenbleiben« in Flexion oder Extension, passi-
ve Lösung mit Schnappen des Daumens;
▬ Stadium 3: »Hängenbleiben« in Flexion oder Extension, keine
Lösung möglich.
e f
21
⊡ Abb. 21.37 4-jähriges Mädchen mit kraniokarpotarsalem Fehlbildungssyndrom (Freeman-Sheldon-Syndrom) und Windmühlendeformität beider Hände.
a Fixierte proximale interphalangeale Gelenkkontrakturen (am stärksten D III links betroffen), Zustand nach zahlreichen Schienenanwendungen zur Verbesserung
der Handgelenkbeugekontraktur, Verbesserung an den Fingern jedoch keinerlei an den eingeschlagenen und gebeugten Daumen, b präoperatives Röntgen mit
ausgeprägten Mittelfingerkontrakturen und eingeschlagenen Daumen beidseits, c chirurgische Korrektur des eingeschlagenen rechten Daumens, Arthrodese des
MCP-Gelenks (2 Kirschner-Drähte), Vertiefung und Verbreiterung des 1. ZFR, Verwendung eines großen Rotations-Dehnungs-Lappens, dessen Entnahmestelle pri-
mär verschlossen werden kann. Zur Aufrechterhaltung der Weite des 1. ZFR Einbringung eines queren Kirschner-Drahtes, d Spitzgriff, Zustand nach Arthrodese des
MCP-Gelenks und Lappenplastik zur Erweiterung der Kommissur 6 Jahre postoperativ, e Zustand nach Operation an beiden Daumen und deutlicher Verbesserung
der Beugekontrakturen durch Tenolysen, Sehnenverlagerungen, Z-Plastiken und Einbringen zahlreicher Vollhauttransplantate vor allem in Höhe der Grundglieder
D II–IV, beidseits kräftiger Faustschluss möglich, f Röntgen im Alter von 12 Jahren, deutliche Verbesserung der Gelenkstellungen an beiden Händen
21.2 · Spezielle Techniken
495 21
fibrösen Bänder, welche auch mit der Beugesehnenscheide Ver-
bindung haben und unter Lupenvergrößerung entfernt werden
müssen. Die Hautverlängerung erfolgt durch Einbringen eines
Vollhauttransplantates in Höhe des Grundglieds, nachdem die
Haut quer von der einen zur anderen Mittseitlinie inzidiert wurde
(⊡ Abb. 21.37e).
Zur Behandlung der ulnaren Deviation werden nach ulnar
subluxierte Strecksehnen zentriert. Die entspannten ulnaren Seh-
nen werden abgetrennt, die radialen Bänder sind durch das Ein-
bringen der abgetrennten Sehne des radial benachbarten Fingers
zu verstärken. Die Sehnen werden durch ein kleines Loch in den
Extensorhut eingewoben und vernäht. Am Zeigefinger werden die
beiden Strecksehnen radial gedoppelt.
Postoperative Therapie
Infolge der stabilen Kirschner-Draht-Fixation der Daumenarthro-
dese ist eine Ruhigstellung mit einem Gips nicht erforderlich. Es
wird ein kräftiger Verband mit elastischer Binde angelegt, der die
notwendige Ruhigstellung bewirkt. Die intermetakarpalen Kirsch-
ner-Drähte können nach vollständigem Abschluss der Wundhei-
lung entfernt werden, sollten aber nicht länger als 3 Wochen be-
lassen werden. Danach sind Bewegungsübungen durchzuführen ⊡ Abb. 21.38 8 Monate alter Knabe mit Daumenaplasie rechts
und die Bandagierung der 1. Kommissur nächtlich noch 3 Monate
lang fortzusetzen, um die durch die Operation erreichte Weite zu
erhalten (⊡ Abb. 21.37f). entscheidend für die Greiffunktion der Hand und die psychomo-
torische Entwicklung des Kindes. Der optimale Zeitpunkt für die
Fehler, Gefahren und Komplikationen Pollizisation liegt zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr.
Bei jedem der oben angeführten Operationsschritte können Kom-
plikationen auftreten, die von Wundheilungsstörungen, über Lap- Spezielle Therapie
penteilnekrosen, Verlust von Transplantaten, aber auch zu neu- Daumenhypoplasie Grad I und II
erlichem Abweichen der verlagerten Sehnen führen können. Das Die Daumenhypoplasie Grad I bedarf in aller Regel keiner The-
Fortschreiten der Beugekontrakturen in den Mittelgelenken der rapie, hingegen ist bei Grad II (⊡ Abb. 21.40a,b) eine Behandlung
Finger durch Schrumpfung der palmaren Haut macht es nötig, die erforderlich, die folgende Schritte beinhaltet:
Kinder engmaschig – anfangs halbjährlich, bis zum Abschluss des ▬ Beseitigung der Adduktionskontraktur: Besteht eine partielle
Wachstums aber einmal jährlich – zu kontrollieren. Syndaktylie, muss diese getrennt werden. Auch sind alle quer
durch den 1. ZFR ziehenden bindegewebigen Faserzüge zu
resezieren und die 1. Kommissur durch eine Z-Plastik oder
21.2.7 Daumenhypoplasie einen Verschiebelappen (Rotationslappen vom Handrücken
oder Transpositionslappen von der Dorsalseite des Zeigefin-
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie gers) zu erweitern. Die Hebedefekte werden mit Spalthaut
Die Daumenhypoplasie zählt zu den Oligodaktylien – also einer gedeckt, sofern sie sich nicht primär verschließen lassen.
angeborenen Minderung der Fingerzahlen. Sie ist eine heterogene ▬ Stabilisierung des Grundgelenks: Besonders die Rekonstruk-
und komplexe Fehlbildung, tritt sporadisch, ein- oder doppelseitig tion des ulnaren Daumenseitenbandes ist notwendig, um den
und auch im Rahmen von Syndromen (Radiusdefekte, Holt-Oram- Daumen beim Greifen stabilisieren zu können. Hierzu kann
Syndrom etc.) auf. In höhergradigen Formen werden das Aussehen man ein Stück Sehne (z. B. Palmaris-longus-Sehne) oder einen
und die Greiffunktion der Hand stark beeinträchtigt, weshalb eine Faszienstreifen nehmen, der an das Periost angenäht wird.
Therapie im 1. Lebensjahr angezeigt ist (⊡ Abb. 21.38). ▬ Opponensplastik: Hierzu eignen sich die Methoden zu moto-
rischen Ersatzoperationen wie nach Medianusverletzung. Die
Klassifikation Wahl der verwendeten Muskel-Sehnen-Einheit als künftiger
Blauth (1967) erweiterte die 4 Schweregrade der Daumenhypo- Motor hängt jedoch von einer möglichen zusätzlichen Fehlbil-
plasie nach Müller (1937) und stellte die teratologische Reihe auf. dung sowie der Erfahrung und Präferenz des Operateurs ab.
Buck-Gramcko fügte den Grad III C hinzu und somit werden
5 Grade der Daumenhypoplasie unterschieden, mit einer weiteren Bei der Daumenhypoplasie Grad II wird die Umlagerung der Seh-
Unterteilung des Grades 3 (⊡ Abb. 21.39). ne des M. flexor digitorum superficialis des Ringfingers bevorzugt.
Die oberflächliche Beugesehne wird durch eine quere Inzision in
Indikation und Operationszeitpunkt Höhe der Mittelgelenkbeugefurche freigelegt und durch einen wei-
Die Behandlung richtet sich nach dem Schweregrad der Dau- teren Schnitt im Bereich der distalen Hohlhandbeugefurche mobi-
menhypoplasie und so kommen unterschiedliche Verfahren zum lisiert. Dabei ist darauf zu achten, dass die tiefe Beugesehne nicht
Einsatz. »Die Opposition ist eine für die Gesamtfunktion der verletzt wird. Blauth und Schneider-Sickert (1976) sowie Nigst et
Hand überaus wichtige Bewegung, die ihr die Durchführbarkeit al. (1981) trennen nun die Sehne an ihren Ansätzen ab, was später
des Spitzgriffs und des Umfassens von Gegenständen gibt« (Buck- aber dazu führen kann, dass das Mittelgelenk überstreckbar wird.
Gramcko 1991). Das Wiederherstellen der Opposition ist also Deshalb tragen wir den Ansatz des radialen Schenkels am Kno-
496 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
chen ab, der ulnare Schenkel wird in Höhe des Chiasmas durch- Kapsel des MCP-Gelenks. Nicht selten scheint jedoch der M. ab-
trennt (⊡ Abb. 21.40c). Dieser Sehnenanteil wird am Köpfchen des ductor digit minimi zu kurz zu sein, um das Daumengrundgelenk
Grundgliedes fixiert, um eine Überstreckung des Mittelgelenks zu zu erreichen und muss daher mit einer Sehne verlängert werden.
verhindern. Als Pulley dient der distale Teil der Sehne des M. fle- Die Verlagerung des Muskels führt im Laufe der Jahre zu einer
xor carpi ulnaris oder das Retinaculum flexorum. Der neue distale relativ guten Ausbildung eines Thenars – vor allem bei Mitnahme
Ansatz der verlagerten Sehne im Bereich des Daumengrundge- einer Hautinsel des Hypothenars – hingegen bringt der Sehnen-
lenks kann nun entweder direkt in den Knochen mit transossärer transfer vom Ringfinger mehr Kraft und bietet die Möglichkeit
Tunnelierung oder an den Sehnen bzw. kurzen sehnigen Ansätzen der Rekonstruktion des ulnaren Daumenseitenbandes. Die genaue
der hypoplastischen Daumenballenmuskulatur erfolgen. Bei ei- Stelle der Insertion ist hier für die Kraftentwicklung und möglichst
ner Hypermobilität des Grundgelenks wird der Ansatz der Sehne natürliche Oppositionsstellung wichtig; Roach et al. (2001) favori-
gleichzeitig als Stabilisation verwendet, was durch eine doppelte sieren hierfür die Sehne des Flexor pollicis brevis und die radiale
transossäre Insertion im Kopf des 1. MHK sowie in der Basis des Streckerhaube bzw. den Ansatz des M. abductor pollicis brevis.
Grundglieds oder durch Einflechtung in den Kapsel-Band-Apparat
erreicht wird (⊡ Abb. 21.40d). Daumenhypoplasie Grad III A
Als weitere Technik der Opponensplastik bei Daumenhypo- Zusätzlich zu den Maßnahmen bei Grad II kommen bei Grad III A
plasie Grad II eignet sich der Transfer des M. abductor digit mi- Eingriffe zur Rekonstruktion der langen Beuge- und Strecksehnen
nimi. Diese Methode wurde gleichzeitig von Huber (1921) und hinzu. Sie müssen in einen richtigen Verlauf gebracht, zentriert
Nicolaysen (1922) beschrieben. Huber konnte zeigen, dass die und mit konstruierten Ringbändern fixiert werden, um einen
Nerven- und Blutversorgung des Muskels nur an seiner Basis liegt, guten Muskelzug zu ermöglichen. Hypoplastische Sehnen werden
weshalb er in der gesamten Länge umgelagert werden kann. Nach durch die Sehne des M. extensor indicis proprius als Strecker und
21 einer Inzision an der ulnaren Handkante und an der radialen Seite die oberflächliche Beugesehne des Ringfingers als Beuger ersetzt.
des Daumengrundgelenks werden distal die Ansätze des Muskels
abpräpariert – einer an der Basis des Grundgliedes, der andere von Daumenhypoplasie Grad III B (⊡ Abb. 21.41a,b)
der Dorsalaponeurose – und der Muskel Richtung Os pisiforme Barsky (1958) hat versucht, aus dem hypoplastischen Daumen
isoliert, wobei aber sein Ursprung an demselben erhalten bleibt. einen funktionstüchtigen Daumen zu konstruieren. Er übertrug
Nachdem die Haut zwischen den beiden Inzisionen unterminiert dazu einen Knochenspan oder ein Zehengrundgelenk mit angren-
wird, zieht man den Muskel bei gleichzeitiger Rotation um 170° zenden Knochenanteilen.
unter der Hautbrücke durch und fixiert ihn an die Sehne des Auch Blauth hatte anfangs die Bestrebung den Daumen zu
M. extensor pollicis brevis oder, wenn das nicht möglich ist, an die erhalten und mit einer Knochenabspaltung aus dem 2. MHK und
21.2 · Spezielle Techniken
497 21
zusätzlichem Darmbeinspan zu stabilisieren. Mit Buck-Gramcko ruht auf 4 Operationsprinzipien, die für ein gutes Ergebnis von
und Littler hat sich in Europa allerdings die Methode der Polli- gleichrangiger Bedeutung sind:
zisation des Zeigefingers durchgesetzt. In Asien wird häufig aus
kulturellen Gründen das Verfahren einer freien Zehengelenküber- Schnittführung. Es gibt mehrere Varianten, einerseits nach Buck-
tragung mit mikrovaskulären Anastomosen angewendet und auch Gramcko und andererseits nach Blauth. Die Idee besteht darin, die
Foucher et al. (2001) beschreiben bei der Hypoplasie Grad III B die Haut so aufzuteilen, dass keine zusätzlichen Hauttransplantationen
Anwendung dieser Technik. Allerdings muss hier mit mehreren erforderlich sind, die Hautlappen optimal durchblutet werden und
Operationen und der Notwendigkeit einer Knochenverlängerung später keine Narbenkontrakturen resultieren.
gerechnet werden.
Fingertransposition mit neurovaskulärem Stiel. Die Präpa-
Daumenhypoplasie Grad III C bis V ration der beiden palmaren Gefäß-Nerven-Bündel muss sorgfältig
Das angeborene vollständige Fehlen des Daumens kann – im erfolgen, die Arterie zur Radialseite des Mittelfingers wird unter-
Gegensatz zu Patienten, die ihren Daumen durch ein Trauma bunden, der gemeinsame Fingernerv II/III mikrochirurgisch auf-
verloren haben – von den Kindern meist relativ gut kompensiert geteilt. Damit wird sichergestellt, dass es nach der Umsetzung des
werden. Dennoch haben die kleinen Patienten erhebliche funkti- Zeigefingers zu keinem Zug am ulnaren Daumennerven kommt.
onelle Beeinträchtigungen. Die fehlende Daumenopposition und
somit der Spitzgriff wird durch ein Seit-zu-Seit-Greifen des Zei- Skelettanpassung – Kürzung, Rotation, Abduktion. Der neu
ge- und Mittelfingers ersetzt. Das führt schon sehr früh dazu, dass gebildete Daumen aus dem Zeigefinger soll stabil und optimal
der Zeigefinger im Vergleich zur anderen Hand radial abduziert positioniert sein. Dazu muss die Länge der Knochen reduziert und
ist. Die Kinder haben Schwierigkeiten, größere Gegenstände wie der Strahl gedreht werden: Der 2. MHK wird subperiostal freige-
Flaschen zu umfassen und zu öffnen, und das Tragen von schweren legt und bis auf den Kopf, welcher das neue Trapezium darstellt,
Gegenständen ist fast unmöglich. Deshalb ist das alltägliche Leben gekürzt und die Wachstumsfuge zerstört. Je nach Länge des Zeige-
deutlich mühsamer zu bewältigen. fingers empfiehlt es sich 1 cm der Basis des 2. MHK zu belassen,
Somit wurde die operative Behandlung mit der Zielsetzung des da hier auch die Sehnen der Mm. extensor carpi radialis longus
Ausgleichs dieser Greifbehinderung notwendig. und flexor carpi radialis ansetzen. Diese Entscheidung ist in jedem
Die Methode der Wahl ist die Pollizisation des Zeigefingers, Fall individuell zu fällen. Das ehemalige MCP-Gelenk wird so zum
eine Transposition des Zeigefingers an seinem neurovaskulären neuen Daumensattelgelenk, das Mittelgelenk zum Grundgelenk
Stiel (⊡ Abb. 21.42). Diese Methode der Daumenrekonstruktion ist und das Endgelenk zum IP-Gelenk des Daumens. Die Drehung des
bei Verlust nach Trauma entstanden und wurde von Blauth (1967) Zeigefingerstrahls um seine longitudinale Achse ist entscheidend,
genau beschrieben. Buck-Gramcko, der im Rahmen der Thalido- um dem späteren Daumen die größtmögliche Funktion zu ermög-
mid-Embryopathie viele Kinder mit angeborenen Fehlbildungen lichen. Am Ende der Operation sollte eine Rotation von ca. 120°
operierte, kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen. gegeben sein. Auch in Richtung der palmaren Abduktion ist eine
Die Operationsmethode wurde von ihm weiterentwickelt und be- Kippung erforderlich, ca. 40° sollten erzielt werden.
498 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
a b c
21
⊡ Abb. 21.41 10-jähriges Mädchen mit Daumenhypoplasie Grad III B
rechts. a Zustand nach Stabilisierungsversuch des MCP-Gelenks im Alter
von 2 Jahren, b CT ~90°ige Luxation des MCP-Gelenks und Hypoplasie des
Daumens, c Ergebnis 9 Jahre nach Pollizisation des Zeigefingers bei dem
damals 10-jährigem Mädchen im Seitenvergleich, d radiale Abduktion,
seitengleich weite Kommissuren, e palmare Abduktion, f Oppostion zum
Kleinfinger, g postoperative CT von palmar und dorsal 4 Jahre nach Pollizi-
f
sation des Zeigefingers
21.2 · Spezielle Techniken
499 21
M. interosseus
palmaris
ulnarer
Seitenzügel
der
Aponeurosis
radialer dorsalis
Seitenzügel
der Tendo
Aponeurosis m.extensoris
dorsalis indicis
M. interosseus
dorsalis I Tendo
m.extensoris
digitorum
a b
Articulatio
metacarpo-
phalangealis
Aponeurosis
dorsalis
M. interosseus
palmaris
Tendo
m.extensoris
indicis
M. interosseus
dorsalis
Tendo m.extensoris e f
digitorum
⊡ Abb. 21.42 Zeigefingerpollizisation nach Buck-Gramcko bei Daumenaplasie. a Hautschnitt, Ansicht von palmar: Die Haut über dem Grundglied wird ent-
fernt, um den neuen Daumen kürzer erscheinen zu lassen. b Hautschnitt, Ansicht von dorsal: Die schräge Längsinzision muss sehr vorsichtig erfolgen, um
oberflächlich quer verlaufende Venen nicht zu zerstören. Für jeden der beiden Lappen ist je eine längs verlaufende Vene zu präparieren und zu erhalten,
damit es bei der Einnaht in der neuen Position nicht zu Durchblutungsstörungen kommt. Die quer verlaufenden Venen sind vorsichtig zu ligieren oder zu
koagulieren. c Die muskuläre Stabilisierung erfolgt durch Versetzen der beiden Mm. interosseus dorsalis I und palmaris I (s. Text). Je nach Fehlbildungstyp gilt
es die vorhandene Muskulatur genau zu präparieren und eventuell zur Fixierung vor allem des neuen MCP-Gelenks zu verwenden. Während der Rotation des
neuen Daumens und der muskulären Stabilisierung empfiehlt es sich, ihn an seiner Kuppe mit der Ringerfingerkuppe durch eine Naht vorübergehend zu
fixieren. d Die Sehne des M. extensor indicis proprius wird gekürzt, um sie an die Länge des neuen Daumens anzupassen und die beiden Enden werden ver-
näht. e Schema postoperativ, Ansicht von dorsal, f Schema postoperativ, Ansicht von palmar. (Aus Berger u. Hierner 2008)
500 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Muskuläre Stabilisierung. Durch die Kürzung und Rotation des Ein häufiges Problem ist der zu lange Neo-Daumen, der
Skeletts muss ein Muskelgleichgewicht in Beugung und Streckung durch eine zu geringe Kürzung des 2. MHK oder ein zusätzliches
bzw. palmarer Abduktion und Adduktion geschaffen werden. Von Längenwachstum infolge ungenügender Zerstörung der Wachs-
der Sehne des M. extensor indicis proprius wird ein Stück reseziert tumsfuge entsteht. Eine ungenügende Rotation des 2. Fingers um
und die Enden wieder adaptiert. Sie wird als Ersatz für den Abduktor seine Längsachse führt zu einer insuffizienten Opposition, eine
von der Streckaponeurose abgetrennt und an der Basis des bisheri- zu geringe Kippung hingegen zu einer unbefriedigenden Absprei-
gen Grundgliedes und jetzigen neuen MHK angenäht. Die Interos- zungsfähigkeit des Daumens. Weiterhin kann es aufgrund von
seusmuskeln sind wichtig für die seitliche Stabilisierung des neuen Durchblutungsstörungen zur Nekrose kommen und Nervenschä-
Daumens: der 1. dorsale und der 1. palmare M. interosseus werden digungen wirken sich negativ auf die Sensibilität oder die aktive
abgetrennt und weiter distal im Bereich des neuen Grundgelenks an Beweglichkeit des ehemaligen Zeigefingers aus.
die Seitenzügel der Streckaponeurose reinseriert. So wird die Muskel- Eine weitere Möglichkeit zur Herstellung eines funktionsfähi-
kontraktion übertragen und sowohl das MCP- als auch das IP-Gelenk gen Daumens ist die Methode der »Rotation-Recession« mit einer
können gestreckt werden. Nach Buck-Gramcko ist die Kürzung der Dreh-, Abwinklungs- und Verkürzungsosteotomie im MHK. Die-
Beugesehnen des Zeigefingers nicht vorgesehen, dies könnte aber ses Verfahren schafft aber keinen guten 1. ZFR und der Greifakt
längerfristig ein besseres Ergebnis in der Kraftentwicklung bringen. ist wiederum nicht optimal möglich. Die freie Zehenübertra-
gung (2. Zehenstrahl) hat als Behandlung der Daumenhypoplasie
Das Ergebnis der Pollizisation des Zeigefingers hängt von der aus kulturellen Gründen besonders im asiatischen Raum ihren
jeweiligen Ausgangssituation ab. Ist zur Daumenfehlbildung z. B. Stellenwert. Sie ist allerdings weder funktionell noch ästhetisch
zusätzlich noch eine Klumphand vorhanden, ist der neue Daumen immer zufriedenstellend. Auch bereitet der Anschluss der Ze-
aufgrund der veränderten Muskelzüge (Radialdeviation im Hand- hennerven und -sehnen an Strukturen der Hand Schwierigkeiten,
gelenk) weniger funktionsfähig. Auch die Beschaffenheit des zu da diese oft nicht vorhanden sind. Von diesen beiden Methoden
pollizisierenden 2. Fingers (normale Anlage aller Strukturen, kräf- sollte also bei angeborenem Fehlen des Daumens abgesehen
tiger 1. dorsaler Interosseusmuskel) ist entscheidend für das Ergeb- werden.
nis. Auf Röntgenbildern nach Zeigefingertransfer konnten Aliu et
al. (2008) hinsichtlich der Veränderung am MHK mit besonderem
Augenmerk auf den ursprünglichen Kopf des 2. MHK zeigen, dass 21.2.8 Spalthandsysndrom
sich das umgesetzte ehemalige proximale Glied kontinuierlich zu
einem Daumen-MHK umwandelt und der Kopf des 2. MHK be- Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
züglich Aussehen und Funktion immer mehr einem Trapezium Das Spalthandsyndrom ist ein longitudinaler distaler zentraler De-
und Daumensattelgelenk ähnelt. fekt, wobei in erster Linie der 3. Strahl als Binnenstrahl betroffen
ist. Der Spalt ist keilförmig mit nach proximal gerichteter Spitze.
Postoperative Therapie Knöcherne Anteile werden dabei verlagert, Weichteile verschmel-
Nach Opponensplastik mit der oberflächlichen Beugesehne des zen und Differenzierungsprozesse werden unterdrückt.
Ringfingers wird der Daumen in palmarer Abduktion von 30–40°, Der Defekt breitet sich nach zentral und radial aus, wobei
das MCP-Gelenk in 0° und mit freiem IP-Gelenk für 3–4 Wo- die erhaltenen Finger meist regelrecht angelegt sind. Es kann
chen ruhiggestellt. Das PIP-Gelenk des Ringfingers wird mit einer auch zur Ausbildung von sog. Quer- oder Transversalknochen
kurzen Schiene für 3 Wochen in 15° Beugung gehalten bis der kommen, die für die Spalthand typisch sind. Die Gefäße können
am Grundglied reinserierte Seitenzügel angewachsen und so eine ebenfalls Anomalien aufweisen und die randständigen Finger
Überstreckung des Gelenks nicht mehr möglich ist. sind oft syndaktyl verbunden (⊡ Abb. 21.43a). In mehr als 70% be-
Nach der Pollizisation des Zeigefingers wird die betroffene steht eine Syndaktylie zwischen dem Daumen und dem abnorm
Extremität wegen der Sehnen- und Muskelnähte durch eine Ober- positionierten Zeigefingerstrahl, oder es liegt eine inkomplette
armgipsschiene mit Daumeneinschluss für 3 Wochen ruhiggestellt, Polydaktylie vor.
danach meist eine thermoplastische Schiene in 40–50° palmarer Von Grebe (1985) und Kelikan (1974) konnte ein dominanter
Abduktion angepasst. Die Übungsbehandlung ist vom Zeitpunkt Erbgang nachgewiesen werden, was besonders für die Spalthand-/
der Pollizisation abhängig. Je älter die Kinder zum Operationszeit- Spaltfuß-Malformation gilt. Die als unilaterale Spalthand bezeich-
punkt sind, desto bewusster muss das Greifen mit dem neuen Dau- nete Fehlbildung tritt sporadisch auf, wobei es beim typischen
men geübt werden. Dazu empfiehlt sich die Durchführung einer Spalthandsyndrom keine einseitige Erscheinungsform gibt und
Ergotherapie, in der mit kindgerechten Mitteln Bewegungsausmaß, diese unilateral betroffenen Fälle eine Symbrachydaktylie vom
Feinmotorik und Kraft trainiert und auch die Eltern zur Durchfüh- Spalthandtyp darstellen.
rung eines Heimprogramms mit dem Kind instruiert werden. Wird
hingegen das Kind vor dem 2. Lebensjahr operiert, akzeptiert es Klassifikation
den transponierten Zeigefinger als Daumen meist sehr schnell und Die teratologische Reihe des Spalthandsyndroms wurde 1937 bzw.
ganz automatisch (z. B. durch Daumenlutschen). Die Greifformen 1938 von Müller und Stroer formuliert, wobei der V-förmige De-
21 können sich im Alltag spielerisch entwickeln und das Erlernen des fekt der Binnenstrahlen die mildeste und die ulnare Monodaktylie
Spitzgriffs kann sich wie bei allen Kleinkindern natürlich entwi- die schwerste Form der Spalthand darstellt.
ckeln (⊡ Abb. 21.41c–g). Weitere Einteilungen wurden von Birch-Jensen (1949), Barsky
(1964), Blauth und Falliner (1986) sowie Manske und Halikis
Fehler, Gefahren und Komplikationen (1995) vorgenommen, die sich nach formellen Gesichtspunkten
Neben den allgemeinen Komplikationen einer Operation kann bei richten. Ogino wiederum beschreibt 1990 die Spalthand als Pro-
der Pollizisation durch die fehlende Erfahrung des Operateurs oder dukt eines Zusammenspiels von Syn- und Polydaktylie. Insgesamt
durch das Nichtbeachten aller Einzelheiten das Ergebnis subopti- lässt sich die Vielfalt der Spalthandformen kaum in einer Klassifi-
mal ausfallen. kation vereinen und die Einteilungsversuche weisen Unzulänglich-
21.2 · Spezielle Techniken
501 21
keiten und Unvollständigkeiten auf, denn es fehlt bei den jeweili- ist die Verbesserung des Erscheinungsbildes und der Handfunkti-
gen Systemen die jeder einzelnen Gruppe zuzuordnende operative on. Dabei richtet sich die Art der Operation nach dem Befund und
Behandlung und somit die praktische Konsequenz. erfolgt ein- oder mehrzeitig, einzeln nacheinander oder in 2 Teams
parallel. Durch das inhomogene Erscheinungsbild von Spalthän-
Indikation und Operationszeitpunkt den muss auch die Operationstechnik immer individuell ausge-
In der Behandlung des Spalthandsyndroms gibt es keine konserva- wählt werden. Die Korrektur dieser schwerwiegenden und oftmals
tiven Therapiemaßnahmen. Das Ziel der operativen Behandlung komplizierten Fehlbildung führt zu einer lediglich ausreichenden
502 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Funktion der Hand für den Alltag. Besonders zu beachten ist das Greiffunktion wird diese automatisiert und daraufhin auch ganz
Fehlen eines kräftigen Spitzgriffs und die Operationsmethoden natürlich in den Alltag übernommen.
müssen dementsprechend angepasst werden.
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Spezielle Therapie Die Operationsmethode nach Snow-Littler kann zu partiellen
Prinzipiell kommen folgende operative Verfahren in Betracht: Lappennekrosen führen, die einer Korrekturoperation bedür-
▬ Syndaktylietrennung; fen. Notwendige Revisionseingriffe beinhalten die Korrektur von
▬ Entfernung von Transversalknochen: Wood (2004) empfiehlt longitudinalisierten Narben mit Z-Plastiken und andere Korrek-
bei zwischen dem 1. und 2. Fingerstrahl liegenden Quer- turen in der 1. Kommissur (⊡ Abb. 21.43h) sowie Osteotomie des
knochen diesen nur zu entfernen, wenn die nötige Tiefe des 2. MHK, Sehnentransfer des M. extensor carpi radialis longus,
1. ZFR fehlt, sodass größere Gegenstände trotz der guten um die Zeigefingerabduktion wiederherzustellen, Korrektur von
Spannweite nicht gegriffen werden können; Grund- oder Mittelgelenkkontrakturen und Sehnentransfer, um
▬ Korrektur der Kamptodaktylie oder Korrekturosteotomie; den M. abductor pollicis longus zu stärken. Weiterhin sind fall-
▬ Beseitigung der Spalte durch Transposition des 2. MHK auf weise Arthrodesen von instabilen oder nicht achsengerechten
die Basis des 3. MHK nach Weichteil- und Resektion des Gelenken nötig. Der Spitzgriff ist bei allen operierten Patienten
3. MHK; schwach.
▬ zusätzlich Vertiefung des 1. ZFR nach Snow-Littler (1967)
oder Modifikation der Schnittführung nach Miura und Koma-
da (1979) 21.2.9 Klinodaktylie
Die Operationsmethode nach Snow-Littler ist technisch äußerst Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
anspruchsvoll (⊡ Abb. 21.43b–e), kann aber funktionell wie ästhe- Die Klinodaktylie ist nach Tamplin (1846) die seitliche Abwink-
tisch gute Ergebnisse bringen. Die Schnittführung erfolgt an der lung eines Fingers oder des Daumens im Mittelgliedbereich, meist
Spalte, eine bestehende Syndaktylie des 1. und 2. Fingers wird bedingt durch die Form des verkürzten Mittelglieds bei Brachyme-
durch eine zickzackförmige Inzision getrennt. Der 3. MHK wird sophalangie oder einer Deltaphalanx.
bis auf die Basis entfernt, der Zeigefingerstrahl darauf gesetzt und Sie tritt vorwiegend am Kleinfinger (Abweichen im Mittel-
mit 2 Kirschner-Drähten fixiert. Dabei ist darauf zu achten, dass glied nach radial), am Zeigefinger (⊡ Abb. 21.44) und am Daumen
der transponierte Finger nicht in einer Drehfehlstellung fixiert (⊡ Abb. 21.45a) (im Grundgelenk Abwinklung nach radial, bei
wird. Der M. interosseus dorsalis I wird für die Transposition Triphalangie im Mittelgelenk nach ulnar) auf. Im Gegensatz zum
vorsichtig abgelöst, der palmare wenn möglich mit transponiert. Auftreten am Kleinfinger kommt die kongenitale Klinodaktylie
Der 2. dorsale kann entfernt und der 3. dorsale auf den Ansatz des am Daumen isoliert, oftmals aber im Rahmen von Syndro-
palmaren aufgenäht werden. Das Lig. metacarpeum transversum men (z. B. beim Apert-, Holt-Oram-, Down-, Poland-Syndrom
profundum muss schlingenförmig aus Sehnenteilen des Mittel- etc.) vor.
fingers konstruiert werden. Rider et al. (2000) erachten diesen Die Dreieckform eines Fingergliedes kommt durch eine bo-
Schritt nicht unbedingt notwendig, da im Rahmen einer Nachun- genförmige längsgerichtete Epiphyse zustande, welche die beiden
tersuchung weder klinisch eine Instabilität noch radiologisch eine Gelenkanteile miteinander verbindet. Die distale Gelenkfläche
Separation festgestellt werden konnte. Die Haut des Spaltes wird verläuft dadurch schräg, der betroffene Knochen ist deutlich
in einen palmar gestielten Hautlappen umgewandelt und kann verkürzt. Man spricht auch von Dreieckdeformität oder Delta-
zur Erweiterung des 1. ZFR verwendet werden, welcher durch die knochen (⊡ Abb. 21.45b). Ogino et al. (1994) sowie Watson und
Zeigefingerverschiebung auf eine normale Weite gebracht wird. Boyes (1967) sehen in der Deltaphalanx eine Vorstufe zur Poly-
Wenn erforderlich, werden etwaige Restdefekte mit Vollhaut aus daktylie.
der Leiste gedeckt.
Nach Miura und Komada wird die Operation wie nach Snow-
Littler durchgeführt, lediglich die Inzisionen sind modifiziert, um
für die 2. Kommissur kleine Hautlappen zu bilden.
Postoperative Therapie
Nach der Transposition des 3. an die Stelle des 2. MHK wird die
Hand ruhiggestellt. Danach kann eine die Hand umfassende Span-
ge aus thermoplastischem Material für 6–8 Wochen Schutz für die
Knocheneinheilungsphase bieten. Wurde eine tiefe Daumenkom-
missur geschaffen, muss der Daumen nachts mittels Schienen-
behandlung in maximaler palmarer Abduktion und Opposition
21 gelagert werden, um die optimale Weite zu erhalten.
Ein zirkuläres Zwillingsschlaufenband wird um den 2. und
3. Finger angebracht, um der bisherigen Spalthandstellung entge-
genzuwirken sowie eine Neuprogrammierung des Körperschemas
im Gehirn zu ermöglichen. In dieser Weise wird der Interdigital-
griff D II/III (bzw. D II/IV) unterbunden und neben der Finger-
beugung und -streckung wird so auch der Spitzgriff zum Daumen
und der Grobgriff angebahnt (⊡ Abb. 21.43f,g). Durch den spiele- ⊡ Abb. 21.44 Klinodaktylie beider brachymesophalangealer Zeigefinger mit
rischen Einsatz der Hand und häufiges Wiederholen der neuen gedoppelten Endgliedern und dreieckigen Mittelgliedern
21.2 · Spezielle Techniken
503 21
Klassifikation ▬ Keilosteotomie und Teilresektion der Epiphysenfuge mit
Die Klinodaktylie ist ein klinisches Symptom und stellt keine eige- Fettinterposition, spontane Korrektur durch das Wachstum;
ne Erkrankung dar. Sie kann angeboren sein, traumatisch bedingt ▬ Resektion eines dreieckigen Knochens bei Daumendreiglied-
oder im Rahmen einer juvenilen rheumatoiden Arthritis auftreten. rigkeit, eventuell Arthrodese des Gelenks;
Die Patienten können somit in 4 Kategorien eingeteilt werden: ▬ Bei der Verlängerung eines kurzen MHK müssen vor der Os-
▬ Typ I: familiäre Klinodaktylie mit einem dominanten Erbgang teotomie die Mm. interossei abgelöst und das Lig. metacarpeum
(üblicherweise keine anderen Fehlbildungen); profundum durchtrennt werden, ehe die Interposition eines
▬ Typ II: Klinodaktylie assoziiert mit anderen Fehlbildungen; Darmbein- oder Radiusspans, welche mit einer Platte oder
▬ Typ III: Klinodaktylie mit physikalischem oder thermalem durch 2 Kirschner-Drähte fixiert werden, erfolgt. Zusätzlich zur
Trauma der Epiphyse; Knochenkorrektur muss eine Verlängerung der Weichteile (mit
▬ Typ IV: Klinodaktylie beim triphalangealen Daumen. Z-Plastiken oder gestieltem Lappen) erfolgen.
a b
verkürzende 10 Jahre
Osteotomie
Fetttransplantat
verlängernde Osteotomie
Rotationsosteotomie
Knochen
-transplantat
a b c d
⊡ Abb. 21.47 37-jährige Frau mit Makrodaktylie am rechten Daumen. a Zustand nach auswärts durchgeführter Operation im Alter von 14 Jahren, b Röntgen
rechter Daumen: Verkalkungen und Osteophyten um die Gelenke, c MRI: Längsdarstellung des stark verdickten Weichteilpolsters über dem Thenar entspre-
chend einer Fettansammlung, d intraoperative Darstellung des massiv vergrößerten N. medianus vor allem in Handgelenkhöhe, geschlängelte Faszikelgrup-
pen, teilweise resezierte peri- und intraneurale Bindegwebs-und Fettansammlung. Die angeschlungenen Daumennerven sind radial noch von Fett umgeben,
der N. digitorum communis I bereits freipräpariert
Spezielle Therapie ▬ Amputation: Der Riesenfinger ist meist eher unbeweglich und
Zur Korrektur der Makrodaktylie werden meist verschiedene störend. Deshalb sollte im Falle eines betroffenen Fingers eine
Methoden kombiniert und häufig sind mehrere Eingriffe not- Amputation mit Handverschmälerung in Betracht gezogen
wendig. werden. Im Falle des Daumens ist dies jedoch keine geeignete
▬ Verödung der Epiphysenfugen: während des Knochenwachs- Lösung.
tums, wenn die gewünschte Endlänge des Fingers (Vergleich
mit den Eltern) erreicht ist. Postoperative Therapie
▬ Reduktion der Weichteile: Fettmasse und Haut werden rese- Bei gewebeabtragenden Verfahren ist die postoperative Ruhigstel-
ziert; die Operationen an der palmaren bzw. dorsalen Seite lung nur bis zur Wundheilung erforderlich. Bei Knochenverkür-
des Fingers sollten in einem Mindestabstand von 3 Monaten zungen und Osteosynthese ist eine Ruhigstellung für 4–6 Wochen
erfolgen. Als Inzisionen können jene nach Bruner oder die bzw. bis zur Knochenheilung indiziert.
Mitt-Seit-Inzisionen verwendet werden. Edgerton und Tuerk
(1974) schlagen die Exzision und Entfettung der Haut mit Fehler, Gefahren und Komplikationen
Replantation als Vollhaut vor. Es wird auch das Stripping der Bei ausschließlicher Weichteilresektion besteht die Gefahr der
Nerven empfohlen, um so einem weiteren Wachstum des Hautnekrose. Wegen der Gefahr der Entwicklung von schmerzhaf-
Extremitätenteils Einhalt zu gebieten. Am Finger sollte man ten Neuromen bzw. von asensiblen Fingern und dadurch erhöhter
die betroffenen Nerven resezieren und durch Transplantate Verletzungsgefahr wird eine Nervenresektion und -transplantation
ersetzen. bei Weichteilresektion nicht empfohlen.
▬ Resektionsarthrodese: Resektion des Endgelenks, um den
Finger zu verkürzen und zu begradigen. Tsuge (1967) führt
eine zweizeitige Operation durch, wobei in der 1. Sitzung das 21.2.11 Schnürringkomplex
distale Glied bis auf eine schmale Scheibe reseziert und mit
dem Grundglied fusioniert wird und in einer 2. Sitzung die Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
überschüssigen Weichteile entfernt werden. Unter dieser Bezeichnung werden Fehlbildungen zusammenge-
▬ Resektionsosteotomie nach Millesi (1966): zum Verkürzen fasst, die mit verschiedenen morphologischen Veränderungen ein-
und Verschmälern des Gliedes, bei Bedarf kann auch der hergehen, welche an der unteren, häufiger aber an der oberen
MHK verkürzt werden. Extremität vorkommen.
▬ Dekompression von Nerven: Sind durch ein lipofibromatöses Es zeigen sich quer oder zirkulär verlaufende Schnürfurchen
Hamartom als benigner Tumor der peripheren Nerven der mit distal davon gelegenen polsterartigen Verdickungen der dorsa-
N. medianus oder ulnaris im Karpalkanal bzw. der Guyon-Lo- len Weichteile, periphere Defekte bis zu Teilamputationen und Syn-
ge komprimiert und hat dies sensible oder motorische Ausfälle daktylien der Finger (⊡ Abb. 21.48). Die Syndaktylien sind meist als
zur Folge, muss auch eine Dekompressionstherapie erfolgen Akrosyndaktylien ausgebildet. Reste der ZFR sind als Hauttunnel
(⊡ Abb. 21.47c,d). vorhanden. Die Kommissuren sind nicht in der korrekten Position.
506 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Die Haut im Bereich der Schnürfurche ist sehr dünn und es knospenartigen Fingerresten. Die Atrophie von N. medianus und
fehlt das subkutane Fettgewebe. Die Ringe können oberflächlich N. ulnaris distal des Schnürrings am Unterarm hat eine Sensibili-
(⊡ Abb. 21.49, ⊡ Abb. 21.50) oder tief bis zum Knochen reichen, tätsstörung im Versorgungsgebiet der Hand zur Folge. An Fingern
was am Unterarm zu einer radioulnaren Synostose und an den mit Schnürringen sind die Nägel hypoplastisch, wachsen langsam
Fingern zu Defektpseudoarthrosen führen kann. Knochen und oder fehlen ganz. Diese Merkmale können einzeln oder in Kombi-
Weichteile proximal des Rings sind normal, im Bereich des Rings nation, nur an einer Extremität oder doppelseitig, oder auch an der
weisen Nerven und Gefäße häufig abnormale Verläufe auf. Distal oberen und unteren Extremität auftreten.
der Schnürringe finden sich Lymphödeme und dorsalseitig Finger- Äußerst selten kommen Schnürringe auch am Abdomen vor
polster aus subkutanem Gewebe. Zirkuläre Abschnürungen führen oder es ist die Nabelschnur betroffen, was zu einem intrauterinen
distal des Rings zu Atrophie oder zu Teilamputationen und somit Absterben des Feten und somit zu einer Totgeburt führt. Der
Schnürringkomplex ist in etwa 40% der Fälle mit anderen Fehlbil-
dungen kombiniert (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, Klump-
fuß). Seine Entstehung ist noch nicht vollständig geklärt. Einerseits
werden Amnionabschnürungen dafür verantwortlich gemacht.
Andererseits gibt es durch histologische Untersuchungen an Feten
den Hinweis auf eine endogene Entstehungsursache. Eine familiäre
Häufung konnte nicht nachgewiesen werden, genauso wenig ein
Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Niko-
tineinfluss während der Schwangerschaft.
Die Abgrenzung des Schnürringkomplexes zu anderen Fehl-
bildungen ist nicht immer einfach weshalb die Symbrachydaktylie
und die periphere Hypoplasie aller Finger als Differenzialdiagno-
sen in Betracht zu ziehen sind.
Klassifikation
Eine Unterteilung des Schnürringkomplexes wurde von Patterson
(1961) nach dem Vorkommen des Schnürrings vorgenommen:
▬ Typ I: isoliert;
▬ Typ II: mit Akrosyndaktylie;
▬ Typ III: Akrosyndaktylie und zusätzliche Teilamputation.
21
1 3 5 1 3 5
2 4 6
2 4 6
a b
⊡ Abb. 21.52 Schnürring an der rechten unteren Extremität eines neugebo- ⊡ Abb. 21.53 Mädchen mit Klinodaktylie am Daumen ( Abschn. 21.2.9) und
renen Knaben, die Amputation konnte nicht verhindert werden Hyperphalangie D II und D III, nur eine Beugefalte am Zeigefinger sichtbar
Nach Eingriffen am Knochen wird die obere Extremität im Gips Beim triphalangealen Daumen existiert ein zusätzliches ru-
ruhiggestellt und hoch gelagert. Sollten Schmerzen auftreten, ist dimentäres oder normal ausgebildetes Mittelglied. Er tritt häufig
ein Verbandwechsel dringend indiziert. Die Nähte werden etwa gemeinsam mit anderen Fehlbildungen der Hand, wie z. B. Klump-
2 Wochen nach der Operation (bei Kindern bis zu 2 Jahren in All- hand, Daumenhypoplasie und Polydaktylie (⊡ Abb. 21.54a), der
gemeinnarkose) entfernt. unteren Extremität und im Rahmen von Syndromen (z. B. Holt-
Oram-Syndrom) auf.
Fehler, Gefahren und Komplikationen Durch die Einnahme von Thalidomid während der Schwan-
Schlecht durchblutetes Gewebe ist für Infektionen anfällig. Deshalb gerschaft wurde eine signifikante Häufung der Triphalangie des
sollte intraoperativ nach der Trennung der akrosyndaktyl zusam- Daumens beobachtet und mehrfach auch ein autosomal-dominan-
mengewachsenen Finger die eröffneten Interdigital-Sinus neuer- ter Erbgang der Fehlbildung nachgewiesen.
lich desinfiziert werden, da abgeschilferte Epithelreste und Keime Die Pathogenese zur Entstehung dieser Fehlbildung ist noch
in dem mit Epithel ausgekleideten Sinus liegen. nicht geklärt. Im Falle der Ausbildung eines kompletten Mittelglie-
Wenn ein Hämatom auftritt, kann es zur Lappennekrose oder des wird eine Doppelbildung des Zeigefingers bei Daumenaplasie
Nekrose der Transplantate kommen. Bei Nekrosen des distal der angenommen. Ogino et al. (1994) diskutieren für die brachyme-
Furche gelegenen Anteils der Extremität muss rasch eine Amputation sophalangeale Form eine unvollständige Doppelanlage des Dau-
durchgeführt werden, um das Leben des Kindes nicht zu gefährden. menendgliedes mit Teilfusion. Zuidam et al. wiesen 2006 einen
Einfluss der Lage der Wachstumsfuge auf die Länge des 1. MHK
nach. Die häufigste Lokalisation der Wachstumsfuge lag bei ihren
21.2.12 Hyperphalangie der Finger, triphalangealer Patienten distal, im Gegensatz zur Normalbevölkerung, bei der sie
Daumen proximal liegt.
⊡ Abb. 21.54 1-jähriges Mädchen mit Triplikation des Daumens (Röntgen und CT-Angiografie
⊡ Abb. 21.5). a Durch die Anordnung der Furchen an den 3 radialen Fingern und deren Position
in der Handebene können eine Zeigefingerduplikation und eine Spiegelhand als Differenzialdia-
gnose ausgeschlossen werden, b intraoperatives Bild nach Entfernung des ulnaren und radialen
Daumens sowie Kürzung des triphalangealen mittleren Daumens, c Verkürzung und Doppelung
der Strecksehne. d Im Röntgen 4 Jahre postoperativ ist ein nach radial abgekippter und in Fehl-
position eingeheilter Kopf des ehemaligen MHK I des triphalangealen Daumens erkennbar. e Da
das Mädchen im täglichen Leben kaum Einschränkungen hat, ist derzeit keine Korrekturoperation
c
gewünscht
Reihe auf, die von einem kleinen dreieckigen bis zum vollständigen eine Klassifikation aufgestellt, die nach Wood 1976 nach radiologi-
Mittelglied reicht. Cocchi (1952), Swanson und Brown (1962) tei- scher Darstellung des Mittelgliedes modifiziert wurde und in der
len die Fehlbildung in 2 Formen ein: Literatur sehr gebräuchlich ist:
▬ brachymesophalangeale Form: normale Länge des Daumens, ▬ Typ I – Deltaphalanx: Schaltknochen zwischen Grund- und
keilförmiges Mittelglied, Daumen oppositionsfähig; Endglied;
▬ dolichophalangeale Form: Daumenballenmuskulatur fehlt, ▬ Typ II – viereckiges Glied: rudimentäres Mittelglied;
Fünf-Finger-Hand, keine Oppositionsfähigkeit. ▬ Typ III – vollständiges Mittelglied: Fünf-Finger-Hand.
Grobelnik (1951) und Ogino et al. (1994) unterscheiden in opposi- Buck-Gramcko (1998) hat bisher die ausführlichste Einteilung nach der
tionsfähige und -unfähige Typen. Hilgenreiner (1907) hat ebenfalls Gestaltung der zusätzlichen Phalanx vorgenommen (⊡ Abb. 21.55).
510 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Indikation und Operationszeitpunkt halb in diesem Falle der triphalangeale Daumen amputiert und der
Zur Vermeidung einer Entwicklungsverzögerung ist die rechtzeiti- Zeigefinger pollizisiert wird. El-Karef (2004) hingegen geht nach
ge Korrektur des triphalangealen Daumens anzustreben. einem zweizeitigen Verfahren vor, indem er zuerst das PIP-Gelenk
entfernt und den MHK des Daumens osteotomiert, um die richtige
Spezielle Therapie Daumenlänge, Position und ausreichende Weite des 1. ZFR zu
Aufgrund der verschiedenen Formen und Schweregrade der Dau- erreichen. In der 2. Sitzung 4–8 Monate später wird eine Extensor-
mendreigliedrigkeit ist auch die operative Korrektur darauf abzu- indicis-Opponensplastik durchgeführt.
stimmen. Das Alter hat ebenfalls einen Einfluss auf die Wahl der
Methode. Der triphalangeale Daumen wird in unterschiedlicher Postoperative Therapie
Weise korrigiert – Resektion, Korrekturosteotomie mit und ohne Je nach Art des Eingriffs ist auf eine Stabilität der Gelenke durch
Zerstörung der Epiphyse, Osteotomie des MHK und Opponens- adäquate Knochenheilung zu achten, bei mangelhaft ausgebildeter
plastik. Muskulatur erscheint eine Sehnenverlagerung als Opponensplastik
und eine entsprechende Ruhigstellung und Bewegungstherapie
Brachymesophalangeale Form mit keilförmigem Mittel- angezeigt.
glied. Innerhalb der ersten Lebensjahre ist eine Exstirpation des Bei Operation eines Tripeldaumens im 1. Lebensjahr ist auf
dreieckigen Knochens mit Seitenbandrekonstruktion indiziert. Die eine länger dauernde Schienenruhigstellung zu achten, um ein Ab-
Gelenkflächen passen sich im weiteren Wachstum sehr gut an und kippen des pollizisierten triphalangealen Daumens zu verhindern.
außer einer unbedeutenden Bewegungseinschränkung bleiben kei-
ne Folgen zurück. Werden hingegen die Kinder erst später gesehen, Fehler, Gefahren und Komplikationen
wird nach der Entfernung des überzähligen Daumengliedes eine Die größte Gefahr besteht in einer Instabilität der Gelenke, wenn
Arthrodese des schrägen Gelenkspaltes mit leichter Knochenresek- die Seitenbänder bei Entfernung einer Mittelphalange nicht oder
tion durchgeführt, oder auch eine Keilosteotomie am Grundglied. nur mangelhaft wiederhergestellt werden.
Bei Typ III und IV müssen die Ansätze der Mm. interossei
Brachymesophalangeale Form mit rechteckigem Mittel- versetzt und die Dorsalaponeurose gekürzt bzw. gerafft werden.
glied (Übergangsform). Hier wäre eine stärkere Verkürzung Bei Duplikation oder Triplikation des Daumens kann der 1. ZFR
der Daumenlänge notwendig, wobei aber die Exstirpation des zu weit werden. Bei Pollizisation des radialen Fingers können die-
Mittelgliedes nicht in Frage kommt. Hingegen ist die Resektion selben Komplikationen wie bei Zeigefingerpollizisation auftreten
des distalen Gelenks, eine Verkürzungs- und Drehosteotomie im (⊡ Abb. 21.54d,e).
MHK, eine Raffung der Streckaponeurose und eine Verlagerung
der Daumenmuskelansätze nach distal notwendig. So wird die kor-
rekte Daumenlänge erreicht und das Muskelgleichgewicht wieder- 21.2.13 Radiushypoplasie
hergestellt. Horii et al. (2001) hingegen konnten bessere Ergebnisse
durch die Exzision der Wachstumsfuge erzielen. Die Operation Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
21 sollte zwischen 1. und 2. Lebensjahr erfolgen, wenn die Epiphyse Die Radiushypoplasie ist eine Hemmungsfehlbildung des präa-
am Röntgen sichtbar ist. xialen Teils der oberen Extremitätenanlage mit Verkürzung des
Unterarms und einer Radialdeviation der Hand (Manus vara,
Dolichophalangeale Form. Der Daumen gleicht in Aussehen radiale Klumphand). Der Radius kann hypoplastisch angelegt sein
und Anatomie sowie Stellung in der Fingerreihe einem Finger. Aus oder vollständig fehlen und durch einen derben fibrösen Strang
diesem Grund ist eine Pollizisation des radialen Fingers die Metho- ersetzt sein, an dem die Muskulatur inseriert. Die Ulna ist häufig
de der Wahl, die wie bei der Zeigefingerpollizisation durchgeführt nach radial verbogen, die Handwurzel meist hypoplastisch – hier
wird (⊡ Abb. 21.54b,c). Ein hypoplastischer dreigliedriger Daumen besonders die radiale Hälfte, was sich bis zu den Fingern fortsetzt
kann auch nach Pollizisation keine gute Funktion erreichen, wes- (z. B. Daumenhypoplasie, ⊡ Abb. 21.56a,b). Die radiale Klumphand
21.2 · Spezielle Techniken
511 21
d e
⊡ Abb. 21.56 6 Wochen altes Mädchen mit radialer Klumphand rechts. a assoziierte Aplasie des Dau-
mens, b isolierte Radiusaplasie, instabiles Handgelenk, kurze, verdickte und verbogene Ulna, Daumen-
aplasie, c Schienenbehandlung zur Aufrichtung des Handgelenks, d Fixation des Handgelenks mit Kirsch-
ner-Draht nach offener Radialisation mit Sehnenverlagerung, e Zustand nach Aufrichtung der radialen
c
Klumphand, f unmittelbar postoperativ nach Pollizisation des Zeigefingers bei Daumenaplasie
tritt meist sporadisch auf, kommt isoliert aber auch in Verbindung (1982) und andererseits von James et al. (1999). Bayne unterschei-
mit anderen Fehlbildungen oder im Rahmen von Syndromen (z. B. det 4 Typen und geht davon aus, dass die Handdeformität parallel
TAR-Syndrom, VATER-Assoziation) vor. zum Radiusdefekt verläuft:
▬ Typ I – Verkürzung des distalen Radius: vorhandene distale
Klassifikation Epiphyse, angedeutete Radialdeviation, Daumenhypoplasie,
In der teratologischen Reihe der radialen Klumphand wurde der Ellenbogenfunktion normal;
triphalangeale Daumen oder die Daumenhypoplasie als die leich- ▬ Typ II – Radiushypoplasie: vorhandene Epiphysenfugen – bei
teste Form beschrieben. Die Schwere der Fehlbildung setzt sich beiden allerdings eingeschränktes Wachstum, verkürzter Un-
mit zunehmender Defektbildung des Radius und Humerus bis terarm, verbogene Ulna;
zur Extremform nur eines angelegten Fingers mit Hypoplasie des ▬ Typ III – partielle Radiusaplasie: kurze, verdickte und verboge-
Schultergürtels fort (⊡ Abb. 21.57). ne Ulna, instabiles Handgelenk;
Des Weiteren existieren neben der teratologischen Reihe 2 Ein- ▬ Typ IV – totale Radiusaplasie: Ulnaveränderungen s. Typ III,
teilungssysteme der Radiusfehlbildung – einerseits von Bayne instabiles Handgelenk.
512 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
James et al. hingegen differenzieren 6 Typen und berücksichtigen Zentralisation der Elle
mehr die Daumen- und Karpusveränderungen. Bei dieser Operationsmethode ist das Ziel die Ankylose der
Handwurzel auf dem distalen Ende der Ulna in Funktions-
Indikation und Operationszeitpunkt stellung. Die Operationsmethode wurde von Sayre (1893) be-
Ob die Radiushypoplasie isoliert oder als Teil eines Syndroms schrieben und von Blauth (1969) und Bayne (1985) modifiziert.
vorliegt, muss bei jedem Patienten genau untersucht werden. Der Dabei werden die Kontrakturstränge abgelöst, die Gelenkkapsel
präoperative Status der Gelenkbeweglichkeit ist essenziell, um dem eröffnet und das distale Ellenende mobilisiert. Durch Entfernung
Kind bei beeinträchtigter Beugefähigkeit des Ellenbogens durch der mittleren Handwurzelknochen wird eine Mulde gebildet,
die Aufrichtung der Hand nicht die Möglichkeit zu nehmen, den in der die Ulna mit Kirschner-Draht fixiert wird. Die Sehnen
Mund zu erreichen. Die klinische Untersuchung muss also de- des M. brachioradialis und des M. flexor carpi radialis werden
tailliert erfolgen, um das Prozedere gut planen zu können. Da der durchtrennt, die des M. extensor carpi ulnaris gerafft und die des
Unterarm bei den Radiusfehlbildungen sehr stark verbogen ist, M. flexor carpi ulnaris nach Naht der ulnarseitigen Gelenkkapsel
drängen die meisten Eltern auf eine operative Korrektur. mit der Extensorensehne vernäht. Die Ergebnisse fielen leider
Wie auch die meisten Autoren empfiehlt Buck-Gramcko (1985) sehr enttäuschend aus und die Patienten mussten neben dem
eine frühzeitige operative Behandlung im 2.–6. Lebensmonat. Bewegungsverlust auch eine Verkürzung des Unterarms durch
Schädigung der Wachstumsfuge, Rezidiv und Verbiegung der
Spezielle Therapie Ulna hinnehmen.
Konservative Therapie
Einige Tage postpartal sollte die konservative Therapie mit Schie- Zweizeitige Zentralisation oder Radialisation der Elle
nenbehandlung beginnen (⊡ Abb. 21.56c). So wird die Beweglich- Reposition durch Traktion. Die Handwurzel sollte einen Ab-
keit verbessert und dabei vermieden, dass die Radialdeviation im stand zum distalen Ulnaende von mehreren Zentimetern errei-
Handgelenk kontrakt wird. Die Schienen werden immer wieder chen. Hierzu werden die Weichteile mittels Fixateur externe lang-
neu angepasst und die Aufrichtung des Handgelenks von Mal zu sam gedehnt.
Mal verstärkt (Redression). Sie sind nachts zu tragen, tagsüber
sollte die Beweglichkeit gefördert werden und die Schienen sind Radialisation. Nach geschlossener Reposition wird das Hand-
abzunehmen. Die präoperative Dehnung des Haut-Weichteil-Man- gelenk in Mittelstellung mit einem Kirschner-Draht fixiert
tels mit einem Distraktor und Nachtlagerungsschienen ist eine (⊡ Abb. 21.56d,e). Buck-Gramcko hingegen empfiehlt nach einer
effektive Vorbereitung zur Radialisation der Ulna. Bei Taghinia Ruhepause von 2 Wochen nach der Traktionsbehandlung die Ent-
21 et al. (2007) erfolgt die Weichteildistraktion mit einem Orthofix fernung des Fixateurs und offene Reposition. Das distale Ellenende
uniplanaren Device. wird dabei unter die radiale Handwurzel gestellt und die Sehnen-
ansätze des M. extensor carpi radialis und M. flexor carpi radialis
Operative Therapie auf die ulnarseitige Handwurzel transponiert. Durch die Überkor-
Die Verfahren, welche zur Anwendung kommen, sind je nach Art rektur und Sehnenverlagerung soll die Balance des Handgelenks
der Radiusfehlbildung unterschiedlich. So wird bei der Radiushy- besser gehalten und Rezidive verhindert werden.
poplasie die Kallusdistraktionsverlängerung des Radius empfohlen, Die präoperative Weichteildistraktion ist eine äußerst wir-
bei der totalen oder subtotalen Aplasie sind verschiedene Wege kungsvolle Methode, um den Karpus im Falle der Radiushypo-
möglich. plasie zu repositionieren. Bei der Radialisationsoperation müssen
21.2 · Spezielle Techniken
513 21
Gefäße, Nerven und Weichteile nicht mehr gedehnt werden und so Einheit mit mikrovaskuklärem Anschluss transplantiert. Beide Epi-
kann die beste Position und optimale Länge erreicht werden. physenfugen zeigten ausreichendes Wachstum, allerdings kam es
in 3 von 6 Fällen zu schweren Komplikationen mit Rezidiv.
Verlängerung der Ulna durch Kallusdistraktion
Im Alter von 6 oder 12–14 Jahren wird die Ulna verlängert, da das Postoperative Therapie
Wachstum eingeschränkt ist und nur etwa 50–75% der gesunden Nach Beendigung der Distraktion werden die Patienten mit Nacht-
Seite erreicht wird. Die Osteotomiestelle soll in der Metaphyse lie- lagerungsschienen versorgt, um das Ergebnis bis zur weiteren chir-
gen und die Verlängerung kann um ca. 1 mm pro Tag erfolgen. Die urgischen Versorgung zu erhalten.
Konsolidierung dauert ca. doppelt so lang wie die Verlängerung Ein Oberarmgips wird für 3 Wochen angelegt und der Arm
– ca. 60–94% der Ulnalänge ist möglich – und es kann auch eine hochgelagert, der Kirschner-Draht bleibt meist bis zur Pollizisation
gleichzeitige Achsenkorrektur erfolgen. (⊡ Abb. 21.56f), danach muss eine Nachtschiene getragen werden.
werden müssen, bleibt der ohnehin kurze Arm in seiner Länge Unter zentraler Polydaktylie versteht man die Doppelbildung des
erhalten. Zeige-, Mittel- oder Ringfingers. Ein triphalangealer, radialer
Die MT-Gelenk-Transplantation nach Vilkki ist aufwändig und zusätzlicher Finger wird als Doppelung des Daumens bezeichnet.
risikoreich. Das Ergebnis der Handgelenkbeweglichkeit, vor al- Die Zeigefingerdoppelung ist selten, kann die End-, Mittel- und
lem in Extension, wird dadurch nur unwesentlich verbessert. Der Grundglieder, aber auch die MHK betreffen. Der Mittel- und
mikrochirurgische Gefäßanschluss ist häufig mit Komplikationen Ringfinger sind meist gemeinsam betroffen, wobei der 3. MHK
behaftet. Auch muss die Positionierung des MT-Gelenks im Ver- gedoppelt und die restlichen Phalangen mit dem Ringfinger syn-
hältnis zum »Ulnokarpalgelenk« optimal sein, um die Beweglich- daktyl verbunden sein können. Es scheint in diesen Fällen, dass
keit überhaupt nutzen zu können. der 2. Finger im distalen Bereich gedoppelt ist, während proximal
eine Doppelung des Mittelfingers vorliegt. Die Duplikation des
Ringfingers ist der häufigste Typ der zentralen Polydaktylie. Beim
21.2.14 Polydaktylie rudimentären Typ findet man eine Perforation in der breiten
distalen Phalanx. In vielen Fällen handelt es sich um eine Dop-
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie pelung der End- oder Mittelphalange, welche eine partielle oder
Eine Polydaktylie wird definiert als eine Hand mit mehr als 5 Fin- komplette Syndaktylie zeigen. Sehr selten ist die Verdoppelung
gern, welche durch übermäßige longitudinale Segmentierung aller drei Phalangen oder die Doppelung im Mittelhandkno-
in der Embryonalentwicklung entsteht. Die Separationsstörung chen beschrieben. Die Mittelfingerduplikation ist häufiger als
kommt durch eine abnorme Wechselwirkung zwischen der api- die Zeigefingerverdoppelung. Auch hier können die Finger mit
kalen Ektodermalleiste und dem Mesoderm zustande. Die tera- allen drei Phalangen, aber auch mit einer Duplikation des MHK
tologische Reihe der Polydaktylie beginnt mit der Verbreiterung einhergehen. Die Doppelung ist meist mit einer Syndaktylie zwi-
des Endgliedes bis zur Verdopplung und Verdreifachung gesamter schen Mittel- und Ringfinger kombiniert. Die Beweglichkeit in
Fingerstrahlen – sie schreitet von distal nach proximal fort. Zu- all jenen Fällen, bei denen in verschiedenen Gelenken eine Du-
sätzliche Fingerstrahlen können radial, zentral und ulnar auftreten, plikation vorliegt, ist limitiert. Beuge- und Strecksehnen sind bei
wobei sie zentral am seltensten vorkommen. dieser Fehlbildung mit betroffen. Sehr häufig sind an den MHK
Synostosen vorhanden und nicht selten liegen auch gleichzeitig
> Die radiale Polydaktylie – also der Doppeldaumen – ist die Deltaphalangen vor. Meist ist eine Erblichkeit festzustellen. Es
häufigste Fehlbildung der Hand. können auch zusätzliche Anomalien an den Füßen, aber auch an
Typ I Typ II Typ III Typ IV Typ V Typ VI Typ VII Typ VIII
21
⊡ Abb. 21.59 Klassifikation der radialen Polydaktylie nach Zuidam et al. (2008). Tph Triphalangie; H Hypoplasie; D Deviation; S Symphalangismus; T Triplikati-
on; U ulnarer Strahl; M medialer Strahl; R radialer Strahl
21.2 · Spezielle Techniken
515 21
der anderen Hand vorliegen. Neben den Knochen- gibt es auch der zwischen 6 und 24 Monate alt sein. Am schwierigsten zu
Gelenkfehlbildungen, die Sehnen- und Gefäßnervenbündel ver- operieren sind jene Fälle, die abnormale Phalangen und unregel-
laufen meist atypisch. mäßige Gelenkflächen aufweisen.
Als ulnare Hexa- oder Polydaktylie wird ein zusätzlicher Klein-
finger bezeichnet, der von kleinen Hautanhängen bis zur Doppe- Spezielle Therapie
lung ab dem Mittelhandknochen reicht. Die distale Bifurkation ist Bei der Entfernung eines überzähligen Fingers müssen viele Details
seltener als die Doppelung beginnend im MCP-Gelenk, wobei der beachtet werden, um ein optimales Ergebnis zu erzielen und die
5. MHK meistens deutlich stärker ausgebildet ist. Anzahl der Korrekturoperationen gering zu halten. »Je nach Form
der Polydaktylie (ungleich große, gleich große normal entwickelte
Klassifikation bzw. hypoplastische Partner) kommen verschiedene Verfahren zur
Bei den Polydaktylien unterscheidet man generell zwischen prä- Anwendung, die sich bei den unterschiedlichen Formen der Po-
und postaxial bzw. radial und ulnar sowie zentral. lydaktylie wiederholen und eventuell auch kombiniert angewandt
Die radiale Polydaktylie wird üblicherweise nach Wassel 1969 werden müssen« (Buck-Gramcko 1981, S. 12.58f.).
eingeteilt – nach Modifikationen durch Tuch (1977), Wood (1978)
und Horii et al. (1997) berücksichtigt sie Form, Gliederzahl und Radiale Polydaktylie
Art der Verbindung beider Daumen. Dabei kann der doppelte Handelt es sich um zwei ungleich ausgebildete Daumen soll grund-
Daumen normal oder hypoplastisch und auch triphalangeal ange- sätzlich der hypoplastische Daumen entfernt werden (⊡ Abb. 21.60a).
legt sein. Zuidam et al. (2008) stellen eine erneute Modifikation der Allerdings sollte präoperativ mittels Röntgen genau beurteilt werden,
Wassel-Klassifikation vor, wo besonders auch die Triphalangie und welcher der beiden Daumen der gelenkbildende ist (⊡ Abb. 21.60b,c).
Hypoplasie gedoppelter Daumenstrahlen berücksichtigt werden Die präoperative Planung ist bei der Resektion eines Daumen-
und die Beschreibung von Dreifachdaumen möglich wird. Die strahls besonders wichtig, damit keine Komplikationen, wie Devia-
Karpal- und Interkarpaltypen von Buck-Gramcko wurden eben- tionen oder Entstehung von kontrakten Narben sowie Nageldefor-
falls in die neue Klassifikation mit eingearbeitet, sowie Uptons No- mierungen, eintreten (⊡ Abb. 21.60d–f). Bewegungseinschränkun-
menklatur für kombinierte Triphalangie und radiale Polydaktylie gen in den einzelnen Gelenken sind hingegen fast unvermeidbar.
adaptiert (⊡ Abb. 21.59). Bei Entfernung eines Daumens muss eine Seitenbandrekons-
Die zentrale Polydaktylie kommt meist als Synpolydaktylie truktion aus wegfallenden Sehnen- oder Kapselanteilen durchge-
vor, welche wesentlich seltener als die randständigen Polydakty- führt werden. Die Ansätze der kurzen Daumenmuskeln müssen
lien, aber häufig bilateral auftritt. Die Fehlbildung kann von der vorsichtig vom zu resezierenden Anteil mit den Sehnenansätzen
Verbreiterung des Endgliedes mit einem breiten oder doppelt abpräpariert und auf den verbleibenden Daumen transponiert
angelegten Fingernagel bis zur Doppelung aller 3 Phalangen und werden. Exzentrisch ansetzende Sehnen werden zentralisiert
des MHK reichen, die Einteilung wird nach Tada et al. (1982) vor- (⊡ Abb. 21.61). Es kann auch nötig sein einen distal besseren Dau-
genommen: men auf die proximale bessere Basis des anderen einschließlich
▬ Typ I: Anhängsel ohne Skelettverbindung; Sehnen und Muskeln zu setzen.
▬ Typ II A: Doppelbildung eines gesamten oder Teil eines Fin- Bei symmetrischer Doppelung, wenn die beiden Finger hypo-
gers, der von einer Phalanx oder einem MHK abgeht; plastisch sind, kann sowohl bei distalen als auch bei proximalen
▬ Typ II B: wie Typ A, aber mit Syndaktylie; Typen der radialen Polydaktylie die Bilhaut-Cloquet-Technik an-
▬ Typ III: vollständiger Doppelfinger mit eigenem MHK. gewandt werden. Im Prinzip werden die zentralen Teile der Du-
plikation reseziert und anschließend die beiden lateralen Anteile
Bei der ulnaren Polydaktylie werden nach Stelling (1963) 2 Typen fusioniert. So erhält man einen Daumen mit zufriedenstellender
unterschieden – einerseits Doppelfinger mit knöcherner Verbin- Länge und Umfang.
dung zum Kleinfinger (Typ A) sowie Anhängsel mit Weichteil- Man beginnt mit dem Einzeichnen der Zickzackinzision an
verbindung zum Kleinfinger (Typ B). Bei Typ A ist der Finger jedem Daumen. Sie muss parallel zur Nagelzeichnung verlaufen
meist vollständig mit Streck- und Beugesehne sowie je einem und im Bereich der Matrix in einer Linie mit der Nagelinzision
radialen und ulnaren Gefäß-Nerven-Bündel ausgebildet, das Mit- liegen. Dabei muss beachtet werden, dass die Schnittführung an
telglied jedoch ist kurz und der Finger funktionslos. Beim Typ B jedem Daumen gleich erfolgt. Der kontralaterale, nicht betroffene
besteht die Verbindung zum 5. Finger aus Haut und Gefäß-Ner- Daumen dient hier zum Vergleich. Ist auch dieser fehlgebildet, ori-
ven-Bündeln, ein Knochenkern sowie ein Fingernagel können entiert man sich an der Breite des Zeigefingernagels (130–140%).
vorkommen. Die zentralen Haut- und Nagelanteile werden reseziert und die
Phalangen mit dem Skalpell longitudinal getrennt. Die lateralen
Indikation und Operationszeitpunkt Strahlenanteile werden nun zusammengefügt und die Knochen mit
Im Falle einer rudimentären Polydaktylie mit Hautbürzeln kann einer Cerclage aus resorbierbaren PDS-Fäden verbunden, wobei
bereits unmittelbar postpartal der häutige Stiel abgetragen wer- besonderes Augenmerk auf eine stufenfreie Gestaltung der Gelenk-
den, wobei zur Schmerzausschaltung lokal eine Emler-Creme flächen gerichtet werden soll.
aufgetragen wird. Da im Hautstiel immer ein Gefäßnervenbündel Baek et al. (2007) haben diesen Schritt bei Wassel Typ II und
vorhanden ist, sollte man einen sterilen Kompressionsverband an- III folgendermaßen modifiziert: Bei Typ II wird das IP-Gelenk
legen. Viele Eltern möchten allerdings dem Neugeborenen diesen lediglich aus einem Daumenstrahl rekonstruiert und der 2. wird
Eingriff ersparen und kommen erst nach einigen Wochen zum distal des Gelenks mit dem 1. fusioniert. Diese Technik ist also
Arzt. extraartikulär und ermöglicht durch eine glatte Gelenkfläche eine
Beim Doppeldaumen ist eine frühzeitige Korrekturoperation gute Gelenkbeweglichkeit. Für Wassel Typ III gilt dieselbe Vor-
anzustreben – am besten zwischen dem 8. und 12. LM. Bei der gangsweise und der überzählige Daumen wird in Höhe der Bifur-
zentralen Polydaktylie sollten die Operationen im 1. oder 2. Le- kation osteotomiert und bis auf das distale Fragment reseziert, das
bensjahr erfolgen, bei der ulnaren Doppelbildung sollten die Kin- wiederum zur Gestaltung des Endgliedes dient. Bei beiden Modifi-
516 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
a d
kationen muss natürlich auch auf die Gelenkstabilität geachtet und che Operationen an diesen Händen nötig sind, die Knochen und
ggf. ein Kirschner-Draht eingebracht werden (⊡ Abb. 21.62). Sehnen betreffen. Besonders bei dieser sehr komplizierten Fehlbil-
Sind die proximalen Phalangen nicht gleich lang (z. B. Was- dung ist es angezeigt, dass ausschließlich erfahrene Handchirurgen
sel Typ IV) wird zusätzlich eine Verkürzungsosteotomie durch- diese Korrekturoperationen durchführen.
geführt. Die Haut und der Nagel werden genäht – dabei wird das Syndaktylieoperationen sind erst notwendig, wenn überzäh-
Nagelbett ausgespart, um die Deformierung des Nagels gering zu lige Finger weggenommen werden. Dabei ist oft genügend Haut
halten. für den direkten Verschluss der Fingerseitenflächen vorhanden,
Als Übergang zur zentralen Polydaktylie stellt der Tripeldau- vor allem, wenn vorher Osteotomien erfolgten. Die Entfernung
men eine sehr seltene Fehlbildung dar. Buck-Gramcko (1981) von überzähligen Knochen ist bei der zentralen Polydaktylie
empfiehlt eine Resektion des radialen und ulnaren Strahls und der notwendig. Wenn der überzählige Finger mit einem Gelenk
verbliebene anatomisch normal ausgebildete Finger wird mittels verbunden ist, muss dieses Gelenk durch eine Rekonstruktion
üblicher Pollizisationstechnik zum Daumen gemacht. der Seitenbänder stabilisiert werden (⊡ Abb. 21.63). Eine vorüber-
Bei Zuidam et al. basiert die Behandlung des Tripeldaumens gehende Stabilisierung mit einem Kirschner-Draht ist nötig. Bei
auf den gleichen Prinzipien, wie sie für weniger komplexe Formen gedoppelten gleich großen syndaktyl verbundenen Phalangen,
21 der radialen Polydaktylie gelten. Sie führten an ihren Patienten fol- ist es im 1. Schritt sinnvoll, sie zu vereinen. Bei Deltaphalan-
gende operative Korrekturen durch: Resektion aberranter Strahlen, gen ist die Osteotomie für die Korrektur der axialen Deviation
Anpassung der Daumenlänge und Achse durch Osteotomien mit notwendig. Das Gleiche gilt für eine Y-förmige Bifurkation des
Stabilisation der Gelenke und Reinsertion von Sehnen sowie Kor- MHK, damit es zu einem in der Längsachse geraden Wachstums
rektur des Nagels und Nagelwalls. kommt. Wenn ein Finger den anderen übergreift, muss auch
eine Rotationsosteotomie durchgeführt werden. Selten ist eine
Zentrale Polydaktylie primäre oder sekundäre Amputation des Ringfingers angezeigt.
Die operativen Eingriffe sind abhängig von dem Typus der Fehlbil- Eine Verstärkung des Strecksehnenapparates ist manchmal ziel-
dung und es wird in den meisten Arbeiten zugegeben, dass zahlrei- führend.
21.2 · Spezielle Techniken
517 21
a b c d
⊡ Abb. 21.62 11-jähriges Mädchen mit radialer Polydaktylie. a Doppeldaumen rechts, Abwinklung in beiden IP-Gelenken, b Röntgen: Doppeldaumen
Typ Wassel III bzw. Zuidam III D r/u mit gemeinsamer Epiphyse, c 7 Jahre postoperativ, kräftiger Spitzgriff D I/II, d Röntgen: nach Entfernung des radialen
Daumens Verschmälerung des 1. MHK sowie erforderliche Umsetzung der Muskeln und Sehnen; die Basis des Grundglieds ist radial gering verbreitert
518 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
Ulnare Polydaktylie
Der Zeitpunkt der Operation hängt von der Höhe der Doppelung
ab. Der Hautanhang kann unmittelbar nach der Geburt entfernt
werden. Wenn eine Doppelung vorliegt, ist meistens der Ansatz der
Hypothenarmuskulatur am schwächeren ulnaren Finger zu finden.
Diese muss bei der Operation vorsichtig abpräpariert und verlagert
werden. Es muss auch eine Stabilisation im betroffenen Gelenk
erfolgen und der breite MHK durch eine longitudinale Keilosteoto-
mie verschmälert werden. Bei Fällen mit Teilung im Metakarpalbe-
reich ist es oft notwendig, eine Korrektur der longitudinalen Achse
des 5. MHK durchzuführen (⊡ Abb. 21.64).
Postoperative Therapie
a Wenn die Therapie in einer Amputation bestand, ist nach der
Wundheilung eine freie Beweglichkeit anzustreben. Wurde hin-
gegen ein Gelenk durch eine Sehnen- oder Muskelverlagerung
stabilisiert, ist eine 3-wöchige Ruhigstellung des Gelenks erforder-
lich. Normalerweise werden nach Stabilisierung von Knochen die
Kirschner-Drähte nach 6 Wochen entfernt.
Zur Evaluation der Ergebnisse nach Operation der radialen
Polydaktylie kann das Bewertungsschema von Tada et al. (1983)
herangezogen werden, da es mittels objektiv feststellbarer Kriterien
über ein Punkteschema die Resultate beurteilt.
Zentrale Polydaktylie
Es sind wesentlich mehr Komplikationen bei den zentralen Poly-
daktylieoperationen zu erwarten als bei anderen Fehlbildungen,
um ein akzeptables, funktionelles Resultat zu erzielen. Zu den
Frühkomplikationen zählen Hautnekrosen, spätere Komplikati-
onen sind das Wiederauftreten von Deviationen aufgrund von
c schrägen Gelenkstellungen oder abnormalen Epiphysen. Ein Un-
ter- oder Übergreifen der Finger limitiert den Faustschluss und
⊡ Abb. 21.63 1-jähriger Knabe mit zentraler Polydaktylie bei Oligodaktylie mindert die Grobkraft der Hand. Die Sekundär- oder Mehrfach-
beidseits. a Links: Daumenstrahl normal angelegt, Finger häutig syndaktyl operationen führen selten zu einem guten Resultat. Oft ist es
verbunden, leicht nach ulnar deviierter Zeigefinger, 3. Strahl ist in allen besser, eine Arthrodese in den Zwischenfingergelenken zu machen
drei Gliedern gedoppelt, der radiale Anteil des Grundglieds knöchern nur oder einen Finger zu enukleieren als weitere Korrekturoperationen
sehr gering sichtbar, der ulnare Anteil in Form einer Deltaphalange dar- durchzuführen (⊡ Abb. 21.65).
gestellt. Die Gelenkflächen an der synostotischen Basis der Mittelglieder
21 sind gegenläufig schräg gerichtet. An den Endgliedern besteht eine Ulnare Polydaktylie
Akrosynostose. Rechts: inkomplette häutige Syndaktylie zwischen dem Am häufigsten kommt es bei mangelhafter Wiederherstellung des
hypoplastischen zentralen (keilförmiges MHK) und ulnarem Randstrahl.
ulnaren Seitenbandes zu einem instabilen MCP-Gelenk. Wenn
b 9 Jahre postoperativ links bei Zustand nach verlängernder Keilosteo-
der 5. MHK nicht durch eine longitudinale Keilosteotomie ver-
tomie des deltaförmigen Grundglieds wobei zur Interposition der radial
gelegene hypoplastische Grundgliedanteil verwendet wurde. Blockbildung schmälert wurde, kommt es zum Auftreten einer sichtbaren
in der distalen Handwurzelreihe: Rechts bei Zustand nach Entfernung des Prominenz an der Ulnarseite der Mittelhand. Die Beugefähigkeit
zentralen hypoplastischen Fingers mit gleichzeitiger Trennung der inkom- des 5. Fingers ist manchmal limitiert, da die Beugesehnen des
pletten häutigen Syndaktylie, c beiderseitige 3-Finger-Hand mit ausrei- radial liegenden gedoppelten Fingers schwächer sind als die des
chend tiefer und weiter Kommissur D II/III ulnaren.
21.2 · Spezielle Techniken
519 21
d e
⊡ Abb. 21.64 4-jähriges Mädchen mit ulnarer Hexadaktylie. a Die beiden zusätzlichen Kleinfinger sind hypoplastisch angelegt, b Röntgen beider Hände,
rechts Y-Form des MHK D V, links proximale Synostose der MHK D IV und V. Der 5. Finger links ist zusätzlich rudimentär gedoppelt (breites Mittelglied, Perfo-
ration im Endglied), c 3 Jahre postoperativ, gute Abspreizbarkeit der 5. Finger beidseits durch Verlagerung der am 6. MHK entspringenden und ansetzenden
Muskulatur auf den 5. Strahl unter strenger Schonung der Gefäße und Innervation, d ulnare Handkante links, kaum sichtbare zickzackförmig verlaufende Nar-
be nach Resektion des zusätzlichen 6. Fingers, e Röntgen beider Hände; die rudimentäre Duplikation des Kleinfingers wurde nicht korrigiert
a b
a d
21
b c
⊡ Abb. 21.66 34-jähriger Mann mit beidseitiger Ulnaaplasie. a Pterygium in der Ellenbeuge und maximale Beugung im Ellenbogengelenk, b seitliches Rönt-
gen der linken oberen Extremität: Ellenaplasie, Pseudogelenk zwischen Radius und Humerus, gute Oppositionsstellung zwischen Daumen und einzigem Fin-
ger. c Angio-CT links: Am distalen Oberarm teilt sich die aus der A. axillaris entspringende A. brachialis in zwei Äste, wobei der radial verlaufende und die bei-
den Finger versorgende der kräftigere ist. Die ulnar verlaufende Arterie verdämmert in Handgelenkhöhe ohne eine Arkade mit der radialen Arterie zu bilden.
Zwei subkutan verlaufende Venen sind gleich stark und verlaufen oberflächlich im Pterygium. Blockbildung der Handwurzelknochen. d Der Mann kommt in
seinem täglichen Leben gut zurecht und ist mit einer maximalen Streckung von 80° rechts und 90° links im Ellenbogengelenk bei gleichzeitiger Ulnarduktion
von 30° in beiden Handgelenken weitestgehend von fremder Hilfe unabhängig. Der M. triceps ist beidseits vorhanden, jedoch hypoplastisch
21.2 · Spezielle Techniken
521 21
Spezielle Therapie im Laufe des Kleinkindalters auftreten. Meist ist der Kleinfin-
Kein einziger dieser Patienten gleicht im Erscheinungsbild einem ger betroffen und die Ausprägung kann von mild bis zu einer
anderen. Das konservative wie operative Therapiekonzept muss sehr starken Beugekontraktur im PIP-Gelenk mit Überstreckung
daher individuell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten ab- im Endgelenk reichen. Die Gelenkflächen können abgeflacht
gestimmt werden. sein und proximal des Grundgliedköpfchens eine Delle aufwei-
Werden die Eltern mit dem Kind vor dem 6. LM vorstellig, sollte sen (⊡ Abb. 21.68b,c). Die aktive Flexion ist frei und schmerzlos
die fibrokartilaginäre Anlage der distalen Ulna reseziert werden, da möglich.
diese bei Belassung zu zunehmender Krümmung des Radius führt. Zur Pathogenese gibt es verschiedene Theorien, wie z. B. die
In diesem Fall kann mit der Entfernung der bindegewebigen Anlage strukturelle oder funktionelle Schwäche der Dorsalaponeurose
auch eine korrigierende Radiusosteotomie durchgeführt werden. über dem PIP-Gelenk ( Kap. 5), Fehlinsertion des M. lumbrica-
Diesem Vorgehen widersprechen Khuri und Ger (1979), die be- lis, wodurch das Gleiten der Flexor-digitorum-superficialis-Sehne
obachteten, dass dieser Eingriff in jungen Jahren kein Rezidiv ver- behindert wird, durch aberrante oberflächliche Beugesehnen oder
hindern kann. Das verrenkte Radiusköpfchen sollte ulnar proximal eine Abflachung der Gelenkflächen. Veränderungen an der Haut,
synostostiert werden. An der Hand selbst sind Syndaktylien zu tren- den Knochen (⊡ Abb. 21.69) und am Bindegewebe sind hier Sekun-
nen und ein Gegengreifer zu mindestens einem Finger zu schaffen. därerscheinungen.
Es kann erforderlich werden Drehosteotomien, Verlängerungen der
Finger durch Phalangen vom Fuß sowie Sehnenverlagerungen oder Klassifikation
-transplantationen vorzunehmen. Das Ziel ist aber bei allen Eingrif- Nach dem Grad der Beugestellung wird die Kamptodaktylie nach
fen die Erreichung eines Spitzgriffs (⊡ Abb. 21.67). Frank et al. (1996) in 3 Stadien eingeteilt:
▬ Stadium 1: Streckdefizit ohne bzw. mit geringer Verkürzung
Postoperative Therapie der Haut;
Die postoperative Therapie richtet sich nach der erforderlichen ▬ Stadium 2: Beugekontraktur <50°;
Operation an der Hand. Zu den schweren Fällen mit Synostose ▬ Stadium 3: Beugekontraktur >50° mit Hautverkürzung.
zwischen Radius und Humerus bei gleichzeitiger Agenesie der Elle
gibt es einzelne Berichte, die allerdings kein einheitliches Behand- Indikation und Operationszeitpunkt
lungskonzept aufweisen. Foucher et al. (2006) verwenden zur Entscheidungsfindung der
Therapiemethode der Wahl einen Algoritmus auf der Basis von
Fehler, Gefahren und Komplikationen 6 klinischen Tests.
Je früher ein Kind operiert wird, desto präziser muss die Operation Milde Ausprägungen werden nicht behandelt. Besteht ledig-
und die postoperative Nachbehandlung erfolgen. lich ein Streckdefizit können Dehnungsübungen und eine stati-
sche und/oder dynamische Schienenbehandlung über mindes-
tens 6 Monate zu einer Verbesserung der Beweglichkeit führen
21.2.16 Kamptodaktylie (⊡ Abb. 21.70). Eine operative Therapie kommt bei fehlendem
Erfolg der konservativen Therapie und bei Beugekontraktur >50°
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie in Frage. Sie ist zurückhaltend und nur nach präziser Indikations-
Als Kamptodaktylie wird eine Beugekontraktur des PIP-Gelenks stellung angezeigt.
bezeichnet (⊡ Abb. 21.68a). Sie kann angeboren sein, oder erst
a b c d
⊡ Abb. 21.67 4-jähriges Mädchen mit Ulnahypoplasie. a Röntgen rechts: Z. n. Syndaktylietrennung zwischen Daumen und Finger, Synostose zwischen den
Köpfen MHK I/II, Daumen und Finger stehen in einer Ebene, b Röntgen 10 Jahre postoperativ bei Zustand nach Entfernung des MHK II und Drehosteotomie
D I, Syndaktylietrennung, Erweiterung des ZFR durch Verlagerung der Muskulatur und dorsalem Dehnungslappen, Subluxation der gebogenen und verkürz-
ten Speiche, c kräftiger Griff und weiter ZFR rechts, Narben nach Dehnungslappen im Alter von 14 Jahren, d kräftiger Spitzgriff rechts nach Drehosteotomie
und Entfernung des 2. MHK
522 Kapitel 21 · Angeborene Fehlbildungen der Hand
b c
⊡ Abb. 21.68 14-jähriges Mädchen mit Kamptodaktylie des linken Kleinfingers. a Zusätzliche Fehlbildung: überlanger Ringfinger und kurze Finger D II und
III sowie V rechts, b Röntgen beider Hände: Polyphalangie D II und III sowie ulnare Deviation beider Zeigefinger, c CT-angiografische Darstellung der linken
Hand mit höhergradiger Kamptodaktylie – Subluxation der Mittel- und Überstreckung des Endglieds
normal
a
C
E
B
abnormal
A
D
21
⊡ Abb. 21.69 Schematische Darstellung der sekundären Veränderungen im
Bereich des PIP-Gelenks während des Wachstums bei Kamptodaktylie
b
Cotte J (1974) Deux families humains extrémités anomalies. Bull Biol Franc Buck-Gramcko D, Behrens P (1998) Klassifikation der Polydaktylie für Hand
58: 402 und Fuß. Handchir Mikrochir Plast Chir 21: 195–204
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22
Epidermolysis bullosa
Martin Langer, Carsten Surke, Eva Lötters
22.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Pathogenetisch liegt eine Störung von Strukturproteinen der Epi-
Physiologie dermis oder der dermoepidermalen Junktionszone vor. Bisher
wurden mehr als 1.000 verschiedene Mutationen an mindestens
Unter der Bezeichnung Epidermolysis bullosa, welche von Koe- 13 Genen bekannt. Die Blasen kommen durch die Instabilität der
bner 1886 erstmal beschrieben wurde, werden mehrere erbliche Hautschichten untereinander zustande. Der Erbgang kann auto-
Erkrankungen der Haut zusammengefasst, bei denen meist schon somal rezessiv oder auch dominant sein. Bei der dystrophen Form
geringe Traumata zu Blasen an der Haut (Nikolsky-Zeichen) liegt eine Störung des Kollagen VII vor.
führen.
Klinisch sind die verschiedenen Erkrankungen sehr unter-
schiedlich und reichen von früh letalen Formen bis zu milden klei- 22.1.4 Diagnostik
nen, eher unbedeutenden Blasenbildungen. Betroffen ist aber nicht
nur die Haut, sondern auch der gesamte Intestinaltrakt, vor allem Zum Zeitpunkt der Geburt finden sich meist nur einfache Hautero-
die Speiseröhre und der Analbereich, sodass auch Ösophaguss- sionen und die Fingernägel sind noch vorhanden. Nach und nach
tenosen, Anämien, Osteoporosen und Wachstumsverzögerungen kommt es durch rezidivierende Blasenbildungen und Vernarbun-
mit auftreten. gen zu zunehmenden Kontrakturen, Pseudosyndaktylien zwischen
den Fingern und an den Fingerspitzen zu einem Nagelverlust.
> Die Diagnostik und Therapie der Epidermolysis bullosa be-
Bei der dystrophen Form reicht die Klinik an den Händen
nötigt ein multidisziplinäres Behandlungsteam und sollte
von der Nageldystrophie bis hin zu schwersten Formen, bei denen
nur in dafür spezialisierten Zentren durchgeführt werden.
die gesamte Hand wie in einem engen Fausthandschuh (»mitten
Die nationalen Patientenvereinigungen sollten unbedingt
hand«) steckend aussieht und kein Finger mehr sichtbar ist.
mit einbezogen werden.
Handchirurgisch wichtig ist vor allem die dystrophe Form der
Epidermolysis, die Epidermolysis bullosa dystrophicans Hallo- 22.1.5 Klassifikation
peau-Siemens. Die entstehenden Blasen hinterlassen jeweils eine
Narbe, was mit der Zeit zu ausgeprägten Vernarbungen der Hände Eine Klassifikation wird bei den verschiedenen Formen der Epider-
führt. molysis bullosa zunächst in Abhängigkeit von der Spaltbildungs-
ebene vorgenommen. Die einfache Form mit einer intraepiderma-
len Spaltbildung – also einer nicht narbenbildenden Erkrankung
22.1.2 Epidemiologie – ist die Epidermolysis bullosa simplex. Daneben findet sich noch
die junktionale Epidermolysis bullosa mit Spaltbildungen zwischen
Für die gesamte Epidermolysisgruppe wird eine Prävalenz von Epidermis und Lamina densa und die handchirurgisch wichtige
1:20.000 bis 1:100.000 angenommen. Die Inzidenz liegt bei 19–26 dystrophe Form, die Epidermolysis bullosa dystrophicans. Insge-
auf 1 Mio. Lebendgeburten. Die Erkrankung kommt auf allen samt sind heute 33 verschiedene Unterformen bekannt. Im Folgen-
Kontinenten vor und Mädchen und Jungen sind gleichermaßen den wird nur noch auf die autosomal rezessiv vererbte dystrophe
betroffen. In Deutschland gibt es etwa 600 Patienten mit einer dys- Epidermolysis bullosa (früher Hallopeau-Siemens) eingegangen,
trophen Form der Epidermolysis bullosa. Die Lebenserwartung ist da diese Form die meisten handchirurgischen Probleme bereitet.
bei der dystrophen Form aufgrund von nicht selten auftretenden Bei der dystrophen Form unterscheidet man an der Hand nach
Plattenepithelkarzinomen eingeschränkt. Glicenstein 4 verschiedene Schweregrade der Erkrankung.
22
Im Stadium 4a ist auch die Hohlhand komplett ausgefüllt, das geln zu beachten: Die Haut kann natürlich betastet und angefasst
Handgelenk aber noch mobil (⊡ Abb. 22.5). werden, allerdings sollten keine Scherkräfte ausgeübt werden. Di-
Ist auch das Handgelenk in einer Flexionskontraktur und jeg- rekter (senkrechter) Druck wird problemlos vertragen. Pflaster
licher Griff nicht mehr möglich, so ist der Patient im Stadium 4b. direkt auf die Haut sind strengstens verboten ( Übersicht).
Die Grundgelenke sind hier nicht selten überstreckt (⊡ Abb. 22.6).
22.2.2 Lagerung
22.2.3 Anästhesie
a c
b d
⊡ Abb. 22.8 Korrektur der »Cocoon-Handdeformität«. a Präoperativer Aspekt, b intraoperativer Aspekt nach Auflösungen der Hautkontrakturen und tem-
porärer Transfixation der Finger mittels axialem Kirschner-Draht: Ansicht von palmar, c intraoperativer Aspekt nach Auflösungen der Hautkontrakturen und
temporärer Transfixation der Finger mittels axialem Kirschner-Draht: Ansicht von radial (auf eine möglichst vollständige Auflösung der Kontraktur im Bereich
der ersten Kommissur ist zu achten), d intraoperativer Aspekt: Einnähen des Vollhauttransplantats im Zeigefingerbereich
Bei weniger dramatischen Erkrankungsbildern, sollte im Be- Der Verband ist sehr aufwendig und muss mit Kombinationen
reich der palmaren Handfläche, wenn immer möglich, ein Voll- verschiedener Materialien erfolgen. Fetthaltige Verbände sind hier
hauttransplantat eingesetzt werden, da hier die Wachstumsbeein- von großem Vorteil, da diese die Verklebung der Wundflächen mit
trächtigung durch Narbenkontraktur geringer ist und das funk- dem Verbandmaterial auch langfristig verhindern. Baumwollkom-
tionelle Ergebnis jenem nach Spalthauttransplantation deutlich pressen sollten in keinen direkten Kontakt mit der Haut oder den
überlegen ist (⊡ Abb. 22.10). Wunden kommen. Bewährt haben sich bei uns wiederum die sili-
konbeschichteten saugfähigen Mepilex-Folien, die um die Finger
und um die Hand, aber auch auf der Entnahmestelle der Haut auf-
gebracht werden können. Hierzu wird aber zusätzlich eine fetthal-
tige Creme (z. B. Bepanthen) verwendet. Da die Wunden z. T. stark
sezernieren, sollte oberhalb der Mepilex-Verbände ein saugfähiges
und keimabtötendes Material aufgebracht werden. Hier haben
sich silberbeschichtete Alginate bewährt. Die Alginate sollten aber
trotzdem nie direkt mit den Wunden in Kontakt kommen.
a Der erste Verbandwechsel, der erst nach 7–14 Tage nach der Ope-
ration erfolgt, kann teilweise ohne Narkose nach einem länge-
ren Wasserbad durchgeführt werden, bei jüngeren Kindern oder
großflächigen Eingriffen sollte dies aber in einer Maskennarkose
erfolgen. Die eingebrachten Drähte können 6 oder mehr Wochen
verbleiben, so lange jedenfalls, bis die Haut zwischen den Fingern
trocken verheilt ist.
Nach Entfernung des Fixateurs ist eine Schienenbehandlung
(⊡ Abb. 22.11) mit weichen Silikonmaterialien wünschenswert, aber
meist recht schwierig. Die besten Langzeiterfolge haben wir mit
guten Wickeltechniken gesehen, bei denen fettgetränkte Wickel
verwendet wurden. Hier sind die individuellen Hautverhältnisse
ausschlaggebend und die Eltern haben meist ein sehr gutes Ge-
spür dafür, was an der Haut des Kindes am besten funktioniert
(⊡ Abb. 22.12).
⊡ Abb. 22.10 Vollhauttransplantate an der Beugeseite der Finger. a Intra- Die Gefahr eines schnellen Rezidivs der Pseudosyndaktylien oder
operativer Aspekt, b Ergebnis 6 Monate postoperativ der Adduktionskontraktur des Daumens besteht jederzeit und
22
⊡ Abb. 22.12 a Fettgetränkte Wickel in Kombination mit Silikon können die Fingerfunktion langfristig erhalten. b Die Fingerzwischenräume müssen beson-
ders geschont werden.
insbesondere in der ersten Phase nach der Operation. Infektionen Fivenson DP, Scherschun L, Cohen LV (2003) Apligraf in the treatment of
und zu feuchte Verbände lassen Hypergranulationen entstehen, die severe mitten deformity associated with recessive dystrophic epidermo-
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536 Kapitel 22 · Epidermolysis bullosa
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J Derm 28: 217–220
22
VII
a b
untereinander durch das intersesamoidale Band verbunden sind Durch seine Anordnung verhindert der palmare fibrokartilagi-
(⊡ Abb. 23.3a-d). Die palmare Platte ist am Daumen kürzer als an näre Gelenkkomplex Translationsbewegungen in der Sagittalebene.
den Fingern. Sie besitzt keine oder nur sehr kurze radiale und Bei vielen Menschen ist die palmare Platte so schlaff, dass das
ulnare Zügelbänder, Lig. palmare longitudinale radiale et ulnare MP-I-Gelenk oft, und zwar aktiv, beträchtlich überstreckt werden
(»check-rein-ligaments«), die jeweils eine Pars proximalis und kann.
eine Pars distalis zeigen. In die palmare Platte sind zwei Sesambei-
ne integriert. An den Sesambeinen inserieren die akzessorischen Dorsale Kapselanteile
lateralen Ligamente (Lig. collaterale acessorium) mit ihren meta- Im Bereich der dorsalen Gelenkanteile ist die Kapsel mit der Faszie
karposesamoidalen Anteilen, das Lig. phalangoglenoidale und die des Extensorenapparats verbunden. Dieser Verbund verhindert
Lamina intertendinea. Nach Pechlaner stellen diese Strukturen die eine dorsale Luxation im Sinne einer Knopflochdeformität. Eine
passiven Stabilisatoren eines »Bremssystems« mit aktiven und pas- Läsion dieser Anteile führt neben der genannten Deformität zu
siven Komponenten dar. Mit zunehmender Streckung des Grund- einer lateralen Instabilität und vor allem zu chronischen Beschwer-
gelenks werden die in diesem Bandapparat integrierten Sesam- den (⊡ Abb. 23.3).
beine auf deren Gleitbahn am Kopf des Metakarpale I gedrückt, Alle intrinsischen und extrinsischen Muskeln, welche im Be-
bremsen die Streckung ab und limitieren passiv die Überstreckung reich des 1. Strahls ansetzen, haben eine dynamische Stabilisie-
des Gelenks (⊡ Abb. 23.3e). rungswirkung auf das MP-I-Gelenk. Das Daumengrundgelenk
a
Zügelband
O
A2 A1
radiales Sesambein
FPL
Lig. collaterale
Lig. collaterale
. accessorium Lig. phalangoglenoidale
Lig. collaterale accessorium
Lig. collaterale
O A2
b A1
ulnares Sesambein c
FPL
23 d
e
⊡ Abb. 23.3 Kapsel-Band-Strukturen des Metakarpophalangeal- (MP-) und Interphalangeal-(IP-)Gelenks des Daumens. a Ansicht von radial, b Ansicht von
ulnar, c Ansicht von palmar, d Ansicht von ulnodorsal, e Spannungsverhältnisse des passiven Bremssystems nach Pechlaner bei Flexion und Extension
23.1 · Allgemeines
543 23
Phalanx proximalis
Phalanx proximalis
Os sesamoideum ulnare
M. flexor pollicis brevis
M. adductor pollicis,
Ringband A1
Caput superficiale Caput transversum
Os metacarpale I
M. adductor pollicis
Caput transversum Caput profundum Os metacarpale I
Caput obliquum
M. interosseus
M. opponens pollicis dorsalis I
a b
⊡ Abb. 23.4 Bandstrukturen und Muskelansätze im Bereich des Daumengrundgelenks (modifiziert nach Pechlaner). a Ansicht von radio-palmar, b Ansicht
von ulnar
wird ulnar und radial von Kollateralbändern gehalten, wobei an in Streckstellung, wenn die ligamentäre Führung der Ligg. collate-
beiden Seiten Muskeln zur Verstärkung des Kapsel-Band-Apparats rale am PIP- und DIP-Gelenk am schwächsten ist, wirken dynami-
einstrahlen. Die aktiven Stabilisatoren des palmaren Bremssystems sche Muskelkräfte, die senkrecht zur Bewegungsachse des Mittel-
nach Pechlaner setzen sich zusammen aus den Thenarmuskeln. An gelenks orientiert sind und die Gelenkflächen aufeinander drücken
der radialen, also der Daumenballenseite sind dies der Flexor polli- (»longitudinale Verspannung«), einer Instabilität entgegen.
cis brevis, der Abductor pollicis brevis und der Opponens pollicis. Die Fingergrundgelenke werden fast nur mittelbar bewegt,
An der ulnaren Seite des Gelenks strahlt der 1. dorsale Interosseus da beinahe alle Muskeln ihre Anheftung erst an der Mittel- oder
ohne den Abduktor pollicis aus, wobei der Letztere am ulnaren Se- Endphalanx finden. Aber alle am Grundgelenk vorbeiziehenden
sambein des Daumengrundgelenks ansetzt und damit den Kapsel- Muskeln sind mit ihm in inniger Verbindung: Die Beugesehnen
Band-Apparat verstärkt. Diese Muskelgruppe ermöglicht, bezogen hängen am Grundglied durch ihre Faserscheiden unverschiebbar
auf die palmare Stabilität, die dosierte Einstellung beim Übergang an, die Dorsalaponeurose schickt unterflächige Bündel durch die
der maximalen Beugung zur Streckung. Ihre Muskelwirkung allein Gelenkkapsel zum Grundgelenk.
ist jedoch nicht ausreichend, eine kapsuloligamentär bedingte Ge- Auf alle drei Fingergelenke wirken streckend der M. extensor
lenkinstabilität zu kompensieren (⊡ Abb. 23.4). digitorum. An beiden Randfingern wird er von den Mm. extensor
indicis propius und digiti minimi unterstützt. Die Hauptwirkung
Interphalangeal-(IP-)Gelenk (Articulatio interphalangea) dieser langen extrinsischen Fingerstrecker betrifft in erster Linie
Das Daumenendgelenk ist mechanisch gesehen ein Scharnierge- das Fingergrundgelenk. Auf die Mittel- und Endglieder haben
lenk mit 2 Freiheitsgraden: die langen Fingerstrecker mit den Mittel- und Seitenzügeln der
▬ Extension/Flexion (25–0–90°), Dorsalaponeurose nur schwachen Einfluss. Hier wirken vor allem
▬ Kleine axiale Rotation (5–10°): Die Rotationsbewegung ist die Mm. lumbricales und die Mm. interossei palmares et dorsa-
durch die Form der beiden Gelenkflächen bedingt. Sie ist für les, indem sie an der Grundphalanx vorbei in die Seitenzügel der
den Feingriff von großer Bedeutung (⊡ Abb. 23.1). Bei der Dorsalaponeurose über dem Mittelgelenk einstrahlen (⊡ Abb. 23.5,
Arthrodese des MP-I-Gelenks muss sie bei der Planung der ⊡ Abb. 23.7b,c)
definitiven Stellung beachtet werden ( Abschn. 10.2 15)
> Fallen die Mm. interossei durch Lähmung aus, kommen die
Finger in Klauenstellung, d. h. am Mittel- und Endglied über-
Der anatomische Aufbau des Interphalangealgelenks des Daumens
wiegen die Beuger, am Grundglied die Strecker.
entspricht bis auf einige Ausnahmen jenem der distalen Interpha-
Ist die Sehnenkappe der Dorsalaponeurose über dem
langealgelenke. Die palmare Platte ist wesentlich dicker, weshalb
Grundglied durchtrennt, oder liegt eine Lähmung der
die Sehne des M. flexor pollicis longus weiter palmar der Gelenk-
extrinsischen Strecker vor, kann der Finger im Grundglied
achse zu liegen kommt. Beide Konstruktionsmerkmale machen
nicht mehr gestreckt werden, wohl aber in den Mittel- und
den Daumen bei kraftvollen Oppositionsbewegungen stabiler.
Endgelenken.
Finger Der M. flexor digitorum superficialis beugt unmittelbar nur das
Alle intrinsischen und extrinsischen Muskeln, welche im Bereich proximale Interphalangeal-(PIP-)Gelenk, der M. flexor digito-
der Finger ansetzen, haben eine dynamische Stabilisierungswir- rum profundus sowohl das distale als auch das proximale In-
kung auf eines oder mehrere Gelenke im Fingerbereich. Vor allem terphalangealgelenk. Die Beugewirkung dieser Muskeln auf das
544 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
⊡ Abb. 23.5 Flexion und Extension in den Fingergelenken. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Grundgelenk wird mittelbar durch die Beugesehnenscheide auf mehr Finger aus der Streck- in die Beugestellung geführt wer-
die Grundphalanx übertragen. Sie ist nur dann kraftvoll, wenn die den. Bei rechtwinkeliger Palmarflexion oder Faustschluss kön-
Verkürzungsgrößen der Muskeln nicht schon durch Beugung des nen die vier Finger nicht voneinander bewegt werden. Der Mit-
Handgelenks oder in den eigentlichen Fingergelenken verbraucht telfinger kann aus der Normalstellung der Hand, in welcher er
ist (⊡ Abb. 23.5). in der Verlängerung der Längsachse des Os capitatum und des
Obwohl die Beugemuskeln nur einen etwa doppelt so großen Os metacarpale III steht, radial und ulnar gleich weit, etwa um
wirksamen Muskelquerschnitt aufweisen wie die Strecker, ist die 20°, adduziert werden. Die vier übrigen Finger können von ihm
von ihnen geleistete Arbeit doch etwa 4-mal so groß, weil sie, abgespreizt und zu ihm hin geschlossen werden. Dabei sind die
bei gleichen Winkelwegen, auf einen längeren Hebelarm wirken Bewegungsräume der einzelnen Finger verschieden groß. Der
können. Das Übergewicht der langen Fingerbeuger bedingt die Zeigefinger kann seine Richtung insgesamt 60° verändern (Ab-
Ruhehaltung der Hand. duktion/Adduktion: 15–0–45°). Ring- und Kleinfinger haben
einen Bewegungsraum von 45°. Im Bereich des Ringfingers sind
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio Abduktion und Adduktion etwa gleich, am Kleinfinger über-
metacarpophalangea) wiegt die Abduktion (Abspreizung) (⊡ Abb. 23.6).
Die Grundgelenke der Finger entsprechen funktionell einem Kugel- ▬ Geringe ulnare Rotationsbewegungen bei Flexion: Diese Be-
gelenk. Der konvexe Gelenkkörper, das Caput ossis metacarpalis, wegung ist hauptsächlich durch die Asymmetrie der Kondylen
stellt den Ausschnitt einer Kugeloberfläche dar. Er verbreitert sich und der Kollateralbänder bedingt.
palmar und ist in zwei Zipfel ausgezogen, welche die Beugeseh-
nenscheide zwischen sich knöchern fixieren. Nur in Beugestellung Das Bewegungsausmaß ist individuell unterschiedlich, jedoch im
passt das Köpfchen der Breite nach in die Pfanne, in Extension ist Seitenvergleich relativ konstant.
es zu schmal. Das MP-II-V-Gelenk hat 3 Freiheitsgrade: Die Gelenkführung ist bedingt durch einen komplexen Kap-
▬ Flexion/Extension (30–0–100°): Vor allem die Extension lässt sel-Band-Apparat (ulnarer und radialer Kollateralbandkomplex,
sich durch Training wesentlich erhöhen. palmare Platte, Verankerung der Mittelhandknochen unterein-
23 ▬ Geringe Abduktion/Adduktion (10–20°): Die gestreckten Fin- ander, den zirkulären metakarpophalangealen Halteapparat nach
gergrundgelenke gestatten ein Spreizen (Abduktion) und Schlie- Zancolli (»Zancolli-Komplex«), dorsale Kapselanteile) sowie eine
ßen (Adduktion) der Finger um eine dorsopalmare Achse. Der dynamische Muskelzügelung durch intrinsische und extrinsische
Umfang dieser Bewegung wird umso stärker eingeschränkt, je Muskeln im Bereich des 2.–5. Strahls.
23.1 · Allgemeines
545 23
a b
⊡ Abb. 23.6 Bewegungsausmaß der Finger in den Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenken in dorsopalmarer Richtung. a Adduktion (Schließen), b Abduktion
(Spreizen). (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Radialer und ulnarer Kollateralbandkomplex (»oblique lateral erst weiter distal am A2-Ringband erfahren. Der resultierende
ligaments«) Kraftvektor, der sich weiter distal befinden würde, und die
Die stabilisierenden Strukturen der ulnaren und radialen Seite wer- Vergrößerung des Abstandes zur Beugeachse hätten ein Kip-
den als der sog. Kollateralbandkomplex zusammengefasst und um- pen und Verkanten der Gelenkpfanne auf dem Metakarpal-
fassen das Kollateralband, die lateralen Anteile der palmaren Platte kopf zur Folge. Die Kollateralbänder können dem Verkanten
und die lateralen Anteile der dorsalen Kapsel. Am Kollateralband nicht entgegenwirken, da sie sehr weit palmar ansetzen. Daher
können 3 Faszikel unterschieden werden (⊡ Abb. 23.2, ⊡ Abb. 23.7): begünstigen Zugkräfte in den Ligg. phalangoglenoidalia ein
1. Das horizontal verlaufende kräftige Hauptbündel (metakar- flächendeckendes Gleiten beider Gelenkkörper.
pophalangealer Faszikel): In Extension ist das Lig. collaterale
entspannt. Palmare Platte
2. Der akzessorische oder absteigende Anteil (metakarpoglenoi- Die flach ausgehölte Basis der Grundphalanx (P1) wird an ihrem
daler Faszikel): In Extension sind das Lig. collaterale accessori- palmaren Umfang durch die rechteckige palmare Platte (fibrocar-
um und das Lig. phalangoglenoidale angespannt und begren- tilago palmaris) ergänzt, welche die palmare Kapsel verstärkt und
zen die Extension. Das Lig. collaterale accessorium ist sowohl mit der Basis der Grundphalanx fest verwachsen ist, während die
in Extension als auch in Flexion angespannt. Dadurch werden Verbindung mit dem Köpfchen aus lockerem Bindegewebe besteht
die palmare Platte und das an ihr befestigte A1-Ringband der und keine knorpelige Versteifung aufweist. In Extension nimmt
Beugesehnenscheide fixiert. Andererseits erlauben die ge- die zug- und druckfeste palmare Platte das Köpfchen in sich auf.
spannten Fasern aufgrund ihres steileren Verlaufswinkels klei- Zugleich bildet sie mit ihrer palmaren Seite das Lager für die in der
ne Dreh- und Verschiebebewegungen der palmaren Platte, die Faserscheide gleitenden Beugesehnen und muss beim Andrücken
dem gestreckten Finger die seitliche Beweglichkeit erhalten, der Hand auf eine Unterlage auch diesem Druck standhalten. In
während die Beugesehen nicht nennenswert nach der Seite Beugestellung verformt sich die palmare Platte selbst nur gering.
ausweichen können. Ihr Rand verschiebt sich aber proximalwärts, sodass die Bindege-
3. Ein zusätzlicher Bandzug, das Lig. phalangoglenoidale (»pha- webszüge, welche die Platte mit dem Köpfchen verbinden, locker
langoglenoidal component«): Das phalangoglenoidale Band werden. Erst bei maximaler Beugung spannt die palmare Platte
ist der oberflächlichste Bandzug. Er entspringt von der Basis auch diese Verbindungen an. Sie liegen dann zwischen Köpfchen
der Grundphalanx und zieht schräg über den Ansatz des und der palmaren Platte ausgespannt. Die palmare Platte hat
Lig. collaterale nach palmar und proximal. Die mehr proximal funktionell gesehen prinzipiell zwei Hauptaufgaben: Als eine Art
gelegenen längeren Fasern strahlen seitlich in die palmare »labrum glenoidale« vergrößert sie die Gelenkpfanne und liefert
Platte ein, während die mehr distal gelegenen Bandzüge in das dem Metakarpalekopf eine weitere Unterstützungsfläche. Zum an-
A1-Ringband übergehen. Das Lig. phalangoglenoidale wirkt deren beteiligt sich ihre palmare Fläche an der Bildung der fibrösen
zusammen mit dem Lig. collaterale accessorium Zugkräften Anteile der Beugesehnenscheide (⊡ Abb. 23.9). In Streckstellung
entgegen, die bei der Beugung über die Ringbänder der Seh- erweitert sie den Abstand zwischen den Sehnen der langen Fin-
nenscheide nach palmar gerichtet sind. Dadurch wird eine gerbeuger und der Beugeachse und schafft somit günstigere He-
wichtige Zügelungseinrichtung geschaffen. Ohne Ausbildung belverhältnisse für die 1. Phase der Beugung. Zusammen mit dem
der Ligg. phalangoglenoidalia würden die Beugesehnen ihre Lig. collaterale acessorium verhindert die palmare Platte mit ihrem
Umlenkung nicht schon in Höhe des Grundgelenks, sondern dicken distalen Anteil eine übermäßige Hyperextension.
546 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
Lig. collaterale
a1
a2
27 mm
35 mm
A1 A2
a3
a
⊡ Abb. 23.7d Ansicht von dorsal: Dynamische Gelenkstablisatoren (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Kern bildet die Grenze zwischen zwei Fächern, einem dorsalen für
das Grundgelenk und einem palmaren für die Beugesehnenscheide
(⊡ Abb. 23.9b). Schädigungen eines oder mehrerer Bauteile können
das Gleichgewicht am MP-Gelenk ansetzender oder vorbeiziehender
Kräfte stören und zu Fehlstellungen führen.
Dorsale Kapselanteile
Die Gelenkkapsel ist schlaff. Vor allem dorsal ist sie dünn und weit,
sodass man den Finger vom Mittelhandknochen abziehen kann.
Der Luftdruck presst dann die Kapsel unter hörbarem Knacken in
den Gelenkraum ein (⊡ Abb. 23.7b,c).
b
Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk (Articulatio
⊡ Abb. 23.9 Verankerung der Mittelhandknochen II–V untereinander, interphalangea proximalis)
der sog. »Zancolli-Komplex«. a Ansicht von palmar, b Ansicht von frontal
(Schnittbild) . (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Die proximalen Interphalangealgelenke der Finger entsprechen
funktionell einem Scharniergelenk. Der konvexe Gelenkkörper, das
Caput ossis phalangis, stellt die gekehlte Rolle des Grundphalanx-
23 köpfchens dar, welche auf der Basis der nächstfolgenden Mittelpha-
zusammen mit dem Lig. metacarpale transversum profundum, der lanx in zwei flache, von einer schwachen Führungsleiste geschiede-
palmaren Platte und dem A1-Ringband den metakarpalen Vereini- ne Grübchen eingreift. Auch an den DIP-Gelenken wird die Rolle
gungskern (»assemblage nucleus« oder »force nucleus«) bilden. Der nach palmar hin breiter. Das PIP-II-V-Gelenk hat 2 Freiheitsgrade:
23.1 · Allgemeines
549 23
▬ Extension/Flexion (10–0–100°): In den eigentlichen Finger-
gelenken sind ausschließlich Beuge- und Streckbewegungen
möglich. Bei manchen Menschen ist auch eine Hyperextensi-
on möglich.
▬ Geringe Abduktion/Adduktion (10–20°): Seitbewegungen sind
aufgrund der straffen Bandführung fast nicht möglich. Nur
bei besonders großer Elastizität der Gelenkknorpel und Band-
strukturen (Kinder, angeborene Bindegewebsschwäche etc.) Lig. collaterale
lassen sich passive Seitbewegungen und Parallelverschiebun- A3
Lig. collaterale accessorium
gen geringen Umfangs ausführen.
palmare Sehnenplatte
Hiervon sind die ulnaren Seitenbandausrisse bei Weitem häufiger kommt es zum Abriss der palmaren Platte. Knöcherne Ausrisse
als die radialen (12:1). Die atypische Adduktionsverletzung durch im Bereich des Daumengrundgelenks kommen gelegentlich kom-
Kompression des 1. Strahls und durch die Ruptur der radialsei- biniert mit Verletzungen des Fibrocartilago palmaris vor. Dieses
tigen Bänder ist wesentlich seltener. In einem Gesamtkollektiv verursacht besonders beim Spitzgriff eine dauernde Instabilität
der Kapsel-Band-Verletzungen der Hand waren die Läsionen am und eine frühzeitige Gelenkarthrose des Daumens.
Daumen mit 29% beteiligt. Als wichtiger Fakt für die Prognose
der Kapsel-Band-Verletzungen der Fingergelenke konnte überein- Finger
stimmend mit der Literatur das Verletzungsalter bestätigt werden, Der Sturz auf den ausgestreckten Finger und das axiale Stau-
wobei bei zunehmender Dauer der Verletzung eine ungünstige chungstrauma bei Ballsportarten sind die typischen Unfallmecha-
Prognose hinsichtlich der Funktion und Beschwerdefreiheit gestellt nismen. Seitenbandstabilität, Überstreckbarkeit und die Funktion
werden muss. des Traktus intermedius sind schmerzbedingt primär nicht immer
sicher zu prüfen.
Finger Die Rupturen der Kollateralbänder im Bereich der Finger-
Die Seitenbandläsionen im Grundgelenk der Finger sind sehr sel- grundgelenke entstehen, wenn einer der randständigen Finger
ten. Prädestiniert sind das radiale Seitenband am 5. Finger und das stark nach radial bzw. ulnar gebogen bzw. abduziert wird.
ulnare Seitenband am 2. Finger. Die Verletzungen entstehen stets Die Luxationen im Grundgelenk der Finger entstehen durch
beim »Hängenbleiben« und Hyperabduktion/Hyperextension des Sturz auf die Hand bei überstreckten Fingern, wobei die doch rela-
entsprechenden Fingers beim Sturz, z. B. vom Reck. Luxationen tiv starke palmare Platte zerreißt. Die Bandausrisse bei Luxationen
und Seitenbandrupturen stellen etwa 9,7% der Fingerverletzungen in den Grundgelenken kommen nicht nur durch Stauchung allein,
beim Sport dar. Verletzungsträchtig sind beim Sport vor allem die sondern auch durch Zugkräfte zustande und bergen sowohl bei
Ballspiele wie Fußball, Hand- und Basketball sowie Volleyball, epiphysären als auch bei metaphysären Ausrissen im Kindesalter
gefolgt von Turnen, Gymnastik, Skilaufen, Reiten und verschiede- die Gefahr des partiellen Fugenschlusses in sich.
nen Kampfsportarten. Die dorsale Luxation im Grundgelenk des Kapsel-Band-Verletzungen im Bereich der Mittelgelenke der
Fingers ist sehr selten. Die Luxationen im MP-Gelenk der Finger Finger entstehen durch Überstrecktraumata, oft kombiniert mit
sind selten (9%; Towfigh 1986) und treten am häufigsten am Zeige- Rotations- und Lateralduktion. Die typischen Verletzungsmuster
finger, dann am Kleinfinger und Mittelfinger auf. entstehen hier je nach Stellung des Fingers und Art der auf das
Mittelgelenk wirkenden Kräfte.
23.1.3 Ätiologie
23.1.4 Diagnostik
Daumen
Verletzungsträchtig sind beim Sport vor allem die Ballspiele wie Nur eine genaue Anamnese und sorgfältige manuelle Untersu-
Fuß-, Hand-, Basket- sowie Volleyball, gefolgt von Turnen, Gym- chung sowie eine spezielle Röntgendiagnostik in Vergrößerungs-
nastik, Skilaufen, Reiten und verschiedenen Kampfsportarten. In technik können die Sachlage und die Frage der therapeutischen
diesem Zusammenhang sollten auch die typischen Freizeitsport- Konsequenzen klären.
arten wie Kegeln, Bowlen und Rugby nicht in Vergessenheit ge-
raten. Beim Bowling kommt es häufig zu einer schmerzhaften Daumen
Verdickung bzw. zu einer Neurombildung an der Ulnarseite des Zum Ausschluss einer knöchernen Verletzung erfolgt primär, d. h.
Daumens. Beim Rugby wird häufig eine Ruptur der Flexor-digito- vor der mechanischen Stabilitätsprüfung, eine Röntgenuntersu-
rum-profundus-Sehne in der Regel im Ansatzbereich am Endglied chung in d. p. und lateralem Strahlengang.
festgestellt. Beim Boxer kommt es durch häufige Frakturen im Zur Bestimmung des Ausmaßes der Distorsion erfolgt die
Bereich der Basis des Metakarpale I zu einer gebogenen und an der manuelle Stabilitätstestung. Der Test vergleicht die Stabilitätsver-
Basis stark aufgetriebenen Form des Metakarpale I, wobei dieses hältnisse der MP-Gelenke auf der geschädigten und der gesunden
auf einen nicht exakt in der Verlängerung der Achse des Unterarms Seite. Eine ulnare Aufklappbarkeit von durchschnittlich 15° bei
führenden Schlag zurückzuführen ist. Männern und 20° bei Frauen wird als physiologisch erachtet. Die
Die ulnaren Seitenbandverletzungen am Daumengrundgelenk manuelle Stabilitätstestung kann sehr schmerzhaft sein, weshalb
(29%) entstehen durch Sturz oder Schlag auf den abduzierten Dau- eine Lokalanästhesie notwendig werden kann. Die Prüfung der
men, wobei hier eine über das physiologische Maß hinausgehende Seitenstabilität erfolgt durch Valgusstress. Neben dem Ausmaß der
Abduktion im Daumengrundgelenk zur Verletzung führt. Dieser vermehrten Aufklappbarkeit wird das Vorhandensein oder Fehlen
Mechanismus tritt bei Skiunfällen am häufigsten auf, sodass hier eines federnden Gelenkanschlags in Extension (Test für akzessori-
die klassische Verletzung als »Skidaumen« bezeichnet wurde. Meis- schen Bandanteil) und Flexion (Test für horizontalen Bandanteil)
tens rupturieren zuerst das ulnare Seitenband an seinem Ansatz am geprüft. Eine Abweichung von mehr als 20–30° und das Fehlen
Daumengrundgelenk und Teile der palmaren Grundgelenkkapsel. eines federnden Anschlags kennzeichnen eine Bandverletzung. Die
Schließlich kann auch die Aponeurose des M. adductor pollicis Prüfung der Stabilität der palmaren und dorsalen Kapselanteile
brevis rupturieren. Klinisch werden etwa 70% reine Bandausrisse erfolgt mit dem sog. Schubladentest durch a.-p.-Stress.
einem Anteil von 30% distaler knöcherner Bandausrisse gegen- Eine röntgenologische Dokumentation im Sinne von gehalte-
übergestellt, wobei das Verhältnis ulnar zu radial für knöcherne nen Aufnahmen soll durchgeführt werden und ist als Dokumenta-
Ausrisse 2:1 und für interligamentäre Rupturen 12:1 beträgt. Die tion des Befunds wichtig.
23 komplette Zerreißung des Seitenbandes erfolgt bei einer mittleren
Bruchlast von 10 kp. > Die gehaltenen Aufnahmen werden erst nach Ausschluss
Bei forcierter Hyperextension des Daumengrundgelenks, wie knöcherner Verletzungen in den Nativaufnahmen durchge-
es z. B. beim Torhüter (»gatekeeper‘s thumb«) vorkommen kann, führt.
23.1 · Allgemeines
551 23
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk
Bandrupturen und Luxationen im MP sind sehr selten und können
übersehen werden.
> Die Überprüfung der Seitenbandinstabilität an den Grund-
gelenken erfolgt in 80–90° Beugestellung im Grundgelenk.
Prädisponiert sind das radiale Seitenband am 5. Finger und das
ulnare Seitenband am 2. Finger. Die Verletzung entsteht stets beim
Hängenbleiben und Hyperextension/Hyperflexion des Fingers
beim Sturz. Bei Instabilitäten und Aufklappbarkeit ist eine Indika-
tion zur Operation gegeben (⊡ Abb. 23.12).
Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk
Die anatomische Komplexität des Mittelgelenks bedingt oft nach
Verletzungen eine nachhaltende Schwellung und Bewegungsein-
schränkung mit bleibendem funktionellem Defizit.
Der Sturz auf den ausgestreckten Finger und das axiale Stau-
chungstrauma bei Ballsportarten sind die typischen Unfallme-
chanismen bei Luxationen oder Frakturen im Mittelgelenk
(⊡ Abb. 23.13). Dorsale Überstreckbarkeit, die Funktion des Traktus
intermedius und Seitenbandstabilität sind schmerzbedingt primär
nicht immer sicher zu prüfen. Auf die Notwendigkeit einer exakten
Röntgenaufnahme des Mittelgelenks in 2 Ebenen in Vergröße-
rungstechnik wurde bereits hingewiesen, um knöcherne Begleit-
verletzungen nicht zu übersehen.
Bei den Kapsel-Band-Verletzungen unterscheidet man:
1. palmare Kapsel-Band-Läsionen,
2. Verletzungen des Tractus intermedius der Streckaponeurose,
3. Kollateralbandrupturen.
23.1.5 Klassifikation
Daumen
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio metacarpo-
phalangea)
Für den Vergleich verschiedener Therapieformen ist es notwendig,
eine einheitliche Klassifikation der Läsion sowie eine einheitliche
Klassifikation der Therapieergebnisse anzuwenden.
Für den klinischen Gebrauch hat es sich bewährt, Distorsionen
im Bereich des Kollateralbandkomplexes am Daumen in 3 Schwe-
c regrade in Anlehnung an die Klassifikation nach Posner und Re-
taillaurd (1992) einzuteilen. Eine Erweiterung dieser Klassifikation
23 ⊡ Abb. 23.12 Knöcherner Bandriss MP mit Dislokation der Fragmente. erfolgt durch die Berücksichtigung der dorsalen und palmaren
a Präoperativer röntgenologischer Aspekt, b intraoperativer Aspekt, c post- Luxationen des MP-I-Gelenks.
operativer röntgenologischer Aspekt nach Schraubenosteosynthese. (Aus Bei der irreponiblen Luxation des Daumengrundgelenks liegt
Schmit-Neuerburg et al. 2001) die Ursache gewöhnlich in der Luxation des Mittelhandköpfchens
23.1 · Allgemeines
553 23
Sonderform:
– Stener-Defekt (rupturiertes und zurückgeschlagenes Kollateralband)
– Dislozierter ossärer Bandausriss
– Kombinationsverletzungen
– Luxationen
– dorsale
– inkomplette einfache Luxation
– vollständig einfache Luxation
– komplexe Luxation
– palmare
Finger
⊡ Abb. 23.16 Einteilung der Kapsel-Band-Verletzungen im Mittelgelenk
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio metacarpo-
nach Hintringer und Leixnering. a Typ I: Überstreckung mit knöchernem
phalangea) oder ligamentärem Abriss der palmaren Platte ohne Dislokation. Die Seiten-
Im Fingerbereich unterscheidet man: bandstrukturen sind unverletzt, das Gelenk ist stabil. b Typ II: Mäßiges Über-
1. Läsionen des Kollateralbandkomplexes: Die Klassifikation der strecktrauma mit Lateralduktion. Geringe Dislokation der palmaren Platte
Bandläsionen entspricht jener beim Grundgelenk des Daumens. und/oder Ausriss des knöchernen Fragments. Die Dislokation der palmaren
2. Läsionen der palmaren Platte. Platte oder des knöchernen Ausrisses beträgt weniger als 1 mm. Es kommt
3. Kombinierte Bandrupturen oder Luxationen: Analog der Si- zu einem Auseinanderklaffen zwischen eigentlichen und akzessorischen
tuation am Daumen unterscheidet man dorsale und palmare Kollateralbändern. Das Gelenk ist mit 10–15° mäßig überstreckbar. c Typ III:
Starke Überstreckung mit Kapsel-Band-Ausriss und kleines oder größeres
Luxationen. Die dorsalen Luxationen können analog der Klas-
knöchernes Auseinanderklaffen zwischen eigentlichen und akzessorischen
sifikation nach Farabeuf klassifiziert werden.
Kollateralbändern. Das Gelenk ist stark überstreckbar oder luxierbar. Bei
Verkippung des Fragments von 90° entsteht eine Diastase von 2–3 mm nach
Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk (Articulatio inter- proximal verschoben. d Typ IV: Überstrecktrauma mit palmarem Kapsel-
phalangea proximalis) Band-Riss und zusätzlichem Kollateralbandriss. Luxation des Mittelgelenks
Die Klassifikation entspricht jener der Metakarpophalangeal-(MP-) ulnar und streckseitig oder radial und streckseitig. Das knöcherne Fragment
Gelenke der Finger. Zusätzlich bestehen noch Verletzungen des ist fast um 90° verkippt. Das Gelenk bleibt in zwei Ebenen instabil, es handelt
Tractus Intermedius der Strecksehnenaponeurose. sich um eine kombinierte Instabilität. e Typ V: Luxation des Mittelgelenks
Je nach Stellung der Finger, sowie Richtung und Intensität der in Kombination mit einer Rotation zur Beugeseite hin. Abriss der palmaren
einwirkenden Kräfte können unterschiedliche Verletzungstypen Platte und des Tractus intermedius knöchern oder ligamentär. Osteokartila-
ginärer Abriss auf der Beuge- oder Streckseite mit einer Diastase. Einseitiger
entstehen. Hintringer und Leixnering (1991) haben Verletzungen
Seitenbandabriss. Es handelt sich um eine kombinierte Instabilität der Mit-
des Kapsel-Band-Apparates im Bereich des Mittelgelenks in 6 ver-
telgliedbasis an der Dorsalseite des eingerissenen Tractus intermedius. Der
schiedene Verletzungstypen eingeteilt (⊡ Abb. 23.16):
23 Tractus intermedius kann auch vollständig abgerissen sein, sodass eine Stre-
ckung im Mittelgelenk nicht mehr möglich ist. f Typ VI: Kollateralband und
Typ I. Überstreckung mit knöchernem oder ligamentärem Abriss palmare Platte in wechselnder Richtung knöchern oder ligamentär gerissen.
der palmaren Platte ohne Dislokation. Die Seitenbandstrukturen Die palmare Kapsel reißt von der Mittelgliedbasis und das Kollateralband
sind unverletzt, das Gelenk ist stabil. von der Trochlea ab. Es handelt sich um eine kombinierte Instabilität
23.1 · Allgemeines
555 23
Typ V. Luxation des Mittelgelenks in Kombination mit einer Rota- z Partielle oder komplette Bandruptur
tion zur Beugeseite hin. Abriss der palmaren Platte und des Tractus Bei einer einfachen ligamentären Distorsion ohne ossären Ausriss
intermedius knöchern oder ligamentär. Osteokartilaginärer Abriss ist das weitere therapeutische Vorgehen abhängig vom Ergebnis
auf der Beuge- oder Streckseite mit einer Diastase. Einseitiger Sei- der klinischen Untersuchung, indirekten röntgenologischen Insta-
tenbandabriss. Es handelt sich um eine kombinierte Instabilität der bilitätskriterien sowie der manuellen Stabilitätsprüfung (gehaltene
Mittelgliedbasis an der Dorsalseite des eingerissenen Tractus inter- Röntgenaufnahmen). Klinische Leitsymptome sind Schmerz über
medius. Der Tractus intermedius kann auch vollständig abgerissen den ulnaren oder seltener den radialen Gelenkanteilen (diffus oder
sein, sodass eine Streckung im Mittelgelenk nicht mehr möglich ist. lokalisiert), Schwellung, eingeschränkte Daumenfunktion und evtl.
Hämatom.
Typ VI. Kollateralband und palmare Platte in wechselnder Rich-
> Bei ausgedehnten Hämatomen mit Ausbreitung entlang der
tung knöchern oder ligamentär gerissen. Die palmare Kapsel reißt
EPL-Sehnen besteht der hochgradige Verdacht auf eine Mit-
von der Mittelgliedbasis und das Kollateralband von der Trochlea
beteiligung der dorsalen Kapselanteile.
ab. Es handelt sich um eine kombinierte Instabilität.
In einigen Fällen mit noch geringer Schwellung kann im proxi-
Distales Interphalangeal-(DIP-)Gelenk (Articulatio malen Bereich des Strecksehnenhäubchens das zurückgeschlagene
interphalangea distalis) Kollateralband, der sog. Stener-Defekt, getastet werden. Eine spon-
Die Klassifikation entspricht jener der Metakarpophalangeal-(MP-) tane palmare Subluxation auf dem seitlichen Röntgenbild kann
Gelenke der Finger. als indirektes röntgenologisches Instabilitätskriterium als Hinweis
auf einen Einriss der dorsalen Gelenkkapsel, welcher ebenfalls der
operativen Therapie zugeführt werden muss, gewertet werden.
23.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Wird die frische Versorgung nicht innerhalb von 2 Wochen
durchgeführt, ist das Kollateralband narbig verändert und ge-
Partielle Rupturen der Ligg. collateralia werden konservativ mit schrumpft. Eine Rekonstruktion des Bandes durch direkte Naht ist
3-wöchiger Ruhigstellung behandelt. Belastung nach 4–6 Wochen. nicht mehr möglich. Die funktionellen Ergebnisse sind auch bei
sekundärer Versorgung der Bänder nicht mehr günstig. Es muss
Daumen deshalb mit einem Sehnentransplantat die Stabilität des Gelenks
Karpometakarpal-(CMC-)Gelenk wiederhergestellt werden, vor allem, da bei lockerem ulnarem oder
Luxationen in diesem Bereich sind relativ selten. Die Verletzungen radialem Seitenbandapparat die Greiffunktionen, besonders der
im Daumensattelgelenk sind häufig mit knöchernen Ausrissen Spitzgriff, beträchtlich gestört werden können.
oder mit größeren knöchernen Abrissen im Sinne einer Bennett- Bei älteren Verletzungen kommt es zu einem schmerzhaften
oder Rolando-Fraktur verbunden. Dabei können sowohl knöcher- Wackeldaumen mit einer Verdickung im Bandverlauf als Bandkal-
ne Ausrisse aus der Basis des 1. Mittelhandknochens als auch lus. In der Regel ist hier eine Bandplastik ( Abschn. 23.2.4) oder
vom Os trapezium entstehen ( Abschn. 26.2.4). Kleinere knöcherne auch Arthrodese ( Abschn. 23.2.4) erforderlich.
Ausrisse können nur durch diffizile Röntgendiagnostik, ggf. CT,
dargestellt werden. Ein MRT ist nicht unbedingt erforderlich. z Verletzungen der palmaren Bänder
Partielle Rupturen der palmaren Bänder sowie der isolierte Ab-
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio metacarpo- riss eines palmaren Längsbandes können konservativ behandelt
phalangea) werden. Alle anderen Verletzungen der palmaren Bänder sollten
z Kollateralbandverletzungen operativ versorgt werden, um chronische posttraumatische Insta-
Die Behandlung einer frischen, weniger als 10–15 Tage alten me- bilitäten zu vermeiden. In Abhängigkeit vom Verletzungstyp der
takarpophalangealen Distorsion hängt vom klinischen und rönt- palmaren Bänder erfolgt die Rekonstruktion mittels U-Nähten,
genologischen Befund ab. Folgendes Vorgehen hat sich bewährt transossärer Ausziehnaht und/oder Stiftfixation. Bei kompletter
(⊡ Abb. 23.17). Ruptur nach kompletter dorsaler Luxation ist die Lage der Band-
Nach Anamnese, Inspektion und Palpation müssen zunächst stümpfe schwer zu beurteilen. Eine Ausheilung mit dislozierten
einfache Röntgenbilder in a.-p. und lateralem Strahlengang ange- Bandenden führt zu einer verminderten Belastbarkeit und/oder
fertigt werden, um eine knöcherne Läsion zu diagnostizieren bzw. Instabilitätsbeschwerden. Bei zusätzlichen sekundären osteoarth-
auszuschließen. rotischen Veränderungen ist vor allem beim Handarbeiter an die
Arthrodese des MP-I-Gelenks ( Abschn. 23.2.5, Abschn. 23.2.6)
z Knöcherner Bandausriss zu denken. Die Winkel der Arthrodese sind für die Greiffunktion
Bei Bestehen einer ossären Läsion ist zu unterscheiden, ob ein entscheidend ( Kap. 10). Allgemeine Indikationen für Gelenkarth-
nichtdislozierter oder ein dislozierter knöcherner Bandausriss vor- rodesen gelten auch für den Fingerbereich. Hierzu zählen Schmer-
liegt. Im Falle eines nichtdislozierten Bandausrisses muss jede zen, Instabilität, Verlust von gelenkübergreifenden Bändern, Mus-
weitere Manipulation des Gelenks vermieden werden. Diese Läsion keln und Sehnen und vorausgegangene erfolglose gelenkerhaltende
wird konservativ behandelt. Es erfolgt eine Immobilisation in einer Operationen.
Daumenorthese oder in einem Steigbügelgips für 3 Wochen, das Spezielle Indikationen für den Handbereich sind:
Endgelenk wird frei belassen und wird bewegt. ▬ posttraumatische Gelenkzerstörungen und Arthrosen,
Das Handgelenk, die MP-Gelenke der Finger und das Interpha- ▬ mutilierende Arthritiden des rheumatischen Formenkreises,
langealgelenk des Daumens bleiben frei beweglich. Die 1. Kommis- ▬ Verbrennungskontrakturen,
sur wird in Funktionsstellung frei belassen, eine Adduktionsbe- ▬ Zustände nach schweren Infektionen,
wegung des MP-I-Gelenks darf jedoch nicht zugelassen werden. ▬ ausgeprägte oder rezidivierende Dupuytren-Kontrakturen,
Das Handgelenk bleibt bei der Anwendung des Steigbügelgipses ▬ Paresen peripherer Nerven sowie
ruhiggestellt. ▬ gelenknahe atrophe Pseudarthrosen.
556 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
Interphalangeal-(IP-)Gelenk (Articulatio interphalangea) Bei komplexer Bandinstabilität, bei offener Luxation und grö-
Die Behandlung entspricht dem Vorgehen bei Verletzungen des ßeren Abrissfragmenten und nicht reponiblen Gelenkluxationen
distalen Interphalangeal-(DIP-)Gelenks im Fingerbereich. besteht die Indikation zur Operation.
Eine Versteifung des IP-Gelenks des Daumens führt in der Regel
zu keinen wesentlichen funktionellen Auswirkungen auf die Funk- Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk (Articulatio
tion des Daumens bei Grobgriffaktionen, jedoch zu einer Beein- interphalangea proximalis)
trächtigung der Feingrifffunktionen. Um die Funktionsbeeinträch- Partielle Rupturen des Kollateralbandkomplexes und/oder der
tigung auf ein absolutes Minimum zu beschränken, sollte ein Ver- Ligg. palmaria, wenig dislozierte knöcherne Kollateralbandausris-
steifungswinkel von 0–15° angestrebt werden, wobei die individuell se und kleine knöcherne Ausrisse der palmaren Platte werden
optimale Position von Art und Ausmaß der Aktivität des Patienten konservativ behandelt. Bei Läsionen der Kollateralbänder kann
sowie des Funktionszustandes der Finger abhängig ist ( Kap. 10). eine frühfunktionelle Behandlung im Syndaktylieverband für 3–4
Wochen erfolgen. Bei Verletzungen der palmaren Platte muss eine
Finger Hyperextension der PIP-Gelenke vermieden werden. Hier emp-
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio metacarpo- fiehlt sich eine Schienung für 1–2 Wochen. Eine Belastung ist Ende
phalangea) der 4. Woche möglich.
Bei partieller Ruptur – d. h. einer Instabilität in nur einer Ebene Komplette Rupturen des Kollateralbandkomplexes und/oder
– besteht die Indikation zur frühfunktionellen konservativen Be- der palmaren Ligamente, größere knöcherne Ausrisse des Seiten-
handlung im Syndaktylieverband. bandkomplexes und/oder der palmaren Platte sowie Luxationen
Anamnese:
Valgus - und / oder Hyperabdiktionstrauma
Schmerzen, Schwellung, Bewegungseinschränkung
Inspektion:
Schwellung, Hämatom (Cave: Ausbreitung), Schonhaltung
Palpation:
Schmerz (Cave : dorsaler Kapselschmerz), Tumor (Cave: Stener - Defekt)
knöcherner Bandausriss
palmare Subluxationsstellung
(seitliche Aufnahme)
⇒ Operation keine palmare Subluxationsstellung
Manuelle Stabilitätsprüfung
(evtl. röntgenologische Dokumentation
„gehaltene Aufnahme”)
keine Instabilität
(Grad 1- Läsion)
⇒ Konservativ
Instabilität (frühfunktionelle Therapie
evtl. Tape - Verband)
kompletter Bandabriss /
multidirektionale Instabilität
Sonderform: „Stener - Defekt”
MP - I - Gelenkluxationen
⇒ Operation
partieller Bandabriss
⊡ Abb. 23.17 Strukturiertes
23 Vorgehen (»clinical pathway«) bei
der Versorgung von Distorsionen
mit dorsaler Extension ohne dorsale Extension
⇒ Operation unidirektionale Instabilität im Bereich des (ulnaren) Kollate-
⇒ Konservativ ralbandkomplexes. (Aus Schmit-
(Immobilisation für 4 Wochen) Neuerburg et al. 2001)
23.1 · Allgemeines
557 23
des PIP-Gelenks und des MP-Gelenks werden operativ versorgt 23.1.7 Therapie
( Absolute und relative Operationsindikationen bei Kapsel-Band-Ver-
letzungen im PIP-Gelenk-Bereich). Postoperativ erfolgt eine Ruhigstel- Konservative Therapie
lung (palmare Schiene in Intrinsic-plus-Stellung) für 2–3 Wochen, Daumen
gefolgt von einer funktionellen Weiterbehandlung. Eine Belastung Patienten mit schmerzhaftem MP-I-Gelenk ohne ligamentäre In-
ist Ende der 4. Woche möglich. stabilität (Grad 1) werden der frühfunktionellen Behandlung zu-
Versteifungen des DIP-Gelenks stellen eine für die Hand- geführt. Ein zusätzlicher Tape-Verband kann je nach Schmerz und
funktion akzeptable Methode zur Behandlung fortgeschrit- Schwellung angelegt werden.
tener Gelenkzerstörungen dar. Aufgrund der Größenverhält- Der Daumen mit unidirektionaler Instabilität ohne Läsion
nisse der Gelenkflächen bedarf es einer exakten chirurgischen im Bereich der dorsalen Kapselanteile (ausgedehntes Hämatom,
Technik. dorsaler Druckschmerz) wird für 2–3 Wochen in einer Daumen-
Im DIP-Gelenk-Bereich soll ein Versteifungswinkel von 0–20° orthese (⊡ Abb. 23.18a) oder einem Steigbügelgips (⊡ Abb. 23.18b)
angestrebt werden. Am Zeige- und Mittelfinger kann zusätzlich ruhiggestellt. Dabei soll das Endgelenk frei beweglich bleiben, um
eine Supination von 5° den Fingerkuppenkontakt beim Spitzgriff weitere Verklebungen zu vermeiden.
erleichtern.
Finger
Partielle Rupturen des Kollateralbandkomplexes der Grundgelenke
Absolute und relative Operationsindikationen bei werden konservativ behandelt. In Abhängigkeit von den Schmer-
Kapsel-Band-Verletzungen im PIP-Gelenk-Bereich zen und der Lokalisation (Zeigefinger und Kleinfinger vs. Mittel-
Absolute Indikation zur Operation mit knöcherner und Ringfinger) kann entweder eine frühfunktionelle Behandlung
Verletzung im PIP im Syndaktylieverband oder eine Ruhigstellung (palmare Schiene
1. Kleine oder größere knöcherne Ausrisse mit Verdrehung und in Intrinsic-plus-Stellung) für 1–2 Wochen erfolgen, gefolgt von
massiver Überstreckbarkeit einer funktionellen Weiterbehandlung. Eine Belastung ist Ende der
2. Knöcherne Traktusruptur mit Streckausfall im Mittelgelenk 6. Woche möglich.
3. Bleibende Subluxation nach Reposition als Zeichen einer Partielle Rupturen der palmaren Kapsel oder wenig dislozierte
Interposition knöcherne Ausrisse der palmaren Ligamente werden konservativ
4. Veraltete knöcherne Bandausrisse mit Streckhemmung
5. Kombinierte knöcherne Kollateralband- und palmare
Bandausrisse
6. Typ III, IV, V nach Hintringer und Leixnering
Operative Therapie
Daumen
> Die operative Versorgung der frischen Läsionen muss inner-
halb der ersten 10 bis maximal 15 Tage nach Trauma erfol-
gen, um das Risiko einer späteren chronischen Instabilität zu
vermeiden.
c
Patienten mit einer unidirektionalen Instabilität mit Extensions-
läsion im Bereich der dorsalen Kapselanteile und Patienten mit
multidirektionaler Instabilität müssen der operativen Versorgung
zugeführt werden.
Der Stener-Defekt stellt eine Sonderform der multidirektio- d
nalen Instabilität dar: Bei einer kompletten Bandruptur kann der
proximale Bandanteil durch Retraktion auf dem Strecksehnen- ⊡ Abb. 23.19 Operative Versorgung knöcherner ulnarer Bandrisse mit Lenge-
häubchen des Daumens (Sehnenplatte des M. adductor pollicis) mann-Drahtnaht. a Röntgenologischer Aspekt präoperativ, b postoperativer
zu liegen kommen. Dies verhindert nun eine spontane Vernarbung röntgenologischer Aspekt, c postoperativer klinischer Aspekt, d röntgenologi-
und liegt zwischen den beiden Anteilen des Ligaments, auch wenn scher Aspekt nach Materialentfernung; Versorgung mit Metallanker möglich.
der Daumen sachgerecht immobilisiert wird. Nur eine operative (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Therapie kann beide Bandanteile unter dem Strecksehnenhäub-
chen vereinigen. Die operative Versorgung der frischen Läsionen
muss innerhalb der ersten 10 bis maximal 15 Tage nach Trauma angelegt, entfernt und ab sofort mit krankengymnastischen Bewe-
erfolgen, um das Risiko einer späteren chronischen Instabilität zu gungsübungen begonnen werden (⊡ Abb. 23.19).
vermeiden. Bei sehr großen knöchernen Fragmenten hat sich eine Osteo-
Die Wahl der Operationstechnik für die primäre Versorgung synthese mit Minischrauben bewährt.
von Läsionen des ulnaren Kollateralbandkomplexes ist abhängig Die Verwendung einer zusätzlichen temporären Kirschner-
von der Art der Läsion: Draht-Arthrodese im Bereich des Daumengrundgelenks nach
Rein ligamentäre Läsionen ohne knöcherne Beteiligung wer- Bandnaht oder Anwendung der Drahtnaht wird von uns nicht
den durch direkte Bandnaht versorgt. Bei knöchernen Bandaus- empfohlen, da es zur zusätzlichen Knorpeldestruktion des bereits
rissen entscheidet die Größe des knöchernen Fragments über verletzten Gelenks kommt. Außerdem führt eine äußere Fixation
das weitere Vorgehen. Sehr kleine Fragmente werden reseziert. im Sinne eines Daumengipses oder Steigbügelgipses zu einer aus-
Die Refixierung des Bandes erfolgt am knöchern ausgerissenen reichenden Ruhigstellung des versorgten Bandapparats, sodass von
Band durch Reinsertion des Bandes in eine mit dem Meißel aus- einer zusätzlichen temporären Arthrodese mit Draht abgesehen
gehobene Knochenlamelle. Mithilfe eines Knochenankers oder werden kann.
einer Lengemann-Naht wird das Band am Knochen fixiert, zu- Eine Operation am Daumengrundgelenk ist auch bei Kom-
sätzlich über eine Band-Periost-Naht. Bei den mittelgroßen Frag- binationsverletzungen mit Zerreißung des Seitenbandes und bei
menten wird vorzugsweise mithilfe einer Lengemann-Ausziehnaht Durchtrennung der dicken Faserknorpelplatte palmar indiziert.
das Band refixiert . Nach wiederholten Verbandswechseln und Kommt es zu einer dorsalen Luxation des Daumengrundgelenks,
Wundkontrollen kann der Gipsverband schließlich nach 3 Wochen gelingt die geschlossene Reposition in den meisten Fällen nicht.
23 entfernt werden. Ab diesem Zeitpunkt wird mit selbstständigen Die in das Gelenk eingeschlagene Knorpelplatte stellt ein Hinder-
krankengymnastischen Bewegungsübungen begonnen, wobei eine nis dar. Außerdem wird das Mittelhandköpfchen von Weichteilen
Abduktion oder Adduktion des Daumens vermieden werden sollte. umschlungen und in der Luxationsstellung fixiert, sodass eine of-
Nach Ablauf von 6 Wochen kann die Lengemann-Drahtnaht, falls fene Reposition erforderlich ist. Es kann auch zu einem Abriss der
23.1 · Allgemeines
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kräftigen Faserknorpelplatte an der Beugeseite des Grundgliedes Bruner-Inzision die Darstellung der Bandstümpfe und die anato-
und auch zur Zerreißung des M. flexor pollicis brevis im Sesamoid mische Rekonstruktion mit U-Nähten (⊡ Abb. 23.21). Nach post-
oder im Band zwischen Sesamoid und Grundphalanx kommen. operativer Immobilisation auf einer palmaren Schiene für 1–2 Wo-
Diese Verletzung muss wegen der Stabilität des Grundgelenks chen sollte nach Abschluss der Wundheilung eine handspezifische
ebenso operativ versorgt werden. Bei Frakturen am Sesambein krankengymnastische Bewegungstherapie folgen.
können diese reseziert und die palmare Platte durch Naht versorgt
werden. z Palmare Kapsel-Band-Läsionen am PIP
Im Unterschied zu ulnaren Seitenbandverletzungen, die auch bei
Finger Stressaufnahmen dargestellt und dokumentiert werden können
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk (Articulatio und einer operativen Versorgung zugeführt werden müssen, wird
metacarpophalangea) die Versorgung der Verletzung am Mittelgelenk der Finger nicht
Bei komplexer Bandinstabilität, bei offener Luxation und größeren immer einheitlich beurteilt. Verletzungen der Kapsel-Band-Appa-
Abrissfragmenten besteht die Indikation zur Operation. rate am Mittelgelenk können zum großen Teil mit Ruhigstellung
Die dorsale Luxation im Grundgelenk des Fingers ist sehr sel- oder auch funktioneller Therapie behandelt werden.
ten. Hier zerreißen die Fibrocartilargo palmaris und evtl. auch die Partielle Rupturen der palmaren Kapsel oder wenig dislozierte
Seitenbänder. Das Grundglied ist über dem dorsalen Teil des Me- knöcherne Ausrisse der palmaren Ligamente werden konservativ
takarpalköpfchens disloziert. Der Finger ist deformiert und weist behandelt. Schienen, die das Mittelgelenk in Streckstellung ru-
eine ulnare Rotation und Deviation auf. Er ist im Grundgelenk higstellen, damit die Anteile des eigentlichen und des akzessori-
federnd fixiert und nach dorsal überstreckt, wobei das Mittel- und schen Kollateralbands entfaltet sind und diese nicht miteinander
Endgelenk in Beugestellung stehen. In der Hohlhand tritt das Köpf- verkleben können, eignen sich hierfür. In dieser Stellung wird
chen des Mittelhandknochens direkt unter der Haut hervor. Das der palmare Rezessus durch die Beugesehnen entleert und der
Metakarpalköpfchen springt wie durch ein Knopfloch nach palmar Schrumpfung der palmaren Platte entgegengewirkt. Die Ruhigstel-
vor und ist dann von Gebilden der Hohlhand umgeben. (Am Zei- lung sollte nur das Mittelgelenk einschließen, um mögliche Adhä-
gefingergrundgelenk liegt radial das Gefäß-Nerven-Bündel, ulnar sionen des Tractus laterales der Streckaponeurose zu vermeiden.
die Beugesehne, peripher die Fibrocartilago und zentral die Pars Hierzu eignen sich Stack-Mittelgelenkschienen, Capener-Schienen
transversa der Hohlhandaponeurose). Die geschlossene Reposition oder selbst gefertigte Thermoplastschienen, die eine Überstre-
bei kompletter Luxation der dreigliedrigen Finger im MP-Gelenk ckung des Mittelgelenks verhindern. Die Ruhigstellungszeit sollte
gelingt gewöhnlich nicht. Repositionshindernisse ergeben sich im in der Regel nicht länger als 2 Wochen betragen, und es sollte sich
Wesentlichen aus der Interposition von zerrissenen Seitenbändern danach eine funktionelle Nachbehandlung anschließen. Trotzdem
mit und ohne Knorpel-Knochen-Verletzung und der Interposition können Streckdefizite, Beugekontrakturen oder eine Schwanen-
von Faser-Knorpel-Platte und Beugesehnen. Auch der dorsale An- halsdeformität als Residuen dieser Verletzung verbleiben.
teil der Gelenkkapsel kann in die Dorsalaponeurose des Grundge- Bei komplexer Bandinstabilität, bei offener Luxation und grö-
lenks interponiert sein und die Reposition behindern. Die Beuge- ßeren Abrissfragmenten sowie bleibender Subluxation nach Repo-
sehne und die Lumbricalis verhindern oft eine Reposition, da das sition besteht die Indikation zur Operation. Bei Abriss der palma-
Mittelhandköpfchen durch diese Sehnen wie durch ein Knopfloch ren Platte im PIP wird, falls erforderlich, zur Wiederherstellung
hindurchragt. Eine Reposition gelingt dann nur operativ. nach einem palmaren Zugang nach Bruner oder einem mediolate-
Die offene Reposition muss dann palmarseitig evtl. durch Ein- ralen Zugang die palmare Platte U-förmig mit einer resorbierbaren
kerbung der Bänder und Ligamente erfolgen (⊡ Abb. 23.20). Naht gefasst und transossär streckseitig im sehnenfreien Dreieck
Jede Fingerverrenkung, die sich nicht leicht konservativ be- mit einer Bunnell-Nadel ausgeleitet (⊡ Abb. 23.22). Wann immer
seitigen lässt, die nach Reposition nicht in normaler anatomischer möglich, sollte auf eine temporäre Bohrdrahtarthrodese des Mit-
Stellung bleibt oder auch nach Repositionsversuch im Röntgenbild telgelenks verzichtet werden, um den Gelenkknorpel zu schonen.
eine Subluxation zeigt, muss operativ versorgt werden. Die Prü- Nach postoperativer Immobilisation auf einer palmaren Schiene
fung der Seitenbandstabilität erfolgt in gebeugtem Grundgelenk. sollte nach Abschluss der Wundheilung eine handspezifische kran-
Bei Abriss des Lig. collaterale entweder von der Basis der Grund- kengymnastische Bewegungstherapie folgen.
phalanx oder vom Caput des Os metacarpale erfolgt die dorsale
bogenförmige Umschneidung des Grundgelenks streckseitig. Nach z Verletzungen des Tractus intermedius der Streckaponeurose
Durchtrennung der Pars transversa der Lamina intertendinea su- Unverschobene knöcherne Ausrisse des Mittelzügels werden, wie
perficialis erfolgt die periostale Refixation des Bandes evtl. auch auch gedeckte Rupturen, konservativ mit der bereits erwähnten
mit Metallanker. Die Ruhigstellung in der Intrinsic-plus-Stellung Mittelgelenkschiene, die 6 Wochen getragen werden sollte, behan-
sollte für 3 Wochen erfolgen und danach sollte sich eine funktio- delt. Voraussetzung ist allerdings, dass das Mittelgelenk nach passi-
nelle Weiterbehandlung anschließen. ver Streckung in dieser Position gehalten werden kann. Der Tractus
lateralis zieht bei der aktiven Streckung im Endgelenk die gesamte
Proximales Interphalangeal-(PIP-)Gelenk Streckaponeurose nach peripher und wirkt so der Fragmentdis-
z Kollateralbandrupturen am PIP lokation entgegen. Bei kompletten Rupturen erfolgt die operative
Bei partieller Ruptur – d. h. einer Instabilität in nur einer Ebene Versorgung mit direkten feinen U-Nähten, um der Entstehung
– besteht die Indikation zur frühfunktionellen konservativen Be- einer Knopfloch- oder Boutonière-Deformität zu entgegnen.
handlung im Syndaktylieverband. Knöcherne Ausrisse des Mittelzügels mit Dislokation von mehr
Da es bei der kompletten Ruptur auch zu einem Einschla- als 1 mm, Typ II nach Rappold und Mondl (1997), müssen ope-
gen der Bandstümpfe zwischen dem Lig. retinaculare obliquum rativ refixiert werden. Methodisch kommen dabei die transossäre
(Landsmeer) und dem Tractus intermedius Pars lateralis kommen Reinsertion, Minischrauben, Mitek-Anker oder Bohrdrahtosteo-
kann, ist nicht mehr mit einer genügenden Stabilität bei nur kon- synthese infrage. Nicht immer kann dabei auf eine temporäre
servativer Behandlung zu rechnen. Es empfiehlt sich über eine Bohrdrahtarthrodese der Stärke 1,0 mm verzichtet werden. Bei
560 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
a b c
d
e
f g
23 h
⊡ Abb. 23.20 Klinischer, röntgenologischer und intraoperativer Befund und Funktion nach irreponibler Luxation im Fingergrundgelenk. (Aus Schmit-Neuer-
burg et al. 2001)
23.1 · Allgemeines
561 23
⊡ Abb. 23.21 Luxation des Kleinfingers im Mittelgelenk nach ulnar mit Zerreißung des Kollateralbandes. a Klinischer Aspekt präoperativ, b »gehaltene Rönt-
genaufnahme in d. p. Strahlengang, c intraoperativer Aspekt nach Darstellung der Strukturen, d intraoperativer Aspekt nach Naht des Kapselapparates. (Aus
Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Richtgrößen für die Arthrodesestellungen im Handbereich finden Diese sind vor allem bei der Behandlung der PIP-Gelenk-Verlet-
sich in ⊡ Abb. 23.23. zungen großzügig einzusetzen, um die oft auftretende Beugekon-
traktur im PIP-Gelenk zu vermeiden.
Weiterbehandlung
Nur durch das Zusammenspiel von Operateur, Therapeut und Pa-
tient in einem Team ist ein gutes funktionelles Ergebnis erreichbar. 23.1.8 Besonderheit im Wachstumsalter
In Abhängigkeit von der Rekonstruktionstechnik und des fest-
gelegten Procederes beginnt eine frühzeitige Krankengymnastik Die Gelenkverletzungen im Wachstumsalter betreffen sehr häufig
mit aktiven Bewegungsübungen aus der Schiene heraus. Passive die Epiphyse, sodass hier nach Möglichkeit die genaueste Rekon-
Bewegungsübungen, im Schutz der Osteosynthese, können die struktion des Gelenks und der Epiphyse erfolgen muss. Allerdings
benachbarten Gelenke mit einschließen. Bei protrahierten post- sind Kapsel-Band-Ausrisse im Kindesalter selten. Häufiger sind
operativen Schwellungszuständen ist der frühzeitige Einsatz von Epiphysiolyse und Frakturen nach Aitken, die durch Osteosyn-
Lymphdrainagen indiziert. Selbstverständlich sollte auf eine aus- thesen, vornehmlich Kirschner-Drähte, versorgt werden müssen.
reichende postoperative Analgesie geachtet werden. Bei schweren Auch die seltenen knöchernen Bandausrisse werden mit Kirschner-
komplexen Handverletzungen hat sich die Anlage eines Plexuska- Drähten wiederhergestellt und durch äußere Fixation wie Gips für
theters bewährt. Damit erzielt man die beste Prophylaxe, um der eine angemessene Zeit ruhiggestellt. Nach knöchernem Anheilen
Entstehung des regionalen Schmerzsyndroms (Morbus Sudeck, der Fragmente können die Kirschner-Drähte nach 3–6 Wochen (je
Algodystrophie oder sympathische Reflexdystrophie) zu begegnen. nach Alter des Verletzten) entfernt werden.
Nach der Hautfadenentfernung ergibt sich die Möglichkeit der Be-
wegungstherapie im Handbad und Paraffinbecken.
23.1.9 Prognose
> Die Rolle der Handtherapeuten ist bei der Handrehabilitation
nicht zu unterschätzen ( Kap. 15).
Als wichtiger Fakt für die Prognose der Kapsel-Band-Verletzungen
Eine Narbenbehandlung mit Massagen, Ultraschall, Druckverband der Fingergelenke konnte übereinstimmend mit der Literatur das
und speziellen Narbenauflagen aus Silikon kann einer schmerz- Verletzungsalter bestätigt werden, wobei bei zunehmendem Alter
haften Narbenkontraktur entgegenwirken und die Narbenbildung der Verletzung eine ungünstige Prognose hinsichtlich der Funktion
positiv beeinflussen. Kälteanwendung zur Schmerzreduktion, ma- und Beschwerdefreiheit gestellt werden muss.
nualtherapeutische Übungen zum Lösen von arthrogenen Kon- Nach Moutet und Mitarbeitern (1989) können die Therapie-
trakturen, das Wiedererlernen der Muskel- und Sehnenfunktionen, ergebnisse von Distorsionen im MP-I-Gelenk aufgrund folgender
Lymphdrainagen und Kompressionsbehandlung, PFN (proprio- Kriterien bewertet werden (⊡ Tab. 23.2):
zeptive neuromuskuläre Fasziliation) sowie ergotherapeutische ▬ Schmerzen,
23 Maßnahmen sind individuell nach dem Verletzungsmuster ein- ▬ Stabilität,
zusetzen. ▬ aktive und passive Beweglichkeit des MP-I-Gelenks,
Auch stellt der Einsatz von statischen und dynamischen Schie- ▬ Oppositionsfähigkeit des 1. Strahls und
nen in der Nachbehandlungsphase ein wichtiges Hilfsmittel dar. ▬ Kraft bei Pinch-Griff.
23.2 · Spezielle Techniken
563 23
⊡ Tab. 23.2 Bewertungskriterien und Klassifikation der Ergebnisse nach konservativer und operativer Therapie bei Distorsionen im Bereich des ulnaren
Kollateralbandkomplexes. (Nach Moutet et al. 1989)
Schmerzen – – – +
Stabilität + + + –
Ein sehr gutes Ergebnis liegt vor bei einem schmerzfreien Daumen Sodann wird mit einem 1,0-Kirschner-Draht ein schräg-transver-
mit normaler Funktion und Stabilität. saler Kanal zur Gegenseite der Kortikalis geschaffen, danach wird
Als gutes Ergebnis wird ein schmerzfreier Daumen mit guter die Lengemann-Drahtnaht so angelegt, dass der Y-Schenkel des
Stabilität, aber einer Bewegungseinschränkung von 10–15% defi- abgerissenen Bandes in die angehobene Knochenlamelle hinein-
niert. zieht. Dabei muss darauf geachtet werden, dass genügend Abstand
Bei einem mäßigen Ergebnis liegt ein schmerzfreier Dau- zwischen dem Y-Schenkel und dem distalen Ende des Bandes
men mit guter Stabilität, aber einer Bewegungseinschränkung von bestehen bleibt. Durch Gegenzug des Drahtes kann der Y-Haken
20–30% vor. das Band in die eingeschlagene Lamelle hineinziehen, wobei der
Ein schmerzhafter und/oder instabiler Daumen wird als distale Teil des Drahtes nach Anbringen der Unterlegscheibe und
schlechtes Ergebnis bezeichnet. der Bleiplombe über der Haut fixiert werden kann. Durch zusätz-
Die meisten Patienten (98%) können ihre ursprüngliche Ar- liche einzelne Nähte des Bandes mit dem Periost ergibt sich wei-
beit wieder aufnehmen. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit beträgt tere Stabilität (⊡ Abb. 23.24c). Bei Abriss des Kollateralbandes sehr
weniger als 6 Wochen für etwa 50%, 6–12 Wochen für 42% und nah oder direkt am Knochen (Basis des Grundgliedes) können
12 Wochen für 8% der Patienten. auch mit einem intraossär angebrachten Anker die Bänder wieder
reinseriert werden, wobei je nach Möglichkeit mit Meisel eine
Einkerbung in diesem Bereich angebracht wird, um die Bänder an
23.2 Spezielle Techniken den Knochen heranzuführen. Eine Ruhigstellung ist für 3 Wochen
erforderlich.
23.2.1 Technik der operativen Versorgung Bei kleineren knöchernen Fragmenten, die nicht refixiert wer-
der akuten Verletzung des ulnaren den können, wird das knöcherne Fragment von dem distalen
Kollateralbandapparates am ausgerissenen Band entfernt und, ähnlich wie bei den ulnaren
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk Abrissverletzungen, der Bandapparat refixiert.
des Daumens Bei größeren knöchernen Fragmenten können diese mit ei-
ner Minizugschraube von 1,0–1,5 mm Stärke versorgt werden
Bei knöchernen und ligamentären Verletzungen des ulnaren Sei- (⊡ Abb. 23.24d) oder nach Fixation des knöchernen Fragments an
tenbandes wird ein leicht gebogener Längsschnitt ulnarseitig über der ausgerissenen Stelle wird dieses mit einem Zahnarzthäkchen
dem Grundgelenk angelegt (⊡ Abb. 23.24a). Bei Rissen des radialen festgehalten und mit einem 1,0-Kirschner-Draht ein Kanal über
Bandapparats wird der Schnitt in der verlängerten Hautfalte des dem Fragment bis zur Gegenkortikalis angebracht und schließlich
Daumengrundgelenks radialseitig angelegt. die Lengemann-Drahtnaht so angelegt, dass der Y-Haken über
Bei der Präparation ulnarseitig wird auf exakte Darstellung dem knöchernen Fragment zu liegen kommt. Durch Gegenzug an
und Schonung des N. digitalis dorsalis, Hauptast des N. radialis, der Gegenkortikalis und Anbringen der Unterlegscheibe kann der
geachtet (⊡ Abb. 23.24a,b); Darstellung der Adduktoraponeurose Draht mit einer Bleiplombe fixiert werden. Bei Verwendung der
bzw. Adduktorsehnenplatte. Diese wird mit der Präparationsschere Lengemann-Drahtnaht kann auch zur Vermeidung eines Weich-
unterfahren und quer zur Faserrichtung eingeschnitten und mit teilschadens und für eine sehr stabile Fixation eine Distanzhülse
Haltefäden zur Seite gehalten. Man findet dann in der Regel distal eingesetzt werden.
abgerissenes Seitenband, das nach proximal umgeschlagen und Die Verwendung einer zusätzlichen temporären Pinarthrodese
unter der Adduktoraponeurose retrahiert ist (durch diese Tatsache im Bereich des Daumengrundgelenks nach Bandnaht oder Anwen-
werden die Misserfolge nach der konservativen Behandlung inter- dung der Lengemann-Drahtnaht wird von uns nicht empfohlen,
ligamentärer Bandrupturen erklärt) (⊡ Abb. 23.24b). da es zur zusätzlichen Knorpeldestruktion des bereits verletzten
Die Wahl der Operationstechnik für die primäre Versorgung Gelenks kommt.
von Läsionen des ulnaren Kollateralbandkomplexes ist abhängig Nach Versorgung der Bandverletzung erfolgt der schichtweise
von der Art der Läsion. Wundverschluss mit Naht der Gelenkkapsel und schließlich der
Bei interligamentären Rupturen werden adaptierende U-Nähte Adduktorsehnenplatte (⊡ Abb. 23.24e) mit 4/0 monofilem Faden in
mit 4/0 monofilem resorbierbarem Faden durchgeführt. Bei Ab- U-Naht-Technik.
riss des Bandes vom Knochen erfolgt eine transossäre Fixation Nach Öffnen der Blutleere und Blutstillung erfolgt nochmalige
mittels Ausziehdraht von Lengemann. Hierbei wird zunächst an Kontrolle auf wiederhergestellte Stabilität und Unversehrtheit des
der ausgerissenen Stelle am Knochen mit einem feinen Meißel dorsalen Nerven, Hautnaht, steriler Verband, intraoperative Rönt-
an der Grenze zum Gelenk eine Knochenlamelle angehoben. genkontrolle, falls Draht oder Schraube zur Anwendung gekom-
564 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
⊡ Abb. 23.24 Technik der operativen Versorgung der akuten Verletzung des
ulnaren Kollateralbandkomplexes am Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk des
Daumens. a Planung des Hautschnitts, b Darstellung und Anschlingen des
N. digitalis dorsalis und der Lamina intertendinea (»Adduktorsehnenplatte«).
Bei einer kompletten Bandruptur kann der proximale Bandanteil durch Re-
traktion auf dem Strecksehnenhäubchen des Daumens (Sehnenplatte des
M. adductor pollicis) zu liegen kommen. Diese verhindert nun eine spontane
Vernarbung und liegt zwischen den beiden Anteilen des Ligamentum, auch
wenn der Daumen sachgerecht immobilisiert wird (»Stener-Defekt«). c Darstel-
lung des Seitenbandes nach Durchtrennung der Lamina intertendinea und der
Gelenkkapsel, d Möglichkeiten der chirurgischen Versorgung von Läsionen des
ulnaren Kollateralbandkomplexes in Abhängigkeit von der Läsionsart, d1 interli-
gamentäre Läsion: einfache U-Nähte, d2 knöcherne und knochennahe Ausrisse:
Lengemann-Ausziehnaht, d3 ossäre Ausrisse mit großen Fragmenten: Mini-
schraubenosteosynthese, e Rekonstruktion der Gelenkkapsel, f Rekonstruktion
a der Lamina intertendinea (»Adduktorsehnenplatte«). (Aus Haussmann 1991)
b
c
e
23
f
23.2 · Spezielle Techniken
565 23
men sind, Ruhigstellung in einem Handgips oder Steigbügelgips
für insgesamt 3 Wochen, wobei das Endgelenk zu aktiven Bewe-
gungsübungen freigelassen wird (⊡ Abb. 23.18a,b). Unabhängig von
der gewählten Therapieart (konservativ vs. operativ) sollten alle
Patienten informiert werden, dass eine Bewegungseinschränkung
für mindestens 4–6 Wochen vorhanden ist. Körperliche Schwerar-
beit sollte erst nach Ablauf von 3 Monaten durchgeführt werden.
Geringe bis mäßige Beschwerden (Kälteempfindlichkeit, Wetter-
fühligkeit) halten bis zu 6 Monate an.
b c
herausgelöst. Die Insertion des Caput profundum des M. flexor pollcis brevis fest vernäht. Durch diese Tenodese wird eine Hyper-
pollicis brevis muss erhalten bleiben. Nun muss durch Zug an dem extension des MP-Gelenks verhindert und die aktive Stabilisierung
Muskel sichergestellt werden, dass alle Bandanteile ausreichend ge- in Streckstellung entlastet (⊡ Abb. 23.26c).
löst wurden. Die Knorpeloberfläche des radialen Sesambeins wird Postoperativ erfolgt eine Ruhigstellung für 4 Wochen. Eine
mit einem feinen Luer angefrischt. Danach wird ein Bohrkanal für Materialentfernung ist im Regelfall nicht notwendig.
eine Minischraube (1,5 mm) angelegt. Zur Vorbereitung des neuen
Ansatzgebietes wird die Sehne des M. flexor pollicis longus von ra-
dial her von der Unterfläche des Daumengrundgliedes abpräpariert 23.2.6 Technik der Arthrodese im
und nach ulnar weggehalten. Im Bereich der Grundgliedbasis wird Metakarpophalangeal-I-(MP-I-)Gelenk mit
nun eine dem Sesambein an Größe entsprechende Mulde angefer- Cerclage und querem Kirschner-Draht
tigt, an deren tiefstem Punkt ein Bohrloch für die Zugschraubenos-
teosynthese angelegt wird (⊡ Abb. 23.26b). Das Sesambein wird mit Eine Versteifung des MP-I-Gelenks hat eine Verminderung der Op-
dem M. flexor pollicis brevis unter dem radialen Gefäß-Nerven- positionsfähigkeit des Daumens zur Folge sowie eine Aufhebung der
Bündel hindurchgeführt und an seinem neuen Ansatzort osteosyn- automatischen Pronation bei Oppositionsbewegungen. Am MP-I-
23 thetisch fixiert. Nach Überprüfung der palmaren Stabilität wird in Gelenk wird daher ein optimaler Arthrodesewinkel von 5–15° sowie
Streck- oder höchstens geringer Beugestellung des MP-Gelenks der eine Pronation von 10° zur Erleichterung des Spitzgriffs empfohlen.
sehnige Anteil des M. flexor pollicis brevis mit dem verbleibenden Der operative Zugang erfolgt von dorsal über einen bogenför-
palmaren Bandapparat und dem sehnigen Anteil des M. abductor migen Hautschnitt, dessen Scheitelpunkt sich radial auf Höhe des
23.2 · Spezielle Techniken
567 23
Zur Vermeidung einer postoperativen 90°/90°-Fehlstellung Plattenlöcher werden dann in Neutralposition mit entsprechenden
muss der Streckapparat anatomisch rekonstruiert werden. Die Ru- Schrauben besetzt. Adaptation von Periost und Kapsel über der
higstellung erfolgt mit einer Daumenorthese oder einem Daumen- Platte, sodass die Sehne über die Platte gleitet. Hautverschluss nach
Hand-Gips für 4 Wochen. Die Entfernung des Osteosynthesemate- Blutstillung und Drainage. Eine Ruhigstellung ist bei stabiler Arth-
rials kann je nach Röntgenbefund ab der 6.–8. Woche erfolgen; die rodese nicht erforderlich (⊡ Abb. 23.30).
Cerclage kann bei fehlenden Beschwerden belassen werden.
a b c e f
⊡ Abb. 23.31 Arthrodese des DIP-Gelenks mit Cerclage und Kirschner-Draht. a, b Planung der Hautinzision, operativer Zugang: Ansicht von dorsal, c operativer
Zugang und Planung der Knorpelresektionen: Ansicht von lateral, d orthogrades Einbringen des axialen Kirschner-Drahtes, e Einbringen der Cerclage durch zwei
zentrale Bohrkanäle. Die Cerclagespirale darf nicht auf der belasteten Fingerseite zu liegen kommen. f Postoperatives Ergebnis, postoperative Immobilisation auf
einer Zwei-Finger-Schiene. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
störungen dar. Aufgrund der Größenverhältnisse der Gelenkflä- laufender Kirschner-Draht der Stärke 1,0–1,2 mm eingebracht
chen bedarf es einer exakten chirurgischen Technik. (⊡ Abb. 23.31).
Im DIP-Gelenk-Bereich soll ein Versteifungswinkel von 20° Postoperativ wird der Finger auf einer Zwei-Finger-Schiene
nicht überschritten werden. Am Zeige- und Mittelfinger kann für 3–4 Wochen ruhiggestellt. Die Entfernung des Osteosynthese-
ein Winkel von 5° den Fingerkuppenkontakt beim Spitzgriff er- materials kann je nach Röntgenbefund ab der 8. Woche erfolgen;
leichtern. die Cerclage kann bei fehlenden Beschwerden belassen werden.
Eine Versteifung des IP-Gelenks des Daumens führt in der Besteht radiologisch nach dieser Zeit noch keine sichere knöcherne
Regel zu keinen wesentlichen funktionellen Auswirkungen auf die Durchbauung, genügt für die weitere Ruhigstellung eine nur noch
Funktion des Daumens bei Grobgriffaktionen. Um die Funkti- das DIP-Gelenk ruhigstellende modifizierte Stack-Schiene.
onsbeeinträchtigung auf ein absolutes Minimum zu beschränken,
sollte ein Versteifungswinkel von 0–15° angestrebt werden, wobei
die individuell optimale Position von Art und Ausmaß der Aktivi- 23.2.10 Technik der Arthrodese im distalen
tät des Patienten sowie des Funktionszustands der Finger abhängig Interphalangeal-(DIP-)Gelenk der Finger und
ist. Kosmetisch ist jedoch die 0°-Stellung vorzuziehen. Interphalangeal-(IP-)Gelenk des Daumens
Die Arthrodese im IP- und DIP-Gelenk-Bereich kann in Ple- mit Schraubenarthrodese
xusanästhesie oder Vollnarkose und Blutleere mithilfe der Lupe
durchgeführt werden. Der operative Zugang und die Vorbereitung der Resektionsflä-
Der operative Zugang erfolgt von dorsal über einen bogenför- chen entsprechen dem in Abschn. 23.2.9 beschriebenen Vorge-
migen oder H-förmigen Hautschnitt. hen. Von der Resektionsfläche am Endglied aus wird ein Gleitloch
Die Strecksehne wird quer mit dem Skalpell kurz proximal des mit 2,0- (oder 2,5-) Bohrer nach distal gebohrt. Die Haut wird
Gelenks gespalten und die darunter liegende Gelenkkapsel darge- vor dem Austritt der Bohrerspitze (in Nagelrandnähe) an der
stellt. Nach Längsinzision der Gelenkkapsel wird durch subperio- Fingerkuppe inzidiert. Über diese Inzision wird nach Aufeinan-
stale Präparation das Gelenk exponiert. dersetzen der Resektionsflächen des End- und Mittelgliedes mit
Nach ursprungsnahem Absetzen der Seitenbänder werden dem 1,5- (oder 2,0-) Bohrer durch das Gleitloch ein Gewindeloch
durch maximale Flexion beide Gelenkflächen dargestellt. Mit ei- in das Mittelglied gebohrt. Anschließend Messen der Schrauben-
nem scharfen Meißel oder einer kleinen oszillierenden Säge wer- länge unter Berücksichtigung der noch zu erfolgenden Kompres-
den die Gelenkflächen zu beiden Seiten sparsam, jedoch bis in sion. Die Schraube (2,0 oder 2,4 mm) wird dann retrograd vom
den spongiösen Knochen so abgetragen, dass ein Winkel von Endglied eingedreht, wodurch die Resektionsflächen aufeinan-
0–5° resultiert, je nach Erfordernis der Arthrodesewinkel. Das dergesetzt und komprimiert werden. Auf eine korrekte Rotation
Knochenmaterial wird zunächst asserviert und bei Bedarf nach des Endgliedes muss hierbei geachtet und das Ergebnis mit dem
durchgeführter Arthrodese für eine Spongiosaplastik verwendet. Bildverstärker kontrolliert und dokumentiert werden. Vor dem
Anschließend werden Exophyten entfernt und, wenn notwendig, Hautverschluss erfolgt die Naht der Strecksehne mit einem resor-
eine Synovialektomie durchgeführt. bierbaren und monofilen Faden der Stärke 4/0. Postoperativ wird
Etwa 3 mm proximal und distal der Resektionslinie wird von der Finger auf einer Zwei-Finger-Schiene für 10–14 Tagen ruhig-
seitlich jeweils ein querer Bohrkanal mit einem 0,8-mm-Kirschner- gestellt. Die Entfernung des Osteosynthesematerials kann je nach
Draht angelegt und ein Cerclagedraht mit Stärke 0,5 mm über Röntgenbefund ab dem 4. Monat erfolgen. Bei den Schraubenos-
Kanülierung mit einer 20-G-Kanüle eingebracht. teosynthesen soll eventuell die Beeinträchtigung der Sensibilität
Beide Knochenenden können nun reponiert und mit dem im Pulpabereich durch den operativen Zugang und den über
Cerclagedraht unter Kompression gebracht werden. Bei der Pla- das Knochenniveau herausragenden Schraubenkopf (versenken)
nung sollte darauf geachtet werden, dass die Cerclagespirale auf berücksichtigt werden. Bei Verwendung der Herbert-Schraube
der nicht belasteten Fingerseite zum Liegen kommt (Radialseite lässt sich nur schwer ein Arthrodesewinkel, wenn erfordelich,
des Kleinfingers, Ulnarseite des Zeige-, Mittel- und Ringfingers). einrichten, zudem sind die Materialkosten unverhältnismäßig
Abschließend wird noch ein entweder axial oder 45° schräg ver- hoch (⊡ Abb. 23.32).
570 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
b
a
⊡ Abb. 23.32 Retrograde Schraubenarthrodese der Endgelenke. a Operative Vorgehensweise zur Schraubenarthrodese des Endgeleks, b Röntgenologisches
Ergebnis der retrograden Schraubenarthrodese
23.2.11 Technik der operativen Versorgung mit und ohne Knorpel-Knochen-Verletzung und Interposition von
der akuten Verletzung des Faser-Knorpel-Platte und Beugesehnen. Auch der dorsale Anteil
Kollateralbandapparates am der Gelenkkapsel kann in die Dorsalaponeurose des Grundgelenks
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk interponiert sein und die Reposition behindern. Die Beugesehne
der Finger und die Lumbricalis verhindern oft eine Reposition, da das Mit-
telhandköpfchen durch diese Sehnen wie durch ein Knopfloch
Bei der Ruptur der kräftigen Kollateralbänder an den Grundgelen- hindurchragt. Eine Reposition gelingt dann nur operativ.
ken der Finger muss die Wiederherstellung bzw. Rekonstruktion Die offene Reposition muss dann palmarseitig evtl. durch Ein-
und Stabilisierung in einer angemessenen Zeit innerhalb von bis zu kerbung der Bänder und Ligamente erfolgen.
14 Tagen erfolgen. Bei knöchernen Ausrissen müssen diese durch
Schrauben, Drähte oder Mitek-Anker refixiert und stabilisiert wer-
den. Die Zeit der Ruhigstellung beträgt 2–3 Wochen auf einer 23.2.13 Technik der operativen Versorgung
Schiene in Intrinsic-plus-Stellung. Bei stabiler Versorgung können der veralteten Verletzung (chronischen
auch nach 10 Tagen mit einer Solidaritätsschiene Bewegungsübun- Instabilität) des Kollateralbandapparates
gen durchgeführt werden, ohne einen Nachteil für den refixierten am Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenk
Bandapparat (⊡ Abb. 23.12). der Finger
Proximale Ausrisse des Kapsel-Band-Apparates an der Basis des 23.2.19 Technik der operativen Versorgung der ver-
Grundgliedes sind selten, wobei bei Laxizität der Gelenke und alteten Verletzung (chronischen Instabilität)
Überstreckbarkeit der Mittelgelenke Schwanenhalsdeformitäten des Kollateralbandapparates am proximalen
auftreten können ( Kap. 5). Wegen der Gefahr der Schwanenhals- Interphalangeal-(PIP-)Gelenk der Finger
deformität und einer zunehmenden Dekompensation des Mittel-
gelenks sollten solche Fälle einer Operation zugeführt werden. Bei chronischer komplexer Kapsel-Band-Instabilität besteht eine
Hierbei reißen die »check-reins« von proximal ab und rutschen zunehmende Subluxationsstellung und dadurch vermehrte Arth-
zusammen mit den akzessorischen Kollateralbändern über die rose im betreffenden Mittelgelenk. Es kommt zu Deformierungen
Trochlea nach distal. Der distale Plattenanteil bleibt jedoch un- und Unsicherheitsgefühlen bei der Greiffunktion. Bei Insuffizienz
verletzt. Die operative Versorgung besteht im Ablösen des akzes- der noch vorhandenen Bänder können diese durch Nähte gerafft
sorischen Kollateralbandes von der palmaren Platte, wobei die und dadurch eine Stabilisierung herbeigeführt werden.
palmare Platte nach proximal gezogen und mit dem akzessori- Auch bei der Kollateralinsuffizienz können Teile der Seitenzü-
schen Kollateralband vernäht wird. Es gelingt so eine Raffung gel abgespalten nach proximal und palmar zurückgeschlagen und
herbeizuführen, die allerdings nur auf einer Seite durchgeführt an den proximalen Anteil des Kollateralbandes angenäht werden.
wird. Durch die Raffung entsteht eine Bremse und dadurch eine Dadurch wird eine gewisse Seitenstabilität auf Kosten der Funktion
Streckhemmung im Gelenk. des Mittelgelenks erreicht.
572 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
a b c d e
⊡ Abb. 23.33 Modifizierter Suzuki-Fixateur bei gelenktragender palmarer Fraktur am Mittelgelenk. a Präoperativer Röntgenbefund, b intraoperative Röntgen-
kontrolle: Technik der Reposition der Gelenkfläche der Mittelgliedphalanxbasis mit einem umgebogenen Kirschner-Draht-Ende, c Röntgenkontrolle nach Repo-
sition und kompletter Montage des Fixateurs, d klinischer Aspekt, e Röntgenbild nach Ausheilung ohne nennenswerte Gelenkstufe (lateraler Strahlengang)
Auch durch die Präparation der Narbenplatte von palmar und 23.2.21 Technik der Implantation einer Gelenk-
dorsal kann durch Doppelung des distal gestielten Narbenstreifens prothese zur Versorgung der veralteten
nach proximal und Fixation derselben durch eine Mitek-Anker- Verletzung (chronischen Instabilität)
Naht eine gute Seitenstabilität erreicht werden. Pechlaner emp- der palmaren Bänder am proximalen
fiehlt, die Narbenplatte mit einer Schraube (1,5 mm) zu refixieren. Interphalangeal-(PIP-)Gelenk der Finger
Ruhigstellungszeit 2 Wochen, danach Handtherapie.
Bei bestehenden arthrotischen Veränderungen im Mittelgelenk
und Instabilität ist auch die Implantation einer Mittelgelenkprothe-
23.2.20 Technik der operativen Versorgung se in Erwägung zu ziehen ( Kap. 11).
der veralteten Verletzung (chronischen
Instabilität) der palmaren Bänder am
proximalen Interphalangeal-(PIP-)Gelenk 23.2.22 Technik der Arthrodese im proximalen
der Finger Interphalangeal-(PIP-)Gelenk mit Cerclage
und querem Kirschner-Draht
Bei chronischer palmarer Instabilität und beginnender Schwa-
nenhalsdeformität muss dies bei noch intaktem Knorpel des Ge- Über einen dorsalen Zugang durch einen Z- oder bogenförmigen
lenks wie eine Schwanenhalsdeformität behandelt werden ( Ab- Hautschnitt wird der Streckapparat dargestellt. Durch Längsspaltung
23 schn. 23.2.17). Die palmare Stabilität kann durch distal gestielte und subperiostales Abschieben nach lateral werden Gelenk und
Anteile des Superficialissehnenstreifens, der am proximalen Anteil Phalangen exponiert. Die Gelenkflächenpräparation und Osteoto-
der palmaren Kapsel oder am A2-Ringband angenäht wird, er- mie erfolgt analog der am DIP-Gelenk entsprechend dem geplan-
reicht werden. ten Arthrodesewinkel. Aufgrund der geringen Beeinträchtigung des
23.2 · Spezielle Techniken
573 23
a b c d
a b d e
⊡ Abb. 23.37 Arthrodese des PIP-Gelenks mit Zuggurtungsosteosynthese. a Hautschnitt, b Bildung eines distal gestielten Strecksehnenlappens, c Resektion
der Knochenflächen, d postoperativer Aspekt: Ansicht von lateral, e postoperativer Aspekt: Ansicht von dorsal. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
0,8 mm starker Cerclage-Draht durchgefädelt. Es werden nun zwei losteotomie der dorsalen Grundgliedkortikalis wird eine 1,5- bis
1,0-mm-Kirschner-Drähte von der Mitte der Resektionsfläche am 2,0-mm-Schraube im Sinne einer Zugschraube eingedreht und der
Grundglied aus parallel verlaufend nach proximal gebohrt, bis sie Schraubenkopf versenkt. Bei zartem Fingerskelett sollten dünnere
aus der Grundgliedkortikalis proximal der Osteotomiestelle heraus- Bohrer verwendet werden (1,5 und 2,0 mm). Alternativ kann als Im-
treten (retrograd in das Grundglied gebohrt). Nach Umsetzen der plantat auch eine Herbert-Schraube verwendet werden; deren Länge
Bohrmaschine und Einstellen der Resektionsflächen aufeinander wird am besten mit einem Kirschner-Draht ermittelt. Die postopera-
werden die Drähte nacheinander in das Mittelglied vorgebohrt, bis tive Nachbehandlung entspricht derjenigen der Plattenosteosynthese.
die Gegenkortikalis im Mittelglied sicher gefasstist. Der Cerclage-
Draht wird in einer Achtertour um die Kirschnerdrähte gelegt und
mit 2 Zangen beidseits oder auch alternativ nur mit einem Draht 23.2.26 Technik der operativen Versorgung der aku-
auf einer Seite zugezwirbelt, bis die Kompression ausreichend groß ten Verletzung des Kollateralbandapparates
erscheint. Die Kirschner-Drähte werden proximal umgebogen und am distalen Interphalangeal-(DIP-)Gelenk
anschließend gekürzt und nach palmar umgebogen, sodass sie der Finger
parallel zur dorsalen Kortikalis zu liegen kommen und den Streck-
apparat nicht perforieren. Feinadaptation der distal gestielten oder Bei frischen Verletzungen des Kollateralbandapparates am Endge-
auch längs gespaltenen Tractus intermedius mit 4/0 monofilem lenk der Finger und des Daumens und bestehender Instabilität ist
Faden, Eröffnung der Blutleere und Blutstillung, Einlegen der eine Bandnaht und Immobilisation durch angepasste äußere Schie-
Redon-Drainage und Hautverschluss. Nach Rekonstruktion des ne für das Endgelenk (Stack-Schiene) oder Fixation des Endgelenks
Strecksehnenapparates und stabiler Zuggurtungsarthrodese ist nur mit einer temporären Kirschner-Draht-Arthrodese angezeigt.
wenige Tage (bis 14 Tage) eine Ruhigstellung erforderlich. Danach
kann die Mobilisierung der Finger erfolgen (⊡ Abb. 23.37).
23.2.27 Technik der Arthrodese im distalen
Interphalangeal-(DIP-)Gelenk der Finger und
23.2.25 Technik der Arthrodese im proximalen Interphalangeal-(IP-)Gelenk des Daumens
Interphalangeal-(PIP-)Gelenk mithilfe mit Zuggurtungsosteosynthese
einer Zugschraubenosteosynthese nach
Seegmüller Der operative Zugang und die Vorbereitung der Resektionsflächen
entsprechen dem in Abschn. 23.2.9 beschriebenen Vorgehen. Als
Eine Arthrodese unter Verwendung einer Zugschraubenosteosyn- alternative Operationsmethoden werden in der Literatur Techni-
these wird vielfach empfohlen, stellt sich in der praktischen Durch- ken mit 2 um 90° versetzten Cerclagen, die Zuggurtungsosteosyn-
führung jedoch als technisch verhältnismäßig anspruchsvoll dar. these, die einfache Kirschner-Draht-Osteosynthese – gekreuzt oder
Der operative Zugang und die Vorbereitung der Resektionsflä- parallel – und die Schraubenosteosynthese mithilfe der Herbert-
chen entsprechen dem in Abschn. 23.2.21 beschriebenen Vorgehen. Schraube angegeben.
Bei der Zugschraubenosteosynthese wird nach Gelenkflächenresek-
tion und Einrichtung zunächst ca. 10 mm proximal der Grundglie- > Obwohl die Cerclagen einen guten Kompressionseffekt
23 dosteotomie ein Kirschner-Draht zur Führung eingebracht und dann erbringen, muss zur Einbringung der sagittalen Cerclage
mit einem kanülierten 2,0-mm-Bohrer der Kanal im Grund- und eine große Weichteilpräparation durchgeführt werden. Die
Mittelgelenk gebohrt. Der Kanal im Grundglied wird anschließend übungsstabile Zuggurtungsosteosynthese führt nicht selten
mit einem 2,5-mm-Bohrer weiter aufgebohrt. Nach vorsichtiger Kei- zu Beeinträchtigungen im Strecksehnenbereich.
23.2 · Spezielle Techniken
575 23
APL
Lig. trapezio-capitale
FCR
⊡ Abb. 23.38 Kapsel-Band-Apparat des Daumensattelgelenks
Postoperative Behandlung
Die postoperative Ruhigstellung in einer Unterarmschiene mit
Daumeneinschluss braucht bei stabiler Plattenosteosynthese nur
für 5–10 Tage zu erfolgen, bei Implantation eines kortikospongiö-
sen Spans hingegen 3 Wochen. Das Daumenendgelenk bleibt frei
und aktiv beweglich. Die vollständige knöcherne Durchbauung
kann mehrere Wochen dauern (Abb. 22.39). Bei Durchbauung kann
23 d eine Materialentfernung nach 12 Monaten durchgeführt werden.
Als alternatives Osteosyntheseverfahren kann die Zuggurtungsos-
⊡ Abb. 23.40 Operative Schritte bei der Arthrodese des Daumensattelge- teosynthese mit 2 parallelen Kirschner-Drähten und einer Cerclage
lenks und postoperative Röntgenaufnahme in Achtertour und 4-wöchiger Ruhigstellung durchgeführt werden.
23.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
577 23
23.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen fehlgeschlagener Knochenbruchheilung die Funktion der Hand zu
verbessern.
An Komplikationsmöglichkeiten sind bei Arthrodesen im Finger- Weitere Gefahren bestehen bei
bereich die üblichen postoperativen Komplikationen nach Kno- ▬ Immobilisationsschäden durch fehlerhafte und zu lange Ru-
chen- und Gelenkeingriffen zu beobachten. higstellung in einem Schienenverband,
Früh postoperativ können Durchblutungsstörungen der Finger, ▬ Zerbrechen von kleinen Fragmenten durch überdimensionier-
insbesondere nach Korrektur starker Flexionskontrakturen, eine te Drähte oder Schrauben,
vitale Bedrohung des Fingers mit Notwendigkeit einer operativen ▬ Hitzenekrosen an Weichteilen und Knochen mit nachfolgen-
Revision bedeuten und langfristig zu anhaltender Kälteintoleranz den Osteolysen, frühzeitige Lockerungen und septische Kom-
und Schmerzen führen. Infekte der Haut, Weichteile und Knochen, plikationen durch zu hochtouriges Bohren bei der Bohrdrah-
insbesondere bei transkutan eingebrachten Kirschner-Drähten tosteosynthese,
oder vermehrt bei Arthrodesen nach infektbedingter Gelenkzer- ▬ fehlende Verankerung einer Bohrdrahtfixation in der Gegenk-
störung gehören zu den am häufigsten auftretenden Komplikatio- ortikalis und Kreuzen der Bohrdrähte,
nen, ebenso die mangelnde Kompression der Arthrodeseflächen. ▬ Instabilität und vorzeitige Lockerung durch zu kurze Schrau-
Die Pseudarthrosenrate wird in der Literatur je nach ange- ben,
wandter Methode auf 0–30% beziffert und ist zumeist auf inad- ▬ Chronische Instabilität der Fingergelenke nach Luxation, die
äquate Osteosynthesetechnik, nicht ausreichende Größe oder Vita- einer sekundären operativen Rekonstruktion bedürfen.
lität der knöchernen Kontaktfläche oder falsche Nachbehandlung
zurückzuführen. Für die Hand ist jedoch anders als bei Pseudarth- An Komplikationsmöglichkeiten sind bei Arthrodesen im Finger-
rosen an anderen Lokalisationen immer zu berücksichtigen, dass bereich die üblichen postoperativen Komplikationen nach Kno-
eine schmerzfreie Pseudarthrose besser ist als eine Arthrodese, chen- und Gelenkeingriffen zu beobachten.
sodass die Indikation zu einer Rearthrodese anhand klinischer Früh postoperativ können Durchblutungsstörungen der Finger,
Gesichtspunkte und nicht anhand von Röntgenbefunden gestellt insbesondere nach Korrektur starker Flexionskontrakturen, eine
werden soll. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich mit einer Re- vitale Bedrohung des Fingers mit Notwendigkeit einer operativen
arthrodese die Rate sämtlicher hier aufgeführter Komplikationen Revision bedeuten und langfristig zu anhaltender Kälteintoleranz
weiter erhöht. und Schmerzen führen. Infekte der Haut, Weichteile und Knochen,
insbesondere bei transkutan eingebrachten Kirschner-Drähten oder
vermehrt bei Arthrodesen nach infektbedingter Gelenkzerstörung
23.3.1 Daumen gehören zu den am häufigsten auftretenden Komplikationen.
Insbesondere bei Perforation von Strecksehnen durch Bohr-
Mögliche Komplikationen sind drähte oder Verwendung von auftragenden Kompressionsplatten
▬ Verletzung des Hauptastes des N. radialis am Daumen, werden Strecksehnenadhäsionen beobachtet, die eine intensive phy-
▬ Überstreckung des Daumens im Grundgelenk bei Fixation siotherapeutische Nachbehandlung oder auch sekundäre Tenolysen
der Lengemann-Draht-Naht und durch starken Zug, sodass es notwendig machen. Hierdurch kann es zu bleibenden Bewegungs-
zu einer Überstreckung im Daumengrundgelenk kommt, vor einschränkungen der benachbarten, nicht versteiften Gelenke kom-
allem bei laxen Gelenkverhältnissen, men, was die Gesamtfunktion der Hand erheblich beeinträchtigen
▬ Nekrose der Haut unter der Bleiplombe aufgrund starken Zu- kann. Iatrogene Verletzungen des Mittelzügels durch eine Querin-
ges am Drahtseil und Druck der Bleiplombe an der Haut, zision bei Durchführung einer DIP-Arthrodese können eine nur
▬ zu lange Ruhigstellung des Daumens in einem Gipsverband schwer zu behebende Schwanenhalsdeformität nach sich ziehen.
führt zu Bewegungseinschränkungen im Bereich des Daumen- Die häufigsten technischen Fehler sind Achsenfehlstellungen,
grundgelenks und bedarf schließlich längerer krankengymnas- Rotationsfehler, die Nichtbeachtung der funktionell empfehlens-
tischer Bewegungsübungen. werten fingerspezifischen Arthrodesewinkel, nicht kongruente Re-
sektionsflächen und knöcherne Diastasen sowie eine ungenügende
Die Bohrdrahtosteosynthese gewährleistet nicht immer die biome- Gelenkflächenresektion im nichtspongiösen Knochen mit verzö-
chanische Stabilität, die für eine frühzeitige Mobilisation nötig ist. gerter oder ausbleibender Konsolidierung.
Die gelenknah eingebrachten Drähte stören das kapsuloligamen- Hinzu kommen aus der allgemeinen operativen Frakturbe-
täre Gleiten und können zur Lockerung und Dislokation oder Be- handlung bekannte Fehler in der technischen Anwendung von
wegungseinschränkung führen. Verletzungen der Gefäß-Nerven- Osteosynthesematerialien, insbesondere von Drähten und Kom-
Bündel mit den daraus resultierenden Durchblutungsstörungen pressionsplatten mit folglich früher Auslockerung und Pseudarth-
und Sensibilitätsminderungen treten bei Fehllage der Drähte auf. rosenbildung.
Septische Komplikationen und Pseudarthrosen kommen ebenfalls Eine durch eine schonende Präparation (evtl. unter Lupenbril-
vor. Auf die Gefahr von Hitzenekrosen wurde bereits hingewiesen. lenbedingungen) vermeidbare Gefahr ist insbesondere im MC-I-
Der Zugangsweg bei der offenen Reposition muss sehr sorgfältig Bereich die Verletzung von Fingernerven.
gewählt werden, um eine zusätzliche Devaskularisation des Haut- Eine nicht zu unterschätzende Gefahr besteht darin, zu viele
mantels und eine exzessive Deperiostierung zu verhindern. Die Arthrodesen an einer Hand durchführen zu wollen. Die oben
Desinsertion von kapsuloligamentären Strukturen muss auf ein genannten Indikationen und Darstellungen der unter Funktions-
Minimum reduziert werden, um die ossären Fragmente vor Nek- gesichtspunkten optimalen Arthrodesewinkel sind für die Planung
rosen zu schützen. Pin-Infektionen, chronische Infektionen, Pseu- eines einzelnen oder weniger zu versteifender Gelenke gedacht. Bis
darthrosen und Fehlstellungen sowie Bewegungseinschränkungen auf funktionell kaum störende multiple DIP-Arthrodesen verlieren
sind die Folgen. Arthrolysen, Tenolysen, Derotationsosteotomien, diese Empfehlungen bei multiplen geschädigten Fingergelenken
Reosteosynthesen, Spongiosaplastik und Knochenspanimplantati- ihre relative Bedeutung. Bei gleichzeitiger Versteifung von Ge-
onen sowie Arthrodesen stellen operative Möglichkeiten dar, bei lenken des Daumens und von Fingern ergibt sich beispielsweise
578 Kapitel 23 · Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen)
eine sich potenzierende Funktionsminderung, sodass bei solchen Bartelmann U, Kotas J, Landsleitner B (1997) Ursachen von Nachoperationen
Patienten von vornherein ein gedankliches Durchspielen der re- nach Osteosynthesen von Finger- und Mittelhandfrakturen. Handchir
sultierenden Handgesamtfunktion erforderlich ist. Die Indikation Mikrochir Plast Chir 29: 204–208
ist in solchen Fällen umso strenger zu stellen und eine sinnvolle Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten.
Kombination mit arthroplastischen Methoden zu suchen. Springer, Heidelberg
Boscheinen-Morrin J, Davey V, Conolly WB (1988) Physikalische Therapie der
Hand. Hippokrates, Stuttgart
Brauer H, Diecking KD, Wabec (1997) Die Anwendung der Herbert-Schraube
23.3.2 Finger
zur Osteosynthese der frischen Skaphoidfraktur. Unfallchirurgie 10:
776–781
Mögliche Komplikationen sind Broome A, Cedell C, Collen S (1964) High plaster immobilization for fracture
▬ Verletzung des Hauptastes des N. radialis am Zeigefinger und of the carpal scaphoid bone. Acta Chirurg. Scand 128: 42–45
Hauptast des N. ulnaris am 4. und 5. Finger Buck-Gramcko D (1985) Karpale Instabilität. Handchirurgie 17: 188–193
▬ Nekrose der Haut unter der Bleiplombe aufgrund starken Zu- Buck-Gramcko D, Hoffmann R, Neumann R (1989) Der Handchirurgische
ges am Drahtseil und Druck der Bleiplombe an der Haut, Notfall. 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart
▬ Zu lange Ruhigstellung der Finger in einem Gipsverband, die Büchler U (1987) Minicondylenplättchen. Handchir Mikrochir Plast Chir 19:
136–144
zu Bewegungseinschränkungen im Bereich der Fingergrund-
Büchler U, Fischer T (1987) Use of minicondylar plate for metacarpal and
und Mittelgelenke führt, sodass es schließlich längerer kran-
phalangeal periarticular injuries. Clin Orthop 214: 53–58
kengymnastischer Bewegungsübungen bedarf, Bunnel S (1956) Surgery of the hand. Lippincott, Philadelphia London
▬ Zerbrechen von kleinen Fragmenten durch überdimensionier- DaCruz DJ, Slade RJ, Malone W (1988) Fractures of the distal phalanges. J
te Drähte, Hand Surg 13 B:350–352
▬ Hitzenekrose bei Einbringen von Drähten. Das Gupta KR, Hornung W, Bach C, Germann G (1996) Funktionelle Ergeb-
nisse nach operativer Versorgung von Verletzungen der Fibrocartilago
Die häufigste Komplikation besteht in der Schädigung des ulnaren palmaris. Handchir Mikrochir Plast Chir 28: 249–253
dorsalen Hautnervs, meistens durch Hackendruck oder Missach- Davi S (1968) Humphack wrist. Panminerva Med 10: 171–175
tung der handchirurgischen Prinzipien. Dioda A, Hunter K (1990) Woodcarving and ceramics as therapeutic activities.
In: Hunter JM, Schneider LH, Mackin EJ, Callahan AD (Hrsg) Rehabilita-
Der häufigste Fehler bei der Diagnostik derartiger Bandläsio-
tion of the hand: Surgery and therapy. Mosby, St. Louis, S 1165–1174
nen liegt in der inadäquaten Stabilitätsprüfung. Meistens wird nur
Dobyns J, Linscheid R (1975) Traumatic instability of the wrist. Instruct
eine Ebene geprüft und (röntgenologisch) dokumentiert. Für eine Course Lect 24: 182–199
exakte Festlegung des Schadensausmaßes ist es wichtig, die multi- Dray L, Eaton RG (1988) Dislocation and ligament injuries in the digits. In:
direktionale manuelle Prüfung vorzunehmen. Green DP (Hrsg) Operative hand surgery. Vol 1. Churchill Livingstone,
Besteht die Indikation zur operativen Versorgung, muss inner- Edinburgh, S 778–811
halb von 10 bis maximal 15 Tagen eine Versorgung durchgeführt Durham JW, Khuri S, Kim MH (1993) Acute and late radial collateral ligament
werden, da sonst durch die intrinsische Bandretraktion eine derar- injuries of the thumb metacarpophalangeal joint. J. Hand Surg. 18 A:
tige Verkürzung der Bandstümpfe eintritt, dass eine direkte Rekon- 232–237
struktion in allen Ebenen oft nicht mehr möglich ist. Ender HG, Hintringer W (1986) Die perkutane Versorgung von knöchernen
Ausrissen der Strecksehne und Seitenbändern an den Fingern mit dem
Bewegungseinschränkung durch enge Bandnaht in Beugestel-
Hakendraht. Unfallchirurgie 12: 143–147
lung des Grundgelenks und zu lange Ruhigstellung sind ebenso
Englert HM (1976) Hamulus ossis hamate Pseudarthrose als Ursache anhal-
möglich. Fehlende Krankengymnastik führt bald nach der Ruhig- tender Schmerzen im Hypothenar. Handchirurgie 8: 39–40
stellung zur Funktionseinschränkung. Epping W (1982) Diskussion zu Pseudarthrosen des Scaphoids. In: Nigst H
Die Beugekontraktur des Mittelgelenks entsteht als Folge einer (Hrsg) Frakturen, Luxationen und Dissoziationen der karpalen Knochen.
unzureichenden Streckstellung oder nach Operation bei unzurei- Hippokrates, Stuttgart (Bibliothek für Handchirurgie)
chender Kontrolle und Nachsorge. Fink D, Gasperschitz C (1978) Verrenkungen und Verrenkungsbrüche der Car-
Die Fixationsdauer sollte 1–3 Wochen nicht überschreiten. Bei pometacarpalgelenke II–V. Unfallheilkunde (Tagung in Salzburg) 1978
bestehenden Schmerzen ist jedoch eine kurzfristige Ruhigstellung Forster RJ, Hasting II H (1987) Treatment of Bennett, Rolando and vertical
auf einer Schiene in Streckstellung des Mittelgelenks zu empfehlen. intraarticular trapezial fractures. Clin Orthop 214: 121–129
Friedel R, Dorow C, Schmidt I, Fährmann M (1996) Prinzipien der Osteosyn-
Eine bleibende Restverdickung am Mittelendgelenk ist häufig zu
thesen an der Hand. Zentralbl Chir 120: 934–939
beobachten, wobei Fingerkompressionshandschuhe oder -finger-
Gabl M, Lutz M, Pechlaner S, Fink C (1996) Perilunäre Luxation und Luxati-
linge gute Dienste leisten. Über die mögliche Verdickung der Mit- onsfraktur – Ergebnisse nach operativer Versorgung. Unfallchirurgie 99:
telgelenke sollten die Patienten von vornherein mit und ohne OP 650–655
aufgeklärt werden. Gedda KP, Moberg E (1953) Open reduction and osteosynthesis of so-called
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24
24.1 Allgemeines ist deshalb aus rekonstruktiver Sicht eine sog. »Niederresistenzzo-
ne« ( Kap. 35).
24.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Die Haut im dorsalen Fingerbereich ist Felderhaut. Sie ist
Physiologie vor allem auf Elastizität ausgelegt. Einschränkungen der dorsalen
Elastizität führen schnell zu Bewegungseinschränkungen im PIP-
Mit Ausnahme des Daumens besitzt jeder Finger drei Glieder, die Gelenk-Bereich. Die Haut im palmaren Fingerbereich ist Leisten-
Grund- (P1), Mittel- (P2) und Endphalanx (P3) (⊡ Abb. 24.1). Am haut. Sie ist vor allem auf mechanische Belastbarkeit (P1, P2 und
Daumen fehlt die Mittelphalanx, die Endphalanx (P3) ist dafür die proximale Hälfte von P3) und Tastsinn (distale Hälfte von P3)
etwas länger und stärker. ausgelegt.
Die besondere funktionelle Situation ist durch folgende anato- Das Fingerskelett wird von einem handschuhförmig anliegen-
mische Charakteristika gekennzeichnet: den Sehnensystem umhüllt, dessen Gleitfunktion bei jeder opera-
1. fehlende Muskulatur, tiven Freilegung in Mitleidenschaft gezogen wird. Bereits kleine
2. spezielle Hautsituation dorsal und palmar, anatomische Veränderungen können zu bedeutenden Funktions-
3. enge topografische Beziehungen von Knochen, Sehnen, Ner- störungen führen (⊡ Abb. 24.2).
ven und Gefäßen, Finger können aus biomechanischer Sicht als ein osteotendoli-
4. spezielle osteofibrotendinöse Architektur. gamentäres System betrachtet werden. Das 2- bzw. 3-gliedrige Ske-
lettsystem wird durch ligamentäre Verstärkungen im Kapsel-Band-
Im gesamten Fingerbereich fehlen Muskelbäuche. Sehnen und Apparat der Fingergelenke passiv zusammengehalten. Durch die
Knochen liegen direkt unter der Haut. Der gesamte Fingerbereich verschiedenen dorsalen und palmaren Ansätze der extrinsischen
24 ⊡ Abb. 24.1 Lagebeziehung der Fingerglieder und -gelenke. a Ansicht von palmar, b Ansicht von dorsal, c Ansicht von lateral. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
24.1 · Allgemeines
583 24
und intrinsischen Muskeln wird das passive System bewegt. Un- stellungen bei Störungen des Systems verglichen mit dem Finger-
ter physiologischen Bedingungen steht das osteotendoligamentäre bereich ( Kap. 23).
System im Gleichgewicht, wobei die Flexoren leicht überwiegen. Störungen des osteotendoligamentären Systems aufgrund von
Die ganze Fingerkette steht unter Druckbelastung. Die Tatsache, Frakturen führen dazu, dass bei verschiedenen Frakturhöhen das
dass der Daumen nur 2 Skelettelemente besitzt, macht die Funk- physiologische Gleichgewicht unterschiedlich gestört wird und dass
tionskette stabiler, d. h. weniger anfällig für nachgeschaltete Fehl- daraus ganz spezifische Fehlstellungen resultieren (⊡ Abb. 24.3).
Dieses physiologische Phänomen sollte man sich bei der Frak- 24.1.3 Ätiologie
turbehandlung zu Nutze machen. Gelingt die Reposition und
kann eine ausreichende Retention bei geeigneten Bruchformen Knochendefekte können angeborenen oder erworben sein. Bei den
(Querfraktur) erreicht werden, können die Frakturen aufgrund der erworbenen Knochenverletzungen und -defekten unterscheidet
physiologischen Druckbelastung durch die dorsalen und palmaren man hinsichtlich der Ätiologie nach Trauma, Infekt oder Tumor.
Stabilisatoren geschützt bewegt werden. Fingerfrakturen entstehen meist durch direkte Gewalteinwirkung
und gehen fast immer mit einer Weichteilschädigung einher. Die
Quetschung des Endglieds führt zu einer Hämatombildung, wel-
24.1.2 Epidemiologie che, bedingt durch die zahlreichen sensiblen Rezeptoren, sehr
schmerzhaft ist. Die Beachtung der Weichteilverhältnisse und die
Von allen Körperteilen sind die Finger am meisten Verletzungen Entlastung von Hämatomen sind bei diesem Frakturtyp besonders
und Schäden ausgesetzt. Frakturen im Handbereich sind häufige wichtig. So muss ein subunguales Hämatom immer trepaniert
Verletzungen. Etwa 60% aller Frakturen im Bereich der Hand werden. Die anatomisch exakte Rekonstruktion des Nagelbetts ist
entfallen auf die Phalangen, etwa 30% auf die Mittelhand und ebenso wichtig wie der Erhalt des Fingernagels. Bei einer Luxation
ca. 10% auf die Handwurzel, wobei die Skaphoidfraktur eine be- des Fingernagels sollte dieser refixiert werden. Ein nicht mehr vor-
sondere Rolle einnimmt. Auch heute gilt die Aussage von Bunnel handener Fingernagel sollte nach Möglichkeit durch einen Kunst-
unverändert, dass Fingerfrakturen derart häufig sind und die damit nagel ersetzt werden, der vor Infektion schützt und der Nagelneu-
verbundenen Folgekosten die Unfallversicherungsträger genauso bildung den Weg bahnt ( Kap. 4).
belasten, wie Frakturen der langen Röhrenknochen. Durch die be- Die adäquate chirurgische Primärtherapie ist die beste Prophy-
sonderen anatomischen Verhältnisse im Fingerkuppenbereich und laxe zur Vermeidung von Fehlstellungen und von Störungen der
24 die Häufigkeit der Verletzungen kommt diesen Frakturformen eine Knochenbruchheilung. Die Gefahr einer Ausheilung in Fehlstel-
besondere Stellung zu. lung ist insbesondere bei langen Schrägfrakturen, Trümmerbrü-
24.1 · Allgemeines
585 24
a b c
⊡ Abb. 24.4 Klinische Untersuchung von Achsenfehlstellungen im Fingerbereich. a Beim physiologischen Faustschluss zeigen die Achsen der Phalangen
auf das Os scaphoideum. b Bei einem proximalen Rotationsfehler ist der harmonische Faustschluss gestört. Die Folge ist eine ulnarseitige oder radialseitige
Achsabweichung. In der Funktionsdiagnostik divergieren oder konvergieren die Fingerstrahlen. Je distaler ein Rotationsfehler gelegen ist, desto weniger
beeinflusst er die Konvergenz oder Divergenz der Phalangen. c Die Verkippung der Fingernagelebene ist ein deutliches Zeichen für eine distale Rotationsfehl-
stellung. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
chen und bei traumatischem Substanzverlust gegeben. Eine ver- densein von palmaren Begleitverletzungen mit Zerstörung der
zögerte Knochenbruchheilung und die Ausbildung hypertropher Gefäß-Nerven-Bündel muss frühzeitig die Entscheidung getroffen
Pseudarthrosen werden im Bereich der Röhrenknochen der Hand werden, den Patienten in eine handchirurgische Spezialklinik zu
beobachtet. Atrophe Pseudarthrosen hingegen sind ungewöhnlich überweisen, die über einen Schwerpunkt verfügt und in der mikro-
und basieren meist auf Defektfrakturen. chirurgische Operationsverfahren beherrscht werden.
Die Röntgenaufnahmen werden möglichst im dorsopalma-
ren und exakt seitlichen Strahlengang für jeden Finger getrennt
24.1.4 Diagnostik angefertigt. Hier hat sich die Vergrößerungstechnik für Finger-
aufnahmen bewährt, um z. B. auch knöcherne Kapsel-Band-Ver-
Die Untersuchung beginnt mit der Inspektion der Hand, sodass letzungen nicht zu übersehen. Das Anfertigen einer 3. schrägen
der Untersucher einen Überblick über die Weichteilsituation, die Ebene ist nur ausnahmsweise notwendig. Rotationsfehler lassen
Sensibilität und Durchblutung bekommt. Grobe Fehlstellungen der sich im Röntgenbild nur schwer im vollen Ausmaß dokumentie-
Fingerachsen oder Luxationen werden selten übersehen. Typische ren. In den Standardröntgenaufnahmen ist ein Rotationsfehler nur
Bruchformen sind durch die enge Verbindung mit dem umgeben- durch die Verkippung der Abbildung in Richtung der seitlichen
den Kapsel-Band-Apparat sowie den Streck- und Beugesehnenan- Projektion dargestellt. Für die Diagnostik der Fehlstellungen in der
sätzen zu erklären (⊡ Abb. 24.3). Sagittalebene sowie bei Varus- und Valgusfehlstellungen bestehen
Ein besonderes Augenmerk verdienen die Rotationsfehlstel- weniger Schwierigkeiten. Meistens sind diese offensichtlich und
lungen der Finger, die nicht immer auf den ersten Blick erkennbar der Röntgendiagnostik gut zugänglich. Bei der konventionellen
sind. Rotationsfehler erkennt man daran, dass der Fingernagel Röntgenaufnahme liegt die Hand direkt auf der Filmkassette. Eine
nicht in einer Reihe mit den übrigen Nägeln liegt, sondern nach klinisch relevante geometrische Verzerrung tritt daher nicht auf.
der Seite hin verdreht abweicht. Achsabweichungen, wie auch Somit können sowohl die metrischen Werte als auch die ausge-
die Rotationsfehlstellungen, werden dann deutlich, wenn man die messenen Winkelgrade für die Therapieplanung einer sekundären
Fingerstellung bei Faustschluss überprüft. Hier über- oder unter- Korrekturosteotomie verwendet werden. Gelegentlich ist, zur ex-
kreuzen die verletzten Finger die Nachbarfinger und zeigen so die akten Einschätzung des Ausmaßes einer geringen Verletzung oder
Fehlstellung an (⊡ Abb. 24.4). einer Fraktur, eine hochauflösende computertomografische Unter-
Die subtile klinische Untersuchung der Finger zum Erkennen suchung in koronarer oder sagittaler Rekonstruktion erforderlich.
von Bandrupturen oder Sehnenverletzungen ist wegen der vorhan- Für die genauere Weichteildiagnostik kann auch eine Kernspinto-
denen Schmerzen nicht immer leicht durchzuführen, aber für die mografie wichtige Informationen liefern. Bei dieser Untersuchung
sich hieraus abzuleitende Behandlungsstrategie besonders wichtig. sollte auch eine Bandverletzung oder knöcherne Bandverletzung
Wenn primär nach dem Unfall kein eindeutiger Befund zu erhe- mit beurteilt werden.
ben ist, muss nach Rückgang der Weichteilschwellung erneut eine Für die intraoperative Diagnostik von Achsenfehlstellungen
klinische Kontrolle erfolgen. Hierbei ist gelegentlich der Vergleich stehen metallene, sterilisierbare Winkelmesser (Goniometer) oder
zur gesunden unverletzten Gegenseite hilfreich. Beim Vorhan- Zentimetermaße zur Verfügung.
586 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
24.1.5 Klassifikation
Frakturen
Eine einheitlich verwendete Klassifikation der Fingerfrakturen be-
steht nicht. In Anlehnung an die AO-Klassifikation (Petracic u.
Siebert 1998) werden anhand der Buchstaben und Zahlen die Frak-
turen und deren Lokalisation des jeweiligen Fingerstrahls beschrie-
ben. Dabei wird das Ausmaß der Weichteilverletzung nicht berück-
sichtigt. Ein wesentliches morphologisches Kriterium besteht bei
Dislokation, Instabilität und Gelenkbeteiligung (⊡ Abb. 24.5).
Im Endgliedbereich können folgende Frakturformen unter-
schieden werden:
1. Nagelkranzfrakturen,
2. Schaftfrakturen,
3. Basisfrakturen mit und ohne Gelenkbeteiligung und
4. Ausrissfrakturen der Beuge- und Strecksehnenansätze.
Knöcherne Fehlstellungen
Die häufigste Form einer knöchern fehlverheilten Fraktur im Fin-
a gerbereich ist die Verkürzungsstellung. Weitere Fehlstellungen sind
Achsenfehler in der Sagittalebene, Achsenfehler als Varus-Valgus-
Fehlstellungen und Rotationsfehler. Die Fehlstellungen können
einzeln oder (meist) kombiniert auftreten.
Frakturen im Endgliedbereich
Nagelkranzfrakturen
Geschlossene und wenig verschobene Frakturen werden konserva-
tiv mit einem Schienenverband für den Finger behandelt. Sobald
es die Weichteilverhältnisse zulassen, kann dann z. B. eine Stack-
Schiene für 2 Wochen getragen werden.
Bei offenen Verletzungen des Nagelkranzes mit multipler Frag-
mentierung erfolgt die Entfernung der losen avitalen Fragmente durch
die offene Weichteilverletzung, da schlecht durchblutete Fragmente
zur Sequestrierung neigen. Die offene Wunde kann nach Säuberung
und Débridement mit wenigen lockeren Nähten adaptiert werden.
Nach Abschluss der Wundheilung soll eine Desensibilisierungsbe-
handlung durchgeführt werden, um eine schnellere Kuppenabhär-
tung zu erreichen. Trotz regelrechter Behandlung verbleiben häufig
Beschwerden, die sich in Wetterempfindlichkeit, Schmerzhaftigkeit,
Nagelwachstumsstörungen und Sensibilitätsstörungen manifestieren.
Schaftfrakturen
Auch hier gilt, dass nicht verschobene Frakturen konservativ mit
einem Schienenverband für 3 Wochen behandelt werden. Die Indi-
kation für die Operation ergibt sich bei verschobenen oder geschlos-
sen nicht zu reponierenden Frakturen. In der Regel wird die Fraktur
durch die vorhandene Verletzungswunde hindurch reponiert und
mit 1 oder 2 Bohrdrähten der Stärke 1,0 mm stabilisiert. Wenn mög-
lich sollte dieser von distal dorsolateral eingebracht werden, um die
sensiblen Nervenfasern der Fingerpulpa zu schonen. Es empfiehlt
b sich das subkutane Versenken des Drahts, um so die Infektionsge-
fahr zu reduzieren. Bei reizloser Lage des Bohrdrahts sollte dieser
⊡ Abb. 24.5 AO-Klassifikation der Fingerfrakturen. (Aus Schmit-Neuerburg 4 Wochen belassen werden, unterstützt von einem Schienenverband.
24 et al. 2001) Eine temporäre DIP-Arthrodese soll vermieden werden.
24.1 · Allgemeines
587 24
erfolgt bei genügend großen Fragmenten die Zugschraubenosteo-
synthese mit 1,0- bis 1,5 mm selbstschneidenden Titanschrauben.
Dies erlaubt eine sichere Fixierung und eine funktionelle Nachbe-
handlung ohne zwingende Notwendigkeit der Metallentfernung
(⊡ Abb. 24.7).
a b
a c
Die gekreuzte Kirschner-Draht-Osteosynthese ist indiziert bei in- den kann. Auch im Bereich der Mittelhand (2,0 mm) und der
stabilen Schaftfrakturen und offenen Frakturen ( Abschn. 24.2.5). Phalangen(1,5 mm) können mehrere winkelstabile Schrauben ge-
Die interossäre Cerclage in Kombination mit einem queren Kirsch- lenknah eingebracht werden und somit sind aktive Übungsbe-
ner-Draht nach Robinson bzw. Lister ist indiziert bei Querfraktu- handlungen frühzeitig möglich. Auch bei Defektbildungen und
ren ( Abschn. 24.2.6) als Alternative zur Plattenosteosynthese. Bei nach Amputationen können die winkelstabilen Implantate dort, wo
langen Schräg- und Drehbrüchen eignet sich die Zugschraubenos- eine große Stabilität notwendig erscheint, gute Dienste leisten.
teosynthese zur minimal-invasiven Stabilisierung ( Abschn. 24.2.7). Weiterhin stehen Platten zur Korrektur der Drehfehler sowohl
Die Indikation zur Plattenosteosynthese ( Abschn. 24.2.8) ist grund- im Bereich der Mittelhand als auch im Bereich der Phalangen
sätzlich zurückhaltend zu stellen, erlebt aber bedingt durch neuere, in einer Dimension von 2,0 mm und 1,3 mm von verschiedenen
feinere Osteosynthesematerialien, vor allem aus Reintitan, eine Anbietern in Titan zur Verfügung. Bei den Defektfrakturen, vor
gewisse Renaissance. Inadäquat angebrachte Osteosynthesen an allem Kreissägenverletzungen und Amputationen, ist eine exakte
der Hand mit zwar gutem Röntgenbefund, aber zum Teil katast- Rotationsstellung des Fingers schwierig, sodass es hier oft zu einer
rophalen Verwachsungen der Sehnen und Bänder, haben in den Drehfehlstellung und Achsenknickung kommen kann. Die neuen
letzten Jahren einen ungerechtfertigt schlechten Ruf der Platte- Korrekturplatten leisten, abgesehen von Korrekturosteotomien im
nosteosynthese an der Hand hervorgerufen. Es können jedoch bei Bereich der Mittelhand und der Phalangen, auch bei Primärver-
peinlichst genauer Weichteilschonung und Rekonstruktion heute sorgung, vor allem der queren Frakturen, gute Dienste. Durch das
mit dem neuen Plattensystem kurzfristig sehr gute Erfolge, auch im quere Langloch in der Drehfehlerkorrekturplatte kann zunächst
Bereich der Phalangen und der Mittelhand, erzielt werden. die Platte grob in Mittelstellung fixiert und anschließend bei guter
Die Indikationen zur Plattenosteosynthese am Schaftbereich Stabilität die Feineinstellung der Fingerdrehung vorgenommen
sind vor allem Defekt- und Trümmerfrakturen sowie offene oder werden. Die Breite und Wölbung des Querloches ist so dimensi-
veraltete Frakturen mit verzögerter Heilung. Hier werden ebenso oniert, dass aus der Mittelstellung heraus zu jeder Seite etwa 18°
die Implantate von 1,3–1,5 mm Schraubendurchmesser eingesetzt. Drehung, also um insgesamt 36°, korrigiert werden kann. Diese
Einen großen Nutzen bringen die winkelstabilen Implantate Maßnahme kann selbstverständlich auch bei Korrekturosteoto-
im Bereich der Mittelhand und der Phalangen sicherlich bei Kno- mien von fehlverheilten Frakturen genutzt werden (⊡ Abb. 24.11).
chendefekten und Frakturen im gelenknahen Bereich, vor allem Dislozierte subkapitale Frakturen der Grund- und Mittelglie-
dort, wo Bänder entspringen oder ansetzen wie bei bikondylären der lassen sich bei ausreichender Fragmentgröße auch nach ge-
Frakturen. Hier kommen enorme Kräfte bei der zwingend not- schlossener exakter Reposition mit einer anterograd oder retrograd
wendigen Übungsstabilität auf, denen mit neuen Systemen und eingebrachten intramedullären Enddrahtschienung adaptierend
den 1,5 mm winkelstabilen Implantaten Rechnung getragen wer- stabilisieren, wobei bei Einsatz von 2 Drähten, die dann auf ei-
590 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
ner Seite nach Abkneifen des Drahtes subkutan gelagert werden, Über eine Stichinzision auf der Streckseite des Mittelglieds im
eine gute Stabilität herbeigeführt werden kann ( Abschn. 24.2.9). Bereich des sehnenfreien Dreiecks wird der Markraum mit einem
Bei offenen Trümmerfrakturen, die immer mit einer erheblichen 2-mm-Bohrer tangential aufgebohrt und die Fraktur mit einem
Weichteilschädigung einhergehen und bei denen sich deshalb eine umgebogenen Bohrdrahtende oder Raspatorium unter Bildwand-
Freilegung der Fraktur verbietet, ist der Fixateur externe ebenso lerkontrolle reponiert. Die Trochlea des angrenzenden Grund-
wie bei septischen Komplikationen eine gute Alternative ( Ab- glieds stellt dabei das Widerlager für die aufgestößelte Gelenkfläche
schn. 24.2.10). dar. Anschließend werden mehrere 0,6–0,8 mm starke Bohrdrähte
fächerförmig in 2 Ebenen eingebracht, um die Gelenkfläche zu
Basisfrakturen mit Gelenkbeteiligung retinieren ⊡ Abb. 24.13). Dieses Verfahren ist auch mit einer Spon-
Basisfrakturen mit Gelenkbeteiligung im proximalen Inter- giosaplastik zu kombinieren. Die anschließende Ruhigstellung in
phalangeal-(PIP-)Gelenk Intrinsic-plus-Stellung sollte 3–4 Wochen betragen, die Metallent-
Zwei anatomischen Gegebenheiten ist hier Rechnung zu tragen. fernung nach 5–6 Wochen erfolgen.
Zum einen kommt es bei dorsalen Verrenkungsbrüchen des Mittel- Als Alternative kann nach der Reposition eine Remodellierung
gelenks zur Absprengung eines palmaren Fragments, zum anderen der Gelenkfläche durch die Extensionsbehandlung mit Fixateur
kann der Tractus intermedius knöchern ausreißen. externe nach Suzuki oder die Verwendung eines kleinen Finger-
Kleine knöcherne Ausrisse der palmaren Platte ohne wesentli- bewegungsfixateurs erreicht werden. Das Anbringen des Fixateurs
che Beteiligung der Gelenkfläche können nach einwöchiger Ruhig- ist einfach, erfordert jedoch eine exakte Lage der eingebrachten
stellung frühzeitig funktionell behandelt werden. Bei schmerzhaf- Drähte am Köpfchen des Grundglieds und des Mittelglieds, wobei
ter Streckstellung ist gelegentlich die Indikation zur Resektion des
nicht gelenktragenden palmaren Fragments gegeben.
Bei genügender Größe der Fragmente und ohne Impression
der Gelenkfläche erfolgt nach geschlossener Reposition durch ma-
ximale Beugung des Mittelgelenks die streckseitige Bohrdrahtfixa-
tion. Zusätzlich wird das Gelenk für 3 Wochen temporär transfi-
xiert ( Abschn. 24.2.11).
Gelingt die geschlossene Reposition nicht oder liegt bei Ver-
renkungsbrüchen die Impression der Gelenkfläche vor, so ist die
offene Reposition angezeigt. Nach einem palmaren Zugang mit
Bruner-Inzision wird das Gelenk seitlich eröffnet. Bei Bedarf kann
der Defekt mit Spongiosa aufgefüllt werden. Die Fraktur wird
reponiert, und die Stabilisierung der Fragmente erfolgt mit Bohr-
drähten oder einer Schraube (⊡ Abb. 24.12; Abschn. 23.2.16). Die
Schraube oder die Drähte dürfen die Beugesehnen nicht tangieren.
Je nach Stabilität des Verfahrens erfolgt eine 3-wöchige Ruhigstel-
lung in Intrinsic-plus-Position mit nachfolgender funktioneller
Weiterbehandlung.
Da die offene Reposition oft mit erheblichen Schwierigkei-
ten verbunden ist und die funktionellen Resultate nach längerer
Ruhigstellung nicht befriedigen, soll hier noch einmal auf eine b
indirekte Reposition mit perkutaner Ausstopfung verwiesen wer-
den, die auch mit einer dynamischen Traktion zu kombinieren ist.
Klinische Studien zeigen, dass weniger die gesamte Rekonstruktion
a
der Gelenkfläche als vielmehr die Beseitigung der Subluxationsstel-
lung für den Behandlungserfolg entscheidend ist. ⊡ Abb. 24.13 Reposition der Gelenkfläche der Mittelphalanxbasis mit einem
Bei der Methode nach Hintringer u. Ender (1986) wird die umgebogenen Kirschner-Draht-Ende. a Reposition mit dem »Joystick«-Manö-
imprimierte Gelenkfläche perkutan vom Markraum her reponiert. ver, b Stabilisierung mit perkutan eingebrachten Kirschner-Drähten
Eine stabile Osteosynthese ist auch hier immer die Vorausset- 24.1.7 Therapie
zung für die Versorgung der übrigen Strukturen. Die Osteosyn-
these muss ausreichend stabil, sicher und schnell durchführbar Frakturen
sein. Weitere Weichteilschädigungen müssen vermieden werden. Frakturen der Phalangen stellen zahlenmäßig den größten Anteil
Bohrdrähte und Fixateur externe sind zweifellos die meist ge- der Frakturen des menschlichen Skeletts dar. Da diese Verletzun-
gen weder spektakulär noch lebensbedrohlich sind, erhalten sie
trotz ihrer Häufigkeit und ihrer z. T. schwerwiegenden funktionel-
len Auswirkung auf die Handfunktion nicht immer die ihnen ge-
bührende Aufmerksamkeit. Die korrekte konservative Behandlung
stellt eine ebenso große Kunst dar wie die korrekt durchgeführte
Osteosynthese.
Sowohl für die konservative als auch für die operative Therapie
der Frakturen gilt folgende Grundregel:
> »Re«-position, »Re«-tention und »Re«-habilitation.
Konservative Therapie
Der überwiegende Anteil an Frakturen im Fingerbereich wird
konservativ behandelt. Nur bei einem geringen Anteil der Phalan-
genfrakturen besteht eine sichere Indikation zur Operation. Für
die konservative Therapie sind geschlossene, gering verschobene
und stabile Frakturen ohne Gelenkbeteiligung geeignet. In Lei-
tungsanästhesie wird die Fraktur durch Längszug reponiert, wobei
die Fingerspitze des Chirurgen als Hypomochlion benutzt wird.
Das distale Fragment wird bei einem dorsal offenen Winkel durch
einen palmaren Druck reponiert. Die Retention erfolgt bei stabilen
Frakturen auf einer palmaren Fingergipsschiene in Intrinsic-plus-
a b Position ( Kap. 2).
Nach primärer Schienenruhigstellung am Unfalltag werden zu
⊡ Abb. 24.14 Grundphalanxbasisfraktur mit Gelenkbeteiligung. a Präopera- einem späteren Zeitpunkt bevorzugt thermoplastische Materialien
tiver Zustand, b postoperativer Aspekt nach Osteosynthese mit 2 Schrauben. oder Kunststoffschienen verwendet, welche sich an die individuelle
(Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Anatomie besser anpassen und einen erheblichen Tragekomfort
592 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
bieten. Durch klinische und radiologische Kontrollen sollte eine Die Finger sind fast frei von einem das Skelett umschließenden
sekundäre Dislokation der Fraktur nicht übersehen werden. Sollte Muskelmantel. Eine dehnungsfähige subkutane Hautschicht fehlt.
es jedoch im weiteren Verlauf zu einer sekundären Dislokation Das Fingerskelett wird von einem handschuhförmig anliegenden
kommen, besteht innerhalb der ersten 10 Tage die Möglichkeit, Sehnensystem umhüllt, dessen Gleitfunktion bei jeder operativen
die Fraktur erneut zu reponieren und zu retinieren oder das The- Freilegung in Mitleidenschaft gezogen wird.
rapiekonzept zu ändern und sich für ein operatives Verfahren zu Die Kleinheit der Fragmente und der Knochen stellt höchste
entscheiden. Ansprüche an die Operationstechnik und das Osteosynthesemate-
Grundsätzlich bedeutet die konservative Behandlung nicht im- rial. Die biomechanisch orientierte Osteosynthese zielt somit nicht
mer eine reine statische Gipsruhigstellung, sondern sie ist bei sta- wie an den großen Röhrenknochen auf die Entlastung des Skeletts
bilen Frakturen mit frühfunktionellen Bewegungsübungen kombi- ab, sondern strebt eine möglichst physiologische Beanspruchung
nierbar. So können z. B. die Fingergelenke aus der Schiene heraus des Knochens an.
unter krankengymnastischer Anleitung geführt mobilisiert werden. Anstelle der postoperativen Ruhigstellung tritt die unmittelbare
Eine weitere Alternative ist die Mitnehmerschlaufe oder Solidari- Wiederaufnahme der Funktion. Die stabile Osteosynthese stellt
tätsschiene. Hierbei wird der frakturierte Finger am Nachbarfinger dem möglicherweise großen Operationstrauma den Vorteil der
mit einer Klettschlaufe befestigt. Diese temporäre Syndaktyliestel- frühzeitigen funktionellen Wiederherstellung der schmerzfreien
lung wirkt wie eine dynamische Orthese. 3 Wochen reichen aus, bis Funktion gegenüber und darf mit Nachteilen der konservativen
es im Frakturbereich zu einer Konsolidierung gekommen ist. Nach Therapie nicht behaftet werden.
3 weiteren Wochen ist bei Handarbeitern die volle Belastungsfähig- Bei korrekter Indikationsstellung und einwandfreier Technik
keit erreicht (⊡ Abb. 24.15). ist die übungsstabile Osteosynthese den konservativen Behand-
Bei stabilen Frakturen sollte eine frühzeitige Mobilisation unter lungsverfahren überlegen. Sie ist Voraussetzung für den Therapie-
krankengymnastischer Anleitung erfolgen, um der Ödembildung erfolg bei Vorliegen von Begleitverletzungen wie Schädigung des
und Gelenkeinsteifungen entgegenzuwirken. In der Regel reichen Hautweichteilmantels, der Sehnen, der Gefäße und Nerven. Die
3 Wochen aus, bis stabile Frakturen konsolidieren und danach die Voraussetzungen für die erfolgreiche Osteosynthese an der Hand
Ruhigstellung aufgegeben werden kann. Die strikte Immobilisation sind
ist verantwortlich für den größten Teil der Einsteifungen. Die akti- ▬ die Beherrschung der funktionellen Anatomie ( Abschn. 24.1.1),
ve globale Funktion wird zu 80% wiedererlangt, wenn die Immobi- ▬ die einwandfreie Kenntnis und Handhabung des Instrumenta-
lisation weniger als 4 Wochen beträgt. riums,
▬ Möglichkeit der intraoperativen Bildwandlerkontrolle mit der
Operative Therapie Funktion einer Bildvergrößerung,
Ziel der Osteosynthese ist die Wiederherstellung der exakten ana- ▬ die atraumatische Behandlung der Weichteile.
tomischen Form durch präzise Reposition der Fragmente. Sie ist
die biomechanische Voraussetzung für die Wiederherstellung der Handchirurgische Grundprinzipien, wie das Operieren in Blutlee-
Funktion. Bei der Übertragung der Grundregeln für die Anwen- re und die Verwendung der Lupenbrille sollten dabei unbedingt
dung von Osteosyntheseverfahren auf das Handskelett sind folgen- beachtet werden. Bei der Auswahl des operativen Zugangs muss
de Besonderheiten zu berücksichtigen. bei möglichst optimaler Sicht ein möglichst minimaler zusätzli-
cher (iatrogener) Weichteilschaden gesetzt werden. Für die meis-
ten elektiven operativen Zugänge wird ein dorsaler oder lateraler
Zugang gewählt. Bei bereits bestehendem Hautdefekt sollte diese
Inzision möglichst über Hilfsschnitte zur Erweiterung bestehender
Wunden geschaffen werden ( Kap. 4).
Abhängig von der Komplexität des Verletzungsmusters ist ein
Osteosyntheseverfahren zu wählen, das eine zusätzliche Freile-
gung und Devitalisierung des Knochens vermeidet. Hier kommt
dann z. B. eine perkutane Bohrdrahtosteosynthese oder die An-
lage eines Fixateur externe in Betracht. Wann immer möglich
muss sich der Osteosynthese eine frühfunktionelle Nachbehand-
lung anschließen, um der Gefahr von Verwachsungen vor allem
der Strecksehne mit nachfolgender Blockierung der Gleitfähigkeit
entgegenzuwirken.
Um eine freie Funktion nach einer Handverletzung zu erzielen,
ist die enge Zusammenarbeit im Team zwischen Handtherapeut,
Patient und Handchirurg wichtig. Ein verantwortungsvoller Ope-
rateur, der den intraoperativen Befund am besten kennt, muss auch
die Kontrolle der Nachbehandlung übernehmen, um in enger Ab-
stimmung mit dem Therapeuten ein individuelles Therapiekonzept
vorzuschlagen.
Auf die korrekte postoperative Verbandanordnung wurde
bereits hingewiesen. Wenn immer möglich, sollte der Verband
in Intrinsic-plus-Stellung angelegt werden, komprimierende Ver-
⊡ Abb. 24.15 Frühfunktionelle Frakturbehandlung im Syndaktylieverband. bände sind zu vermeiden. Die handchirurgische Operation endet
24 Bei Fingerfrakturen sollte nur eine distale Solidarisierung erfolgen um Schwel- für den Operateur nicht mit dem Eindrehen der letzten Schraube.
lungszustände zu vermeiden Er ist auch für den Verband und die Art der Ruhigstellung verant-
24.1 · Allgemeines
593 24
wortlich, die er persönlich durchführt. Die operierte Hand sollte Knöcherne Fehlstellungen im Fingerbereich
konsequent hochgelagert werden, um einen raschen Rückgang der Wann immer möglich sollte die Korreturosteotomie am Ort der
posttraumatischen Schwellung zu erreichen. Bei der sich anschlie- Fehlstellung durchgeführt werden. Bestehen am Ort der Fehlstel-
ßenden krankengymnastischen Behandlung sollten Schulter- und lung stärkere Fibrosierungen aufgrund eines vorausgegangenen
Ellenbogengelenk einbezogen werden, um Bewegungseinschrän- Weichteilschadens, kann eine extrafokale Korrekturosteotomie in-
kungen vorzubeugen. diziert sein. Dies gilt insbesondere für Rotationsfehlstellungen. Die
Das Konzept einer wöchentlich stattfindenden Teambespre- Osteotomie wird dann basisnah im spongiösen Knochen durchge-
chung zwischen Therapeut, Patient und behandelndem Arzt hat führt ( Abschn. 24.2.12).
sich bewährt. Hierbei wird der Therapieverlauf evaluiert und do-
kumentiert und Problemfälle werden diskutiert.
In Abhängigkeit von der Osteosyntheseform und dem festge- 24.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
legten Procedere beginnt eine frühzeitige Krankengymnastik mit
aktiven Bewegungsübungen aus der Schiene heraus. Passive Bewe- Annelie Weinberg
gungsübungen, im Schutz der Osteosynthese, können die benach-
barten Gelenke mit einschließen. Bei protrahierten, postoperativen Chirurgisch relevante Anatomie
Schwellungszuständen ist der frühzeitige Einsatz von Lymphdrai- Die jeweiligen Epiphysenfugen finden sich stets basal. Die sekun-
nagen indiziert. Selbstverständlich sollte auf eine ausreichende dären Ossifikationskerne treten zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr
postoperative Analgesie geachtet werden. Bei schweren komplexen auf. Der Epiphysenschluss findet zwischen dem 20. und 24. Le-
Handverletzungen hat sich die Anlage eines Plexuskatheters be- bensjahr statt ( Kap. 21).
währt. Damit erzielt man die beste Prophylaxe, um der Entstehung
des regionalen Schmerzsyndroms ( Kap. 18) zu begegnen. Nach Wachstumsstörung
der Hautfadenentfernung ergibt sich die Möglichkeit der Bewe- Nach einer Salter-Harris-I- und –II-Verletzung ist eine Wachs-
gungstherapie im Handbad und Paraffinbecken. tumsstörung nicht zu erwarten. Intraartikuläre Läsionen (Salter-
Die Rolle der Ergo- und Physiotherapeuten ist bei der Hand- Harris III und IV) neigen eher zu posttraumatischen Verände-
rehabilitation nicht zu unterschätzen. Eine Narbenbehandlung mit rungen. Meist ist die Minderdurchblutung, die sich aus initialem
Massagen, Ultraschall, Druckverband und speziellen Narbenaufla- Trauma, Fragmentgröße und offener Reposition zusammensetzt,
gen aus Silikon kann einer schmerzhaften Narbenkontraktur ent- für diese Spätschäden verantwortlich. Bei schwergradigen Verlet-
gegenwirken und die Narbenbildung positiv beeinflussen. Kältean- zungen kann es zu einem vorzeitigen Fugenschluss mit Entwick-
wendung zur Schmerzreduktion, manualtherapeutische Übungen lung einer Brachyphalangie kommen (⊡ Abb. 24.16).
zum Lösen von iatrogenen Kontrakturen, das Wiedererlernen der
Muskel- und Sehnenfunktionen, Lymphdrainagen und Kompressi- Möglichkeiten und Grenzen der Spontankorrektur
onsbehandlung, PFN (propriorezeptive neuromuskuläre Faszilia- Eine problemlose Korrektur konnte bei Achsabweichungen in der
tion) sowie handtherapeutische Maßnahmen sind individuell nach Sagittalebene bis zu 30° ebenso wie bei Seit-zu-Seit-Verschiebungen
dem Verletzungsmuster einzusetzen. Auch stellt der Einsatz von bis Schaftbreite bei jungen Kindern (<8 Jahre) beobachtet werden.
statischen und dynamischen Schienen in der Nachbehandlungs- Im Gegensatz dazu erfahren Achsabweichungen in der Frontalebe-
phase ein wichtiges Hilfsmittel dar. Nur durch das Zusammenspiel ne im Wachstum keinerlei Korrektur bzw. nur im Kleinkindalter
von Operateur, Therapeut und Patient in einem Team ist ein gutes eine geringe Korrektur. Da Fehlstellungen nach Basisfrakturen der
funktionelles Ergebnis erreichbar ( Kap. 15). Grundphalanx funktionell durch das benachbarte Grundgelenk
⊡ Tab. 24.1 Maximale Achsenfehlstellung, die in der Primärtherapie akzeptiert werden kann. (Die Spontankorrekturpotenz kann über diesen Werten
liegen, sollte jedoch in das primäre Konzept nicht integriert werden. Dies sind dann individuelle Einzelfallentscheidungen.)
a b
c e
⊡ Abb. 24.17 a Unfallbild eines 8-jährigen Jungen, der sich eine Epiphysenlösung mit metaphysärem Keil am Grundglied des 5. Fingers zuzog. Funktionelle
Behandlung mit Brace-Ruhigstellung. b Ausheilungsbild nach 4 Wochen. Geringe Achsenfehlstellung in der Frontalebene, in der Sagittalebene nahezu 25°
Achsenfehlstellung. c,d Klinische Funktion bei Abschluss der Behandlung nach 4 Wochen. e Nach 2 Jahren Ausgleich der Fehlstellung in der Sagittalebene
(gutes Remodelling) bei ausbleibender Spontankorrektur in der Frontalebene bei guter Funktion. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
kompensiert werden können, können Fehlstellungen in der Fron- ner kommt es zu Verletzungen der Wachstumsfuge oder des DIP-
talebene bis zu 10° durchaus belassen werden. Gelenks. Da es sich typischerweise um eine Quetschverletzung
Da dieser Kompensationsmechanismus im Bereich von Mittel- handelt, liegt neben der Fraktur oft eine ausgedehnte Traumati-
und Endphalanx nicht vorhanden ist, gehen Achsabweichungen sierung des Weichteilmantels mit Beteiligung oder Aushülsung
>15° in der Frontalebene meist mit erheblichen Beschwerden und des Nagelbetts vor. Diese Verletzungen sind für die Kinder sehr
Behinderungen einher (⊡ Abb. 24.17, ⊡ Abb. 24.18, ⊡ Tab. 24.1). schmerzhaft, was bei der Untersuchung beachtet werden sollte.
Ausgiebige Inspektionen sind nur dem narkotisierten Kind zuzu-
Epidemiologie und Ätiologie muten.
Die Verletzung der distalen Phalanx mit Beteiligung des Nagel- Im jugendlichen Alter finden sich Frakturen der Grundpha-
24 betts stellt eine klassische Verletzung des Kleinkindes dar. Hierbei lanx basisnah mit oder ohne Beteiligung der Wachstumsfugen.
handelt es sich meist um Nagelkranz- oder Schaftfrakturen, selte- Schaft- und distale subkapitale Frakturen sind hingegen wesentlich
24.1 · Allgemeines
595 24
a b
seltener. In dieser Altersgruppe, die sich vor allem bei der Durch- Epiphysäre Gelenkverletzungen kommen im Gegensatz zu den
führung von Ballsportarten verletzt, manifestieren sich knöcherne Salter-Harris-I- und –II-Läsionen selten vor.
Seitenbandausrisse sowie im Bereich des PIP-Gelenks fibrokartila- Für alle Fingerfrakturen gelten die gleichen Kriterien zur The-
ginäre Ausrisse, die durch Hyperextension bei Volley- oder Hand- rapieentscheidung entsprechend anderen Lokalisationen. Grund-
ballspiel verursacht werden (⊡ Abb. 24.19). sätzlich wird unterschieden zwischen nicht dislozierten und dislo-
596 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
zierten Brüchen, wobei als zusätzliches Kriterium die Stabilität he- Klassifikation
rangezogen wird. Instabile nicht dislozierte Verletzungen können Endglied (P3)
konservativ behandelt werden, müssen aber kontrolliert werden, Am Endglied (⊡ Abb. 24.20) unterscheidet man:
hingegen werden dislozierte stabile Verletzungen altersentspre- ▬ Nagelkranzfrakturen,
chend toleriert oder reponiert. Dislozierte, instabile Verletzungen ▬ vollständige Quer- bzw. Längsfrakturen und
müssen meist reponiert und – insbesondere bei offenen Verletzun- ▬ Epiphyseolysen.
gen – oft operativ stabilisiert werden.
Gelenkfrakturen verursachen vor allem bei älteren Kindern wie Querfrakturen sind oftmals kombiniert mit Schädigungen des Na-
bei den Erwachsenen zu Schmerzen und funktionellen Einschrän- gelbetts. Längsfrakturen können bei Kegelverletzungen beobachtet
kungen. Daher sollten diese Verletzungen anatomisch reponiert werden und reichen bisweilen bis in die Epiphyse. Die Epiphyseo-
und ausreichend stabilisiert und kontrolliert werden. lysen, die vor allem bei Kindern unter dem 12. Lebensjahr zu fin-
den sind, weisen eine Dislokation auf, bei der sich typischerweise
Diagnostik das distale Fragment aufgrund des Zuges der Sehne des M. flexor
Die Diagnostik erfolgt mittels Röntgenbild in zwei Ebenen: a.-p. digitorum profundus nach palmar verschiebt (⊡ Abb. 24.21).
und seitlich. Besonders bei Frakturen der distalen Phalanx sollte An Epiphysenverletzungen mit Gelenkbeteiligung finden sich
eine genaue Begutachtung des Nagelbetts erfolgen, da bei der im Teenageralter Salter-Harris-III- oder –IV-Verletzungen bzw.
Hälfte der Frakturen eine zusätzliche Verletzung in diesem Bereich knöcherne Abrisse der Strecksehne.
vorliegt.
Im Bereich des PIP-Gelenks findet man neben einer starken Grund- (P1) und Mittelglied (P2)
Schwellung des Gelenks radiologisch meist ein kleines, nur wenig Im Grund- und Mittelgliedbereich unterscheidet man:
disloziertes palmares Fragment als Hinweis auf einen fibrokartila- ▬ Frakturen des Kondylus: Dabei handelt es sich um Gelenk-
ginären Ausriss (⊡ Abb. 24.19). frakturen. Sie können als uni- (mono-) oder bikondyläre
a b c d e
⊡ Abb. 24.20 Typische Frakturen des Endgliedes (ohne knöcherne Strecksehenabrisse). a Nagelkranzfraktur. b Epiphysiolyse (Salter-Harris I). c Epiphyseolyse
mit metaphysärem Keil. d Querfraktur. e Längsfraktur (typische Kegelverletzung im Kindesalter). (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
Operative Therapie
Instabile Läsionen müssen ggf. mit einem dünnen Stift fixiert
werden, wobei die Stiftelung bei kleinen Kindern ausschließlich
mit dem Handbohrer durchgeführt werden sollte. Bei sehr kleinen
Kindern kann die Fixierung auch mit dünnen Kanülen erfolgen.
Größere offene Verletzungen erhalten zusätzlich eine antibioti-
sche Therapie und müssen sorgfältig bezüglich ihrer Weichteilver-
letzung inspiziert und therapiert werden ( Kap. 35).
a b c d e
⊡ Abb. 24.23 Die Therapie der subkapitalen Frakturen richtet sich nach dem Dislokationsausmaß. a und b lassen sich konservativ behandeln, wobei bei b alters-
abhängig eine geschlossene Reposition erfolgt. Bei c und d erfolgt die offene Reposition mit operativer Refixation, da es in diesen Fällen zu Fragmentrotation mit
eingeschlagener Kapsel (e) kommen kann (Durchblutung, Gefahr der Nekrose!) (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
598 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
Luxationen im distalen Interphalangeal-(DIP-)Gelenk. Reine der mittlere und der seitliche Anteil des Streckapparats das distale
ligamentäre Luxationen im DIP-Gelenk können meist problem- Fragment gestreckt halten.
los reponiert werden und sind im Kindesalter fast ausschließlich An der Mittelphalanx hängt die Stellung der Fragmente auch
stabile Läsionen, die durch Ruhigstellung des Fingers problemlos von der Lokalisation der Fraktur ab: Bei einer proximalen Fraktur
ausheilen (⊡ Abb. 24.24). kommt es zur Streckung des proximalen Fragments durch Zug der
Bei zusätzlichem knöchernem Fragment, welches zunehmend Sehne des M. extensor digitorum. Bei distalen Frakturen über-
bei älteren Kindern vorkommt, ist eine Refixation des Fragments wiegen die oberflächlichen Beuger und flektieren das proximale
insbesondere bei Gelenkbeteiligung, wenn es sich nicht anatomisch Fragment.
nach Reposition anlegt, in Erwägung zu ziehen. Zu differenzierende Läsionen am Mittel- und Grundglied:
▬ Fraktur des Kondylus: Dabei handelt es sich um Gelenkfrak-
Mittel- (P2) und Grundphalanx (P1) turen. Sie können als uni- (mono-) oder bikondyläre Trochle-
24 An der Grundphalanx kommt es meist zur Beugung des proxima- afrakturen auftreten, selten auch als Mehrfragmentköpfchen-
len Fragments durch die Mm. interossei und lumbricalia, während fraktur. Sie sind meist innerhalb der Gelenkkapsel lokalisiert
24.1 · Allgemeines
599 24
a b c
⊡ Abb. 24.26 a 9-jähriger Patient mit einer verschobenen unikondylären Trochleafraktur. b Offene Reposition, Fixation des Fragments mit einem Spickdraht.
c Ausheilungsbild nach 3 Monaten. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
und können manchmal auf die palmare oder dorsale Seite der Fraktur, um eine sekundäre Dislokation rechtzeitig zu erkennen.
begrenzt auftreten (⊡ Abb. 24.25). Insgesamt wird der Finger maximal 2 Wochen ruhiggestellt. Meist
▬ Fraktur des Caput phalangis: Diese Frakturen liegen subtroch- beginnen wir die frühfunktionelle Therapie nach 10 Tagen.
lear, wobei am häufigsten subkapitale Frakturen auftreten. Dislozierte Frakturen sind operativ zu versorgen. Auch intra-
Sie können inner- oder außerhalb der Gelenkkapsel liegen artikuläre Stauchungsfrakturen müssen operativ versorgt werden,
(⊡ Abb. 24.26). um die Gelenkkongruenz wiederherzustellen.
▬ Fraktur des Corpus phalangis: Dies sind Schaftfrakturen, de- Insgesamt ist jedoch nach jeder operativen Therapie und dem
ren Frakturlinie quer oder schräg verlaufen kann. Weiterhin dadurch zusätzlich hervorgerufenen Weichteilschaden neben der
zählen Mehrfragment- oder Trümmerfrakturen zu dieser durch das Trauma reduzierten Durchblutung mit einer weiteren
Gruppe. Störung der Durchblutung zu rechnen, die mit einer Deformität
▬ Fraktur der Basis phalangis: Die basalen Frakturen können ex- und Beeinträchtigung der Funktion einhergehen kann.
traartikuläre Salter-Harris-I- und -II-Läsionen wie auch Stau- Je kleiner das Kind ist, desto kritischer muss die Indikation
chungsfrakturen sein. Weitaus seltener finden sich intraarti- zur operativen Fixierung gestellt werden, da diese Frakturen trotz
kuläre Brüche, die eine Salter-Harris-III- oder -IV-Läsionen Deformierung des Gelenks eine gute Funktion aufweisen können.
enthalten. Operativ stabilisierte Trochleafrakturen weisen trotz guten radio-
logischen Endergebnisses nicht selten eine schlechte Funktion auf
In den meisten Fällen handelt es sich bei den Epiphysenfrakturen, (⊡ Abb. 24.25, ⊡ Abb. 24.26).
vor allem beim ulnaren knöchernen Seitenbandausriss am Dau-
men, um Übergangsfrakturen. Das heißt, dass der physiologische Frakturen des Caput phalangis
Fugenschluss im nicht dislozierten Anteil der Epiphyse schon Frakturen des Caputs, die knapp unterhalb der Gelenkfläche loka-
begonnen hat und Wachstumsstörungen nicht mehr zu befürchten lisiert sind, werden konservativ frühfunktionell behandelt, wenn
sind. Zum Teil ist der nicht gelöste Teil der Fuge schon fest oder diese nicht disloziert bzw. maximal um ein Drittel Schaftbreite in
beginnt zu verknöchern. Auch im Bereich der Phalangen wurden der Sagittalebene abgekippt sind. Auch die Seit-zu-Seit-Versetzung
in der Literatur Übergangsfrakturen beschrieben. ist bis zu einem Drittel Schaftbreite akzeptabel. Ab dem 10. Le-
Erst in der Adoleszenz kommt es zu ligamentären Bandver- bensjahr ist die Toleranzgrenze deutlich geringer.
letzungen und zu intraartikulären Frakturen, die den typischen Rotations- und Achsfehlstellungen in der Frontalebene müssen
Läsionen des Erwachsenen gleichen und entsprechend behandelt in allen Altersstufen vermieden werden (⊡ Abb. 24.27).
werden. Dislozierte Frakturen werden operativ versorgt. Die intrame-
Zusätzlich müssen die Luxationen mit knöcherner Beteiligung dulläre Aufrichtung stellt das dafür am besten geeignete Verfahren
und die reinen Kapsel-Band-Läsionen differenziert werden. dar, zumal ein geschlossenes Vorgehen möglich ist. Andernfalls ist
offen vorzugehen, und je nach Frakturtyp ist eine Schrauben- oder
Therapie Kirschner-Draht-Osteosynthese indiziert.
Frakturen der Kondylen (Trochleafrakturen)
Nicht dislozierte Frakturen bzw. tolerable Abweichungen können ! Cave
konservativ behandelt werden. Letztere werden definiert als eine Vollständig rotierte Fragmente müssen immer offen repo-
Diastase von 1–2 mm und eine Stufe von Kortikalisdicke bis zum niert werden. Bei Trümmerfrakturen des Köpfchens ist meist
10. Lebensjahr, anschließend sind keine Abweichungen mehr zu ak- keine Osteosynthese möglich, um die Gelenkfläche zu rekon-
zeptieren. Die Frakturen werden mit einer angegipsten Fingerschie- struieren. Diese Frakturen werden nach 2 Wochen Ruhigstel-
ne ruhiggestellt. Nach 1 Woche erfolgt eine radiologische Kontrolle lung funktionell nachbehandelt (⊡ Abb. 24.28).
600 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
a b
⊡ Tab. 24.2 Maximale Achsenfehlstellung, die in der Primärtherapie akzeptiert werden kann. (Die Spontankorrekturpotenz kann über diesen Werten
liegen, sollte jedoch in das primäre Konzept nicht integriert werden. Dies sind dann individuelle Einzelfallentscheidungen)
c
a b
⊡ Abb. 24.30 Repositionstechnik über Hypomochlion (Schere, Kuli) bei dislozierten Epiphysenlösungen mit oder ohne Keil bei primärer Achsendeviation.
Ein 7-jähriger Junge stürzte und zog sich eine Epiphysiolyse mit metaphysärem Keil des Grundgliedes des Daumens zu (a). Die Fraktur wurde über einem
Hypomochlion reponiert (b). c Postoperative Kontrolle; geschlossene Gipsanlage mit Einschluss der benachbarten Gelenke. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
a b c
⊡ Abb. 24.33 Gefahren und Komplikationen bei der Behandlung von Fingerfrakturen. a 4-jähriger Junge, der sich die Hand quetschte und sich dabei eine
subkapitale Fraktur des Mittelgliedes des 3. Fingers zuzog. b Nach 7 Wochen zeigt sich eine Duchbauung der Fraktur mit Abkippung nach palmar. c Bereits
nach 9 Monaten beginnendes Remodelling bei guter Funktion. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
604 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
a b c d e
⊡ Abb. 24.34 Gefahren und Komplikationen bei der Behandlung von Fingerfrakturen. a 3-jähriges Mädchen, welches erstmalig 10 Tage nach erlittener uni-
kondylärer Trochleafraktur des Mittelglieds des 3. Fingers vorstellig wurde. Eine operative Intervention wurde in Anbetracht des Alters und der bereits in Hei-
lung befindlichen Fraktur mit Gefahr der erheblichen Durchblutungsstörung bei verzögertem offenem Verfahren nicht durchgeführt. Es wurde konservativ
frühfunktionell behandelt. Im Verlauf nach 3 Wochen (b), nach 3 Monaten (c) und 15 Monaten (d) zeigt sich ein gutes Remodelling bei sehr guter Funktion (e).
(Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
▬ Verklebungen der Strecksehnen und der Gelenkkapsel sind unter der konservativen Therapie die Ausheilung. Bei anhalten-
insbesondere nach Transfixationen der Gelenke nicht selten den Beschwerden kann ggf. eine Exstirpation in Betracht gezogen
anzutreffen. Eine Tenolyse kann nicht in allen Fällen die werden.
Funktion verbessern. Wichtig ist eine gute Compliance bei
der Nachbehandlung, um Verklebungen zu verhindern. Eine Nachbehandlung
entsprechende Aufklärung der Eltern über diese mögliche Die Beurteilung der Konsolidation wird bei allen Fingerfraktu-
Komplikation ist notwendig. ren klinisch vorgenommen, da erst nach Wochen bzw. mehreren
Monaten radiologisch eine Durchbauung der Fraktur sichtbar
Fraktur der Sesambeine wird. Bei indolentem Kallus kann mit spontanen Bewegungs-
Sesambeine findet man palmar am Köpfchen aller Metakarpa- übungen begonnen werden. Die volle Beweglichkeit ist meist
lia, wobei vor allem diejenigen über dem Daumengrundgelenk in 1–2 Wochen erreicht, dann können sportliche Betätigungen
infolge eines direkten Traumas oder als Abrissfraktur bei einem wieder aufgenommen werden. Die Behandlung ist mit dem Er-
Hyperextensionstrauma frakturieren können. Dies kommt bei reichen der freien Funktion bei symmetrischen Fingerachsen zu
Kindern sowie bei Erwachsenen äußerst selten vor. Die Diagnose beenden. Eine gewisse Verdickung im Bereich des Gelenks oder
24 wird durch das Röntgenbild gestellt, wobei die Frakturen von sog. der Phalangen verschwindet erst nach stattgehabtem Remodelling
geteilten Sesambeinen abgegrenzt werden müssen. Meist gelingt (6–12 Monate).
24.1 · Allgemeines
605 24
a b
a b
Bei operativ versorgten Frakturen wird für 3 Wochen der Fin- 24.2 Spezielle Techniken
ger ruhiggestellt. Anschließend werden die Kirschner-Drähte ent-
fernt und es wird funktionell weiterbehandelt. 24.2.1 Technik der direkten Refixierung
des Fragments bei knöchernem
Spätkomplikationen Strecksehnenausriss nach offener Reposition
Bei Verletzungsmustern, die eine offene Reposition erfordern, be- mithilfe einer transossären Ausziehnaht nach
steht immer die Gefahr der Periostverletzung sowie der Unterbre- Lengemann Abschn. 5.2.2
chung der Blutzufuhr für die Epiphyse mit der Folge einer post-
traumatischen Defektheilung. 24.2.2 Technik der direkten Refixierung
Zu den selten auftretenden Komplikationen zählen Bewe- des Fragments bei knöchernem
gungseinschränkungen, Fehlstellungen und Wachstumsstörungen. Strecksehnenausriss nach offener
Der Patient bzw. dessen Familie sollte bei einer Fraktur darauf Reposition mit Kirschner-Drähten oder
hingewiesen werden, dass ein möglicher vorzeitiger Fugenschluss in Rückbohrtechnik Abschn. 5.2.2
Wachstumsstörungen nach sich ziehen kann.
Im Rahmen von Frakturen der Grundphalangen kann es unter 24.2.3 Technik der direkten Refixierung des
Umständen zu einem »entrapement« der Flexorsehne kommen. Fragments bei knöchernem Ausriss der
Falls eine Korrektur notwendig wird, muss das Vorgehen ent- tiefen Beugesehne nach offener Reposition
sprechend dem Zeitpunkt der stattgehabten Verletzung gewählt mithilfe einer Ausziehnaht nach Lengemann,
werden. Frühkorrekturen innerhalb von 4–8 Wochen lassen sich Knochenanker oder Schraube
noch durch Kallusmobilisation und entsprechende Kirschner-
Draht-Fixation korrigieren. Liegt der Unfall länger zurück, so Nach einer Bruner-Inzision und Darstellung der tiefen Beugesehne
versuchen wir die Korrektur des Schafts über einen Minifixateur wird das distale Ende mit einer Bunnel-Drahtnaht durchflochten.
durchzuführen, aber auch die Miniplattenosteosynthese findet An- Das knöcherne Hauptfragment wird mit einer Schraube fixiert und
wendung mit guten Resultaten. Bei Frakturen, die das Gelenk die Ausziehnaht transossär distal der Lumula ausgeführt und über
betreffen, warten wir das Remodelling und die Funktion ab. Nicht einen Knopf fixiert (⊡ Abb. 24.37).
selten zeigen diese Frakturen einen befriedigenden Bewegungs- Wenn immer möglich, schließt sich eine dynamische Nachbe-
24 umfang trotz Deformität des Gelenks. Eine Achskorrektur kann in handlung in einer Kleinert-Schiene an, falls die genügend stabile
diesem Fall nicht selten die Funktion verbessern. Osteosynthese dies erlaubt.
24.2 · Spezielle Techniken
607 24
Bei der Verwendung zu langer Schrauben kann es zu Weichtei-
lirritationen kommen, zu kurze Schrauben können ausreißen oder
zu frühzeitiger Lockerung führen.
Zur besseren Rotationsstabilität sollte nach Möglichkeit ein
zweites Implantat in Form einer Schraube bei größeren Fragmen-
ten oder eines Kirschner-Drahts bei kleineren Fragmenten einge-
a bracht werden
a b
c d
⊡ Abb. 24.41 Versorgung einer Schussverletzung des Zeigefingers mithilfe eines Fixateur externe. a Aspekt bei Klinikaufnahme, b Röntgenaufnahmen in
2 Ebenen, c Anlage eines Fixateur externe, d Funktionsaufnahmen nach Metallentfernung. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
a b c
⊡ Abb. 24.42 Technik der geschlossenen Reposition und perkutanen Kirschner-Draht-Fixierung der dorsalen Luxationsfraktur der Basis der Mittelphalanx mit
24 Ausriss eines palmaren Fragments. a Präoperativer Aspekt, b Fixation des Fragments mit einem Kirschner-Draht, c temporäre PIP-Arthrodese. (Aus Schmit-
Neuerburg et al. 2001)
24.2 · Spezielle Techniken
611 24
Achsen- und Rotationsfehler können unterschiedlich umgesetzt Korrektur der Fehlstellung müssen beide Kirschner-Drähte in allen
werden. Eine Möglichkeit besteht darin, vor der Osteotomie jeweils Ebenen parallel eingestellt sein und zeigen somit die achs- und ro-
einen Kirschner-Draht proximal und distal der Korrekturstelle tationsgerechte Korrektur an (⊡ Abb. 24.44). Eine zweite Möglich-
einzubringen, wobei der proximale senkrecht zur Handebene und keit dient der Einstellung von Rotationsfehlern. Hierbei wird vor
der distale senkrecht zur Korrekturebene steht. Diese weisen dann der Osteotomie die dorsale Kortikalis mit der oszillierenden Säge
den zu korrigierenden Fehler auf. Nach Setzen der Osteotomie und in longitudinaler Richtung eingekerbt. Die Osteotomie verläuft
dann senkrecht zur Markierung. Bei der anschließenden Rotation
des distalen Segments ist der Winkelgrad durch das Auseinander-
weichen der Markierung abzuschätzen (⊡ Abb. 24.44b). Intraopera-
tiv hilft ein temporärer und in longitudinaler Richtung eingebrach-
ter Kirschner-Draht, die Osteotomie zu stabilisieren. Die Rotation
wird anschließend anhand der klinischen Faustschlussprobe kon-
trolliert (⊡ Abb. 24.44c). Die Osteosynthese wird entweder mit ei-
ner Kirschner-Draht-Osteosynthese eventuell in Kombination mit
einer Cerclage ( Abschn. 24.2.6) oder einer Plattenosteosynthese
( Abschn. 24.2.8) durchgeführt.
Die postoperative Ruhigstellung auf einer palmaren Unter-
armschiene in Intrinsic-plus-Stellung ist abhängig vom gewählten
Osteosyntheseverfahren.
Knöcherne Fehlstellungen können innerhalb von 3 Wochen
durch Osteosynthese korrigiert werden. Spätere Korrekturen sind
nur durch Osteotomie möglich. Hier kommen die Rotationskor-
rekturplatten zur Anwendung, die eine sehr geeignete Indikation
hierbei darstellen.
Bei Trümmerfrakturen und Frakturheilung mit Rotations-
fehlstellung empfiehlt sich die Osteosynthese mit Rotationsplatte
durchzuführen. Diese erlaubt eine Korrektur bis zu insgesamt 36°.
Die quere Osteotomie erfolgt basisnah an den Phalangen, nachdem
a b die Platte proximal fixiert ist. Nach der Osteotomie erfolgt die
Fixierung mit der Schraube im queren Loch der Platte distal der
⊡ Abb. 24.43 Technik der subtraktiven (»closing wedge«) Osteotomie bei
einer Valgusfehlstellung der Grundphalanx. a Aspekt vor Korrekurosteotomie
Osteotomiestelle in korrekter Rotation, wobei das quere Loch der
und Planung: Die zuvor in Richtung der Fehlstellung eingebrachten Kirsch- Platte weitere Korrekturen erlaubt. Nach exakter Rotationsstellung
ner-Drähte erlauben eine intraoperative Achsenkontrolle. b Nach der Korrek- werden die übrigen Schrauben über der Platte angebracht. Die
tur sind die Kirschner-Drähte parallel ausgerichtet. (Aus Schmit-Neuerburg korrekte Achse und Rotation wird in Beugestellung der Finger wie-
et al. 2001) derholt intraoperativ kontrolliert (⊡ Abb. 24.11).
a b c
⊡ Abb. 24.44 Hilfstechniken für die Durchführung und Ausrichtung der Korrekturosteotomie. a Einstellung der Rotationsebene anhand von 2 zuvor einge-
brachten Kirschner-Drähten. Diese werden proximal senkrecht zur Schaftachse und distal in Richtung der zu korrigierenden Fehlstellung eingebracht. Nach der
Korrektur müssen die Kirschner-Drähte parallel sein. b Markierung senkrecht zur Osteotomielinie: Durch das Auseinanderweichen der osteotomienahen und
osteotomiefernen Markierung kann die Korrektur eines Rotationsfehlers dargestellt werden. c Ein longitudinal eingebrachter temporärer Kirschner-Draht stabili-
siert die Osteotomie oder die bereits korrigierte Achse (z. B. nach subtraktiver Osteotomie). Die Rotation ist weiterhin frei. Der Operateur ist somit in der Lage, die
klinischen Parameter (Faustschluss und Lage der Fingernagelebene) vor der definitiven Osteosynthese zu überprüfen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
612 Kapitel 24 · Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen)
24.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen Strukturen voraussetzt, stellt die Nachbehandlung nach Osteosyn-
thesen, wie bei allen anderen Operationen an der Hand auch, eine
24.3.1 Frakturen unabdingbare Voraussetzung dar. Der Erfolg der Behandlung wird
nicht durch das Röntgenbild eines korrekt platzierten Implanta-
Prinzipiell ist der Benefit der geringeren Immobilisation und der tes nachgewiesenen, sondern durch das funktionelle Endergebnis.
damit verbundenen Einsteifung der Hand gegen das Operations- Durch die adäquate Nachbehandlung können die konservativ oder
risiko – iatrogener Schaden durch den operativen Zugang, Wund- operativ geschaffenen Voraussetzungen erst erreicht werden. Eine
heilungsstörung, Infektion, Gefühlsstörungen, Durchblutungsstö- fehlende oder zu geringe Handtherapie ist eine der häufigsten Ur-
rungen – abzuwägen. Neben der inadäquaten Patientenauswahl sache für bleibende Funktionseinschränkungen.
führt die Vernachlässigung der Biologie gegenüber der Mechanik
am häufigsten zu Komplikationen. Es ist nicht der Knochen auf
dem Röntgenbild, welcher operiert wird, sondern die Hand als 24.3.2 Knöcherne Fehlstellungen im Fingerbereich
komplexes Knochen-Weichteil-System in ihrer Gesamtfunktion.
Die hauptsächlichen Fehler passieren Bei Defektbildungen der Knochen und Trümmerzonen kann es
▬ bei der Auswahl des Therapieverfahrens ( Abschn. 24.1.6), sowohl bei der konservativen wie auch bei der operativen Behand-
▬ durch eine inadäquate konservative Therapie, lung zu Fehlbildungen kommen, wenn die Prinzipien der Fraktur-
▬ durch eine inadäquate Operationstechnik, behandlung vor allem durch Osteosynthese nicht beachtet werden.
▬ durch eine inadäquate Nachbehandlung. Die Rotations- und die Achsenfehlstellung werden nur bei passiv
gebeugtem Finger festgestellt. Die knöcherne Fehlstellung kann
Die konservative Therapie ist häufig unbequem, aufwändig, lang- innerhalb von 3 Wochen durch Osteosynthese korrigiert werden.
wieriger und bedarf einer sorgfältigen, ständigen Nachkontrolle, Spätere Korrekturen sind nur durch Osteotomie möglich. Hier
um damit ein gutes Behandlungsergebnis zu erzielen. Neben der kommen die Rotationskorrekturplatten zur Anwendung, die eine
inadäquaten Nachkontrolle sind Immobilisationsschäden durch sehr geeignete Indikation hierbei darstellen.
fehlerhafte und zu lange Ruhigstellung in einem Schienenverband Gefahren der Fehlstellung bestehen insbesondere auch bei ver-
zu nennen. längernden Korrekturosteotomien. Hierbei sollte auf eine ausrei-
Bei der operativen Therapie wird immer ein zusätzlicher Scha- chende Dehnbarkeit des Weichteilmantels geachtet werden. Even-
den durch das Einbringen des Osteosynthesematerials gesetzt. Die- tuell sind zusätzliche Weichteildeckungen mit Lappenplastiken und
ser muss immer so klein wie möglich sein. Der Zugangsweg bei der Spalthauttransplantaten erforderlich. Eine vorbestehende Kontrak-
offenen Reposition muss sehr sorgfältig gewählt werden, um eine tur kann verstärkt werden. Dies gilt insbesondere für tendogene
zusätzliche Devaskularisation des Hautmantels und eine exzessive Kontrakturen. Bei den kleinen Osteotomien tritt durch den Säge-
Deperiostierung zu verhindern. Die Desinsertion von kapsuloliga- defekt ein nicht unerheblicher Fehler auf. Die klinischen Parameter
mentären Strukturen muss auf ein Minimum reduziert werden, um der physiologischen Fingerstellung sind daher zu beachten. Für
die ossären Fragmente vor Nekrosen zu schützen. Instabilität und kindliche Frakturen vor dem Epiphysenschluss sollte unbedingt die
Funktionsverlust durch Desinsertion von Sehnen und Bandansät- spontane, wachstumsbedingte Korrektur mit berücksichtigt und
zen bei der Darstellung von Frakturen zur Osteosynthese müssen eventuell abgewartet werden. Eine Korrekturosteotomie ist bis auf
vermieden werden. Weitere typische Fehler sind: wenige Ausnahmen vor dem Epiphysenschluss nicht erforderlich.
1. Zerbrechen von kleinen Fragmenten durch überdimensionier- Gefahren bestehen insbesondere bei verlängernden Osteoto-
te Drähte oder Schrauben, mien. Hierbei sollte auf eine ausreichende Dehnbarkeit des Weich-
2. Hitzenekrosen an Weichteilen und Knochen mit nachfolgen- teilmantels geachtet werden. Eventuell sind zusätzliche Weich-
den Osteolysen, frühzeitige Lockerungen und septische Kom- teildeckungen mit Lappenplastiken und Spalthauttransplantaten
plikationen durch zu hochtouriges Bohren bei der Bohrdrah- erforderlich. Eine vorbestehende Kontraktur kann verstärkt wer-
tosteosynthese, den. Dies gilt insbesondere für tendogene Kontrakturen. Bei den
3. Fehlende Verankerung einer Bohrdrahtfixation in der Gegen- kleinen Osteotomien tritt durch den Sägedefekt ein nicht unerheb-
kortikalis und Kreuzen der Bohrdrähte im Frakturbereich, licher Fehler auf. Die klinischen Parameter der physiologischen
4. Instabilität einer langen Schrägfraktur des Schaftes, die nur Fingerstellung sind daher zu beachten. Für kindliche Frakturen vor
mit Zugschrauben fixiert wird, dem Epiphysenschluss sollte unbedingt die spontane, wachstums-
5. Interferenz mit den Weichteilstrukturen (Sehnen, Nerven und bedingte Korrektur mit berücksichtigt werden. Eine Osteotomie
Gefäßen) durch zu lange Schrauben, ist bis auf wenige Ausnahmen vor dem Epiphysenschluss selten
6. Instabilität und vorzeitige Lockerung durch zu kurze Schrau- erforderlich.
ben,
7. Infekt der Osteosynthese,
8. schmerzhafte Bewegungseinschränkung mit frühzeitiger Arth- Weiterführende Literatur
rose bei Gelenkflächeninkongruenz nach ausgeheilter Gelenk-
fraktur mit Stufenbildung (operativ besteht dann nur noch die Lanz T von, Wachsmuth W (1959) Praktische Anatomie, 1. Band, 3. Teil
Möglichkeit zur Anlage einer Arthrodese), Arm, 2. Aufl. Springer, Berlin
9. Pseudarthrose, Schmit-Neuerburg KP, Towfigh H, Letsch R (Hrsg) (2001) Tscherne Unfall-
10. Rotations- und Achsfehlstellung nach erfolgter Osteosynthese, chirurgie, Band VIII/2: Hand. Springer, Berlin
Weinberg AM, Tscherne H (2006) Unfallchirurgie im Kindesalter, Band 1.
11. Instabilität und Funktionsverlust durch Desinsertion von Seh-
Springer, Berlin
nen- und Bandansätzen bei der Darstellung der Fraktur.
25.1 Allgemeines seite ab. Mit dem proximalen Teil, der Basis, sind sie gelenkig an
25 den Karpus gefügt. Die Karpometakarpalgelenke (CMC) II und
25.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und III sind sehr straff und erlauben nur geringste Bewegungen. Die
Physiologie Beweglichkeit im CMC-IV- und vor allem CMC-V-Gelenk ist ein
bedeutender Faktor für den kraftvollen Grobgriff (»Schlussrotation
Die Mittelhand ist die Schlüsselregion für die Architektur der des Metakarpale V«; ⊡ Abb. 25.2). Dieses Gelenk muss deshalb bei
Hand. Hier werden erstmals die fünf Strahlen ausgebildet, die sich den häufigen Metakarpale-V-Basis-Frakturen – die durch den Zug
zum Daumen und den Fingern fortsetzen und von denen jeder der ECU-Sehne als instabil zu betrachten sind – möglichst anato-
eine unterschiedlich bewegliche Gelenkkette darstellt. misch rekonstruiert werden.
Die fünf langen Knochen der Mittelhand sind so zusammen- Der Daumen ist der wichtigste Finger, weil er der einzige
gefasst, dass sie das Gewölbe der Handwurzel fortsetzen und nach Partner der Finger bei den höheren Greifformen ist. Er verdankt
distal verflachen lassen. Metakarpale II und III stellen zusammen diese Sonderstellung dem CMC I-Gelenk. Eine Beeinträchtigung
mit der distalen Karpalreihe das stabile Segment des Handskeletts, der Funktion dieses Gelenks führt zu einer Beeinträchtigung der
um das der sehr bewegliche 1. Strahl und die deutlich weniger globalen Handfunktion. Deshalb ist eine möglichst anatomische
beweglichen Strahlen IV und V sich bewegen (⊡ Abb. 25.1). Diese Rekonstruktion der Gelenkflächen bei intraartikulären Frakturen
Architektur ist Voraussetzung für die Präzisionsgreifformen der zu fordern.
menschlichen Hand. Bei Lähmungen der intrinsischen Handmus- Die Metakarpalknochen sind auch Ansatz für Sehnen der ex-
kulatur kommt es zum Abflachen des Gewölbes und zum Verlust trinsischen Handmuskulatur vom Unterarm. Der M. abductor pol-
der Präzisionsgreifformen. licis longus setzt an der Basis des Metakalpale I an, der M. extensor
Die Mittelstücke, die dem Schaft der Röhrenknochen ent- carpi radialis longus an der Basis des Metakarpale II, an dem
sprechen, sind außerdem an der Palmarseite in der Längsrichtung palmar auch noch der M. flexor carpi radialis inseriert, der M. ex-
schwach gebogen und fassen zwischen sich die Knochenzwischen- tensor carpi radialis brevis an der Basis des Metakarpale III und
räume, die von den Mm. interossei ausgefüllt werden. An Länge der M. extensor carpi ulnaris an der Basis des Metakarpale V. Der
nehmen die Mittelhandknochen vom zweiten an, nach der Ulnar- Muskelzug führt physiologischerweise zu Bewegungen der Hand.
⊡ Abb. 25.1 Architektur der Hand. a Ansicht von dorsal: Die distale Karpalreihe und die Metakarpale II und III bilden die stabilen Segmente der Hand.
b Ansicht von lateral: Die Hand zeigt einen Längsbogen (Radius-Lunatum-Metakarpale-III-Phalangen von D III) und zwei Querbögen. Der transversale karpale
Bogen ist weitgehend starr. Durch Muskelzug kann der transversale metakarpale Bogen abgeflacht werden. c Bei Lähmungen der intrinsischen Handmusku-
latur kommt es zum Abflachen des Gewölbes und zum Verlust der Präzisionsgreifformen
25.1 · Allgemeines
615 25
Bei Frakturen führt der Zug zur Dislokation. Das ist vor allem bei ableitet, wird im folgenden als epifasziale Schicht bezeichnet.
Basisfrakturen des Metakarpale I (Bennett, Rolando, Winterstein) Unterhalb der Faszie schließt sich eine subfasziale Schicht an. An
und des Metakarpale V zu berücksichtigen (⊡ Abb. 25.3). der Streckseite der Finger kann eine epifasziale Schicht chirurgisch
Die Metakarpalköpfe sind mit den Fingern gelenkig über die nicht eindeutig abgegrenzt werden, weshalb hier die Bezeichnung
Metakarpophalangeal-(MP-)Gelenke verbunden und besitzen ku- subkutane Schicht gewählt wurde (⊡ Tab. 25.1).
gelige Gelenkflächen, die sich palmarwärts ausdehnen und hier Der etwas komplexere Aufbau der Palmarseite der Hand
mehr oder weniger deutlich in zwei Zipfel ausgezogen sind. Zur führt zu einer topografischen Gliederung in drei Räume. Der
Befestigung der Seitenbänder hat das Caput beiderseits eine Gru- Bereich zwischen der Unterfläche der Haut und der Aponeurosis
be. Die Köpfe der Mittelhandknochen II–V sind durch äußerst palmaris, die eng mit der Fascia antebrachii zusammenhängt,
feste Bänder, Ligg. metacarpea transversa profunda verbunden, wird als epifasziale oder subkutane Schicht bezeichnet. Der sich
sodass sie nicht auseinanderweichen können. Zusammen mit den daran in die Tiefe anschließende subfasziale oder subaponeu-
Handbinnenmuskeln bilden diese Bänder eine Art interkarpaler rotische Raum wird zweckmäßigerweise mit Rücksicht auf den
Verspannung. Bei intakter interkarpaler Verspannung neigen Frak- Fächer der Beugesehnen in eine oberflächliche, epitendinöse
turen der randbildenden Mittelhandknochen II und V wegen nur und eine tiefe, subtendinöse Schicht gegliedert. Neben dieser
einseitiger Schienung zu stärkeren Dislokationen als die MHK III horizontalen Gliederung lässt sich die Hohlhand unterhalb der
und IV (⊡ Abb. 25.4). Aponeurose bzw. der seitlich davon ausstrahlenden Faszie noch
Ein Querschnitt durch die Mittelhand zeigt die komplexe Ar- in longitudinal orientierte Kompartimente untergliedern. Die
chitektur der Weichteile (⊡ Abb. 25.5, ⊡ Tab. 25.1). Mittelhandstraße wird nach radial durch die Sehnenplatte der
Der Raum zwischen der Unterfläche der Haut des Handrü- ulnaren Thenarmuskeln von der Thenarloge, nach ulnar durch
ckens und der alle Sehnen bedeckenden Faszie, die sich, ohne die radialen Muskeln des Hypothenars von der Hypothenarloge
einen eigenen Namen zu besitzen, aus der Fascia antebrachii abgegrenzt ( Kap. 48).
25
a b c d
⊡ Abb. 25.4 Stabilität bzw. Dislokation von Schaftfrakturen der Metakarpalia II–V. a, b Dislokation der Mittelhandfrakturen II und V mit Rotationsfehlstellung der
Mittelhandknochen und Finger durch Verspannung des peripheren Fragments. Bei Beugung der Finger im Grundgelenk wird die Rotationsfehlstellung des mo-
bilen Strahles sichtbar (vor allem bei den Randknochen II und V). Dislokationen des peripheren Fragments bei Schaftfrakturen der randständigen Metakarpalia II
und V erfolgen, da keine beiderseitige Verspannung durch die Ligg. metacarpalia oder Einklemmung zwischen zwei Nachbarfingern besteht. c, d Bei Beugung
der Finger im Grundgelenk wird die Rotationsfehlstellung des mobilen Strahls sichtbar, wobei durch die Verspannung der Kollateralbänder im Grundgelenk bei
Beugestellung des Fingers und Feststellung des Ausmaßes der Rotationsfehlstellung diese durch die benachbarten Mittelhandknochen und Verspannung des
peripheren Fragments durch die Ligg. metacarpalia korrigiert werden können. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
⊡ Abb. 25.5 Querschnitt durch die Mittelhand. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
25.1 · Allgemeines
617 25
Subfaszial Subfaszial
fenem Winkel stört das Muskelgleichgewicht der Hand. Es kommt Die exakte seitliche Röntgenaufnahme ist sehr wertvoll, da gerade
25 zur kompensatorischen Überstreckung im Grundgelenk und ist der exakte seitliche Strahlengang eine Luxation oder Luxations-
kosmetisch störend. Eine deutliche Verkürzung des Mittelhand- fraktur im karpometakarpalen Bereich zur Darstellung bringt.
knochens nach Fraktur oder Torsionsabweichung kann zu erheb- Gelegentlich wird zur besseren Darstellung der Luxation, Luxati-
lichen Störungen der Greiffunktion führen und ist kosmetisch onsfraktur oder Trümmerzonen bei Einstauchungen eine compu-
störend. Daraus resultiert eine klare Indikation zu einer Korrektur. tertomografische Untersuchung mit der sagittalen und koronaren
Rekonstruktion erforderlich.
Zusätzlich können Röntgenaufnahmen mit Zentralstrahl auf
25.1.2 Epidemiologie Fraktur/Luxation unter Durchleuchtung notwendig werden, wenn
die genaue Kenntnis der Verletzung zur Planung der Operation
Frakturen im Handbereich sind häufige Verletzungen. Etwa 60% erforderlich ist.
aller Frakturen im Bereich der Hand entfallen auf die Phalangen, CT- oder MRT-Untersuchungen sind nur dann erforderlich,
etwa 30% auf die Mittelhand und ca. 10% auf die Handwurzel, wo- wenn dringender Verdacht auf Frakturen oder Bandverletzungen
bei die Skaphoidfraktur eine besondere Rolle einnimmt. der Handwurzel oder der Mittelhand besteht, die durch konventio-
nelles Röntgen nicht dargestellt werden können.
25.1.3 Ätiologie
25.1.5 Klassifikation
Knochendefekte können angeboren oder erworben sein. Bei den
erworbenen Knochenverletzungen und -defekten unterscheidet Frakturen
man hinsichtlich der Ätiologie nach Trauma, Infekt oder Tumor. Die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese (Petracic u. Siebert
Die Art der Gewalteinwirkung beeinflusst Lokalisation und Typ 1995) hat eine Klassifikation der kurzen Röhrenknochen im Be-
der Fraktur der Mittelhandknochen. Axiale Kompression auf dem reich der Mittelhand und der Phalangen vorgenommen. Analog zu
Mittelhandknochen, auf das rechtwinklig gebeugte Grundglied, den langen Röhrenknochen werden hier Einteilungen nach
führt zu subkapitalen Frakturen, direkte Gewalteinwirkung zu ▬ A: diaphysären Frakturen,
Schräg- und Querbrüchen, Torsion zu Spiralfrakturen des Schaftes. ▬ B: metaphysären Frakturen,
Die Dislokation dagegen ist fast ausschließlich Folge der lokal ein- ▬ C: Gelenkfrakturen
wirkenden mechanischen Kräfte (⊡ Abb. 25.3; ⊡ Abb. 25.7). unterschieden, wobei diese je nach Schwere der Fraktur weitere
Unterteilungen erfahren. Das Ausmaß einer möglicherweise mit-
bestehenden Weichteilverletzung wird nicht berücksichtigt. Ein
25.1.4 Diagnostik wesentliches morphologisches Kriterium besteht bei Dislokation,
Instabilität und Gelenkbeteiligung ( Kap. 24).
Der Untersuchungsgang entspricht dem Vorgehen bei Frakturen Während die allgemeine Klassifikation den Frakturen an den
im Fingerbereich ( Abschn. 21.1.4). Auf folgende Besonderheiten Phalangen und der Mittelhand gilt, wird aufgrund der besonderen
soll speziell hingewiesen werden: funktionellen Bedeutung des Daumens und dessen Greiffunktion
Entscheidend bei der Beurteilung von Frakturen der Mittel- auf spezielle Einteilung der Basisfrakturen des 1. Mittelhandkno-
handknochen sind nicht allein die röntgenologisch erkennbaren chens mit Einteilung in Bennett-, Rolando- und Winterstein-Frak-
unmittelbaren Schäden, sondern auch die erfahrungsgemäß zu turen hingewiesen.
erwartenden funktionellen Störungen der gesamten Hand. Aufgrund der klinischen Erfahrung hat sich für den Metakar-
Beim Befragen der Patienten ist auf den exakten Entstehungs- palbereich eine Klassifikation in folgende Untergruppen bewährt:
mechanismus der Verletzung zu achten. Eine schmerzhafte Hand-
rückenschwellung und Funktionsverlust mit beginnender Defor-
mität im Bereich der Mittelhandknochen proximal oder distal wei- Frakturen im Bereich des Metakarpale I
sen auf eine Fraktur oder Luxation hin. Die Luxation im Bereich ▬ MHK-I-Basisfrakturen
der karpometakarpalen Knochen können aufgrund der massiven – Luxationsfrakturen der MHK-I-Basis (Bennett, Rolando)
Schwellung des Handrückens klinisch übersehen und röntgeno- – Extraartikuläre Schrägfraktur der MHK-I-Basis (Winterstein)
logisch bei einer zusätzlich erkennbaren Fraktur im Schaftbereich ▬ MHK-I-Schaft-Frakturen
fehlgedeutet werden. Ein Abweichen der Metakarpalköpfe in ent- ▬ Distale Metakarpale-I-Köpfchen-Frakturen
sprechender Reihe bei angedeutetem Faustschluss weist auf eine
Luxationsfraktur der betreffenden Mittelhandknochen hin. Weich- Frakturen im Bereich der Metakarpale II – V
teilverletzungen im Bereich des Köpfchens mit Deformierung des ▬ MHK-II- bis -V-Basis-Frakturen
Mittelhandknochens weisen auf eine Schlag- oder Bissverletzung – Luxationsfrakturen der MHK-II- bis –V Basis
der Hand hin. Eine Fehlstellung der Mittelhandknochenfraktur ▬ MHK-II- bis -V-Schaft-Frakturen
mit palmarem offenem Winkel stört das Muskelgleichgewicht der ▬ MHK-II- bis -V-Köpfchen-Frakturen
Hand. Es kommt zu kompensatorischer Überstreckung im Grund-
gelenk und ist kosmetisch störend.
Zur Diagnostik der Mittelhandfrakturen oder allgemeinen Ver- Knöcherne Fehlstellungen
letzungen werden konventionelle Röntgenaufnahmen in drei Ebe- Die häufigste Form einer knöchern fehlverheilten Fraktur im Me-
nen notwendig. takarpalbereich ist die Verkürzungsstellung. Weitere Fehlstellungen
1. Mittelhand mit distaler Handwurzelreihe d.-p., sind Achsenfehler in der Sagittalebene, Achsenfehler als Varus-Val-
2. Mittelhand mit distaler Handwurzelreihe 20° seitlich, gus-Fehlstellungen und Rotationsfehler (Torsion). Die Fehlstellun-
3. Mittelhand mit distaler Handwurzelreihe streng seitlich. gen können einzeln oder (meist) kombiniert auftreten.
25.1 · Allgemeines
619 25
25.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Osteosynthesen einer zusätzlichen Immobilisierung im Schienen-
verband bedarf.
Frakturen Da die stabile Schrauben- und Plattenosteosynthese operativ
Frakturen im Bereich des Metakarpale I aufwändig und technisch schwierig ist, besteht hierzu eine Indi-
Bei allen Frakturen des 1. Mittelhandknochens steht klinisch die kation, wenn unmittelbar postoperativ aktive Bewegung möglich
Verschmälerung der Kommissur I–II im Vordergrund, durch Ad- und erwünscht ist, z. B. aus sozialer Indikation oder zur sofortigen
duktion des peripheren Hauptfragments, z. B. bei Schaftfrakturen funktionellen Nachbehandlung bei Begleitverletzungen. Bei Ge-
und den extraartikulären Schrägfrakturen der MHK-I-Basis (Win- lenkfrakturen mit Stufenbildung besteht immer eine Indikation zur
terstein-Fraktur). Bei der Luxationsfraktur des Karpometakarpal- Operation.
gelenks I (Bennett-Fraktur) ist das ulnar-palmare Fragment durch
den intakten beugeseitigen Kapsel-Band-Apparat fixiert, während MHK-I-Basis-Frakturen
das Schaft-Hauptfragment zusätzlich zur Adduktion durch Zug des Bei intraartikulären Frakturen der MHK-I-Basis steht die exakte
M. abduktor pollicis longus nach proximal luxiert. Gleiches gilt für Wiederherstellung der Gelenkfläche im Vordergrund, wobei je
die intraartikuläre Y- oder T-Fraktur der MHK-I-Basis (Rolando- nach Frakturtyp 1,2- bis 1,4-mm-Kirschner-Drähte oder Schrau-
Fraktur). Diese Dislokation in Verkürzung und Adduktion lässt ben (⊡ Abb. 25.8) und Platten in 2 mm Dimension zur Anwendung
sich auch leicht geschlossen durch Längszug und Abduktion über kommen. Lässt sich bei Luxationsfrakturen die exakte Reposition
dem Finger des Chirurgen als Hypomochlion reponieren, jedoch durch Gips allein nicht retinieren, so ist bei sehr kleinem ulnar-
ebenso wie die Reposition der Gelenkfläche nur schwer auf Dauer palmaren Fragment die Kirschner-Draht-Stabilisierung indiziert.
durch äußere Fixation allein retinieren. Deshalb besteht auch hier Prinzipiell ist diese auch perkutan unter geschlossener Reposition
eine Operationsindikation. möglich ( Abschn. 25.2.2). Da hierbei jedoch auch unter Bildver-
Rotationsfehlstellungen und starke Verkürzung der Mittel- stärkerkontrolle die Beurteilung der Gelenkfläche unsicher ist,
handknochen führen zu schweren Funktionseinschränkungen sollte dieses Verfahren nur in Ausnahmefällen (eingeschränkte OP-
und Störungen. Deshalb müssen diese verhindert bzw. ausge- Fähigkeit, Polytrauma) angewandt werden.
glichen werden. Eine Indikation zur Operation besteht, falls die Wenn immer möglich sollte die Reposition offen erfolgen, da
Fehlstellung nicht korrigiert und retiniert werden kann. Eine nur so nicht einzupassende kleinste Fragmente aus dem Gelenk
Mittelstellung zwischen geschlossener konservativer Behandlung entfernt werden und die Weichteile wie Sehnen, Gefäße und Ner-
und offener Osteosynthese stellt die geschlossene Reposition mit ven geschont werden können. Nach Reposition der Gelenkfläche
perkutaner Kirschner-Draht-Fixation zur Sicherung des Repo- unter Sicht können mehrere Osteosynthesetechniken zur Fixierung
sitionsergebnisses dar, die allerdings wie alle Kirschner-Draht- verwendet werden ( Abschn. 25.2.3). Eine Zugschrauben- oder
a b
c d
⊡ Abb. 25.8 Postoperatives Ergebnis einer intraartikulären MHK-I-Basis-Fraktur (Bennett) nach offener Reposition und Schraubenosteosynthese. a–d Röntgen-
darstellung: Schraubenosteosynthese der Bennett-Fraktur mit Schraubenfixation des Bandrisses am Trapezium. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
620 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
Plattenosteosynthese von MHK-I-Basis-Frakturen sollte versucht kontinuierliche und regelmäßige Kontrolle durch einen erfahrenen
25 werden, wenn nicht ein ausgesprochener Trümmerbruch vorliegt, Arzt erforderlich. Abgesehen vom kosmetischen Aspekt spielt bei
bei dem das ulnar-palmare Fragment zu klein ist, um darin sicher subkapitalen Frakturen die typische palmare Abkippung des Köpf-
eine Schraube zu verankern ( Abschn. 26.2.4). Winkelstabile Mini- chens an MHK II und III bis 10°, an MHK IV und V bis 20° funkti-
platten können auch hier gute Dienste erweisen. onell keine wesentliche Rolle, solange ein gleichzeitiger Drehfehler
Das Gleiche gilt für echte T- oder Y-Frakturen der Basis des ausgeschlossen werden kann.
MHK I (Rolando-Fraktur) mit 2 ausreichend großen proximalen Kontraindiziert ist die konservative Behandlung im Gips, wenn
Fragmenten, wobei der rekonstruierte solide Gelenkblock mit iso- durch die Immobilisierung in einer Zwangsstellung vorbestehende
lierten Zugschrauben, T- oder L-Plättchen (Minifragmentosteosyn- Schäden oder Erkrankungen wesentlich verschlimmert und einer
these 2,0 mm) am Metakarpalschaft fixiert wird ( Abschn. 25.2.3). objektivierbaren Kontrolle entzogen würden.
Auch der extraartikuläre Schrägbruch an der Basis des MHK I Wenn sich geschlossene Repositionsergebnisse auf Dauer durch
(Winterstein-Fraktur) sollte wie eine Gelenkfraktur mit Osteoyn- einen zusätzlichen Verband nicht retinieren lassen, ist stabile Platten-
these stabilisiert werden ( Abschn. 25.2.3). oder Schraubenosteosynthese nur gerechtfertigt, weil die dann mög-
Bei zu kleinem knöchernem proximalem Fragment und Trüm- liche postoperative funktionelle Nachbehandlung vorteilhafter ist.
merfrakturen der gelenkbildenden MHK-I-Basis, ist die Kirschner- Eine absolute Indikation zur operativen Behandlung besteht bei allen
Draht-Osteosynthese (1,2–1,4 mm) die einzig mögliche Thera- ▬ offenen Frakturen (mit oder ohne Begleitverletzungen);
piemethode ( Abschn. 25.2.3). Als zusätzlicher Schutz kann nach ▬ Mehrfachfrakturen (fehlende gegenseitige Stabilisierung);
Kirschner-Draht-Rekonstruktion der Gelenkfläche ein Minifixa- ▬ nicht stabil reponierbaren Frakturen (Frakturen der MHK-
teur externe angebracht werden. V-Basis, die wegen des Zuges des M. abductor digiti minimi
geschlossen nicht retiniert werden können) sowie
MHK-I-Schaft-Frakturen ▬ Luxationen und Luxationsfrakturen der karpometakarpalen
Geschlossene MHK-I-Schaft-Frakturen ohne Weichteilschaden oder Gelenke (⊡ Abb. 25.3a, ⊡ Abb. 25.10a–c). Hier ist eine interne
Dislokation können konservativ oder operativ behandelt werden. Fixierung erforderlich. Wegen der flachen Form der karpome-
Instabile, zur Verkürzung, Rotation oder Verschmälerung der takarpalen Gelenke gibt es oft keine Stabilität nach Repositi-
Daumenkommissur neigende MHK-I-Schaft-Frakturen werden onen der Luxationsfrakturen in diesem Bereich und deshalb
durch dorsale Plattenosteosynthese mit T- oder geraden Plättchen muss operativ stabilisiert werden. Häufig ist die Luxation
stabilisiert ( Abschn. 25.2.4). Eine reine Zugschraubenosteosyn- streckseitig mit beugeseitigem Knochenkeil (⊡ Abb. 25.9a);
these mit 2-mm-Kortikalisschrauben kommt nur bei ausgesproche- ▬ Trümmerbrüchen, Querfrakturen, kurzen Schrägfrakturen;
nen Spiralfrakturen in Frage. Bei problematischen Weichteilen hat ▬ Drehkeilfrakturen wegen der Torsionsfehler;
sich die intramedulläre Kirschner-Draht-Schienung oder äußere ▬ Frakturen und Bandzerreisungen der distalen Handwurzel-
Stabilisierung mittels Minifixateur externe bewährt. Im Gegensatz knochen (⊡ Abb. 25.9b,c).
zur Kirschner-Draht-Osteosynthese kann dabei, wie nach stabiler
Osteosynthese, funktionell nachbehandelt werden. Eine definitive Osteosynthese von Mittelhandfrakturen bei proble-
matischen Weichteilen ist kontraindiziert, z. B. bei Kontamination
Distale Metakarpale-I-Köpfchen-Frakturen begleitender Weichteilwunden oder wenn der schwere Weichteil-
Kleinere einzelne Fragmente des Mittelhandköpfchens werden, schaden primär aufgrund der zu erwartenden Nekrosen überhaupt
wenn sie geschlossen reponierbar sind, perkutan mit 1 oder nicht abzusehen ist. Neben der üblichen Minimalosteosynthese mit
2 Kirschner-Drähten der Stärke 1–1,2 mm fixiert. Nicht reponier- Kirschner-Drähten hat sich in solchen Fällen die Anwendung des
bare größere Fragmente müssen offen reponiert und durch eine Minifixateur externe bewährt. Nur falls ein primärer Verschluss
Schraube stabil refixiert werden. Ist das Fragment hierzu zu klein, durch Lappenplastiken (Nah- und Fernlappen) angestrebt wird,
so kann es alternativ mit Kirschner-Drähten oder einer transossä- ist auch der Einsatz einer Osteosynthese möglich. Die retrograde
ren Naht evtl. mit Mitek-Anker refixiert werden, ansonsten wird es Bohrdrahtosteosynthese, die früher als Standardverfahren auch im
besser entfernt. Bereich der Mittelhandknochen angewandt wurde, führt zwangs-
Ausgesprochene Trümmerfrakturen des Mittelhandköpfchens läufig immer zu einer Verletzung und Fixierung der Streckseh-
legt man besser nicht frei, da sonst der letzte Weichteilgewebskon- nenhaube und ist beim Erwachsenen nicht mehr einzusetzen. Hier
takt verloren geht ( Abschn. 25.2.5). kommt die relativ stabilere intramedulläre Osteosynthese zum
Diese Frakturen werden im Kindesalter, solange die Epiphyse Einsatz, die erst durch das fächerförmige Ausbreiten der leicht ge-
offen ist, mit Kirschner-Drähten versorgt. Die Stärke der Kirsch- bogenen Drähte der Fraktur besser retiniert.
ner-Drähte richtet sich nach Größe des Fragments, bei Kindern
zwischen 0,6–1,2 mm an der Mittelhand und an den Phalan- MHK-I- bis -V-Basis-Frakturen
gen. Anschließend ist eine Ruhigstellung mittels einer Schiene für Die Art der Gewalteinwirkung beeinflusst Lokalisation und Typ
3 Wochen erforderlich. der Frakturen der Mittelhandknochen. Axiale Kompression auf die
Mittelhandknochen bei rechtwinklig gebeugtem Grundglied kann,
Frakturen im Bereich der Metakarpale II–V abgesehen von subkapitalen Frakturen (»Boxer-Fraktur«), durch zu-
Nicht dislozierte oder nach geschlossener Reposition stabile Frak- sätzliche Torsion zu Luxationen und Luxationsfrakturen in den kar-
turen der Metakarpalia werden in der Regel konservativ im Gips pometakarpalen Gelenken II–V führen. Die schweren Dislokationen
behandelt ( Abschn. 25.2.6). Hierunter fallen isolierte nicht dislo- sind fast ausschließlich Folge der lokal einwirkenden mechanischen
zierte Schaft-, isolierte subkapitale sowie Basisfrakturen der Meta- Kräfte. Die typische Dislokation der gebrochenen Mittelhandfrak-
karpalia III und IV. Bei stabilen Frakturen ohne Dislokation oder tur II–V an der Basis, nämlich die palmare Abkippung des periphe-
mit zu vernachlässigender Dislokation kann auch eine »funktio- ren Fragments in Beugestellung, kommt durch den Zug vor allem der
nelle« Behandlung mit flexiblen Schienenverbänden angeordnet Mm. interossei zustande. Eine Fehlstellung der Mittelhandknochen
werden, solange der Patient kooperativ und zuverlässig ist. Hier ist durch Fraktur mit palmar offenem Winkel stört das Muskelgleich-
25.1 · Allgemeines
621 25
a b a b
25
Bei einfachen diaphysären Schrägbrüchen der MHK II und V wieder über den Schrauben und Platten angenäht werden, um eine
empfiehlt sich zur zusätzlichen Stabilisierung eine Miniplatte mit Reibung der Sehnen auf dem Osteosynthesematerial zu verhindern.
mindestens 4 Löchern als Neutralisationsplatte (⊡ Abb. 25.11). Bei zusätzlichem Weichteildefekt kann die Kirschner-Draht-
Die Anwendung der Zugschrauben sowie die Miniplattenosteo- Osteosynthese notwendig werden. Bei der intramedullären Schie-
synthese, Dimension 2,0 mm, kommen bei queren Frakturen, langen nung ist darauf zu achten, dass die 2 antegrad zur Markraumschie-
Schrägbrüchen und Frakturen mit Trümmerzone in Frage. Nach nung eingebrachten Drähte sich nicht in Höhe der Schaftfraktur
Vervollständigung der Osteosynthese soll das peritendinöse Gewebe kreuzen. Diese sollten fächerförmig eingebracht werden, sodass
25.1 · Allgemeines
623 25
sich die Drähte im Markraum verklemmen. Dadurch kommt es zu Immobilisierung, wie bei der konservativen Therapie, ist nicht
einer guten Stabilität der Fraktur, die sogar auch eine Rotations- erforderlich (höchstens 7–10 Tage). Durch vorgebogene Draht-
stabilität beinhaltet. Bei guter Einklemmung ist nur eine vorüber- spitzen können die reponierten Frakturen des Köpfchens besser
gehende Ruhigstellung für 7–10 Tage auf einer Schiene angezeigt gehalten werden ( Abschn. 25.2.10).
( Abschn. 25.2.10). Muss eine Immobilisierung unbedingt vermieden werden, ist
Falls überhaupt 2 retrograd eingebrachte Kirschner-Drähte die stabile Osteosynthese nur durch Platten und Schrauben zu
notwendig sein sollten, ist darauf zu achten, dass diese sich nicht erreichen. Da im distalen Fragment mindestens 2 Schrauben liegen
in Höhe der Fraktur kreuzen. Da nach einer Kirschner-Draht-Os- müssen, setzt auch die T- oder L-Platte ein ausreichend großes
teosynthese zusätzlich für 3–4 Wochen ein Gipsverband in Intrin- Köpfchenfragment voraus. Problematisch ist die Beeinträchtigung
sic-plus-Stellung wegen der schräg verlaufenden Kollateralbänder des Strecksehnenhäubchens. Eine gute Indikation bildet hier die
absolut erforderlich ist, kombiniert man die Gefahr der operativen winkelstabile Plattenosteosynthese, die auch gute Stabilität gelen-
Behandlung (Infekt, Läsionen des Streckapparats über den MP- knah erbringen kann. Durch Versenken der Schraube in der Platte
Gelenken etc.) mit den Nachteilen der konservativen Behandlung ist die Beeinträchtigung der Strecksehnenhaube deutlich geringer
(Immobilisierung nicht betroffener Gelenke). Letztlich sind die Art ( Abschn. 25.2.11).
und die Dauer der Ruhigstellung abhängig von der Compliance des Eine Minikondylenplatte ist für Frakturen des 2. und 5. Mittel-
Patienten. Wann immer möglich, sollten retrograde Drähte über handknochens vorgesehen (⊡ Abb. 25.12).
der Strecksehnenhaube vermieden werden. Durch die lateral anzubringende Minikondylenplatte für den 2.
Bei ausgesprochenen Trümmerfrakturen einzelner oder meh- und 5. MHK kann zwar eine Freilegung des Streckapparats weitge-
rerer Mittelhandknochen oder problematischen Weichteilen emp- hend vermieden werden, biomechanisch ist diese Lage aber proble-
fiehlt sich die Minifixateur-externe-Osteosynthese, wobei die Mini- matisch, da keine Zuggurtung streckseitig erfolgt und die palmare
Schanz-Schrauben am 2. Metakarpale von radialseitig, am Metakar- Abkippung nur durch stabile axiale Kompression des gesamten
pale V von dorsoulnar, ansonsten streckseitig im Winkel von 45° Frakturspalts verhindert werden kann ( Abschn. 25.2.12).
zum Mittelhandknochen eingebracht werden. Der Vorteil dieses Bei Frakturen des MHK-Köpfchens selbst lassen sich größere
Verfahrens ist ohne Zweifel die stabile perkutane Montage ohne Fragmente, z. B. ein abgescherter Kondylus, mit Zugschrauben
Freilegung der eigentlichen Frakturzone. Dafür sind jeweils min- oder Kirschner-Draht refixieren. Weiterhin kommen für die Kopf-
destens 2 Schanz-Schrauben proximal und distal der Fraktur erfor- frakturen bzw. Mehrfragmentfrakturen des Gelenks die Minisch-
derlich. Die Montage kann axial einfach oder in Form von Rahmen- rauben mit 1,5 mm Durchmesser und Doppelgewinde in Frage,
montage erfolgen. Die Planung vor der Montage ist notwendig. die ebenso eine gute Stabilität bringen. Eine Entfernung solcher
Schrauben ist nicht mehr vorgesehen (⊡ Abb. 25.13). Deformierte
MHK-II- bis -V-Köpfchen-Frakturen Köpfchen bei ausgesprochenen Trümmerfrakturen lassen sich
Distale Schaft- oder subkapitale Frakturen, die nach der geschlos- geschlossen durch das typische Repositionsmanöver nach Jahss
senen Reposition nach palmar abkippen, können nach erneuter ( Abschn. 25.2.1) besser wiederherstellen als offen, wobei dann
Reposition durch 2 intermedulläre Drähte stabilisiert werden, die die intramedulläre Schienung zur Anwendung kommt. Mit der
je nach Frakturform fächerförmig eingebracht werden. Eine lange Kapandji-Technik kann eine relativ stabile intramedulläre antro-
624 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25.1.7 Therapie
Frakturen
Sowohl für die konservative als auch für die operative Therapie der
Frakturen gelten folgende identische Grundregeln:
> Reposition, Retention und Rehabilitation.
Konservative Therapie
Nicht dislozierte oder nach geschlossener Reposition stabile Frak-
turen der Metakarpalia werden in der Regel konservativ in Instri-
nic-plus-Stellung im Gips behandelt:
In Narkose, Plexusanästhesie oder im Handblock wird die
Fraktur mithilfe des Manövers nach Jahss reponiert. Die Retention
c f erfolgt bei stabilen Frakturen auf einer palmaren Fingergipsschiene
in Intrinsic-plus-Position ( Kap. 2). Nach primärer Schienenru-
⊡ Abb. 25.13 Kapitale und subkapitale MHK-V-Trümmerfraktur und osteo- higstellung am Unfalltag werden zu einem späteren Zeitpunkt
synthetische Versorgung mit 2 1,5-mm-Doppelgewindeschrauben sowie bevorzugt thermoplastische Materialien oder Kunststoffschienen
winkelstabiler 2,0-mm-Platte. a Röntgenbild präoperativ: d. p. Strahlengang, verwendet, welche sich an die individuelle Anatomie besser anpas-
b Röntgenbild postoperativ: d. p. Strahlengang, c Röntgenbild postoperativ: sen und einen erheblichen Tragekomfort bieten. Durch klinische
lateraler Strahlengang, d Funktion 10 Tage postoperativ: komplette Finger- und radiologische Kontrollen sollte eine sekundäre Dislokation der
streckung, e, f Funktion 10 Tage postoperativ: kompletter Faustschluss Fraktur nicht übersehen werden. Sollte es jedoch im weiteren Ver-
lauf zu einer sekundären Dislokation kommen, besteht innerhalb
der ersten 10 Tage die Möglichkeit, die Fraktur erneut zu reponie-
grad geführte Osteosynthese mit 1,2-mm-Drähten durchgeführt ren und retinieren oder das Therapiekonzept zu ändern und sich
werden ( Abschn. 25.2.10). für ein operatives Verfahren zu entscheiden. Bei stabilen Frakturen
sollte eine frühzeitige Mobilisation unter krankengymnastischer
Multiple Metakarpalfrakturen Anleitung erfolgen, um der Ödembildung und Gelenkeinsteifun-
Multiple Mittelhandfrakturen in einfacher oder mehrfrakturierter gen entgegenzuwirken. In der Regel reichen 4–6 Wochen aus, bis
Form kommen nach schweren Riss- und Quetschverletzungen die Frakturen konsolidieren und danach die Ruhigstellung aufge-
sowie Anprall- oder Stauchungstraumen vor. Dabei kann es sich geben werden kann.
25.1 · Allgemeines
625 25
a b
c d e
⊡ Abb. 25.14 Frühfunktionelle Frakturbehandlung nach Thomine bei Metakarpal-II-Schaft-Frakturen bei einem 13-jährigen Mädchen. a Röntgenbild am
Unfalltag: d. p. Strahlengang, b Röntgenbild am Unfalltag: schräger Strahlengang, c Röntgenbild 19 Monate nach Fraktur: d. p. Strahlengang, schräger
Strahlengang, d Funktion 19 Monate nach Fraktur, e Brace-Behandlung: Die Hand wird in Intrinsic-plus-Stellung immobilisiert. Durch die Entspannung der
M. interossei wird die Dislokationsgefahr signifikant reduziert (Ansicht von lateral). Durch frühzeitige Mobilisation der Finger in Syndaktyliestellung wird der
Immobilisationsschaden auf ein Minimum reduziert und eine sekundäre Rotationsfehlstellung vermieden. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
Grundsätzlich bedeutet die konservative Behandlung nicht im- und ohne kleinere knöcherne Fragmente lassen sich leicht durch
mer eine reine statische Gipsruhigstellung, sondern sie ist bei sta- Zug an den betreffenden Fingern, kombiniert mit einem Druck
bilen Frakturen mit frühfunktionellen Bewegungsübungen kom- auf die Basis des luxierten Metakarpalknochens reponieren. We-
binierbar. In der Technik nach Thomine wird die Hand in einer gen der flachen Form der karpometakarpalen Gelenke gibt es oft
funktionellen Orthese in Intrinsic-plus-Stellung fixiert. Durch Syn- keine Stabilität nach Reposition der Luxationsfrakturen in diesem
daktylieverband distal der PIP-Gelenke wird so eine ausreichende Bereich, sodass immer eine operative Stabilisierung günstiger ist.
Stabilität bei Metakarpale-II- bis -V-Frakturen erreicht, sodass eine Unter sicherer Vermeidung eingeschlagener Bandanteile und exak-
physiotherapeutische Therapie nach Sistieren der Schmerzen früh- ter Reposition, die am besten operativ erfolgen sollte, sowie unter
zeitig gestartet werden kann (⊡ Abb. 25.14). Retention mit Bohrdrähten und zusätzlicher Gipsfixation können
sekundäre Luxationen vermieden werden ( Abschn. 25.2.7).
Operative Therapie Eine Fraktur oder Luxationsfraktur der Mittelhandknochen un-
Bei intraartikulären Frakturen der MHK-I-Basis steht die exakte ter Mitbeteiligung der distalen Handwurzel muss dementsprechend
Wiederherstellung der Gelenkfläche im Vordergrund, wobei die mit Schrauben oder Kirschner-Drähten versorgt und die karpome-
interne Fixierung des Repositionsergebnisses je nach Frakturtyp takarpalen Bänder müssen wieder genäht werden. Je nach Luxati-
durch Kirschner-Drähte der Stärke 1,2–1,4 mm oder 2,0-mm-Kor- onstendenz des Mittelhandknochens vom Karpus muss zusätzlich
tikalisschrauben oder Minifragmentplättchen erfolgt. Anzustreben eine temporäre Fixierung mit Kirschner-Drähten angeschlossen
ist bei absoluter Indikation die primäre Operation, doch kann werden. Eine Ruhigstellung im Gipsverband für 4–6 Wochen ist
die Osteosynthese notfalls auch, wie nach Redislokation im Gips, für die Ausheilung der Bänder erforderlich. Nach Entfernung des
sekundär nach 5–8 Tagen nach Abschwellung erfolgen, z. B. bei Gipsverbandes und der Kirschner-Drähte nach 6 Wochen kann
polytraumatisierten Patienten, wenn in der primären operativen mit aktiven Bewegungsübungen begonnen werden. Beim Gips-
Phase andere Verletzungen im Vordergrund stehen. verband bleiben die Grundgelenke der Finger grundsätzlich zur
Bei den meisten instabilen Luxationsfrakturen der Mittelhand- Übung frei. Falls bei einer Fraktur an der Basis des Mittelhandkno-
basis II–V steht die Rekonstruktion der Gelenkfläche und des chens keine Luxation des Karpometakarpale besteht, ist bei stabiler
Bandapparats zur Handwurzel im Vordergrund. Subluxationen mit Osteosynthese kein Gipsverband erforderlich.
626 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
Diagnostik
Die klinische Untersuchung berücksichtigt Schmerz, Schwellung,
Fehlstellung und Bewegungseinschränkungen. Besonderes Augen-
c
merk gilt möglichen Drehfehlern, die in der Regel nur bei der
Beugung der Finger offensichtlich werden ( Kap. 24) Die palmare
⊡ Abb. 25.15 a Quetschverletzung der linken Hand mit offenen Frakturen,
Achsenfehlstellung (Sagittalebene) fällt durch ein Tiefertreten des
zunächst rein konservatives Vorgehen, b Ausheilungsbild nach 6 Wochen,
Köpfchens auf. Dieses verschwindet erst mit vollständigem Remo-
c Kontrolle nach 2 Jahren zeigt ein gutes Remodelling. (Aus Weinberg u.
Tscherne 2006) delling.
Röntgenbilder der Mittelhand in zwei Ebenen sind der Standard.
Bei massiver Schwellung und fehlendem radiologischen Nachweis
einer Fraktur empfiehlt sich eine Ruhigstellung für 7–10 Tage. Bei
Metakarpalia II–V. Bei diesen Knochen sind Frakturen im Be- entsprechender weiter bestehender klinischer Symptomatik kann
reich von Basis und Schaft eher selten, hier überwiegen die distalen nach diesem Zeitintervall gezielt nachgeröntgt werden.
subkapitalen Frakturen, die als Stauchungsfrakturen und als Epi-
physenlösungen mit metaphysärem Keil (Fuge distal!) vorkommen. Therapie
Der am häufigsten betroffene Knochen ist das Metakarpale V. Hauptziel der Therapie ist das Vermeiden von Bewegungsein-
schränkungen bei Ausheilung der Fraktur in einer altersentspre-
Klassifikation chend anatomiegerechten Stellung (⊡ Tab. 25.2).
Im Bereich der Frakturen der Metakarpalia unterscheidet man Der Grad der Stabilität bei üblicherweise stereotypen Verlet-
entsprechend ihrer anatomischen Lokalisation vier Formen zungen ist in der Kindertraumatologie das Entscheidungskriterium
(⊡ Abb. 25.16). für die einzelnen Verfahren.
628 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25
a b c
d e f
⊡ Abb. 25.17 Fraktur in Schaftmitte des 5. Mittelhandknochens (Mädchen, 12 Jahre). a Unfallbild einer Grünholz-Fraktur in Schaftmitte des 5. Mittelhand-
knochens, b konservative Therapie, c Ausheilung nach 4 Wochen, d Refraktur mit inakzeptabler Achsenfehlstellung, e intramedulläre Schienung der Refrak-
tur, f Ausheilungsbild nach 8 Wochen nach durchgeführter Implantatentfernung. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
Als stabil gelten alle Stauchungsfrakturen sowie inkomplett den gelenktragenden Teil betreffen, achsengerecht zu versorgen.
gebrochene Brüche (Grünholz-Frakturen). Grundsätzlich stellen Insgesamt sind die Verletzungen des 2.–5. Strahls weniger disloka-
wir diese Frakturen für 10–14 Tage ruhig, um die Schmerzen zu tionsgefährdet als die des 1. Strahls. Falls ein operatives Vorgehen
lindern. Bei Kindern über dem 8. Lebensjahr und insbesondere bei notwendig wird, sind wenn möglich die geschlossenen den offenen
Adoleszenten sowie bei sportlich aktiven Jugendlichen kann die Verfahren vorzuziehen. Die Indikation zur Osteosynthese ist eben-
Fraktur durch einen funktionellen Brace ruhiggestellt werden. falls bei offenen Frakturen gegeben.
Dies trifft sowohl für Frakturen mit oder ohne Osteosynthese
zu. Dabei wird der betroffene Finger an einen gesunden Nachbar- Metakarpale II–V
finger in künstlicher Syndaktyliestellung fixiert. Die Schienenan- Frakturen des Caput
ordnung berücksichtigt die Intrinsc-plus-Stellung und besteht aus Unverschobene, stabile Frakturen werden konservativ behandelt.
zwei Hälften, welche zusammen, z. B. durch Klettbänder, fixiert Bei dislozierten intraartikulären (epiphysären!) Frakturen ist die
werden. Der beugeseitige Anteil reicht vom Unterarm bis zur dista- offene Reposition mit anschließender Fixation indiziert, wobei
len Hohlhandbeugefalte, im Gegensatz dazu endet der streckseitige der Zugang über eine Längsinzision und Spaltung der Sehne des
Anteil über den PIP-Gelenken. Die Kinder werden angehalten, M. extensor digitorum und Eröffnen der Kapsel erfolgt. Meist wer-
gleichzeitig die Finger 2–5 im PIP und DIP zu bewegen. Dabei den bei Kindern Kirschner-Drähte oder bei größeren Fragmenten
werden Verklebungen der Strecksehnen vermieden, sodass nach Minischrauben verwendet.
Beendigung der Schienenbehandlung eine Frakturkonsolidierung
und freie Beweglichkeit gleichzeitig erreicht werden (⊡ Abb. 25.14). Subkapitale Frakturen
Instabil können vollständige Frakturen bzw. Epiphyseolysen Konservative Behandlung
mit oder ohne metaphysären Keil sein. Gelenkfrakturen treten Die häufig vorkommenden subkapitalen Frakturen treten – als Lö-
sehr selten auf und sind bei jeglicher Dislokation, wenn diese sung oder spongiöse Stauchungsfraktur – fast immer in Kombina-
25.1 · Allgemeines
629 25
MCP I Basale Frakturen Nicht disloziert (meist Stau- 10–14 Tage Daumenabduktionsgips
chungsfraktur)
Disloziert Reposition
Instabil: Osteosynthese
tion mit unterschiedlich ausgeprägten Kippungen des Köpfchens der »Joy-Stick«-Methode auf den Schaft zu setzen. In Ausnahme-
nach palmar auf. Es lässt sich zu der palmaren Abkippung oft auch fällen ist die Miniplattenosteosynthese indiziert (⊡ Abb. 25.18).
eine Dislokation nach ulnar diagnostizieren. Wird eine zusätzliche
seitliche Achsabweichung nach ulnar oder radial festgestellt, ist Frakturen des Korpus
eine Reposition der Fraktur mit anschließender Ruhigstellung in Konservative Behandlung
einem Unterarmgips mit Einschluss des dreigliedrigen betroffe- Nicht dislozierte oder nur leicht dislozierte Schaftfrakturen kön-
nen Fingers und mindestens eines gesunden Nachbarfingers indi- nen konservativ behandelt werden. Darunter wird eine maximale
ziert. Handelt es sich dagegen um eine Seit-zu-Seit-Verschiebung Verkürzung ohne Rotationsfehler von bis zu 6 mm und eine Seit-
kann diese bis zu einem Drittel toleriert werden und benötigt kei- zu-Seit-Verschiebung von 1/3 Schaftbreite verstanden. Dies trifft
ne Reposition. In der Adoleszenz wird die Intrinsic-plus-Stellung besonders für den 3. und 4. Strahl bei intakten metakarpalen
bevorzugt. Ist eine Achsabweichung in der Frontalebene oder Bandverbindungen zu. Schaftfrakturen des 2. und 5. Mittelhand-
ein Rotationsfehler ausgeschlossen, so kann bei einer palmaren knochens weisen ein höheres Risiko auf, sekundär zu dislozieren.
Abkippung altersabhängig bis 30° auf eine Reposition verzichtet Dislozierte und vor allem verkürzte Schaftfrakturen können
werden. Die rein funktionelle Therapie der gering dislozierten mithilfe einer eingegipsten Fingerschiene nach Böhler wieder re-
Fraktur ist ebenfalls möglich, sollte sich aber unserer Meinung poniert werden: Es wird nach üblicher Polsterung eine beugeseitige
nach am Alter und der notwendigen Compliance in ihrer Indika- Gipsschiene angelegt. Dabei ist bei gebeugtem MP- und PIP-Ge-
tion orientieren. lenk auf die Achsausrichtung der Finger in Richtung Skaphoid zu
Bei Ruhigstellung mit Unterarmgips unter Einschluss einer achten. Beim Anlegen der ersten Gipslonguette ist streng darauf zu
palmaren Böhler-Fingerschiene sollte die Krümmung der Schiene achten, dass der Gips in der proximalen Hohlhandfurche endet. Ist
in Höhe der Interdigitalfalten liegen, damit von palmar ein gewis- der Gips angetrocknet, so wird der Finger durch die Pflasterstreifen
ser Redressionsdruck auf das Köpfchen ausgeübt werden kann. in Streckstellung an die Schiene gefesselt und die Schiene mit dem
Finger in der distalen Hohlhandfurche, d. h. im Grundgelenk, nach
Operative Behandlung palmar umgebogen. Dadurch stellt sich die Fraktur achsengerecht
Bei Jugendlichen mit nahezu geschlossenen Fugen, bei denen eine ein, die Verkürzung korrigiert sich durch den Extensionseffekt.
möglichst exakte Stellung angestrebt wird oder bei inakzeptablen Die Grünholz-Fraktur im Schaftbereich birgt die Gefahr einer
Achsenabweichungen, vor allem in der Frontalebene, und Instabili- möglichen Refraktur. Wie auch bei der distalen Radiusfraktur
tät sollte das Repositionsergebnis mit axialen Kirschner-Drähten – scheint dies altersabhängig zu sein. Je älter das Kind, desto eher
im Sinne der intramedullären Schienung – fixiert werden. Ähnlich kommt es zur Refraktur. Dies ist nicht von der Dauer der Ruhig-
wie am Radiusköpfchen kann versucht werden, das Köpfchen in stellung abhängig.
630 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25
a
b
c d
⊡ Abb. 25.18 a Gipsanlage bei konservativer Therapie einer subkapitalen Mittelhandfraktur. Es ist darauf zu achten, dass der Redressionsdruck auf das Köpf-
chen zielt. b Schematische Darstellung der intramedullären Schienung bei subkapitalen Frakturen des 5. Mittelhandknochens. c Ein 6-jähriger Junge zog sich
diese Fraktur beim Fußball zu. Das Unfallbild zeigt neben einer Achsenfehlstellung in der Sagittalebene eine Dislokation des Köpfchens nach radial. d Trans-
kutanes Einbringen und Aufrichten des Köpfchens durch intramedullären Draht. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
a d
b e
2.-5. Mittelhandknochen diese möglichst von proximal platziert > Verwendete resorbierbare Cerclagen können durch den vor-
werden. Auffädeln der Fraktur. Meist reicht ein Draht, bei größe- handenen Resorptionssaum eine Pseudarthrose vortäuschen
ren Kindern 2 intramedulläre Stifte (Lallemand u. de Jesse, 2002a). (⊡ Abb. 25.20e).
Die Drähte können versenkt oder auch außerhalb der Haut belas-
sen werden. Bei versenkten Drähten kann bei Stabilität eine funkti- Basale Frakturen
onelle Therapie eingeleitet werden (⊡ Abb. 25.20). Konservative Behandlung
Bei den basalen Frakturen der Mittelhandknochen II–IV handelt
Schraubenosteosynthese. Darstellen und Schonung der Streck- es sich meist um Stauchungsbrüche ohne wesentliche Dislokation,
sehnen sowie der Hautnerven. Das Periost sollte inzidiert und sodass nach einer kurzen Immobilisation von 14 Tagen eine früh-
mit den Mm. interossei abgeschoben werden, nach Fixation mit funktionelle Übungsbehandlung möglich ist.
Schrauben oder bei Jugendlichen evtl. mit Platten erfolgt die Re-
fixation des Periosts und der Mm. interossei. Je nach Stabilität Operative Behandlung
Festlegen des weiteren Procedere. Zur Reduktion der Schmerzen Bei primären bzw. sekundär dislozierten Frakturen, die ins Ge-
erhalten die Kinder bis zur Wundheilung eine palmare Schiene. lenk reichen, bei bestehendem Repositionshindernis und auch
632 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25
a b c
⊡ Abb. 25.20 a Dislozierte proximale Schaftfraktur des 2. Mittelhandknochens, b deszendierende Schienung durch intramedullären Draht, c Ausheilung
4 Wochen nach erfolgter Metallentfernung. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
bei offenen Frakturen ist eine offene Rekonstruktion des Gelenks z Operative Behandlung
indiziert. Handelt es sich um instabile Frakturen, die auch nach der Repositi-
Auch bei Kindern ist am 5. Strahl besonders bei der Radialduk- on nicht stabil sind, empfiehlt sich die perkutane axiale Kirschner-
tion des Handgelenks durch den Zug des M. extensor carpi ulnaris Draht-Osteosynthese, aber auch die gekreuzte Einbringung der
die Dislokation eines ulnaren Hauptfragments im Sinne einer Drähte, wie in der Literatur beschrieben. Bei größeren Kindern
»reversed Bennett-Fraktur« möglich. Diese kann entweder mit kann in Ausnahmefällen die Miniplattenosteosynthese angewendet
Kirschner-Drähten oder kleinen Schrauben refixiert werden. werden. Offene Frakturen sind ebenfalls osteosynthetisch zu ver-
sorgen (s. Frakturen des 2.–5. Mittelhandknochens).
Komplikationen
Zu den Komplikationen der Metakarpalfrakturen zählen besonders Frakturen des Korpus
Drehfehler mit einer Funktionseinschränkung sowie in seltenen z Konservative Behandlung
Fällen avaskuläre Nekrosen des Metakarpalkopfes. Nicht dislozierte Frakturen des anatomisch exponierten 1. Mittel-
Bei allen offenen Frakturen kann es zu Verklebungen der handknochens ohne Gelenkbeteiligung sind selten. Bei diesen ist
Strecksehnen kommen. Diese müssen mit Physiotherapie/Ergo- die konservative Therapie angezeigt.
therapie und der Mithilfe der Eltern nachbehandelt werden. Diese
sind im Langzeitverlauf mühsam, da die erforderliche Motivation z Operative Behandlung
des Kindes zur Durchführung täglicher Übungen oft schwierig ist. Dislozierte Frakturen zeigen trotz der zeltähnlichen Weichteilsta-
Dies ist präoperativ zu bedenken. bilisierung des Daumens ungeachtet der Frakturlokalisation eine
erhebliche Instabilität. Wird nach der Reposition auf eine Osteo-
Metakarpale I synthese verzichtet, findet sich meist ein sekundärer Repositions-
Frakturen des Caput verlust. Aufgrund der Wertigkeit des Daumens sollten zur Ver-
Die Behandlungsrichtlinien der Frakturen des Caput des 1. Me- meidung einer späteren Funktionseinschränkung Fehlstellungen
takarpale entspricht der Behandlung der Frakturen des Caput im außerhalb der Sagittalebene nicht toleriert werden.
Bereich des 2.-5. Mittelhandknochens. Handelt es sich um dislozierte, nach Reposition instabile
Frakturen, empfiehlt sich die intramedulläre Markraumschie-
Subkapitale Frakturen nung. Manche Autoren bevorzugen noch die gekreuzte Kirsch-
z Konservative Behandlung ner-Draht-Osteosynthese. Ein Vorteil der intramedullären Mark-
Die Therapie der distalen Frakturen des Metakarpale I erfolgt bei raumschienung ist der frakturferne Eintrittspunkt, die einfachere
nicht dislozierten Frakturen (meist Stauchungsfrakturen) durch Handhabung der Implantation sowie die indirekte Schienung der
eine 10- bis 14-tägige Ruhigstellung. Frakturen. Bei Adoleszenten können auch Schrauben oder Plat-
Dislozierte Frakturen werden zunächst reponiert und dann im ten notwendig werden, dies ist insbesondere bei Spiralfrakturen
Daumenabduktionsgips immobilisiert. Während Achsabweichungen der Fall. Offene Frakturen sind ebenfalls osteosynthestisch zu
in der Frontalebene nicht toleriert werden dürfen, können sich Ach- versorgen.
senabweichungen in der Sagittalebene bis zu einem Ausmaß von 30°
im Verlauf korrigieren. Im Gegensatz zu den anderen Mittelhandkno- Basale Frakturen
chen toleriert man in der Primärtherapie des 1. Mittelhandknochens z Konservative Behandlung
maximal eine Achsenabweichung von 10–20° (altersabhängig). Meist finden sich Stauchungsfrakturen. Da aber die Fuge am
1. Mittelhandknochen proximal liegt, kommen nicht selten Epi-
> Klinischer Hinweis: Am Metakarpale I befindet sich die physeolysen mit oder ohne Keil vor. Letztere sind instabil und nei-
Wachstumsfuge basal! gen durch den Zug des M. abductor pollicis longus zur sekundären
25.2 · Spezielle Techniken
633 25
2. Alle reponierten, bzw. abrutschgefährdeten Frakturen werden
ebenfalls nach 5–7 Tagen kontrolliert und geröntgt. Ruhig-
stellung insgesamt von 3–4 Wochen. Ein druckschmerzhafter
Kallus weist auf eine inkomplette Frakturkonsolidierung hin,
sodass die Immobilisation noch für weitere 2 Wochen fortge-
setzt wird.
3. Alle operativ versorgten Frakturen werden klinisch kontrol-
liert. Je nach Stabilität der Osteosynthese erfolgt eine Ruhig-
stellung bis zur Wund- oder bis zur endgültigen Frakturhei-
lung.
Radiologisch
Am 5.–7. Tag nach dem Unfall sind alle reponierten und sekundär
dislokationsgefährdeten Frakturen radiologischen Stellungskont-
rollen zu unterziehen. Eine Röntgenaufnahme zur Überprüfung
der Durchbauung ist nach 3–4 Wochen angezeigt.
Metallentfernung
Alle intramedullären Implantate, sowie Kirschner-Drähte werden
b bei ausreichender Durchbauung entfernt. Platten und Schrauben
sollten spätesten nach 3–6 Monaten entfernt werden, können aber
auch bei fehlender Symptomatik in situ belassen werden.
Sport
Ist die Beweglichkeit inklusive des vollständigen Faustschlusses
a etwa 3 Wochen nach Freigabe der Fraktur möglich, so kann die
sportliche Tätigkeit wieder voll aufgenommen werden. Liegt weder
⊡ Abb. 25.21 Gekreuzte Spickdrahtosteosynthese bei basisnaher Fraktur
eine funktionelle noch eine kosmetische Deformität vor, wird die
des 1. Mittelhandknochens. Bei kleineren Kindern reicht auch ein Draht aus
Behandlung abgeschlossen.
(Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
Wachstumskontrolle
Bei belassenen oder verbliebenen Fehlstellungen im Rahmen von
Dislokation. Die Kirschner-Draht-Osteosynthese ist ein geeignetes Epiphysenlösungen und subkapitalen Frakturen – meist ist beim
Verfahren (⊡ Abb. 25.21). Faustschluss die Kontur des verletzten Köpfchens deutlich nach
Kurz vor Wachstumsabschluss kann es zu Bennett- und Rolan- palmar abgesunken – sind in Halbjahresabständen klinische, even-
do-Frakturen kommen, diese werden entsprechend der Vorgaben tuell auch fotografische Kontrollen bis zur Wiederherstellung der
in der Traumatologie der erwachsenen Hand versorgt. normalen, seitengleichen Knöchelkontur vorzunehmen. Wenn kei-
ne Schmerzen bestehen, erübrigen sich weitere Röntgenkontrollen.
z Operative Behandlung
Anästhesie und Lagerung. Ausschließlich in Vollnarkose, bei Ju- Posttraumatische Deformitäten
gendlichen kann auch eine Plexusanästhesie angewendet werden. Posttraumatische Deformitäten im Sinne von Wachstumsstörun-
gen sind normalerweise nicht zu erwarten. Kam es im Verlauf der
Implantate. Kirschner-Drähte 0,8–1,2 mm entsprechend dem Al- Behandlung zu Drehfehlern (Rotationsfehlern), so müssen diese
ter des Patienten. durch eine Korrekturosteotomie behoben werden.
Technik. Die Reposition erfolgt im Kindesalter geschlossen ohne 25.2.1 Technik der geschlossenen Reposition bei
Aushang, die Drahtfixation ist bei kleinen Kindern nur axial mög- Frakturen des MHK I
lich, gelegentlich wird vorübergehend eine Transfixation des Dau-
mensattelgelenks notwendig. Bei älteren Kindern bzw. Jugendli- Die konservative Behandlung bei Frakturen des MHK I ist bei
chen ist die gekreuzte Technik möglich oder bei offenem Vorgehen nicht dislozierten Gelenkfrakturen oder bei nur sehr gering dislo-
die Miniplattenosteosynthese zu bevorzugen. zierten Schaftfrakturen gerechtfertigt.
Die Reposition erfolgt durch Längszug am peripheren Daumen
Nachbehandlung und Abduktion über dem Finger des Chirurgen als Hypomochlion
Klinisch (⊡ Abb. 25.22). Zur äußeren Fixierung wird zunächst eine Unter-
1. Alle primär stabilen Frakturen (meist Stauchungsfrakturen, armschiene mit Daumeneinschluss in dieser Stellung angelegt,
aber auch nicht dislozierte, inkomplette Frakturen) werden die nach einer Woche zirkuliert wird. Die Dauer der Schienen-
nach 5–7 Tagen klinisch kontrolliert; insgesamt für 10– behandlung richtet sich nach der Frakturlokalisation und beträgt
14 Tage ruhiggestellt; eine Röntgenkontrolle ist nicht mehr 3–4 Wochen. Regelmäßige Röntgenuntersuchungen zur Kontrolle
notwendig. des Repositionsergebnisses sind unerlässlich. Bei Verlust des Re-
634 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25
⊡ Abb. 25.22 Technik der Reposition bei Frakturen des MHK I. (Aus Schmit-
a b
Neuerburg et al. 2001)
c d
25
a b c d e
⊡ Abb. 25.26 Technik der offenen Reposition der intraartikulären MHK-I-Basis-Fraktur und Schraubenosteosynthese einer Rolando-Fraktur. a Darstellung der
Fraktur. b Bei echten Y-Frakturen bilden die beiden Gelenkfragmente die gesamte MHK-Basis. Daher erfolgt zunächst unter Zug am Schaft die Reposition der
gelenkbildenden Fragmente und stabile Zugschraubenosteosynthese (1,5 mm durchbohren und dann 2,0 mm bohren vordere Kortikalis) der Basis, c danach
erst die Osteosynthese des Gelenkblocks gegenüber dem Metakarpaleschaft durch eine 2,0-T-Platte. d Reicht die proximale Spitze des Schafthauptfragments
bis zur Gelenkfläche, liegt also (im Gegensatz zur Y-Fraktur) eine V-förmige (Trümmer)-Fraktur vor, kann die Reposition der gelenkbildenden Fragmente durch
einen quer eingebrachten Kirschner-Draht gesichert werden. Eine Kompression beider gelenkbildenden Hauptfragmente gegeneinander ist nicht möglich.
e Danach Osteosynthese mit 2,0-mm-T-Platte. Der Kirschner-Draht kann nach Kürzen belassen werden. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
⊡ Abb. 25.29 Technik der Reposition bei Frakturen des MHK II–V nach Jahss.
(Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
c
a b
⊡ Abb. 25.32 Technik der offenen Reposition und Osteosynthese bei Schaftfrakturen der Mittelhandknochen II–V. a Operativer Zugang, b in der Regel dor-
sale Plattenlage auf der Zugseite. Bei solider knöcherner Abstützung der plattenfernen Zirkumferenz wird eine stabile Osteosynthese erreicht, wenn mindes-
tens 2 Schrauben in jedem Hauptfragment und möglichst eine interfragmentäre Zugschraube eingebracht werden können. Reine Schraubenosteosynthesen
längerer Spiralfrakturen sollten nur an den mechanisch weniger exponierten Mittelhandknochen III und IV durchgeführt werden. c Ist der Frakturspalt nicht
durch eine über die Platte frakturfern eingebrachte Schraube unter Kompression zu setzen, kann bei längeren Schrägfrakturen eine gesonderte Zugschraube
eingebracht werden. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Prinzipiell ist von Osteosynthesen der randständigen Meta- 25.2.10 Technik der geschlossenen
karpalia II und V wegen der höheren biomechanischen Bean- Reposition bei subkapitalen Frakturen
spruchung eine größere Stabilität zu fordern, als an MHK III und der MHK II–V und intramedulläre
IV. Eine reine Schraubenosteosynthese kommt allgemein nur bei Kirschner-Draht-Osteosynthese nach
ausgesprochenen Torsionsfrakturen und bei langen diaphysären Kapandji
Schrägbrüchen infrage. Bewährt hat sich gelegentlich die intrame-
dulläre Stabilisierung durch Drähte. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass die Strecksehnen-
Auch der Einsatz von Minikondylenplatten für MHK-II- haube unangetastet bleibt im Gegensatz zur Kirschner-Draht-Os-
und -V-Köpfchen-Frakturen kommt ebenso zur Anwendung teosynthese, die retrograd vom Köpfchen des Mitthandknochens
(⊡ Abb. 25.32b,c). eingebracht wird.
640 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
25
a b
Die Operation erfolgt in Rückenlage des Patienten auf einem 25.2.11 Technik der offenen Reposition bei
Armtisch. Eine Blutsperre am Oberarm sowie eine intraoperative subkapitalen Frakturen der MHK II–V
Röntgendurchleuchtung sind erforderlich (⊡ Abb. 25.28) und Plattenosteosynthese
▬ Am 5. Mittelhandknochen wird proximal seitlich nach einer
etwa 1 cm langen Stichinzision die Kortikalis dargestellt. Die Die Freilegung des isolierten MHK-Köpfchens bzw. des metakarpo-
Stichinzision erfolgt beim 2.–4. Mittelhandknochen dorsal- phalangealen Gelenks erfolgt durch einen bogenförmigen Schnitt
seitig, wobei dann die Strecksehnen dargestellt und zur Seite streckseitig. Exakte Darstellung der Sehnen und der dorsalen feinen
gehalten werden. Nerven ist erforderlich. Falls nötig kann der Connexus intertendino-
▬ Mit einem Bohrer Stärke 2,0 mm oder auch nur einem Pfriem sus eingekerbt und nach der Osteosynthese wieder exakt genäht wer-
wird die vordere Kortikalis angebohrt und so die Öffnung den. Die Strecksehnen werden mit peritendinösem Gewebe zusam-
zum intramedullären Raum geschaffen und mit dem Pfriem men freipräpariert und mit Periost hochgehalten (⊡ Abb. 25.34a).
erweitert. Zunächst wird der Querbalken der T-Platte (2,0-mm-Schrau-
▬ Ein 1,2 mm dicker Kirschner-Draht wird an der stumpfen Sei- ben) mit einer Schraube am dislozierten Köpfchen fixiert, danach
te etwa 3 mm leicht umgebogen. das Köpfchen mittels des Plattenschaftes reponiert.
▬ Die Reposition der Fraktur erfolgt durch den Druck über dem Anschließend wird das 2. Schraubenloch des Querbalkens be-
Handrücken am zentralen Fragment und Gegendruck in 90°- setzt. Nun wird der Finger auf korrekte Rotationsstellung überprüft.
Beugestellung des Grundgelenks des peripheren Fragments, Erst dann wird die 1. Schraube exzentrisch (frakturfern) zur
wobei das Grundglied unter dem Köpfchen des Mittelhand- Kompression der Fraktur in das Plattenloch bzw. den Mittelhand-
knochens als Hypomochlion die Reposition der Fraktur er- schaft eingebracht. Nach Vervollständigung der Osteosynthese
leichtert (nach Jahss). nochmalige Kontrolle auf exakte Rotationsstellung.
▬ In dieser Stellung werden 2 stumpfe, zuvor vorbereitete, um- Nach Anbringen der Platte und der Schrauben werden das
gebogene, 1,2 mm dicke Drähte von proximal nach distal Periost und das peritendinöse Gewebe über der Platte angenäht,
über die Fraktur geschoben, am Köpfchen platziert und ent- sodass die Strecksehen nicht über die Platte oder die Schrauben
sprechend fächerförmig ausgebreitet. Die Drähte werden kurz gleiten (⊡ Abb. 25.34b–e).
oberhalb des Knochenniveaus abgetrennt, wobei das periten-
dinöse Gewebe und Weichteile über die Drahtenden genäht
werden müssen, um eine Arrosion der Strecksehne zu vermei- 25.2.12 Technik der offenen Reposition bei
den. Ein Verdrehen des Drahtes, nachdem der intermedullär subkapitalen Frakturen der MHK II–V und
eingebracht ist, kann die gute Reposition wieder ändern. Osteosynthese mithilfe einer Kondylenplatte
▬ Die so eingebrachte intramedulläre Drahtfixation kann je nach
Frakturform eine solche Stabilität zeigen, dass lediglich einige Die Freilegung des isolierten MHK-Köpfchens bzw. des meta-
Tage äußerer Fixation in Form eines Schienenverbandes not- karpophalangealen Gelenks erfolgt durch einen bogenförmigen
wendig sein können. Falls eine Instabilität, vor allem in Form Schnitt streckseitig. Exakte Darstellung der Sehnen und der dorsa-
einer Rotationsinstabilität, besteht, ist die Indikation zur zu- len feinen Nerven ist erforderlich. Falls nötig kann der Connexus
sätzlichen äußeren Fixation in Form eines Gipsverbandes für intertendinosus eingekerbt und nach der Osteosynthese wieder ex-
etwa 2–3 Wochen notwendig. akt genäht werden. Die Strecksehnen werden mit peritendinösem
25.2 · Spezielle Techniken
641 25
b c d e
⊡ Abb. 25.34 Technik der offenen Reposition bei subkapitalen Frakturen der MHK II–V und Plattenos-
teosynthese. a Operativer Zugang. b Zunächst wird der Querbalken der T-Platte mit einer Schraube am
dislozierten Köpfchen fixiert, danach das Köpfchen mittels des Plattenschaftes reponiert. c Anschließend
wird das 2. Schraubenloch des Querbalkens besetzt. Nun wird der Finger auf korrekte Rotationsstellung
überprüft. d Erst dann wird die 1. Schraube exzentrisch (frakturfern) zur Kompression der Fraktur in das
Plattenloch bzw. den Mittelhandschaft eingebracht. Nach Vervollständigung der Osteosynthese noch-
malige Kontrolle auf exakte Rotationsstellung, e Adaptionsosteosynthese mit 2 Kirschner-Drähten, wo-
bei die Abbildung die exakten Repositionsmanöver zeigt. Falls 2 Drähte eingesetzt werden, sollen diese
a sich nicht im Frakturspalt kreuzen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
a b
zelnen Mittelhandköpfchen zueinander aufgerichtet. Nun werden Bei schweren Quetsch-, Riss- und Abrisstraumen im Bereich
Schanz-Schrauben im Bereich der einzelnen Mittelhandknochen der Mittelhandknochen und bestehenden Defektbildungen kann,
angebracht. Bei Frakturen des 2.–5. Mittelhandknochens werden falls eine Wiederherstellung der Länge durch Implantation von
die Schanz-Schrauben am 2. und 5. Mittelhandknochen am Köpf- neuem kortikospongiösem Knochen nicht erreicht werden kann,
chen und an der Basis angebracht und somit sowohl ulnar als auch eine Umsetzung der Mittelhandknochenstrahlen vorgenommen
radial durch Minifixateur-Montage vervollständigt. Dadurch wird werden.
die Länge der Mittelhandknochen durch Distraktion des Minifixa- Im Allgemeinen kann bei Erhaltung der Länge der Mittelhand-
teurs exakt wiederhergestellt, und je nach Abhängigkeit von der er- knochen später der bestehende Defekt durch einen kortikospon-
reichten Stabilität kann mit funktioneller Behandlung sowie Bewe- giösen Knochen und eine Plattenosteosynthese wiederhergestellt
gungsübungen der Grund- und Mittelgelenke der Finger begonnen werden, falls die Weichteile dies erlauben (⊡ Abb. 25.37).
werden. Regelmäßige Röntgenkontrollen sichern die erreichte Stel-
lung der Mittelhandknochen. Die Entfernung des Fixateur externe
und die Entfernung des Kirschner-Drahtes erfolgt nach 6 Wochen. 25.2.15 Technik der subtraktiven (»closing wedge«)
Bei offenen Verletzungen ist dann je nach Schwere der Verlet- Korrekturosteotomie bei einer Fehlstellung
zung die Indikation zur Kirschner-Draht-Osteosynthese, Platte- in der Sagittalebene im Metakarpalbereich
nosteosynthese oder auch Minifixateur externe gegeben.
Nach Ausräumung des Hämatoms und Débridement wird die Nach der Darstellung des Knochens können die gemessenen Resek-
Fraktur möglichst stabil versorgt, falls das Osteosynthesematerial tionswinkel mit Kirschner-Drähten übertragen werden. Anschlie-
(Platte und Schrauben) gute Deckung durch die Weichteile erfährt. ßend wird das Resektat mit der oszillierenden Säge herausgetrennt.
Bei Hautdécollement und Weichteildefekten ist eine Plattenosteo- Der präparierte Knochenkeil wird entfernt und die Knochenfrag-
synthese nicht angezeigt. Hier ist dann nach exakter Reposition mente werden mit einer Osteosynthese verbunden (⊡ Abb. 25.38).
der Frakturen und erzielter Länge sowie korrekter Rotation die Bei multidirektionalen Fehlstellungen wird zunächst der Achsen-
Kirschner-Draht-Osteosynthese, wie beschrieben, oder auch das fehler behoben. Im Anschluss stabilisiert ein temporärer longi-
Anbringen eines Minifixateur externe angezeigt. Die Versorgung tudinaler Kirschner-Draht die Achse. Nun erfolgt die Korrektur
der Weichteildefekte kann primär oder auch frühsekundär vorge- der Rotation anhand der klinischen Parameter. Eine intraoperati-
nommen werden. In jedem Falle sollten die Sehnen und Knochen ve Durchleuchtungskontrolle ist für die Beurteilung wertvoll. Sie
nicht unverschlossen bleiben. dient zudem der Dokumentation des operativen Ergebnisses.
25.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
643 25
25
a c d
derlich. Eine vorbestehende Kontraktur kann verstärkt werden. dert also eine übungsstabile Osteosynthese. Umgekehrt ist eine Ad-
Dies gilt insbesondere für tendogene Kontrakturen. Bei den klei- aptationsosteosynthese mit Kirschner-Drähten ausreichend, wenn
nen Osteotomien tritt durch den Sägedefekt ein nicht unerheb- wegen begleitender Nervenverletzungen ohnehin eine Immobilisa-
licher Fehler auf. Die klinischen Parameter der physiologischen tion der Hand in Intrinsic-plus-Stellung erfolgen muss.
Fingerstellung sind daher zu beachten. Für kindliche Frakturen vor Der häufigste Fehler bei der konservativen Behandlung betrifft
dem Epiphysenschluss sollte unbedingt die spontane, wachstums- die Haltung der Hand bzw. die Stellung der Gelenke im Gipsver-
bedingte Korrektur mit berücksichtigt werden. Eine Osteotomie band. Eine Beugung der MP-Gelenke II–V von 80–90° ist nur
ist bis auf wenige Ausnahmen vor dem Epiphysenschluss selten möglich, wenn der Gips oder die palmar in den Gips integrierte
erforderlich. gepolsterte Aluminiumschiene in Höhe der proximalen Hohlhand-
Nicht selten werden die Luxationen an der Basis der karpo- beugefalte, welche der Verbindungslinie der ulnaren distalen mit
metakarpalen Gelenke II–V infolge der Schwellung und fehlender der radialen proximalen Hohlhandquerfalte entspricht, abgewin-
exakter Röntgenaufnahmen übersehen. Hier ist – im Gegensatz zu kelt ist. Röntgenologische Kontrollen der Fragmentstellung bzw.
den Schrägaufnahmen der Mittelhand selbst in Pro- oder Supina- der Frakturheilung sind unerlässlich und daher in der Nachbe-
tion – eine streng seitliche Projektion erforderlich. Zur Beurteilung handlung bis zum Abschluss der Behandlung fest einzuplanen.
einzelner Gelenke sind Vergrößerungsaufnahmen in mindestens Falsche Einschätzungen der biomechanischen Stabilität nach
2 Ebenen unerlässlich. Bei den seltenen palmaren Luxationen der Osteosynthesen führen unweigerlich zu Komplikationen. Da Plat-
Mittelhandknochen im CMC-Bereich kann es, abgesehen von ei- ten an den Mittelhandknochen nur deformierende Kräfte neutrali-
ner Rotationsfehlstellung und Verkürzung, zur Verletzung oder sieren, z. B. bei der häufigsten Lage dorsal als Zuggurtung wirken,
Kompression des Gefäß-Nerven-Bündels und hier vor allem des setzen sie eine knöcherne Abstützung voraus. Fehlt diese, muss bis
tiefen Astes des N. ulnaris kommen. zu ihrer Wiederherstellung (röntgenologisch nachweisbare Struk-
Die erste Fehlerquelle in der Behandlung von Mittelhandfrak- turierung der kortikalen Trümmerzone oder einer primären Spon-
turen liegt in einer falschen Indikationsstellung. Liegen neben der giosaplastik) eine zusätzliche äußere Fixierung auf einer Schiene
knöchernen Läsion noch weitere Schäden vor, z. B. an Sehnen und oder im Gipsverband erfolgen. Das Gleiche gilt, wenn im spongiö-
Nerven, so muss die Verfahrenswahl bezüglich der Frakturbehand- sen Bereich am proximalen oder distalen Ende der Mittelhandkno-
lung ein sinnvoller Teil des therapeutischen Gesamtkonzeptes sein. chen keine sichere Verankerung der Plattenschrauben möglich ist.
Eine funktionelle Nachbehandlung einer gleichzeitigen Beugeseh- Die Kirschner-Drähte dürfen nicht im Frakturspalt gekreuzt sein.
nenverletzung setzt z. B. ein belastbares Handskelett voraus, erfor- Die wichtigste Frühkomplikation ist die Redislokation nach Osteo-
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648 Kapitel 25 · Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen
26.1 Allgemeines geneinander und gegenüber den benachbarten Knochen. Dies ist
auch der Grund für die lange und weitgehende Ruhigstellung der
26.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Frakturen im Handwurzelbereich. Die Verletzungen der Handwur-
Physiologie zelknochen und des Handgelenks sind aufgrund der Beteiligung
26 zahlreicher Knochen, Bänder und Gelenke vielfältig. Zur konser-
Die 8 Handwurzelknochen bilden mosaikförmig die Verbindung vativen oder operativen Behandlung sind jeweils eine Reihe unter-
zwischen dem distalen Radius und der Ulna zu den Metakar- schiedlicher Methoden angegeben worden, was erfahrungsgemäß
palknochen. Sie werden sowohl dorsal als auch palmar durch eine für die Schwierigkeit der Behandlung spricht. Der Anteil der
Vielzahl von sehr kräftigen Bändern überzogen. Die Querachse des Skaphoidfrakturen an den Handwurzelverletzungen besitzt einen
Handgelenks verläuft etwa durch das Os lunatum. Die Palmarflexi- besonderen Stellenwert.
on ist größer als die Dorsalextension, da der dorsale Bandapparat Am Handgelenk sind zahlreiche akzessorische Knochen be-
deutlich schwächer ausgebildet ist als das palmare Bandgefüge. schrieben. Die Kenntnis dieser Knochen hat vor allem in der Diffe-
Durch die dorsale und palmare Bewegung, aber auch durch die renzialdiagnostik von karpalen Frakturen Bedeutung (⊡ Abb. 26.1).
ulnare und radiale Beweglichkeit im Handgefüge, kommt es zu Die Durchblutung der einzelnen Handwurzelknochen ist un-
erheblicher Verschiebung der einzelnen Handwurzelknochen ge- terschiedlich und hängt von den gefäßführenden intrinsischen und
a b
⊡ Abb. 26.1 Mögliche akzessorische Knochen im Handgelenkbereich. a Ansicht von palmar, b Ansicht von dorsal. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
⊡ Tab. 26.1 Sammelstatistik der Verletzungen und Frakturen an der Handwurzel (n=4.168)
Pisiforme 74 11 14,86
Trapezium 68 15 22,06
Trapezoideum 12 6 50,00
Kapitatum 22 8 36,36
Hamatum 46 14 30,43
Der Prozentsatz bezieht sich jeweils auf den Anteil der Frakturen in Bezug auf die Verletzungen der jeweiligen Handwurzelknochen
652 Kapitel 26 · Frakturen und Luxationen im Handwurzelbereich
26
c
b
⊡ Abb. 26.3 Ätiologie der Frakturen, Luxationsfrakturen und Luxationen im Handwurzelbereich. a Hyperextension
und axiale Krafteinwirkung, b Hyperflexion und Hyperextension bei rotierenden Maschinen, c völlige Luxation des
Radiokarpalgelenks mit Abscherfraktur des Radius und palmarer und dorsaler Kapselbandausrisse und Handwurzel-
a frakturen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
> Eine Kombination der Fraktur des Skaphoid zusammen mit durch Kompression des Os trapezium zwischen dem 1. Mittelhand-
skapholunärer Bandruptur im Sinne einer de Quervain- knochen und dem Processus styloideus radii bei axialer Stauchung
Luxationsfraktur wird häufiger angetroffen als eine isolierte hervorgerufen. Die Kombinationsverletzung des Os trapezium mit
Luxation des Os lunatum ( Kap. 28). der Basisfraktur des 1. Mittelhandknochens oder dem Radiusende
ist bekannt. Oft können Standardröntgenaufnahmen die Fraktur
Os triquetrum darstellen. Bei Randfrakturen empfiehlt sich eine computertomo-
Durch direktes Trauma des Handrückens, aber auch beim Sturz auf grafische Untersuchung, um die einzelnen Anteile des Trapeziums –
die maximal dorsal oder palmar flektierte Hand, kann eine Fraktur Korpus-, Rand- und Tuberkulumfrakturen – genauer zu beurteilen.
des Os triquetrum entstehen. Die Verletzung des Os triquetrum Eine isolierte Luxation des Os trapezium ist sehr selten.
ist auch bei Widerstand der Hand gegen eine Rotationsbewegung
bekannt. Oft sind schalige knöcherne Bandausrisse in seitlichen Os trapezoideum
Röntgenaufnahmen sichtbar. Isolierte Luxationen des Os triquet- Die Fraktur des Os trapezoideum ist selten und wird nur im Zu-
rum sind selten. Die Frakturen können in dorsal-schalige Formen sammenhang mit der Fraktur des Os trapezium oder den Frakturen
oder Korpusfrakturen des Os triquetrum unterteilt werden. Ra- oder Luxationen der distalen Handwurzelreihe beobachtet. Der
diologisch kann die schalige Form der Fraktur in seitlicher Ebene Mechanismus der Entstehung ist eine Längsstauchung des 2. Mittel-
exakt dargestellt werden. Die Korpusfrakturen kommen eher durch handknochens zusammen mit einer starken Dorsalflexion. Durch
Computertomografieuntersuchungen zur Darstellung. die Überlagerung der Knochen wird die Fraktur des Trapezoideum
selten diagnostiziert. Eine isolierte Luxation ist höchst selten.
Os pisiforme
Durch die kräftige Zugwirkung des M. flexor carpi ulnaris oder Os capitatum
als Folge direkter umschriebener Gewalteinwirkung auf die ul- Isolierte Kapitatumfrakturen sind relativ selten. Durch einen Sturz
nare oder palmare Handkante kann die Fraktur des Os pisiforme auf die ausgestreckte Hand oder durch ein indirektes Trauma
entstehen. Außerdem entstehen Frakturen des Os pisiforme durch kann eine Kapitatumfraktur entstehen. Kombinierte Frakturen der
Sturz auf die dorsal flektierte Hand und direktes Trauma. Die Handwurzelknochen mit dem Kapitatum sind bekannt, wobei je-
Frakturen können auf Standardröntgenaufnahmen nicht sichtbar weils Luxationen oder Frakturen entstehen können (⊡ Abb. 26.7).
sein oder auch übersehen werden. Deshalb soll bei Verdacht eine Ein Zusammentreffen von Fraktur und Luxation von Kapitatum
Röntgenaufnahme des Karpaltunnels, eine Schrägaufnahme des und Skaphoid (skaphokapitates Syndrom) im Rahmen der von
Handgelenks oder auch eine Computertomografie angefertigt wer- Fenton beschriebenen transskaphoidalen-transcapitalen perilunä-
den. Luxationen sind aufgrund der ligamentären Verbindungen ren Luxation ist häufig mit einer Rotation des proximalen Kapita-
sehr selten, können jedoch radiologisch diagnostiziert werden. Bei tumfragmentes verbunden. Hierbei ist eine offene Reposition und
isolierten Luxationen besteht die Indikation zu Exzision des Os operative Versorgung indiziert. Bei fehlender Therapie werden
pisiforme und Wiederherstellung des Bandapparates. häufig Pseudarthrosen und Nekrosen beschrieben.
Os trapezium Os hamatum
Durch Sturz auf die überstreckte Hand und durch direktes Trauma Die Fraktur des Os hamatum entsteht durch Sturz auf die flache
auf die Handwurzel kann eine Trapeziumfraktur entstehen. Die Hohlhand mit und ohne Druck von Gegenständen (z. B. Tennis-
Fraktur, die auch isoliert als Trümmerbruch vorkommen kann, wird schläger) auf die Hohlhand. Bei knöchernen Verletzungen des Os
26.1 · Allgemeines
653 26
hamatum werden Korpusfrakturen und Frakturen des Hamulus
ossis hamati unterschieden. Die Korpusrandfrakturen finden sich
häufig im Rahmen der Luxationen bzw. Luxationsfrakturen des 4.
und 5. Mittelhandknochens und werden nicht selten übersehen.
Isolierte Korpusfrakturen sind jedoch selten.
Die Frakturen des Hamulus entstehen durch direkte Gewalt-
einwirkung auf den Hypothenar, vor allem im Zusammenhang mit
Tennis- und Squash-Spielen. Klinisch besteht länger ein Druck-
schmerz über dem Hypothenar und gelegentlich auch eine Greif-
schwäche. In der Literatur wird auch danach ein posttraumatisches
Loge-de-Guyon-Syndrom beschrieben. Ein röntgenologischer Nach-
weis einer isolierten Hamulusfraktur ist schwierig und kann nur
in der Karpaltunnelaufnahme zur Darstellung kommen. Wir emp-
fehlen jedoch bei Verdacht auf Luxation oder Luxationsfraktur im
Bereich des Os hamatum eine Dünnschicht-Computertomografie.
Die Pseudarthrose des Hamulus ist häufig, wobei eine operative
Versorgung mit einer Schraube zu empfehlen ist. ⊡ Abb. 26.4 Fraktur des Os triquetrum (knöcherner Bandausriss). (Aus
Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Luxationsfrakturen und Luxationen der
Handwurzelreihe
Der Luxation oder Fraktur der Handwurzelknochen gehen in der sind Schwellung, Hämatomverfärbung und Bewegungsschmerzen
Regel schwere Quetsch-, Scher- und Stauchungstraumata voraus. charakteristisch. Nicht selten sind jedoch die Symptome diskret, so-
Die isolierte Luxation oder Fraktur der distalen Reihe der Hand- dass keine ärztliche Untersuchung stattfindet. Gelegentlich ist auch
wurzelknochen ist sehr selten, während Verletzungen oder Brüche bei bestehenden Beschwerden kein Frakturnachweis möglich.
an der proximalen Reihe bekannte Krankheitsbilder darstellen. Nach Anamnese und Beschreibung des Unfallhergangs bei
frischen Ereignissen wird nach möglichen früheren Verletzungen
Luxatio carpometacarpea und Vorschäden und bestandenen Beschwerden gefragt. Direktes
Diese Verrenkungen entstehen vor allem bei starken Gewalteinwir- oder indirektes Trauma, Ausmaß und Ausrichtung der Kraftein-
kungen, bei Hyperextension durch Sturz aus großer Höhe, bei Mo- wirkung sowie Stellung der Hand sind entscheidend für die Art
torrad- oder Reitunfällen und werden in der überwiegenden Zahl und die Schwere der Verletzung.
der Fälle als offene Luxationsfrakturen angetroffen. Die häufigsten Druck- und Bewegungsschmerz im Bereich des Handrückens,
Luxationen oder Luxationsfrakturen in diesem Bereich sind im aber auch Schwellung und Hämatomverfärbungen werden klinisch
Sattelgelenk am 1. Mittelhandstrahl anzutreffen; sie ereignen sich festgestellt. Inspektion und Palpation liefern gute Informationen in
bei abduziertem und opponiertem Daumen beim Sturz. Isolierte Bezug auf Fraktur, Luxation oder auch Bandrupturen.
Luxationen können auch bei starker Einstauchung des Daumens
beobachtet werden, wobei der 1. Mittelhandknochen nach dorsal,
radial und zentral verschoben wird. Die Luxationen der Mittel- Klinische und bildgebende Verfahren für Frakturen und
handknochen II–V werden häufiger nach dorsal als nach palmar Luxationen der Handwurzelknochen
beobachtet. 1. Exakte Anamnese
2. Genaue klinische Untersuchung und Beurteilung
Luxatio mediocarpea 3. Bildgebende Diagnostik
Diese Luxationen erfolgen zwischen der proximalen und distalen a) Röntgenaufnahmen des Handgelenks und der Hand-
Handwurzelreihe und sind selten. Häufiger wird die Luxation mit wurzelknochen in drei Ebenen, bzw. zwei Ebenen
Kombinationsfrakturen der Handwurzelknochen vor allem der (d. p./lateral) und spezielle Zielaufnahmen, evtl. exakt
proximalen Reihe in Form einer dorsalen, palmaren oder radialen seitlich
Verschiebung beobachtet. b) CT-Dünnschichtaufnahmen
c) Arthro-MRT
Luxatio radiocarpea d) Szintigrafie
Die Verrenkungen kommen beim Sturz auf die stark dorsal flek- 4. Arthroskopie je nach Erfordernis
tierte Hand, aber auch bei Luxationsfrakturen mit Abscherung der
dorsalen und palmaren Anteile des distalen Radius zustande. Eine
reine Luxation im Radiokarpalgelenk ist jedoch selten. Dagegen spielen sonografische Untersuchungen hierbei keine ent-
scheidende Rolle mehr.
26
a b c d e
⊡ Abb. 26.5 Fraktur des Os pisiforme. a Röntgenbild präoperativ: d. p. Strahlengang, b Röntgenbild präoperativ: Zielaufnahme, c Röntgenbild postoperativ:
d. p. Strahlengang, d Röntgenbild postoperativ: lateraler Strahlengang, e Röntgenbild postoperativ: Zielaufnahme
26.1.5 Klassifikation
26.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Frakturen der Handwurzelknochen
Für die Frakturen des Skaphoids wird meist die Klassifikation nach Bei vielen offenen Verletzungen im Bereich der Hand können
Herbert angewandt ( Abschn. 28.1.5). Eine weitere Klassifikation Luxationen von einem oder mehreren Handwurzelknochen fest-
der Kahnbeinfraktur ist die der Arbeitsgemeinschaft Osteosynthe- gestellt werden. Es handelt sich oft um komplexe Verletzungen,
se (AO), die sowohl für das Kahnbein als auch für andere karpale die nicht nur das Handskelett betreffen, sondern auch vielfach die
Knochen angewandt werden kann. Bei allen karpalen Knochen Weichteile in Form von Sehnen-, Nerven- und Gefäßverletzungen
können folgende Frakturen unterschieden werden (⊡ Abb. 26.8; mit einbeziehen. Nicht selten sind die luxierten Handwurzelkno-
s. auch Kap. 28): chen dann gegeneinander so verschoben und verhakt, dass auch
▬ A: Abriss, Abscherfrakturen, eine offene Reposition mühsam wird.
▬ B: Frakturen quer, schräg oder parallel zur Unterarmlängsachse, In der Literatur wird über Luxationen oder Luxationsfrakturen
▬ C: Mehrfragment- und Trümmerfrakturen. im Bereich des Os pisiforme, triquetrum, trapezium und trape-
656 Kapitel 26 · Frakturen und Luxationen im Handwurzelbereich
26
a b c
⊡ Abb. 26.9 Transversale oder horizontale Luxationen und Luxationsfrakturen. a Luxatio radiocarpea, b Luxatio mediocarpea, c Luxatio carpometacarpea.
(Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
zoideum berichtet, wobei für die gute Reposition der Luxationen Eine sehr seltene Verletzung bildet die traumatische Spalthand,
immer eine operative Intervention benötigt wird. die eine Trennung der Hand in der Längsachse bis zu den Hand-
Ebenso werden Luxationen im Bereich des Os capitatum und wurzelknochen darstellt. Nach erfolgter Reposition der Handwur-
Os hamatum vereinzelt in der Literatur beschrieben. Diese ge- zelknochen, konservativ wie operativ, sollte eine Ruhigstellung
hen oft mit weiteren Frakturen oder Luxationen im benachbarten in einem geschlossenen Unterarmgips für insgesamt 6 Wochen
Handwurzelknochen einher. erfolgen. Dabei sollen die Fingergelenke zur Bewegung freigelassen
26.1 · Allgemeines
657 26
werden. Die Ruhigstellung kann zweckmäßigerweise durch Kunst- Fraktur des Os triquetrum
stoffverbände erfolgen, wodurch dann während des gesamten Heil- Die Durchblutung des Os triquetrum ist aufgrund der zahlreichen
verlaufs Röntgenkontrollen erfolgen können. palmaren, dorsalen, aber auch ulnaren Kapsel-Band-Ansätze sehr
Um eine genaue Indikation für die konservative oder operative gut. Die Frakturen heilen deshalb i. Allg. folgenlos aus. Die Be-
Therapie zu treffen, empfiehlt sich nach Nativröntgenaufnahme handlung der Frakturen oder knöchernen Ausrisse des Os triquet-
der Handwurzelknochen in 3 Ebenen unter Einbeziehung der rum besteht in einer 3- bis 4-wöchigen Ruhigstellung des Handge-
Nachbargelenke (karpometakarpal und radiokarpal) eine compu- lenks in einem zunächst gespaltenen Zirkulärgips am Unterarm,
tertomografische Untersuchung anzuschließen, um eine Luxation der nach Abschwellung durch einen geschlossenen Unterarmgips
oder Luxationsfraktur genauer darzustellen. Spezialröntgenaufnah- für 3–4 Wochen ersetzt wird. Die meisten Instabilitäten kommen
men wie Karpaltunnelaufnahmen können Frakturen in einzelnen durch Luxationen zwischen Lunatum und Triquetrum und nicht
Handwurzelknochen zur Darstellung bringen. Wir empfehlen bei verheilte ligamentäre Anteile zustande.
allen Luxationen eine offene Reposition und je nach Möglich-
keit Bandnaht und temporäre Fixation mit Kirschner-Drähten, Fraktur des Os pisiforme
sowie eine Schienenruhigstellung für 6 Wochen (s. unten). Die Grundsätzlich hat die konservative Therapie den Vorrang. Dabei
Entscheidung über eine konservative oder operative Therapie muss wird der Arm in einer Unterarmgipsschiene ruhiggestellt, wobei bei
im Einzelfall und individuell getroffen werden, wobei die Gefahr bestehenden Beschwerden eine Dauer von 4 Wochen als Minimum
der Pseudarthrose und Nekrose bei konservative Therapie, aber angesehen werden muss. Bei fortbestehenden Beschwerden muss
auch die Komplikation der Operation in Betracht gezogen werden die Dauer der Ruhigstellung bis zu 8 Wochen verlängert oder die
muss. Indikation zur Operation überprüft werden. Eine Arthrose kann bei
Nichtbehandlung oder Subluxation des Os pisiforme entstehen.
Typ IA Typ IB
N-1 N-10
onsfrakturen der karpometakarpalen Gelenke. Gelegentlich ist auch Quetschung der Hand und bei mehrfach Verletzten vor. Aufgrund
eine Fraktur des 4. oder 5. Mittelhandknochens damit verbunden. der Beteiligung mehrerer Knochen und Weichteilstrukturen ist
immer eine operative Intervention angezeigt, wobei die stabile Os-
Konservative und operative Therapie der Luxationen teosynthese, wo immer möglich, bevorzugt angewandt werden soll.
26 der Handwurzelknochen Insgesamt stellen die Luxationsfrakturen der Handwurzelknochen
Die Luxationen der Handwurzelknochen entstehen durch Kapsel- eine schwere Verletzung dar, deren Erkennung für den Ungeübten
Band-Zerreißungen zwischen Radius und Ulna einerseits und den Schwierigkeiten bereiten kann. Umso wichtiger ist jedoch die pri-
karpalen Knochen andererseits, aber auch durch Zerreißen des in- märe Erkennung und adäquate Behandlung, damit in einem oh-
trinsischen Bandapparates, nämlich der ligamentären Verbindun- nehin schwer beschädigten Gelenk eine mindestens ausreichende
gen zwischen den einzelnen Handwurzelknochen. Je nach Schwere Beweglichkeit erhalten werden kann.
der Krafteinwirkung entstehen isolierte Bandverletzungen oder
auch Subluxationen bzw. Luxationen der Handwurzelknochen. Da-
raus folgt eine Instabilität im Bereich der Handwurzelknochen mit 26.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
oder ohne Luxation.
Wir sind der Auffassung, dass im frischen Stadium die Kapsel- Annelie Weinberg
Band-Zerreißungen auch ohne Luxation des Handwurzelknochens
offen rekonstruiert und genäht werden sollte und die karpalen Chirurgisch relevante Anatomie
Knochen vorübergehend durch Kirschner-Drähte fixiert werden Ossifikationskerne, Zeitpunkt des Fugenschlusses. Das
sollten (temporäre Arthrodese der karpalen Knochen). Die fri- menschliche Handgelenk entsteht zunächst aus einer einzigen knor-
schen und veralteten Kapsel-Band-Rekonstruktionen werden aus- peligen Struktur, die sich dann ab der 10. SSW in 8 eigene Entitäten
führlich in Kap. 29 behandelt. mit definierbarer interkarpaler Separation gliedert. Daneben lassen
Eine Besonderheit bildet die perilunäre Luxation mit Skapho- sich kleinere Veränderungen der Kontur beobachten, die den spä-
idfraktur, die sog. de Quervain’sche Luxationsfraktur. Es kommt zu teren reifen Karpalknochen in ihrer individuellen Ausprägung äh-
Kapsel-Band-Ausrissen des Mondbeins zusammen mit Fraktur des neln. Die Karpalknochen ossifizieren in einer vorhersagbaren Form
Kahnbeins. Die Reposition des Mondbeins im frischen Stadium er- mit nur geringen Abweichungen. Das Os capitatum weist bis zum
folgt mühelos, wobei durch Extension und Gegenzug am Unterarm 6. Monat kein Ossifikationszentrum auf. Ist bis zum 1. Jahr noch
und an den Fingern die Reposition des Mondbeins leicht gelingt. keine Ossifikation vorhanden, so kann dies ein Hinweis auf eine an-
Wenn auch die Einrichtung des Lunatums gut möglich ist, sind wir geborene Anomalie sein. Das Os hamatum ähnelt röntgenologisch
der Meinung, dass bei der Schwere der Verletzung, wie sie bei der de dem Os capitatum im 4. Monat. Das Ossifikationszentrum des Os
Quervain-Luxationsfraktur der Fall ist, eine absolute Indikation zur triquetrum erscheint während des 2. Lebensjahres und ist im 3. Le-
Operation besteht. Nach Erfahrungen von Jahna (1965) und Wagner bensjahr bei fast allen Kindern vorhanden. Die Ossifikation des Os
(1956) führt die konservative Therapie solcher Verletzungen, selbst lunatum beginnt um das 4. Lebensjahr, die des Os scaphoideum
bei sofortiger Reposition, zu 50% und bei verzögerter Reposition zu um das 5. Lebensjahr. Die Tatsache, dass die Verknöcherung des
100%, zu Pseudarthrosen oder Nekrosen des Kahnbeins (s. oben). Skaphoids von distal beginnend nach proximal fortschreitet, findet
Nach offener Reposition und Schraubenosteosynthese des Kahn- sich in zahlreichen pathologischen Vorgängen wieder. Sowohl das
beins kann dann zur Vermeidung einer Reluxation des Mondbeins Trapezium als auch das Trapezoideum weisen im 5. Lebensjahr ra-
nach Bandnaht die temporäre Arthrodese mit einem transartikulär diologisch Ossifikationszentren auf, wobei das des Trapezoids etwas
angelegten Kirschner-Draht im Handgelenk und eine Ruhigstellung verzögert erscheinen kann. Die Ossifikation endet mit der Verknö-
im Gipsverband erfolgen. Die operative Bandversorgung erfolgt von cherung des Os pisiforme im 9.–10. Lebensjahr. Die Ossifikation
palmar, wobei von einer zusätzlichen Verletzung der noch intakten verläuft von einem definierten Zentrum aus in einer festgelegten
Bänder unbedingt Abstand genommen werden muss, damit die Form. Skaphoid, Trapezoid, Lunatum, Trapezium und Pisiforme
bestehende Durchblutung nicht unnötig gestört wird. Falls not- können multiple Ossifikaztionszentren aufweisen (⊡ Abb. 26.12).
wendig kann auch von palmarer Seite der das Mondbein fixierende
! Cave
Kirschner-Draht von radial her angebracht werden. Obwohl diese Variationen bekannt sind, können sie bei Be-
Die Schraubenosteosynthese des Kahnbeins erfolgt von einem trachtung von frischen Frakturen im Röntgenbild zu Fehldia-
dorsalen Schnitt her, wie bereits beschrieben ( Kap. 27). gnosen führen. Darüber hinaus kann das bis zum 15. Lebens-
Bei nachuntersuchten Versicherten mit Quervain-Luxations- jahr noch nicht ausgereifte Skaphoid eine vergrößerte Lücke
fraktur bezogen ca. 15% der Patienten eine Dauerrente (Jahna 1965). zum Lunatum hin vortäuschen und im Sinn einer skapholu-
Dies zeigt das Ausmaß der Schädigung bei der Schwere der Verlet- nären Bandverletzung fehlinterpretiert werden.
zung. Weiterhin werden selten Frakturen zusammen mit perilunären
Luxationen festgestellt. Die in der Literatur bekannten Verletzungen
sind transskaphoideotranskapitato perilunäre Luxationsfrakturen, 2
transskaphoideotranskapitatotranstriquetro perilunäre Luxations- 1 6
a b c d
⊡ Abb. 26.15 Kombinationsverletzung einer Bennett-Fraktur und Os-trapezium-Fraktur sowie der Osteosynthese mit interfragmentären 1,5-mm-Zugschrau-
ben und zusätzlichem Kirschner-Draht. a CT-Schnittbild präoperativ, b Röntgenbild postoperativ: d. p. Strahlengang, c Röntgenbild postoperativ: schräger
Strahlengang, d Röntgenbild postoperativ: lateraler Strahlengang
a c
⊡ Abb. 26.16 Verzögerte Heilung/Pseudarthrose Os capitatum. a Röntgenbefund präoperativ mit Nachweis einer Kapitatumfraktur, b CT-Befund präoperativ,
c Röntgenbefund postoperativ: Osteosynthese des Os capitatum und Arthrodese des CMC-III-Gelenks unter Implantation von autologer Spongiosa
und Nerven geschont werden müssen. Nach Eröffnung der dor- ren. Ältere Luxationsfrakturen in diesem Bereich können längere
salen Gelenkkapsel kann die Kapitatumfraktur dargestellt werden. Beschwerden und Kraftminderung verursachen. In diesen Fällen
Die Versorgung erfolgt mit einer 1,5- oder 2,0-mm-Schraube. ist auch eine Arthrodese mit dem 3. Mittelhandknochen mit einer
Gelegentlich ist es jedoch erforderlich, eine Arthrodese mit dem Platte sowie autologe Spongiosaplastik unter Resektion des karpo-
Nachbarknochen zur Stabilisierung des Kapitatums durchzufüh- metakarpalen Knochens erforderlich (⊡ Abb. 26.16).
662 Kapitel 26 · Frakturen und Luxationen im Handwurzelbereich
26.2.7 Technik der operativen Versorgung 26.2.8 Technik der operativen Versorgung der
des Os hamatum Quervain-Luxationsfraktur (Fraktur des
Skaphoids, perilunäre Luxation) Kap. 28
Bei Frakturen im Bereich des Hamulus ossis hamati oder Luxati-
26 onsfraktur mit Bandrissen, die sehr häufig mit einer Luxation des 26.2.9 Skaphoidluxation und Technik der
karpometakarpalen Knochens verbunden ist, muss eine offene Versorgung
Reposition und stabile Osteosynthese mit einer Kleinfragmentos-
teosynthese und Reposition der Luxation und Stabilisierung der Eine isolierte, vor allem geschlossene Luxation oder Subluxation
Luxation durch Bandnaht und temporäre Fixation mit Kirschner- des Kahnbeins ist sehr selten, wird jedoch häufiger angetroffen,
Draht (⊡ Abb. 26.17) durchgeführt werden. Bei Verwendung der als in der Literatur angegeben. Nach Zerreißung der Ligamente,
Verschraubung ist ein dorsaler Zugang durch einen Längsschnitt insbesondere zwischen dem Kahn- und Mondbein palmarseitig
etwa proximal der Basis des 4. und 5. Mittelhandknochens ange- kommt es zu einer Verdrehung und Subluxation bis Luxation des
zeigt (⊡ Abb. 26.18). Von hier aus wird schrittweise die Fraktur am Kahnbeins. Nach Sturz auf die dorsal flektierte Hand wird gele-
Korpus des Os hamatum oder des Hamulus ossis hamati, der sich gentlich eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich
senkrecht palmarwärts ausstreckt, dargestellt. des Handgelenks ohne röntgenologisch sichtbare Frakturen oder
Die Fixation des Hamulus ossis hamati wird durch ein Reposi- Luxationen festgestellt. Bei genauer Betrachtung wird jedoch eine
tionsmanöver mit einem gebogenen Haken im Bereich des Hamu- skapholunäre Dissoziation als Ausdruck der zerrissenen Bandver-
lus ossis hamati vorgenommen, wobei dann von dorsal der Bohr- bindung zwischen dem Kahnbein und Mondbein (Stadium I der
kanal für die Schraube einer Kleinfragmentosteosynthese angelegt perilunären Instabilität nach Mayfield et al. 1980) festgestellt. Die
wird. Trotz Osteosynthese wird eine Ruhigstellung für mindestens Diastase zwischen Skaphoid und Lunatum wird manchmal erst
3 Wochen in einem geschlossenen Unterarmgips notwendig sein bei funktionellen Röntgenaufnahmen sichtbar, wobei das Handge-
(⊡ Abb. 26.19). Auf den Verlauf des N. ulnaris in der Loge de Guy- lenk in maximaler Radial- oder Ulnarabduktion dargestellt wird.
on muss geachtet werden. Hier muss vor allem bei Verletzten im jugendlichen Alter eine
a b c d
e f g h
⊡ Abb. 26.17 a–h Luxationsfraktur des Karpometakarpale V und Fraktur der Basis des 4. Mittelhandknochens mit Luxation am Hamatum
26.2 · Spezielle Techniken
663 26
Vergleichsaufnahme von der gesunden Seite durchgeführt werden. tion oder bestehender provozierender Diastase ist die Indikation
Die Teilverrenkung des Kahnbeins ist röntgenologisch durch eine zur Operation gegeben, wobei hier eher von der palmaren Seite das
verlagerungsfreie Aufnahme des Handgelenks in voller Supination Kahnbein dargestellt und die Bandverbindung zwischen Kahnbein
darstellbar. und Mondbein wiederhergestellt werden muss. Bei älteren Fällen
Bei geschlossener Verletzung erfolgt in Narkose die Reposition ist evtl. eine Bandplastik, die eher palmar in Höhe der Handgelenk-
im Zug und Gegenzug am Unterarm und an den Fingern. Falls bei fläche angelegt werden sollte, angezeigt. Bei der operativen Ver-
guter Reposition keine Luxationstendenz mehr besteht, ist eine Ru- sorgung müssen dann die interponierten Bandanteile entfernt und
higstellung des Armes zunächst in einem gespaltenen Oberarmgips die Bänder genäht werden. Es wird ein Kirschner-Draht zwischen
und nach Abschwellung in einem geschlossenen Oberarmgips für Mondbein oder Radius und Kahnbein von radial her angebracht,
6 Wochen erforderlich. Bei Reluxationstendenz, irreponibler Luxa- um die Luxation zu verhindern. Bei veralteten Luxationen oder
a b c
Luxatio mediocarpea
Die Reposition erfolgt durch Längszug an den Fingern, die auch
hier durch den »Mädchenfänger« erfolgen kann. Durch Druck auf
die verschobene Handwurzelreihe gelingt dann die Reposition,
⊡ Abb. 26.20 Subluxation des Os scaphoideum. a Röntgenbild präoperativ, wobei eine Ruhigstellung in einem Unterarmgips für insgesamt
b intraoperativer Aspekt, c Röntgenbild postoperativ 4–6 Wochen angezeigt ist. Bei Instabilität nach der Reposition oder
weiterbestehender Subluxationstendenz ist die offene Reposition
und Naht der Bänder von der dorsalen Seite her dringend ange-
zeigt, zumal Teile knöcherner Ausrisse entfernt werden müssen.
Subluxationen des Kahnbeins ist eine geschlossene Reposition Die vorhandenen Bänder müssen unbedingt durch interligamen-
nicht mehr sinnvoll und erfolgversprechend, sondern eine Band- täre Nähte oder transossäre Bohrkanäle wieder fixiert werden.
plastik durch Sehnen oder Triskaphoidarthrodese oder andere Bei Gefahr der Subluxation ist eine Kirschner-Draht-Fixation des
Maßnahmen erforderlich (⊡ Abb. 26.20; Kap. 29). Mittelhandknochens bis zur proximalen Handwurzelreihe für min-
26.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
665 26
b c d
a
⊡ Abb. 26.21 a Geschlossene Reposition der Handwurzelknochen unter kontinuierlichem Zug mit »Mädchenfänger«, b,c alte Luxatio carpometacarpea
mit Frakturen der distalen Handwurzelknochen, d Luxation des Radiokarpalgelenks mit Frakturen von Radius, Ulna, Skaphoid und Kapitatum. (Aus Schmit-
Neuerburg et al. 2001)
destens 4 Wochen erforderlich. Hierbei muss ebenfalls eine äußere stale Radiusfraktur durch eine winkelstabile Platte oder auch
Fixation in Form eines Unterarmgipsverbandes für 6 Wochen an- Kirschner-Drähte wiederhergestellt werden sollten. Die Dauer
gelegt werden. Die Drähte werden schräg seitlich von der Mittel- der Ruhigstellung beträgt 6 Wochen.
hand nach proximal geführt.
Bei älteren Verletzungen ist eine Rekonstruktion nicht mehr
möglich, sodass zur Beseitigung der kosmetisch und funktionell 26.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
sehr störenden Stufenbildung im Bereich des Handrückens die
Resektion des Mediokarpalgelenks durchgeführt wird und nach Die Tatsache, dass über 50% der konservativ behandelten Quer-
Verkürzung eine Arthrodese zwischen der proximalen und dis- vain-Luxationsfrakturen auch nach sofortiger Reposition eine
talen Reihe der Handwurzelknochen angebracht ist. Die Arthro- Pseudarthrose und sekundäre Repositionen zu 100% Nekrosen
dese kann durch Spongiosainterposition und Plattenosteosynthese zeigen, beweist die schweren und komplexen knöchernen und liga-
erfolgen, wobei dann eine Ruhigstellung für 4 Wochen in einem mentären Verletzungen im Karpus. Spätestens jetzt ist die absolute
Unterarmgips angezeigt ist. Indikation der primären Operation bei Quervain-Luxationsfraktu-
ren offensichtlich.
Luxatio radiocarpea Die inkomplette Reposition der Handwurzelluxationen, vor
Bei isolierter geschlossener Luxation erfolgt die Reposition durch allem des Mondbeins, führt zu Minderdurchblutung bzw. Nekrose
Zug an den Fingern und Druck auf den verschobenen Handwur- der Handwurzelknochen, da durch die Kapsel-Band-Zerreißung
zelknochen. Die Ruhigstellung beträgt dann 4–6 Wochen. Bei auch die Durchblutung der Handwurzelknochen stark beeinträch-
bestehender Subluxation oder weitgehender Instabilität ist die tigt wird. Die Subluxationsstellungen der Handwurzelknochen
Indikation zur Operation gegeben, wobei von einer geschlosse- führen außerdem zu einer präarthrotischen Deformität des Ge-
nen Kirschner-Draht-Fixation im Bereich des Radiokarpalge- lenks und zu einem frühen Auftreten schmerzhafter arthrotischer
lenks Abstand genommen werden muss. Falls bei der Reposition Veränderungen des Gelenks. Eine Verschiebung der Handwurzel-
weiterhin eine Instabilität besteht, die behandlungsbedürftig ist, knochen kann abgesehen von einer Dislokation des betreffenden
müssen die vorhandenen Bänder, vor allem dorsal, aber auch Handwurzelknochens auch zu Proximalisierung der Handwurzel-
palmar, wiederhergestellt und dann, falls notwendig, durch tem- knochen führen. Die veralteten Luxationen und Luxationsfraktu-
poräre Arthrodesen mit Kirschner-Drähten in Stellung gehalten ren zwingen nicht selten zu einer interkarpalen oder mediokar-
werden. Nach offener Reposition und Bandrekonstruktion ist palen Arthrodese oder gar zu einer vollständigen radiokarpalen
jedoch selten eine zusätzliche Kirschner-Draht-Fixation notwen- Arthrodese des Handgelenks.
dig. Die Zugänge erfolgen dorsalseitig S-förmig und palmarseitig Die Fehlinterpretation der einfachen Röntgenaufnahmen
bogenförmig im Bereich des Handgelenks. Die interligamentären führt nicht selten zu einer Fehldiagnose und zu Fehltherapie.
Rupturen werden genäht, die knöchernen Ausrisse transossär Daher sollten die Beschwerden der Patienten und die Funktions-
durch Nähte oder Zugschrauben refixiert. Postoperativ wird die einschränkungen des Handgelenks ernst genommen werden und
Hand in einem Unterarmgipsverband für 4 Wochen ruhiggestellt. alle möglichen diagnostischen Maßnahmen im Sinne von Com-
Bei bestehenden zusätzlichen Frakturen müssen diese durch putertomografie, Arthro-MRT und Arthroskopie bis zu eventuell
Osteosynthesen stabilisiert werden, wobei eine Kahnbein- und notwendiger Szintigrafie zum Ausschluss von knöchernen und
Mondbeinfraktur durch Schraubenosteosynthese und eine di- Bandverletzungen des Karpus ausgeschöpft werden.
666 Kapitel 26 · Frakturen und Luxationen im Handwurzelbereich
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27
27.1 Allgemeines
27.1.3 Ätiologie
Skaphoidfraktur
Typischer Unfallmechanismus ist der Sturz auf die dorsal exten-
dierte Hand, wobei die gleichzeitige Ulnarabduktion des Handge-
lenks eher zur Fraktur des proximalen Kahnbeindrittels, eine Ra-
dialabduktion eher zur Fraktur des distalen Drittels führt. Neben
c d
diesem indirekten Verletzungsmechanismus kommt es zur direk-
ten Gewalteinwirkung bei Abscherfrakturen des Tuberkulums oder
Rückschlagtraumen gegen die Hand. Nach Literaturangaben sind ⊡ Abb. 27.2 B4-Skaphoidfraktur de Quervain bei perilunärer Luxation,
a Röntgenbilder präoperativ: a.-p. und lateral, b Röntgenbilder präoperativ:
60–80% der Frakturen im mittleren Drittel und je 10–20% im pro-
a.-p. und lateral
ximalen und distalen Drittel einschließlich des Tuberkulums loka-
lisiert. Kahnbeinfrakturen treten meist als Einzelverletzung, nicht
selten aber auch im Rahmen von komplexen Handgelenk- und
Handwurzelverletzungen als sog. de Quervain-Luxationsfraktur
(6–7%) oder als Begleitverletzung bei distaler Radiusfraktur (ca.
4%) auf. Auch ohne Komplexverletzung der Handwurzel kann eine
SL-Band-Ruptur simultan mit einer Skaphoidfraktur vorkommen
(⊡ Abb. 27.2, ⊡ Abb. 27.3).
Skaphoidpseudarthrose
Als Ursache für Skaphoidpseudarthrosen kommen heutzutage in
erster Linie unerkannte und somit nicht behandelte Skaphoid-
frakturen in Betracht. Hinzu kommen Frakturen, die durch eine
vorangegangene konservative oder inoptimale operative Behand-
lung nicht ausgeheilt sind. Begünstigende Faktoren sind die un-
genügende Ruhigstellung, verbliebene Fragmentdislokation und
fortbestehende Instabilität. Des Weiteren spielt die ungünstige
Durchblutungssituation im proximalen Kahnbeindrittel eine Rolle,
wo bei überwiegend konservativ behandelten Frakturen in diesem ⊡ Abb. 27.3 Simultanes Auftreten einer B2-Skaphoidfraktur und kompletten
Bereich von einer Pseudarthroserate bis zu 48% berichtet wurde. SL-Band-Ruptur
Außerdem ist zu vermuten, dass auch die ligamentäre Instabilität
durch radiokarpale oder interkarpale Begleitverletzungen mit zur
Heilungsstörung der Kahnbeinfraktur beiträgt. So führt beispiels- In Abhängigkeit vom Grad der Instabilität und Dislokation
weise eine begleitende SL-Band-Ruptur sowohl zur höheren Mobi- kommt es bei gestörter Frakturheilung entweder zur bindege-
lität und als auch zur weiteren Verschlechterung der Durchblutung webigen Überbrückung oder zur weiteren Fragmentdiastase. Die
des proximalen Fragmentes. bindegewebige Verbindung kann sich im weiteren Verlauf zur
672 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
27.1.4 Diagnostik
Bei sicherem Frakturnachweis durch die konventionellen Rönt-
Skaphoidfraktur genaufnahmen ist eine ergänzende Bildgebung mittels Computer-
Die zielführende und konsequente Diagnostik ist der Schlüssel tomografie in folgenden Fällen erforderlich:
zum Erfolg in der Behandlung der Skaphoidfraktur. In einer Über- ▬ bei gering dislozierten Frakturen mit Kortikalisstufen <1 mm
sichtsarbeit (Strassmair u. Wilhelm 2001) zu den Ursachen der und/oder dehiszentem Bruchspalt zur Klärung, ob eine per-
Skaphoidpseudarthrose wird dargestellt, dass von 361 betroffenen kutane Verschraubung noch möglich ist oder offen operiert
Patienten immerhin 79% nach dem primären Trauma einen Arzt werden muss (Operationsplanung),
aufgesucht hatten, in Folge dessen ein Drittel der Kahnbeinfrak- ▬ bei Unklarheit, ob es sich um eine »aktivierte« Pseudarthrose
turen nicht erkannt oder nicht in der erforderlichen Genauigkeit handelt (Therapieplanung, Kausalität),
diagnostiziert wurden, um eine adäquate Therapie einzuleiten. ▬ bei Komplextraumen und Luxationsverletzungen,
Klinische Hinweiszeichen auf eine Skaphoidfraktur sind Druck- ▬ bei geplanter konservativer Therapie zum Ausschluss von In-
schmerz in der Tabatiere und palmar am Tuberculum scaphoideum stabilitätskriterien.
sowie axialer Kompressionsschmerz zwischen diesen Punkten,
Schmerz bei axialer Stauchung des Daumenstrahls sowie Schmerz- Auf eine CT-Untersuchung könnte bei bereits konventionell sicht-
verstärkung bei Handgelenkextension und Radialabduktion. In der barer deutlicher Fragmentdislokation und weitem Bruchspalt mit
Akutphase eines Handgelenktraumas sind diese Zeichen allerdings oder ohne Trümmerzone verzichtet werden, da hier die Indikation
wenig spezifisch, da sie genauso gut durch ligamentäre Distorsion zur offenen operativen Vorgehensweise eindeutig ist. Im klinischen
generiert werden können. Alltag setzt sich berechtigter Weise aber auch in diesen Fällen im-
Als erste Stufe der bildgebenden Diagnostik werden Röntgen- mer mehr die obligate Durchführung einer Computertomografie
aufnahmen des Handgelenks in 2 Ebenen angefertigt, die bei kli- durch, da nur so die Frakturmorphologie, Fragmentgrößen und
nischen und anamnestischen Hinweisen auf eine mögliche Skap- Begleitverletzungen sicher verifiziert und die erforderlichen Be-
hoidfraktur immer durch eine Stecher-Aufnahme ergänzt werden. handlungsmaßnahmen präzisiert werden können.
Diese ist Bestandteil des sog. Kahnbeinquartetts, wobei die zur
> Die Technik der CT-Untersuchung beinhaltet eine Überkopfla-
Faust geballte Hand in maximaler Ulnarabduktion des Handge-
gerung des pronierten Armes, die CT-Schnitte müssen paral-
lenks bei 90° abduziertem und im Ellenbogen rechtwinklig gebeug-
lel zur Längsachse des Skaphoids in 0,5 mm dicken Schichten
tem Arm auf der Röntgenplatte gelagert wird ⊡ Abb. 27.4). In dieser
gelegt werden. Die angrenzende Handwurzel und der distale
Position kommt es zur Aufrichtung des Kahnbeins, sodass es in
Radius sollten mit gescannt werden, um begleitende Fraktu-
seiner gesamten Länge beurteilbar ist. Auch bei Verlaufskontrollen
ren oder Luxationen nicht zu übersehen.
kann man sich auf diese 3 Aufnahmen beschränken, die übrigen
Einstellungen des Kahnbeinquartetts haben zugunsten weiterfüh- Abweichungen von der oben genannten CT-Untersuchungstechnik
render Schnittbilddiagnostik ihre Bedeutung verloren. wie die Aufnahme axialer Quellschichten mit parasagittaler Rekon-
27.1 · Allgemeines
673 27
a b c
⊡ Abb. 27.5 Vergleichende Darstellung bei Patient mit frischer Skaphoidfraktur. a Nativ-Röntgenaufnahme, b CT, c MRT
struktion bergen die Gefahr, dass auch in der Computertomografie Röntgen und CT (sog. okkulte Frakturen), bei gezielter Suche
frische Skaphoidfrakturen übersehen werden. nach Begleitverletzungen oder bei Kontraindikationen gegen
Unsicherheiten und Fehler im diagnostischen Procedere er- die Anwendung ionisierender Strahlung.
geben sich häufig dann, wenn in den konventionellen Röntgen-
aufnahmen kein eindeutiger Frakturnachweis geführt werden Skaphoidpseudarthrose
kann. Sollten auch nur geringste Fraktursymptome bei geeignetem Skaphoidpseudarthrosen bieten vor allem im frühen Stadium kei-
Trauma vorliegen, ist der Nachweis oder Ausschluss einer frischen ne charakteristische Beschwerdesymptomatik. Am ehesten treten
Fraktur mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu er- am Handgelenk endgradige Bewegungsschmerzen, Beschwerden
zwingen. Eine konventionelle Röntgenkontrolle nach 7–10 Tagen bei spezifischer und starker Belastung oder Klickphänomene auf.
ist besser, als jegliche weitere Diagnostik zu unterlassen. Sie kann Bei einer Reihe von Patienten kann die Pseudarthrose über Jahre
im günstigsten Falle zu einem Sichtbarwerden der Fraktur und völlig symptomlos bleiben, insbesondere wenn die Handgelen-
zum Einleiten einer adäquaten Therapie führen. Heute ist dieses ke keiner großen Belastung ausgesetzt sind. Nicht selten ist ein
Vorgehen nicht mehr zeitgemäß, da es die Mehrzahl der sog. ok- Bagatelltrauma der Hand Auslöser für persistierende Handge-
kulten Frakturen nicht aufdeckt und dem allgemeinen Bedürfnis lenkbeschwerden im Sinne einer »aktivierten Pseudarthrose«. So
der Patienten nach zeitnaher Diagnosestellung und Therapieein- wird die Kahnbeinpseudarthrose dann zufällig im Rahmen einer
leitung entgegensteht. Die Durchführung einer Dünnschicht-CT Röntgenuntersuchung des Handgelenks entdeckt, die wegen einer
oder MRT ist in jedem Fall anzuraten. anderen Fragestellung veranlasst wurde. Die genaue Differenzie-
Obwohl die Magnetresonanztomografie mit Kontrastmittel rung zwischen frischer Fraktur und Pseudarthrose zieht in diesen
wegen ihrer nahezu 100%igen Sensitivität für den Nachweis fri- Fällen nicht nur therapeutische, sondern oft auch weitreichende
scher Skaphoidfrakturen sehr gut geeignet ist, bleibt sie im kli- sozial- und versicherungsrechtliche Konsequenzen für den Pati-
nischen Alltag speziellen Fragestellungen vorbehalten. Aufgrund enten nach sich.
der begrenzten Ortsauflösung ist die Frakturzone im Vergleich zur Im späteren Stadium werden durch die zunehmende radiokar-
Computertomografie schlechter zu beurteilen. Außerdem kann pale Arthrose und die Gefügestörungen der Handwurzel progre-
das sog. »bone bruise«, welches auch bei Knochenkontusion und diente Handgelenkschmerzen generiert, die zunächst radialbetont
trabekulärer Mikrofrakturierung auftritt, fehlgedeutet werden. An- sind und mit einer Verdickung der radiodorsalen Handgelen-
dererseits können durch die MRT-Untersuchung ligamentäre und kregion, Einschränkungen der Handgelenkbeweglichkeit sowie
andere Begleitverletzungen (TFCC) des Handgelenks nachgewie- Krepitationen einhergehen (⊡ Tab. 27.1).
sen werden, was insbesondere bei negativem Frakturbefund und Die bildgebende Diagnostik umfasst wie bei der frischen
positiver Klinik von Bedeutung ist (⊡ Abb. 27.5). Das notwendige Kahnbeinfraktur zunächst Röntgenaufnahmen des Handgelenks
Frequenzspektrum umfasst koronare flüssigkeitssensitive STIR- in 2 Ebenen sowie die Stecher-Projektion. Obwohl die Bild-
Sequenzen sowie T1-gewichtete Sequenzen in koronarer und sagit- morphologie des Skaphoids und der Pseudarthrose dabei sehr
taler Schichtung. Die Aussagekraft der Befunde ist maßgeblich von unterschiedlich sein kann, können relativ genaue Aussagen zur
der korrekten Untersuchungstechnik (Bauchlage, Armlagerung Kahnbeinkontur, zur Beschaffenheit der Pseudarthrosezone, zur
über Kopf) mit Verwendung geeigneter Oberflächenspulen und Struktur des proximalen Fragmentes sowie zum Ausmaß der
der Kompetenz des Untersuchers abhängig. karpalen Gefügeänderungen (DISI-Fehlstellung) und der radio-
karpalen Arthrose gewonnen werden (⊡ Abb. 27.6). Diese wiede-
> Die Indikation zur MRT-Untersuchung in der Primärdiagnos- rum lassen Rückschlüsse auf die Instabilität der Pseudarthrose
tik der frischen Kahnbeinfraktur ergibt sich bei Patienten mit und der Handwurzel zu und sind wegweisend für die weiteren
positiver Klinik und negativem Frakturnachweis im Nativ- Therapieoptionen.
674 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
a b
⊡ Abb. 27.6 Straffe und instabile Pseudarthrose. a Straffe Pseudarthrose ohne Kahnbeindeformierung und ohne karpale Gefügestörungen, b instabile Pseu-
darthrose mit Kahnbeindeformierung, Sklerosezone und degenerativen Zysten (p.a.-Aufnahme) sowie DISI-Fehlstellung des Lunatums als Zeichen der Instabi-
lität (seitliche Aufnahme)
a b c d e
⊡ Abb. 27.7 Skaphoidpseudarthrose im fortgeschrittenen Stadium. a Röntgen p.-a.: disloziertes Fragment, Resorptionszysten und Sklerose im proximalen
Fragment, radiokarpale und mediokarpale Arthrose, b Röntgen seitlich: DISI-Fehlstellung des Lunatums, c CT schräg-sagittal: Resorptionszyste auch im dis-
talen Fragment; Nebenbefund: große Knochenzyste im Kapitatum, d CT sagittal: deutliche DISI-Fehlstellung mit lunokapitaler Arthrose; Nebenbefund: große
Knochenzyste im Kapitatum, e MRT: regelrechte Durchblutung nur noch im distalen Fragment
27.1 · Allgemeines
675 27
bar bleibt und es für die Betroffenen bei der Therapieentscheidung von Krimmer et al. (2000) modifiziert und an die aktuellen klini-
meist um die letzte Chance zur Erhaltung der Handgelenkfunktion schen Gegebenheiten angepasst (⊡ Tab. 27.2).
geht, plädieren wir für eine großzügige Indikationsstellung zum Der ursprünglich von Herbert noch verwendete und auf dem
MRT. Die Knochenszintigrafie spielt in der Pseudarthrosendiag- konventionellen Röntgenbild basierende Begriff der inkompletten
nostik keine Rolle mehr. Fraktur der Kahnbeintaille (A2) hat im Zeitalter der Schnittbild-
Bei länger bestehenden Pseudarthrosen und insbesondere diagnostik keine Bedeutung mehr, da sich im CT letztlich immer
dann, wenn klinisch und röntgenologisch bereits Arthrosezeichen eine durchgehende Frakturlinie nachweisen lässt (⊡ Abb. 27.9). Des
vorliegen, sollte in Ergänzung zur bildgebenden Diagnostik obli- Weiteren beschreibt die Herbert-Klassifikation neben den frischen
gat eine bilanzierende Handgelenkarthroskopie einschließlich des A- und B-Frakturen noch die verzögerte Frakturheilung Typ C
Mediokarpalgelenks durchgeführt werden. Diese allein ist geeignet, (»delayed union«) und die Pseudarthrose Typ D (»nonunion«)
genaue Auskunft über die Ausdehnung der Knorpelschäden und ( Abschn. 27.1.5). Die AO-Klassifikation für Frakturen an der
das SNAC-Wrist-Stadium zu geben, um entscheiden zu können, Hand, die auch für das Skaphoid anwendbar ist ( Abschn. 27.1.5)
ob eine Pseudarthrosensanierung noch Sinn macht oder lediglich konnte sich hingegen nicht durchsetzen.
palliative Verfahren infrage kommen ( Kap. 13).
Skaphoidpseudarthrose
In der klinischen Praxis hat sich die Klassifikation nach Herbert
Schwieriger als die primäre Pseudarthrosediagnostik ist die und Filan durchgesetzt, die in ihrer 1996 modifizierten Version so-
radiologische Beurteilung des Heilungserfolges nach Kahn- wohl die verzögerte Frakturheilung als Typ C als auch die Pseudar-
beinrekonstruktion. Die knöcherne Konsolidierung wird ange-
nommen bei
▬ Kontrastmittelaufnahme des transplantatierten Knochens im ⊡ Tab. 27.2 Frakturklassifikation in Anlehnung an Herbert und
Kontrastmittel-MRT, CT-Befund. (Nach Krimmer et al. 2000)
▬ trabekulärer Überbrückung im Nativröntgen und CT sowie
▬ gleichzeitigem Fehlen von Spaltbildungen und Dislokationen Typ A Frische stabile Frakturen
an den Grenzen der Knochentransplantate A1 Tuberkelfrakturen
Skaphoidfraktur B1 Schrägfrakturen
Im klinischen Alltag ist weiterhin die bereits 1990 eingeführte B2 Dislozierte oder klaffende Frakturen
Herbert-Klassifikation etabliert, welche auf der konventionellen
Röntgenbildgebung basiert (⊡ Abb. 27.8). Unter Berücksichtigung B3 Frakturen des proximalen Drittels
der differenzierteren Befunderhebung mit Einführung der CT-
B4 Transskaphoidale perilunäre Luxationsfraktur
Diagnostik als Standardmethode wurde die Herbert-Klassifikation
27
⊡ Tab. 27.3 Modifizierte Klassifikation der Skaphoidpseudarthrosen nach Herbert und Filan (1996)
Pseudarthrosetyp Beschreibung
D1 Straffe Pseudarthrose mit fibröser Überbrückung, kein karpaler Kollaps, keine Arthrosezeichen
D2 Mobile Pseudarthrose mit diskreter Kahnbeindeformierung, beginnender karpaler Kollaps, keine Arthrosezeichen
D3 Mobile Pseudarthrose mit fortgeschrittener Kahnbeindeformierung und Fragmentsklerose, deutlicher karpaler Kollaps,
manifeste Arthrosezeichen
D4 Mobile Pseudarthrose mit erheblicher Kahnbeindeformierung und nekrotischem Zerfall des proximalen Fragmentes,
fixierter karpaler Kollaps, fortgeschrittene Arthrose
throsen als Typ D differenziert. Letztere werden nochmals in die 27.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Untertypen D1–D4 unterteilt, womit die Pseudarthrosenstabilität,
die Kahnbeindeformität und die Vitalität des proximalen Fragmen- Skaphoidfraktur
tes unterschieden und Rückschlüsse auf den Therapiebedarf und
> Für die Auswahl des Behandlungsweges der Kahnbeinfraktu-
die Prognose abgeleitet werden können (⊡ Tab. 27.3).
ren ist zunächst die Frage nach der Frakturstabilität entschei-
Wenn sich bis zur 20. Woche nach dem Frakturereignis mit-
dend.
tels bildgebender Diagnostik keine knöcherne Konsolidierung der
Kahnbeinfraktur nachweisen lässt, spricht man im nachfolgenden Die Herbert-Klassifikation und die CT-basierte Krimmer-Klassi-
Zeitintervall bis zum Ablauf von 6 Monaten nach der Fraktur fikation berücksichtigen sowohl Frakturanatomie, Stabilität und
von einer verzögerten Knochenbruchheilung (»delayed union«, Unfallmechanismus, sodass sich die entscheidenden prognosti-
Typ C). Nach den aktuellen Leitlinien liegt danach eine manifeste schen und therapeutischen Aussagen ableiten lassen. Danach gel-
Pseudarthrose mit den entsprechenden radiologischen Zeichen ten Typ-A-Frakturen als stabil, zu denen alle frischen Frakturen
vor ( Abschn. 27.1.4). In Anlehnung an unsere eigenen klinischen des Tuberkulum (A1) sowie nichtdislozierte Rissfrakturen mit que-
Erfahrungen plädieren wir dafür, diesen Zeitraum eher bis zum rem Verlauf im mittleren und distalen Drittel (A2) zählen. Diese
8. Monat nach dem Frakturereignis auszudehnen. haben eine sehr gute Ausheilungsprognose und können sowohl
27.1 · Allgemeines
677 27
konservativ als auch operativ behandelt werden. Kraus et al. (2005) D1-Pseudarthrosen gelten als stabil und sind nicht oder nur
empfiehlt eine Unterscheidung der Tuberkelbrüche in extraartiku- unwesentlich disloziert. Da keine degenerativen Veränderungen
läre Abriss- und intraartikuläre Abscherfrakturen, wobei für Letz- vorliegen, ergibt sich die Indikation zur Rekonstruktion. Im Ge-
tere wegen anzunehmender Instabilität die operative Versorgung gensatz zur »delayed union« reicht hier die alleinige Verschrau-
nahegelegt wird. bung nicht aus. Vielmehr muss die bindegewebige Pseudarthro-
Zu den als instabil einzustufenden Typ-B-Frakturen gehören sezone reseziert und mit autologer Spongiosa ersetzt werden, um
alle Schrägfrakturen (B1), dislozierte oder klaffende Frakturen eine knöcherne Ausheilung zu erreichen. Die Stabilisierung erfolgt
(B2), Frakturen des proximalen Drittels (B3) und perilunäre, trans- mittels Doppelgewindeschraube unter Erhaltung der anatomischen
skaphoidale Luxationsfrakturen (B4). Für die instabilen B-Frak- Kahnbeinform und -länge. Straffe Pseudarthrosen sollten auch
turen besteht wegen der deutlich erhöhten Pseudarthrosegefahr bei aktueller Beschwerdefreiheit immer saniert werden, weil un-
immer eine Operationsindikation. ter stärkerer Belastung über einen längeren Zeitraum mit einer
Die Differenzierung zwischen A2-, B1- und B2-Frakturen ist zunehmenden Lockerung und Instabilität der Pseudarthrose zu
anhand der konventionellen Röntgenaufnahmen häufig schwierig rechnen ist. Lediglich bei beschwerdefreien älteren Patienten (über
oder unmöglich, nicht selten erweist sich eine im Röntgenbild als 50–60 Jahre) kann zugewartet werden.
stabil erscheinende Fraktur in der Computertomografie als instabil Bei D2- und D3-Pseudarthrosen liegen infolge der Fragmen-
(⊡ Abb. 27.9). tinstabilität bereits mehr oder weniger stark ausgeprägte Sekundär-
schäden am Handgelenk vor, sodass zu entscheiden ist, ob durch
> Aus der Computertomografie abzuleitende Stabilitätskrite-
eine Sanierung der Pseudarthrose und Behebung der Kahnbeinde-
rien sind:
formität ein Fortschreiten der Handgelenkarthrose und des karpa-
▬ Fehlende Fragmentdislokation
len Kollapses noch aufzuhalten ist. Da meist schon eine dorsoradi-
▬ Frakturspaltweite <1 mm
ale Schmerzsymptomatik vorliegt, sollten rekonstruktive Eingriffe
▬ Nur 2 Fragmente nachweisbar
mit einer dorsalen und radialen Teildenervation des Handgelenks
▬ Fehlende Anhaltspunkte für ligamentäre Begleitverlet-
kombiniert werden (N. interosseus posterior, R. articularis spa-
zungen
tii interosseus I, Gelenkäste der Nn. radialis, cutaneus antebrachii
lateralis und medianus) ( Kap. 17). Bei ausgeprägter Schmerzsym-
Skaphoidpseudarthrose ptomatik führt nach unseren Erfahrungen eine alleinige palliative
> Für konservative Therapieversuche gibt es bei der verzöger- Denervierung nicht zur ausreichenden Beschwerdelinderung, wes-
ten Kahnbeinbruchheilung und bei der Kahnbeinpseudarth-
halb bei den meisten D3-Pseudarthrosen resezierende oder teilver-
rose heutzutage keine Indikation mehr.
steifende Verfahren erforderlich sind.
Eine Sanierung der D4-Pseudarthrosen ist nicht indiziert, wo-
Obwohl für veraltete Kahnbeinbrüche (»delayed union«, Typ C) bei je nach klinischer Symptomatik, radiologischen Veränderungen,
auch durch eine konsequente Gipsbehandlung die Chance einer beruflicher Belastung und Patientenalter eine Reihe von bewegungs-
Ausheilung besteht, sind die erforderlichen extrem langen Immo- erhaltenden oder versteifenden Rettungsoperationen zur Verfügung
bilisationszeiten und der ungewisse Heilungsausgang dem Patien- stehen (⊡ Tab. 27.4). Bei Vorliegen von degenerativen Veränderungen
ten heute nicht mehr zuzumuten. Hier bietet die Verschraubung in in Kombination mit bereits erheblichen schmerzbedingten Bewe-
Fällen mit oder ohne vorausgegangene konservative Behandlung gungslimitierungen des Handgelenks führen bewegungserhaltende
die Möglichkeit der suffizienten Stabilisierung und Kompression Rettungsoperationen, mit Ausnahme der Totalendoprothese, nach
der Fragmente, was in der Regel die knöcherne Ausheilung her- unseren Erfahrungen nicht zu einer dauerhaften Lösung für den
beiführt. Bei nicht oder nur minimal dislozierten Typ-C-Frakturen Patienten. Hier ist in den meisten Fällen die primäre Handgelenkver-
ohne Begleitverletzungen ist auch eine minimalinvasive perkutane steifung das beste Verfahren ( Abschn. 27.2.10).
Verschraubung möglich, alle anderen Frakturen müssen offen mit
oder ohne Spongiosaplastik versorgt werden ( Abschn. 27.1.7 und
Abschn. 27.2). 27.1.7 Therapie
Für die manifesten Pseudarthrosen (»nonunion«, Typ D) ist
die Wahl des operativen Verfahrens in erster Linie vom Vorliegen Skaphoidfraktur
und Ausmaß der Fragmentdeformitäten und -vaskularisation, dem Konservative (nichtoperative) Behandlung
Grad der karpalen Gefügestörungen und der arthrotischen Verän- Die konservative Therapie der Skaphoidfraktur ist nicht nur zeitin-
derungen des Handgelenks abhängig. Bei fortgeschrittener Hand- tensiv für den Patienten, sondern erfordert auch vom Behandler
gelenkarthrose macht eine Sanierung der Pseudarthrose keinen viel Sachverstand und Erfahrung. Geeignet sind prinzipiell nur
Sinn mehr, so dass in diesen Fällen nur noch sog. Rückzugs- oder Typ-A-Frakturen (⊡ Abb. 27.8, ⊡ Tab. 27.2). Bei Tuberkulumfraktu-
Rettungsoperationen in Betracht kommen. Lediglich beim SNAC- ren (A1) genügt eine Gipsimmobilisation von 4 Wochen. Bei den
Wrist I kann die Skaphoidrekonstruktion in Verbindung mit einer A2-Frakturen sind die Bestätigung der Frakturklassifikation und
partiellen Resektion des Radiusstyloids eine Therapieoption sein. der Nachweis der Stabilitätskriterien ( Abschn. 27.1.6) durch eine
Bei noch intaktem Handgelenk muss die anatomische Kahnbein- CT-Untersuchung vor Einleitung einer konservativen Behandlung
kontur wiederhergestellt werden, um degenerativen Veränderun- zwingend zu fordern.
gen und dem karpalen Kollaps entgegenzuwirken. Durchblutungs- Der geschlossene Kahnbeingips schließt das Daumengrundge-
gestörte oder avaskuläre proximale Fragmente bedürfen spezieller lenk ein und lässt die Fingergrundgelenke sowie das Ellenbogen-
Operationstechniken ( Abschn. 27.1.7). Bei der Indikationsstellung gelenk frei beweglich. Das initiale Anlegen eines Oberarmgipses
müssen neben dem Pseudarthrose- und SNAC-Wrist-Stadium un- ist heute verlassen. Die erste Röntgenkontrolle im Gips sollte nach
bedingt auch die beruflichen Anforderungen und Freizeitaktivi- 3 Wochen stattfinden, falls sich hier eine neu aufgetretene Dislo-
täten des Patienten Berücksichtigung finden, um das Ziel einer kation zeigt, ist eine Konversion zur operativen Verschraubung
dauerhaft belastbaren Handfunktion zur erreichen. anzuraten. Nach 6–8 Wochen (distales Drittel) oder 8–10 Wochen
678 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
Stabil Instabil SNAC I Rekonstruktion der Form des Skaphoids mit Spongiosa, spongiösem
Knochenblock oder gefäßgestieltem Knochentranspantat
+ Stabilisierung mit kanülierter Herbert-Schraube
27 + ggf. dorsoradiale Teildenervation des Handgelenks
(mittleres Drittel) Gipsimmobilisation müssen weitere Röntgenauf- Alle anderen Frakturen sollten primär offen angegangen wer-
nahmen des Handgelenks in 2 Ebenen plus Stecher-Aufnahme eine den, da die gedeckte Reposition von abgekippten oder rotierten
weitgehende Frakturkonsolidierung zeigen. In diesem Fall kann Fragmenten durch perkutane Joysticks sehr schwierig ist und die
der Patient mit aktiven Bewegungsübungen des Handgelenks be- intraoperative Bildgebung keine hinreichende Kontrollmöglichkeit
ginnen, sollte aber für weitere 4 Wochen eine abnehmbare dorsale der korrekten Reposition und Rotation bietet.
Handgelenk-Unterarm-Schiene mit Daumeneinschluss tragen. Da- Frakturen mit ausgedehnter Trümmerzone bedürfen einer pri-
nach sind ein zügiger Belastungsaufbau und das forcierte Auftrai- mären Spongiosaplastik und müssen ebenfalls offen versorgt wer-
nieren der Unterarmmuskulatur möglich. Bei unbefriedigendem den. Spongiosaentnahmen erfolgen aus dem distalen Radius über
Röntgenbefund bekommt der Patient eine weitere CT-Untersu- kurze Schnitterweiterungen nach proximal zwischen dem 1. und
chung, zeichnet sich auch in dieser eine verzögerte Frakturheilung 2. Streckerfach beim dorsalen bzw. an der palmaren Metaphyse
ab, empfehlen wir anstelle einer weiteren Gipsbehandlung die per- beim palmaren Zugang.
kutane oder offene Verschraubung. Eine Beschleunigung der Frak- Auch primär offene Frakturen werden immer operativ ver-
turheilung um 30% durch die Anwendung von niedrig intensivem, sorgt, in Abhängigkeit von der Weichteilverletzung und den regel-
gepulstem Ultraschall fanden Mayr et al. (2000) bei konservativ mäßig anzutreffenden Begleitverletzungen am Unterarm und am
behandelten stabilen frischen Skaphoidfrakturen. Karpus von palmar oder dorsal.
Als Implantat für die Osteosynthese frischer Frakturen hat sich
> Bei korrekter Indikationsstellung und Behandlung bestehen
die vollständig im Kahnbein versenkbare, kanülierte Doppelgewin-
zwischen konservativer und operativer Therapie hinsichtlich
deschraube durchgesetzt und die nicht kanülierte Version, nor-
der Ausheilungsprognose keine Unterschiede.
male Zugschrauben sowie reine Kirschner-Draht-Osteosynthesen
Allerdings ist beim konservativen Behandlungsregime mit einer abgelöst. Das Funktionsprinzip der verschiedenen auf dem Markt
signifikant längeren Arbeitsunfähigkeitsdauer als wesentlicher so- befindlichen Schrauben geht auf die von Herbert 1984 vorgestellte
zioökonomischer Faktor zu rechnen. Obwohl heute die übergroße Kahnbeinschraube zurück, die möglichst zentral in Längsrich-
Mehrheit der Patienten die operative Versorgung wünscht, gilt es, tung des Knochens eingebracht wird und durch unterschiedliche
in diesem Kontext ein sachliches und abwägendes Aufklärungsge- Gewindesteigungen beim Eintritt des nachgehenden Gewindes
spräch zu führen und zu dokumentieren. in den Knochen zu einer interfragmentären Kompression führt
(⊡ Abb. 27.11).
Operative Behandlung Für sehr kleine, insbesondere proximale Polfragmente, wurde
Die operative Versorgung kann sowohl als offene Reposition und die kürzere und im Schaftdurchmesser auf 1,5 mm reduzierte
interne Stabilisierung mit oder ohne Spongiosaplastik als auch Mini-Herbert-Schraube entwickelt. Es gibt eine Reihe weiterer
durch minimalinvasive perkutane Verschraubung durchgeführt konstruktionstechnischer Variationen, bei denen z. B. durch iso-
werden. Die minimalinvasive Technik bedarf eines kanülierten lierte Drehmöglichkeit der Gewindeanteile gegeneinander eine
Schraubensystems und kommt für Patienten mit A2-Frakturen zusätzliche Kompression erzeugt werden kann oder durch ein spe-
in Betracht, die keine konservative Behandlung wünschen, sowie zielles Instrumentarium die Fragmentkomprimierung bereits vor
für B1-, B2- und B3-Frakturen, sofern keine wesentlichen Dislo- Eindrehen des nachgehenden Schraubengewindes in den Knochen
kationen oder Trümmerzonen vorliegen (⊡ Abb. 27.8, ⊡ Tab. 27.2). erfolgt (⊡ Abb. 27.12).
Falls für Tuberkulumfrakturen eine Operationsindikation besteht, Prinzipiell gilt aber, dass für die Qualität der Osteosynthese
können auch diese meist perkutan mittels kanülierter 2,0- bis 2,5- nicht die konstruktiven Raffinessen am Implantat, sondern die
mm-Minischrauben versorgt werden. optimale Lage und Länge der Schraube im Knochen entscheidend
27.1 · Allgemeines
679 27
die Kahnbeinkontur als auch eine unproblematische Reposition des
meist nach palmar flektierten distalen Fragmentes ermöglicht. Die
zwangsläufig zu durchtrennenden kräftigen palmaren Band- und
Kapselanteile sind auf dem Rückweg wieder subtil zu vernähen.
Nach unseren Erfahrungen sind die palmaren Vernarbungen mit
⊡ Abb. 27.11 Prinzip der Herbert-Schraube. Durch zwei unterschiedlich steil geringeren und kürzeren Beeinträchtigungen der Handgelenkbe-
verlaufende Gewinde, kommt es zwischen den beiden Gewinden zu einem
weglichkeit vergesellschaftet als die postoperativen Verwachsungen
Kompressionseffekt
im Bereich der sehr verschieblichen und nachgiebigen dorsalen
Handgelenkweichteile ( Abschn. 27.2.4).
Die perkutane Schraubenosteosynthese ist in gleicher Weise
sowohl von dorsal-proximal als auch von palmar-distal möglich.
Die Vorteile dieser Operationsmethode liegen in einem minimalen
Zugangstrauma, der Schonung des palmaren bzw. dorsalen Kapsel-
Band-Apparates sowie im Vermeiden einer vaskulären Denudie-
rung der Kahnbeinfragmente. Bei deutlich ungleicher Fragment-
⊡ Abb. 27.12 Twin-Fix-Schraube mit separater Drehmöglichkeit des gold- größe sollte der Zugang von der Seite des kleineren Fragmentes
farbenen Teiles aus erfolgen. Eine leichte Humpback-Verkippung lässt sich über
den palmar-distalen Zugang mit dorsal extendiertem Handgelenk
besser reponieren als von dorsal. Bei freier Wahlmöglichkeit be-
vorzugen wir für die perkutane Verschraubung den dorsal-pro-
ximalen Zugang, der über die Miniarthrotomie des Handgelenks
auch zur Entlastung des Hämarthros führt und durch Blick auf
den Daumenstrahl eine gute Orientierung über die Kahnbeinachse
ermöglicht. Die Operation kann idealerweise in Regionalanästhesie
durchgeführt werden, Operationszeiten von 20–30 Minuten sind
mit zunehmender Routine realisierbar. Eine Blutleere ist nicht er-
forderlich, sollte aber wegen einer ggf. erforderlichen Konversion
zur offenen Operation vorbereitet sein. Gegenüber der offenen Ver-
sorgung ergeben sich regelmäßig längere Röntgenzeiten durch die
Bestimmung des Eintrittspunktes und die erforderlichen Kontrollen
des Schraubenvortriebes ( Abschn. 27.2.1, Abschn. 27.2.2).
Navigierte Osteosynthese
a b Die perkutane navigierte Kahnbeinverschraubung ist eine neue
Methode, mit welcher eine genauere Bestimmung der Schrauben-
⊡ Abb. 27.13 Doppelschraubenosteosynthese. a B2-Skaphoidfraktur, Rönt- position und -länge erreicht werden kann, als dies mit der her-
genaufnahme p.-a., b nach Doppelschraubenosteosynthese kömmlichen BV-gestützten Technik möglich ist.
sind. In bestimmten Fällen können bei unzureichendem Schrau- Die Ziele der computergestützten perkutanen Kahnbeinver-
benanzug, sehr instabilen oder mehrfragmentären Kahnbeinfrak- schraubung sind:
turen auch 2 Schrauben eingebracht werden (⊡ Abb. 27.13). Das 1. optimale zentrale und frakturadaptierte Lage der Schraube,
Bestimmen der korrekten Lage und Länge des Schraubenimplan- 2. optimale Länge der Schraube
tates ist insbesondere bei der perkutanen Verschraubung wegen und damit
der in beiden Ebenen gekrümmten Zentralachse des Kahnbeins 3. höhere Stabilität,
nach wie vor problematisch und in hohem Maße von der Rou- 4. Verkürzung der Ausheilungszeit
tine des Operateurs abhängig. Mögliche Lösungsansätze für die bei gleichzeitiger
Optimierung der Schraubenplatzierung sind zukünftig durch die 5. Reduktion der Röntgenbelastung.
spezifische Weiterentwicklung der bildgestützten Navigation zu
erwarten (s. unten).
Die offene Osteosynthese von dorsal findet Anwendung bei Nach biomechanischen Studien von McCallister et al. (2003) resul-
der Versorgung von perilunären Luxationsfrakturen (B4), wobei tierten biomechanische Vorteile aus einer exakt zentralen Lage der
weitere karpale Verletzungen mit versorgt und die Reposition Schraube im proximalen Fragment mit einer bis zu 43% höheren
der Handwurzelknochen durch interkarpale Kirschner-Drähte ge- Steifigkeit der Osteosynthese im Vergleich zu einer peripheren
halten werden (⊡ Abb. 27.2). Auch bei sehr kleinen proximalen Lage. Desweiteren konnte die notwendige Röntgendurchleuch-
Polfragmenten kann die offene dorsale Verschraubung, ggf. mit tungszeit um etwa 70% reduziert werden, da für die 2D-Navigation
zusätzlicher Kirschner-Draht-Transfixation des Mond- und Kahn- prinzipiell nur 3 Röntgenaufnahmen erforderlich sind.
beins, notwendig sein ebenso wie im seltenen Fall eines intraope- Die erste experimentelle computergestützte perkutane Ver-
rativen Konvertierens bei primär begonnener dorsaler perkutaner schraubung einer Skaphoidfraktur wurde von Liverneaux et al.
Verschraubung ( Abschn. 27.2.3). (2005) publiziert. Dazu wurde ein für die Wirbelsäule entwickeltes
Für alle anderen offenen Frakturversorgungen präferieren wir Navigationssystem verwendet mit Fixierung der Hand in einer
den palmaren Zugang, da dieser sowohl eine gute Übersicht über röntgendurchlässigen und sterilisierbaren »Chiroblock«-Schiene.
680 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
27
⊡ Abb. 27.14 Spezialinstrumentarium für die
navigierte Kahnbeinverschraubung. a Bohrma-
schine, kanüliertes Schraubensystem, Pointer,
Bohrhülse mit Tracker, Kalibrierstation, Klemme
zur Fixierung des Schienentrackers, b navigiertes
a b
Einbringen des Führungs-Kirschner-Drahtes
Das Verfahren wurde allerdings für die Humanmedizin als noch nach 6 Wochen (Handgelenk in 2 Ebenen plus Stecher-Aufnahme)
nicht ausgereift eingestuft. erforderlich, sollten sich dabei Auffälligkeiten in der Frakturhei-
Seth et al. (2006) untersuchten den Einfluss unterschiedlicher lung ergeben, wird eine Computertomografie nachgezogen. Dieses
Schraubenlängen auf die Stabilität der Osteosynthese an Kadaver- Nachbehandlungsschema gilt prinzipiell nach perkutanen und offe-
extremitäten. Hierbei zeigte sich eine signifikant größere Stabilität nen Frakturversorgungen, wobei im Falle einer Komplexverletzung
der langen Schrauben gegenüber den kürzeren Implantaten. oder Spongiosaplastik unmittelbar postoperativ eine 3-wöchige
In einer eigenen Kadaverstudie (2007) führten wir an 10 fri- Komplettimmobilisation des Handgelenks, z. B. durch eine aus zwei
schen Oberarmpräparaten eine perkutane Verschraubung mit der Halbschalen bestehende Sandwich-Thermoplastschiene, eingefügt
Twin-Fix-Schraube über den dorsalen Zugang durch. Dabei kamen wird. Insbesondere nach offenen Frakturversorgungen und längerer
das Cart-II-Navigationssystems mit Virtual Fluoroskopy 2.1 (Fa. Immobilisationsdauer müssen Ergotherapie und Physiotherapie für
Stryker) und eine Thermoplastschiene mit fester Integration der das Handgelenk und zur Narbenbehandlung verordnet werden.
Spine-Tracker zur Anwendung. Kendoff et al. konnten bereits 2007 Zum Behandlungsabschluss werden sowohl die operativ als
nachweisen, dass mit einer derart konstruierten Lagerungsschiene auch die konservativ behandelten Patienten dahingehend instruiert,
ohne invasive Fixierung des Patiententrackers eine ausreichend ex- sich im Falle von persistierenden oder wiederauftretenden Handge-
akte Platzierung der Schraube (Fehlertoleranz <2 mm) möglich ist. lenkbeschwerden frühzeitig wieder vorzustellen, um Implantatlo-
Die von Catala-Lehnen et al. auf dem Deutschen Kongress ckerungen, Pseudarthrosen, Begleitverletzungen oder posttraumati-
für Orthopädie und Unfallchirurgie 2009 vorgestellte Kadaver- sche Arthrosen rechtzeitig erkennen und behandeln zu können.
Studie zum Vergleich von 2D- und 3D-Fluoroskopie zeigte, dass
zum gegenwärtigen Zeitpunkt die 2D-Navigation eine sehr prä- Skaphoidpseudarthrose
zise Schraubenpositionierung bei guter Praktikabilität ermöglicht, Die Operationen bei Kahnbeinpseudarthrosen sind technisch sehr
während die 3D-Navigation selbst erfahrenen Operateuren noch anspruchsvoll und sollten nur von erfahrenen Operateuren durch-
Probleme bei der Zuordnung der einzelnen Ebenen bietet . Wir geführt werden. Im Gegensatz zu den Kahnbeinfrakturen erfolgt
haben mit der klinischen Erprobung der 3D-Navigation (Brainlab, die operative Versorgung der Skaphoidpseudarthrosen ausschließ-
IsoC-3D-Bildwandler) begonnen, wobei unsere ersten Erfahrungen lich durch offene Vorgehensweise. Dabei ist der palmare Zugang
vielversprechend sind (⊡ Abb. 27.14). Durch die Möglichkeit eines zu bevorzugen, da er einerseits die Blutversorgung der Fragmente
zweiten intraoperativen Scans bei liegendem Führungsdraht kön- weniger kompromittiert als der dorsale Zugang und andererseits
nen noch Korrekturen vorgenommen werden, bevor die Doppel- eine Reposition der häufig vorhandenen Abwinkelung der Kahn-
gewindeschraube eingebracht wird. Die Röntgenstrahlenbelastung beinfragmente bei der Pseudarthrose mit Einbringen eines keil-
für einen Scan mit etwa 110 Bildern (136°, 64 s) ist mit ca. 50 cGy/ förmigen »wedge-craft« besser ermöglicht. Allerdings hat auch der
cm2 relativ niedrig. Dennoch ist die navigierte Kahnbeinverschrau- dorsale Zugang für spezielle Indikationen wie die Verschraubung
bung noch kein etabliertes Verfahren zur Versorgung der frischen kleiner proximaler Fragmente oder die Versorgung mit einem dor-
Kahnbeinfraktur. Weitere biomechanische und klinische Studien sal gefäßgestielten Knochentransplantat seine Berechtigung.
müssen die sich abzeichnenden Vorteile und die Praxistauglichkeit Bei den rekonstruktiven Pseudarthroseoperationen kommt es
dieser apparativ aufwendigen Methode zukünftig belegen. nicht nur darauf an, die Knochenheilung zu induzieren, sondern
auch die anatomische Form und Länge des Kahnbeins wiederher-
Nachbehandlung zustellen, da nur so langfristig die Arthrose im Radiokarpal- und
Da bei korrekter Schraubenplatzierung eine übungsstabile Osteo- Mediokarpalgelenk vermieden werden kann (⊡ Abb. 27.15).
synthese resultiert, ist postoperativ eine strenge Gipsimmobilisation Zum Auffüllen des knöcheren Substanzdefektes nach Resek-
nicht mehr erforderlich. Zur Behandlung des Weichteiltraumas und tion der Pseudarthrosezone und Reposition der Fragmente sind
zum Schutz vor versehentlicher Belastung bekommt der Patient in der Regel autologe Knochentransplantate erforderlich. Für
für 3–6 Wochen eine abnehmbare dorsale Handgelenk-Unterarm- Pseudarthrosen mit schmaler Frakturzone und fehlender oder
Schiene mit Einschluss des Daumengrundgliedes, aus der heraus das geringer Kahnbeindeformierung sind Spongiosachips ausreichend.
Handgelenk aktiv bewegt werden kann. Für insgesamt 6 Wochen ist Für breitere Zonen oder höhergradige Deformitäten sind kompak-
eine Belastungskarenz der betroffenen Hand einzuhalten. Neben te Spongiosablöcke, ggf. mit einer dünnen Kortikalislamelle von
der frühen postoperativen Röntgenkontrolle ist eine weitere erst Vorteil, da sie einem Zusammensintern beim Anziehen der Os-
27.1 · Allgemeines
681 27
a b c
e
d1 d2 d3
f g h
⊡ Abb. 27.15 Operative Versorgung einer D2-Pseudarthrose mit Humpback-Deformität, geringer DISI-Fehlstellung des Lunatums und beginnendem karpa-
lem Kollaps, a Röntgen p.-a.: geringe Kahnbeindeformierung, keine Arthrosezeichen, b Röntgen seitlich: Abwinkelung des Kahnbeins, geringe DISI-Fehlstel-
lung des Lunatums, SL-Winkel >60°, c intraoperativ: ausgeräumte Pseudarthrosezone, d Prinzip der Korrektur schematisch, d1 normaler SL-Winkel <60°,
d2 Humpback-Deformität des Skaphoids mit Vergrößerung des SL-Winkels; bei zusätzlicher DISI-Fehlstellung des Lunatums weitere Zunahme des SL-Winkels,
d3 Beseitigung der Humpback-Deformität und Wiederherstellung der Skaphoid-Länge durch Reposition und Einbringen eines keilförmigen palmaren Kno-
chenspans (»wedge-craft«) in Kombination mit einer kanülierten Herbert-Schrauben-Osteosynthese, e intraoperativ: Pseudarthrosezone nach Auffüllung mit
Spongiosa vom distalen Radius, f postoperatives Röntgen p.-a.: Stabilisierung der Pseudarthrose durch Doppelgewindeschraube und der karpalen Instabilität
durch Kirschner-Drähte, g postoperatives Röntgen seitlich: Aufrichtung des Kahnbeins, Beseitigung des DISI-Fehlstellung des Lunatums, SL-Winkel <60°,
h röntgenologisches Ausheilungsergebnis 20 Wochen p. o. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
teosyntheseschraube besser widerstehen als reine Spongiosachips. dorsal am distalen Radius ( Kap. 9), freie Transplantate vom Be-
Langstreckige Pseudarthrosezonen oder die Matti-Russe-Plastik ckenkamm und vom medialen Femurkondylus gewonnen werden.
erfordern kortikospongiöse Späne. Bei kritischer Fragmentdurch- Damit die Spongiosaplastik einheilen kann, müssen Sklero-
blutung oder Pseudarthroserezidiven kommen vaskularisierte sezonen, Zysten und knöcherne Abdeckelungen bis zum Errei-
Knochentransplantate zur Anwendung, die einer geringeren Span- chen normal strukturierter Fragmentspongiosa entfernt werden.
absorption unterliegen. Gestielte Transplantate können palmar und Intraoperativ kann durch Öffnen der Blutsperre die Fragment-
682 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
durchblutung überprüft werden. Alle Nischen und Zwischenräume Eine besondere Herausforderung stellt die Kahnbeinrekon-
müssen subtil mit kleinen Spongiosaanteilen ausgestopft werden, struktion bei Pseudarthrosen mit kleinen proximalen und par-
um einen möglichst innigen Kontakt zwischen Fragmentflächen tiell oder total avaskulären Fragmenten dar, die nur indiziert
und Spongiosaplastik zu erhalten. Die Spongiosaentnahmen soll- ist, sofern noch keine Frakturierung des Polfragmentes vorliegt.
ten bevorzugt vom Beckenkamm oder Trochanter major erfolgen, Während früher zur Fragmentwiederherstellung die Matti-Russe-
da hier die Struktur kompakter ist als am distalen Radius und die II-Plastik mit Apposition eines pilzförmigen Knochenblockes fa-
27 benötigte Menge nicht unterschätzt werden darf. vorisiert wurde, gilt diese Situation heute als eine Domäne der
Die Stabilisierung der Kahnbeinfragmente bei der rekonst- gestielten vaskularisierten Knochentransplantate. Neuere Studien
ruktiven Pseudarthrosenchirurgie kann auf verschiedenen Wegen berichten über knöcherne Ausheilungsraten von 85% beim freien
erfolgen. Die älteste bewährte Methode mit einer knöchernen Kon- vaskularisierten Beckenkammspan und von 71% bis 100% bei ge-
solidierungsrate von 80–90% ist die Matti-Russe-Plastik, bei der die fäßgestielten Knochentransplantaten vom distalen Radius. Im Falle
Stabilisierung mit einem kortikospongiösen Span als Knochend- einer gleichzeitigen Chondromalazie am proximalen Fragment
übel erfolgt ( Abschn. 27.2.5). Der entscheidende Nachteil dieses schlagen Kälicke et al. (2009) die Verwendung eines vaskularisier-
Verfahrens ist die Notwendigkeit einer zusätzlichen, mindestens ten Knochentransplantates mit teilweisem Knorpelüberzug vom
12-wöchigen strengen Gipsretention des Handgelenks mit den be- medialen Femurkondylus vor. Zur Osteosynthese sollten bevorzugt
kannten negativen Begleitfolgen. Um auf eine Gipsimmobilisation kanülierte Schrauben in Mini-Herbert-Schrauben-Dimension ein-
verzichten oder diese zumindest deutlich verkürzen zu können gesetzt werden, alternativ auch Kirschner-Drähte (⊡ Abb. 27.16).
wird die Spanverblockung heute zunehmend mit einer Verschrau- Das alleinige Verklemmen des Spans birgt auch bei konsequenter
bung (Herbert- oder Mini-Herbert-Schraube) kombiniert. Gipsimmobilisation in hohem Maße die Gefahr einer Spandisloka-
Wie bei der Versorgung frischer Kahnbeinfrakturen hat sich tion. Die SL-Bandstabilität muss aber in jedem Fall erhalten blei-
auch bei der Pseudarthrosensanierung die Osteosynthese mittels ben, da sich sonst auch bei erfolgreicher Sanierung der Skaphoidp-
Doppelgewindeschrauben als Standardverfahren durchgesetzt. seudarthrose ein SLAC-Wrist (scapho-lunate advanced collapse)
Die kanülierten Systeme bieten intraoperativ, analog zur Fraktur- entwickeln kann (⊡ Tab. 27.5).
versorgung, Vorteile beim Bestimmen der richtigen Schraubenlage
und -länge.
> Da die Knochensubstanz durch die degenerativen Verände-
rungen bei der Pseudarthrose meist weniger tragfähig ist, be-
steht bei suboptimaler Schraubenpositionierung in erhöhtem
Maße die Gefahr einer insuffizienten Gewindeverankerung
ohne ausreichenden Kompressionseffekt.
Demgegenüber besteht bei gut erhaltener Knochenstruktur der
Pseudarthrosefragmente durchaus die Chance, dass auch im Falle
einer ausbleibenden radiologischen Knochendurchbauung bei gut
verankerter Schraube eine dauerhaft stabile Situation herbeigeführt
wird. Beim Verwenden von normal dimensionierten Schrauben in
Verbindung mit kortikospongiösen Spänen oder Spongiosablöck-
chen können die Knochentransplantate u. U. durch den Bohrvor-
gang und das Einbringen der Schraube frakturieren oder diszlozie-
ren. Alternativ kommen deshalb gelegentlich auch noch Kirschner- a b
Drähte als Stabilisierungsoption, insbesondere bei gefäßgestielten
Transplantaten, zur Anwendung. Desweiteren dienen temporäre ⊡ Abb. 27.16 Verschiedene Osteosyntheseverfahren bei gefäßgestieltem
Kirschner-Drähte zum Halten der Fragmentreposition und Länge Knochentransplantat (1./2. interkompartmentelle supraretinakuläre Arterie)
des Kahnbeins bis zur definitiven Osteosynthese oder zur Retenti- vom distalen Radius. a Kirschner-Draht-Osteosynthese, b kanülierte Doppel-
on karpaler Instabilitäten. gewindeschraube
27
a b c
⊡ Abb. 27.17 Sturz vom Fahrrad, Mädchen, 10 Jahre. a Röntgenbild, b,c MRT: Es zeigt sich ein Kontusionsherd (»bone bruise«) im Kahnbein (Pfeile). (Aus
Weinberg u. Tscherne 2006)
Therapie
Das therapeutische Vorgehen ist abhängig vom klinischen Bild und
der radiologischen Diagnostik. Nicht immer ist eine Fraktur des
Skaphoids primär radiologisch zu verifizieren.
Folgendes Procedere hat sich bei der Behandlung von Skapho-
idfrakturen bei Kindern bewährt:
⊡ Abb. 27.18 Klassifikation der Kahnbeinfrakturen beim Kind. A distales ▬ Liegt trotz klinischen Verdachts ein unauffälliges Röntgenbild
Drittel, B mittleres Drittel, C proximales Drittel. Prognostisch günstig sind vor, wird zunächst für 7–14 Tage ein Unterarmgips mit Dau-
bei Jugendlichen Frakturen des distalen Drittels, die ungünstigere Prognose meneinschluss angelegt. Anschließend erfolgt eine neuerliche
weisen Verletzungen im proximalen Drittel auf. Bei Kindern ist die Prognose gipsfreie Röntgenkontrolle. Sind keine Frakturzeichen zu er-
insgesamt günstiger. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006) kennen und gibt der Patient keine Schmerzen mehr an, gilt die
Behandlung als abgeschlossen.
▬ Bei immer noch andauerndem Schmerz nach 7–14 Tagen
und nicht dislozierten Frakturen differenziert, da dieses therapeu- wird entweder eine neuerliche Immobilisation für 2 Wochen
tische Konsequenzen nach sich zieht (⊡ Abb. 27.18). durchgeführt oder aber eine MRT-Untersuchung. Wird weiter
konservativ ohne MRT vorgegangen, erfolgt nach 4 Wochen
Indikation und Differenzialtherapie erneut eine klinische und radiologische Kontrolle, ggf. ist die
Die Entscheidung zur konservativen oder operativen Therapie Behandlung bei bestehender Symptomatik auf 6 Wochen aus-
wird anhand der Dislokation vorgenommen. Eine nicht dislozierte zudehnen.
Skaphoidfraktur kann konservativ behandelt werden. Die Ruhig- ▬ Zeigt sich bereits primär eine Fraktur im Röntgenbild, so wird
stellung erfolgt im Kahnbeingips, d. h. in einer Unterarmschiene für 6 Wochen ein Unterarmgips mit Daumeneinschluss ange-
mit Einschluss des Daumengrundgelenks. Zunächst wird dieser legt. Kann nach 6 Wochen ein Knochendurchbau radiologisch
Gips als eine dorsoradiale Schiene angelegt, sekundär wird auf gesichert werden, so kann mit Bewegungsübungen begonnen
einen zirkulären Gips umgestiegen. Leichte Kunststoffmaterialien werden.
haben sich hierbei bewährt. ▬ Zeigt sich nach dieser Zeit keine knöcherne Konsolidierung
Operationsindikationen bestehen bei dislozierten und instabi- der Fraktur, muss erneut eine Immobilisation für weitere
len Skaphoidfrakturen. Eine relative Indikation zur operativen Ver- 4 Wochen erfolgen. Dies ist im Kindesalter eine Rarität. Ist der
sorgung stellen konservativ behandelbare Skaphoidfrakturen dar, Patient in der Pubertät, sollte die Fraktur spätestens zu diesem
wenn Gründe gegen eine Ruhigstellung sprechen. Übungsstabilität Zeitpunkt operativ stabilisiert werden. Auch sekundär nach
sollte dann das OP-Ziel sein. 6 Wochen zeigt die Behandlung dieser Frakturen noch gute
Ergebnisse.
> Da Einsteifungen des Handgelenks nach konservativ behan-
▬ Handelt es sich um eine dislozierte Fraktur, so gestaltet es sich
delten Kahnbeinbrüchen gerade bei Kindern und Jugendli-
äußerst schwierig, die anatomische Position durch einen Gips
chen nicht beobachtet werden, ist die OP-Indikation, die sich
zu retinieren. In diesen Fällen sind offene Reposition und
nur auf eine Verkürzung der Ruhigstellungszeit gründet, mit
Transfixation der Fraktur indiziert.
besonderer Sorgfalt zu prüfen.
Als disloziert gelten alle sichtbaren Stufenbildungen und Spalt- Die Behandlung besteht mit Ausnahme von Komplexverletzungen
bildungen über 2 mm sowie Abkippungen von mehr als 10°. Ob immer in der Anlage eines Unterarm-Kahnbein-Gipses, in der
27.2 · Spezielle Techniken
685 27
Regel für 6 Wochen. Die Prognose für eine vollständige Ausheilung
ist sehr gut.
Die Kahnbeinosteosynthese erfolgt nach den Richtlinien von
Erwachsenen, da diese Frakturen fast ausschließlich in der Puber-
tät auftreten.
Nachkontrolle
In der Regel heilen die Frakturen in 6–8 Wochen aus, allerdings
wird in der Literatur empfohlen, nach 4 Wochen ein gipsfreies
Röntgenbild aufzunehmen und je nach klinischem Befund even-
tuell nochmals im Skaphoidgips für 2–4 Wochen ruhigzustellen.
Danach ist die Konsolidierung bei entsprechendem radiologischem
und klinischem Befund nochmals zu beurteilen.
a
Wachstumskontrollen. Da auch sekundär aufgetretene Pseudar-
throsen beschrieben werden, scheint es sinnvoll eine klinische und
bei entsprechender Symptomatik eine radiologische Verlaufskont-
rolle nach 6 Monaten zu empfehlen. Nach Meinung der Autoren ist
dies aber nur bei nachgewiesenen durchgehenden Frakturen von
Bedeutung. Fissuren und inkomplette Brüche zeigen keine sekun-
dären Dislokationen und damit Pseudarthrosen.
Skaphoidpseudarthrose b
Grundsätzlich sind Pseudarthrosen nicht zu befürchten, wenn zum
Zeitpunkt des Unfalls die Wachstumsfugen der Umgebung noch ⊡ Abb. 27.19 Universell einsetzbares Schienenpaar zur intraoperativen Lage-
weit offen sind. Hingegen können Deformierungen der Kahnbein- rung bei der perkutanen Verschraubung von dorsal und palmar. a Ansicht von
kontur oder sekundäre Veränderungen am Karpus und Radius- oben, b Lagerung der linken Hand zur Verschraubung von dorsal
styloid sowie entsprechende klinische Beschwerden hinweisend
auf das Vorliegen einer seltenen Kahnbeinpseudarthrose sein. Für
Jugendliche gelten die gleichen Prinzipien wie für Erwachsene. (⊡ Abb. 27.19). Dadurch wird der proximale Skaphoidpol über die
dorsale Radiuskante hervorgedreht und für die Platzierung des Füh-
> Bei einem entsprechenden röntgenologischen Befund ist
rungsdrahtes zugänglich. Alternativ muss die Hand durch die Ope-
differenzialdiagnostisch an ein Os scaphoideum bipartitum
rationsassistenz in der entsprechenden Stellung gehalten werden.
(Os centrale carpi) oder ein Os radiale externum ( Kap. 26)
zu denken.
Operationsablauf (⊡ Abb. 27.20). Hautlängsinzision (5 mm) über
dem röntgenologisch lokalisierten proximalen Skaphoidpol. Sprei-
zen der Weichteile zwischen 3. und 4. Strecksehnenfach. Perfo-
27.2 Spezielle Techniken ration der dorsalen Gelenkkapsel, Entlastung des Hämarthros.
Vorbohren des Führungs-Kirschner-Drahtes bis zur distalen Kahn-
27.2.1 Technik der perkutanen beinkortikalis. Dieser muss idealerweise in beiden Röntgenebe-
Schraubenosteosynthese der frischen nen zentral platziert werden. Da der Daumenstrahl nicht mit in
Skaphoidfraktur von dorsal der Lagerungsschiene fixiert ist, kann dieser als Verlängerung
der Kahnbeinachse zur visuellen Orientierung dienen. Um die
Indikation. Nicht oder gering dislozierte Frakturen im proxima- Knochenstruktur nicht zu schwächen, sollte man die Anzahl der
len oder mittleren Kahnbeindrittel. Bohrversuche möglichst gering halten. Längenbestimmung mit
Messlatte laut OP-Anleitung (systemspezifische Besonderheiten
Equipment. Kanüliertes Schraubensystem, Bohrmaschine, Arm- beachten!). Weiteres Vorbohren des Führungsdrahtes bis ins Tra-
tisch, Oberarmblutleere, BV. pezium zur besseren Stabilisierung des distalen Fragmentes. Optio-
nal kann parallel zum Führungsdraht ein weiterer Kirschner-Draht
Anästhesie. Regionalanästhesie (Bier‘sche i.v.-Anästhesie, Arm- zur Fragmentstabilisierung eingebracht werden, welcher aber mit
plexus-Anästhesie) oder Vollnarkose. dem Schraubenverlauf nicht kollidieren darf. Vorsichtiges Auf-
bohren über den Führungsdraht bis knapp über die Frakturzone
Operationsdauer. 20–40 min. hinaus. Eindrehen der Doppelgewindeschraube mit der ermittelten
Länge, bis der nachgehende Gewindeanteil im Knochen greift
Lagerung. Die Hand wird bei frei bleibendem Daumen auf einer und ein beginnendes Anziehen der Schraube spürbar ist. Erst
sterilen, stabilen und röntgendurchlässigen Kunststoffschiene in ma- nach nochmaliger genauer röntgenologischer Verifizierung der
ximaler Flexion und Ulnarabduktion des Handgelenks fest fixiert korrekten Schraubenlänge weiteres Eindrehen der Schraube bis
686 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
27
a b d
f i
e g
27
b c
a
f
d e
h i j
g
⊡ Abb. 27.22 Technik der offenen Reposition und Schraubenosteosynthese der frischen Skaphoidfraktur von palmar, a Leitstruktur ist die Sehne des M. fle-
xor carpi radialis, b Anzeichnung des Hautschnitts, c Durchtrennung der Sehnengleitbahn: Oft muss ein kreuzender palmarer Ast – distaler Perforator – der
A. radialis ligiert werden, d Anzeichnung der Eröffnung der derben radiopalmaren Gelenkkapsel, e Einkerbung (Durchtrennung) des Lig. radioscaphocapi-
tatum, f Darstellung des Kahnbeins: Zur Operation im mittleren und distalen Drittel wird die Sehne des M. flexor carpi radialis nach ulnar gehalten, zur Dar-
stellung des proximalen Pols nach radial, g sparsames Freipräparieren der Eintrittsstelle für den Führungsdraht am distalen Kahnbeinpol durch Inzision der
Thenarmuskulatur, von Kapsel-Band-Anteilen des skaphotrapezialen Gelenks und ggf. Resektion des palmaren Anteils des Os trapezium mit der Luer-Zange,
h Positionierung des Führungsdrahtes am distalen Skaphoidpol, i Längenbestimmung mit der Messlehre, j Eindrehen der Doppelgewindeschraube und ggf.
Spongiosaauffüllung des Frakturspaltes. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006 [a, d, e,] und Preißer 1996 [g])
690 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
Drittel des Kahnbeins sichtbar (⊡ Abb. 27.22d–f). Einsetzen eines Kirschner-Draht mit Gewinde zur Transfixation der Fragmente
scharfen stabilen Wundspreizers. Reposition der Fraktur durch und als Kernmarkierung der kanülierten Schraube in Längsachse
Zug am Daumen und Extension des Handgelenks. Meist ist es des Kahnbeins angelegt werden. Oft können durch den Zug des
erforderlich, die Fragmente mit je einem Joystick-Kirschner-Draht feinen gebogenen Hakens, der am proximalen Pol des Kahnbeins
zu besetzen, um eine direkte Reposition vornehmen zu können. angesetzt ist, die Fragmente reponiert und durch leichten Gegen-
Sparsames Freipräparieren der Eintrittsstelle für den Führungs- druck des Bohrers kann eine ausreichende Fixation zum Boh-
27 draht am distalen Kahnbeinpol durch Inzision der Thenarmus- ren erzielt werden. Der 1,1 mm dicke Führungsdraht wird von
kulatur und von Kapsel-Band-Anteilen des skaphotrapezialen dorsal-distal parallel zur Längsachse des Kahnbeins senkrecht
Gelenks. zur Bruchfläche so eingebracht, dass die beiden Fragmente in
Auch bei exakter Reposition kann es schwierig sein, den anatomisch reponierter Stellung fixiert werden. Der Kirschner-
Schraubeneintritt ausreichend weit dorsal im distalen Fragment zu Draht soll nach Möglichkeit im proximalen Pol des Kahnbeins
platzieren. Ist dies durch eine Mobilisation des distalen Pols nicht fest verankert und in Korpusmitte des Kahnbeins platziert sein
möglich, kann alternativ hierzu mit der Luer-Zange eine Rinne und bildet eine Leitschiene für den endgültigen Platz der Schrau-
in den prominenten palmar-proximalen Anteil des Os trapezi- be. Die Lage des Kirschner-Drahtes wird unter Bildverstärker
ums angelegt werden. Dies vermeidet die Ablösung der palmaren kontrolliert. Nun wird über den Kirschner-Draht mit einem
Bandstrukturen am distalen Kahnbeinpol (⊡ Abb. 27.22g,h). Unter kanülierten 2,0-mm-Bohrer ein Kanal von distal nach proximal
Halten der Reposition Vorbohren des Führungsdrahtes bis zur des Kahnbeins eingebohrt. Der Bohrer darf nicht den proximalen
proximalen Kahnbeinkortikalis und Bestimmung der Schrauben- Pol des Kahnbeins durchstoßen. Ein Gewindeschneiden wird
länge (systemspezifische Besonderheiten beachten!) (⊡ Abb. 27.22i). nicht benötigt, da hier die Schraube selbst gewindeschneidend
Durch weiteres Vorbohren des Führungsdrahtes bis in den distalen ist. Anschließend Messung der Schraubenlänge. Die gemessene
Radius wird das proximale Fragment besser stabilisiert, allerdings kanülierte Schraube wird nun über den Kirschner-Draht mit
darf dann das Handgelenk nicht mehr bewegt werden. Optional einem kanülierten Schraubendreher eingedreht. Der Kirschner-
kann parallel zum Führungsdraht ein weiterer Kirschner-Draht Draht wird anschließend entfernt. Nochmalige Kontrolle unter
zur Fragmentstabilisierung eingebracht werden, welcher aber mit Bildverstärker. Nach Spülung des Gelenks erfolgen die Öffnung
dem Schraubenverlauf nicht kollidieren darf. Vorsichtiges Aufboh- der Blutleere, Blutstillung, Kapselnaht, Einlegen einer Redon-
ren mit dem kanülierten Bohrer bis knapp über die Frakturzone Drainage und Hautverschluss.
hinweg in das proximale Fragment hinein. Eindrehen der Doppel-
gewindeschraube mit der ermittelten Länge, bis der nachgehende
Gewindeanteil im Knochen greift und ein beginnendes Anziehen 27.2.6 Technik der Korrektur der Skaphoid-
der Schraube spürbar ist (⊡ Abb. 27.22j). Erst nach nochmaliger pseudarthrose über einen palmaren Zugang
genauer röntgenologischer Verifizierung der korrekten Schrau- am Beispiel der Matti-Russe-Plastik
benlänge weiteres Eindrehen der Schraube bis zur maximalen
Kompression mit sicherer intraossärer Lage des proximalen und Indikation. Pseudarthrose mittleres Drittel bis Übergangsbereich
distalen Schraubenendes. Sollte nach korrekter Reposition ein zum proximalen Drittel bei erhaltener Fragmentvaskularisation.
keilförmig klaffender Frakturspalt resultieren, muss dieser mit
autologer Spongiosa fest ausgefüllt werden, damit bei Entfaltung Equipment. Bohrmaschine mit Minifräsen, Armtisch, Oberarm-
der vollen Kompressionswirkung der Schraube keine erneute An- blutleere, BV, Minimeißel, Meißelsieb zur Knochenentnahme, ggf.
gulationsfehlstellung eintritt. Die Spongiosa kann in dieser Situa- kanüliertes Schraubensystem.
tion durch eine kurze Schnitterweiterung nach proximal über ein
palmares Kortikalisfenster am Radiusstyloid gewonnen werden. Anästhesie. Vollnarkose wegen Knochenentnahmeam Becken-
Nach Entfernung des Führungs- und ggf. des Antirotationsdrah- kamm.
tes BV-Röntgenkontrollen in 2 Ebenen sowie Stecher-Aufnahme.
Dokumentation der korrekten Schraubenlage und -länge, der ge- Operationsdauer. 90–120 min, Verkürzung bei simultaner Kno-
schlossenen Frakturzone und der regelrechten Kahnbeinkontur. chenentnahme durch zweites Operationsteam.
Klinische Prüfung der freien und krepitationslosen Handgelenkbe-
weglichkeit. Naht der Gelenkkapsel und palmaren Bänder, Subku- Lagerung. Der Unterarm wird zunächst mit leichter Extension
tan- und Hautnaht. des Handgelenks auf dem Armtisch gelagert. Eine straff gewickelte
Bauchtuchrolle sollte vorbereitet sein, über der im weiteren Opera-
tionsverlauf das Handgelenk weiter nach dorsal extendiert werden
27.2.5 Technik der offenen Reposition und kann, um die Kahnbeinfragmente zu reponieren und die Kahn-
Schraubenosteosynthese der frischen beingelenkfläche möglichst vollständig beurteilen zu können. Um
Skaphoidfraktur von radial den phasenweise erforderlichen Zug am Daumen oder der Hand
aufrechtzuerhalten, möglichst zweite Assistenz mit einplanen.
Als Zugang wird ein ca. 5 cm langer Längsschnitt in der Tabati-
ere gewählt (⊡ Abb. 27.23a). Es muss eine exakte Darstellung und Operation (⊡ Abb. 27.24). Lagerung und operativer Zugang ent-
Schonung der Sehne des M. abductor pollicis longus und Exten- sprechen dem in Abschn. 27.2.4 beschriebenen Vorgehen . Spal-
sor pollicis brevis sowie Ramus superfizialis N. radialis erfolgen tung der Gelenkkapsel parallel zur Kahnbeinachse und Darstellung
(⊡ Abb. 27.23b); Eröffnung der Gelenkkapsel durch eine Längs- der Pseudarthrose. Liegen arthrotische Veränderungen an der Ge-
spaltung, Ablösen der Gelenkkapsel vom Processus styloideus lenkfläche des Processus styloideus radii vor, kann dieser sparsam
radii (⊡ Abb. 27.23c). Darstellen des Kahnbeins, Reposition und bogenförmig abgemeißelt werden. Hierbei sind die ansetzenden
Retention der Fragmente unter Sicht und mithilfe eines feinen Bandverbindungen zu lösen und die über das Styloid verlaufenden
gebogenen Hakens (⊡ Abb. 27.23d). Nun kann ein temporärer EPB- und APL-Sehnen sorgfältig zu schonen. Resektion der bin-
27.2 · Spezielle Techniken
691 27
⊡ Abb. 27.23 Technik der offenen Reposition und Schraubenosteosynthese
der frischen Skaphoidfraktur von radial. a Anzeichnung des Hautschnitts,
b Darstellung der Strukturen im Bereich des radialen Handgelenks: Die
Äste des R. superficialis N. radialis müssen dargestellt, angeschlungen und
vorsichtig weggehalten werden. c Darstellung der radialen Gelenkkapsel,
d Eröffnung der radialen Gelenkkapsel und Darstellung der Fraktur, e Reposi-
tion der Fraktur und Retention mithilfe eines Kirschner-Drahtes. (Aus Schmit-
Neuerburg et al. 2001)
c
692 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
degewebigen Pseudarthrosezone bzw. Entdeckelung der Pseudar- 27.2.7 Technik der Entnahme des dorsoradialen
throseflächen mit dem Mini-Luer. Gegebenenfalls Einbringen von vaskularisierten Knochenspans
jeweils einem Joystick-Kirschner-Draht pro Fragment und Halten (A.-innominata-Lappenplastik nach
der korrekten Kahnbeinlänge und Repositionsstellung. Ausarbei- Zaidemberg) Abschn. 9.2.2
ten eines insgesamt ca. 10 mm langen und 3 mm breiten Kortika-
lisfensters parallel zur Längsachse des Kahnbeins und mit Zentrum 27.2.8 Technik der Entnahme des palmaren
27 über dem Pseudarthrosespalt. Dabei ist der intakte gelenkbildende vaskularisierten Knochenspans nach
Knorpelbereich möglichst zu schonen. Von diesem rinnenförmi- Kuhlmann/Mathoulin Abschn. 9.2.3
gen Kortikalisfenster aus werden die bindegewebig und zystisch
degenerierten Bereiche mit dem Mini-Luer und scharfem Löffel 27.2.9 Technik der Entnahme des freien
aus beiden Fragmenten entfernt, bis nur noch vitale Spongiosa vaskularisierten Knochentransplantat
vorhanden ist (⊡ Abb. 27.24a). Ein kurzes Öffnen der Blutleere vom medialen Femurkondylus nach
kann zum Nachweis der Durchblutung des proximalen Fragmentes Masquelet Abschn. 9.2.8
dienen. Nun wird der vom Beckenkamm entnommene kortiko-
spongiöse Knochenspan nach der Größe der Knochenhöhle und 27.2.10 Technik der Entnahme des freien
der wiederherzustellenden Kahnbeinlänge subtil zugerichtet. An mikrovaskulären vorderen Beckenkamspans
der Außenseite anhaftendes Bindegewebe wird zusammen mit der nach Taylor Abschn. 29.2.7
äußeren Kortikalisschicht mit dem Luer entfernt, ohne die struk-
turelle Stabilität des Spans wesentlich zu schwächen. Schrittweises 27.2.11 Technik der Skaphoidektomie und
Einpassen des nicht vaskularisierten autologen kortikospongiösen mediokarpalen Arthrodese Abschn. 28.2.10
Knochenspans je nach Situation über die Stirnseiten der Fragmente
oder die ausgearbeitete Rinne ohne stärkere Gewaltanwendung 27.2.12 Technik der Resektion der proximalen
(⊡ Abb. 27.24b). Zusätzlich eingepresste Spongiosachips verblocken Karpalreihe Abschn. 28.2.14
den Span und füllen die verbliebenen Knochenlücken auf. Gelenk-
spülung (⊡ Abb. 27.24c). 27.2.13 Technik der kompletten
Röngten-BV-Kontrollen und Bewegung des Handgelenks zur Handgelenkarthrodese Abschn. 28.2.15
klinischen Prüfung der Kahnbeinstabilität. (Gegebenenfalls zusätz-
liches Einbringen von 1–2 stabilisierenden Kirschner-Drähten oder 27.3 Fehler, Gefahren und Komplikationen
einer Mini-Herbert-Schraube.) Naht der Gelenkkapsel und ggf. der
FCR-Sehne. Öffnen der Blutsperre und Blutstillung. Einlage einer 27.3.1 Skaphoidfraktur
Mini-Redon-Drainage, Subkutan- und Hautnaht. Dünner steriler
Verband. Unvollständige oder inkonsequente bildgebende Diagnostik kann zur
Noch im Operationssaal Anlage eines gespaltenen und über Fehleinschätzung der Frakturmorphologie sowie -stabilitätssituation
der Wunde gefensterten Kahnbeingipses bis zum Oberarm, wie er und in der Folge zur Auswahl eines ungeeigneten Therapieverfahrens
nach klassischer Anleitung gefordert wird. Nach 6 Wochen kann führen. Aus einer unterlassenen Reposition resultiert dann bei der
auf einen Unterarmfaustgips gewechselt werden, der wiederum perkutanen Verschraubung z. B. eine Fixierung der Angulations-
6 Wochen zu tragen ist, sodass eine Gesamtdauer der Gipsimmobi- fehlstellung der Kahnbeinfragmente. Ebenso kann bei übersehener
lisation von 12 Wochen resultiert. Bei Lockerung durch Abschwel- Trümmerzone die Kompressionswirkung der Doppelgewindeschrau-
lung und Muskelatrophie muss der Gips erneuert werden. (Durch be eine Abwinkelung der Fragmente bewirken oder verstärken.
simultane Verschraubung kann auf den Oberarmgips verzichtet Kommt insbesondere das vorangehende Schraubengewinde
und die Immobilisationsdauer auf die Hälfte verkürzt werden.) ganz oder teilweise im Frakturbereich oder in einem übersehe-
a b c
⊡ Abb. 27.24 Operationsschritte bei der Matti-Russe-Plastik. a Resektion der Pseudarthrosezone und Ausarbeitung des Spanbettes, b Einpassung des nicht
vaskularisierten kortikospongiösen autologen Knochenspans, c Abschlusssitus nach Auffüllen der verbleibenden Knochendefekte mit Spongiosachips. (Aus
Schmit-Neuerburg et al. 2001)
27.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
693 27
nen Frakturausläufer zu liegen, führt dies zur unzureichenden gestörten Frakturheilung mit einem hohem Pseudarthroserisiko
Kompression und Stabilisierung der Fraktur mit erhöhter Pseu- (⊡ Abb. 27.27).
darthrosegefahr. Gleiches gilt für zu kurze Schrauben oder deut- Bei Kindern ist zu beachten, dass die Ossa lunatum, pisiforme
liche Abweichungen der Schraubenlage von der Zentralachse des und scaphoideum häufig mehr als ein Ossifikationszentrum besit-
Kahnbeins. Bei sehr kleinen proximalen Polfragmenten besteht zen und damit bei der radiologischen Deutung der Aufnahmen die
die Gefahr, dass durch dezentrale Platzierung des Schraubenein- Gefahr der Verwechslung mit einer Fraktur besteht ( Kap. 26)
trittspunktes das Fragment gesprengt oder das nachgehende kurze
Schraubengewinde unzureichend verankert wird.
Problembehaftet kann sich auch der intraoperative Schrauben- 27.3.2 Skaphoidpseudarthrose
wechsel gestalten, da beim Zurückdrehen der Schraube durch die
unterschiedlichen Gewindesteigungen ein Auseinanderdrängen der Der Verzicht auf eine präoperative bilanzierende Arthroskopie
Fragmente mit Rotationsdislokation eintreten kann. Hier ist das Ein- birgt die Gefahr einer Fehleinschätzung des Arthrosegrades und
bringen eines zusätzlichen Antirotations-Kirschner-Drahtes hilfreich. der Stabilität der Pseudarthrose. Darauf basierend kann es zur
Durch die Wahl einer ungeeigneten Schraubengeometrie Auswahl des ungeeigneten Operationsverfahrens kommen. Auf
erhöht sich ebenfalls das Risiko einer Knochenheilungsstörung intraoperative Überraschungen muss dann mit Änderungen oder
(⊡ Abb. 27.25). Erweiterungen des geplanten Procedere, im schlimmsten Fall auch
Neben zu kurzen Schrauben sind auch proximal oder dis- mit dem Abbruch der Operation reagiert werden.
tal überstehende Schraubenanteile zu vermeiden, da diese neben Die postoperative Immobilisierungszeit des Handgelenks und
Schmerzen zur Arthrose der radialen bzw. trapezialen Gelenkflä- vor allem die Dauer der Belastungskarenz für die Hand sollten
chen führen können (⊡ Abb. 27.26). Eine Schraubenentfernung ist nach rekonstruktiven Pseudarthroseoperationen nicht zu kurz an-
in diesen Fällen nach Frakturkonsolidierung anzuraten. gesetzt werden. Auch bei interner Stabilisierung der Fragmente
Bei der konservativen Therapie und in der Nachbehandlung mittels Doppelgewindeschraube ist von einer köchernen Aushei-
operierter Patienten führt eine inadäquate Ruhigstellung zu einer lungsdauer der Pseudarthosen im proximalen Drittel von mehr als
a b
⊡ Abb. 27.25 Skaphoidpseudarthrose nach Osteosynthese mit ungeeigneter ⊡ Abb. 27.27 Verzögert heilende, 6 Monate alte Kahnbeinfraktur im pro-
Schraube ximalen Drittel ohne adäquate Therapie. a Röntgenaufnahme p.-a.: keine
Deformierung, b MRT mit Kontrastmittel: verminderte, aber nachweisbare
Restdurchblutung im proximalen Fragment
a b
⊡ Abb. 27.26 Proximal und distal überstehende Schraube. a Röntgen p.-a. und seitlich, b Computertomografie
694 Kapitel 27 · Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose
6 Monaten und weiter distal von mehr als 4 Monaten auszugehen, Greene MH, Hadied AM, LaMont RL (1984) Scaphoid fractures in children. J
im Einzelfall kann die Heilung aber noch wesentlich länger dauern Hand Surg [Am] 9: 536–541
Hinweise zu Fehlern und Gefahren bezüglich der Osteosyn- Greene WB, Anderson WJ (1982) Simultaneous fracture of the scaphoid and
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27 fracture nonunion. J Pediatr Orthop. 23: 402–406
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28
28.1 Allgemeines schlag . Nach Riss der palmaren schwachen Bandverbindung zwi-
schen Lunatum und Kapitatum rutschen Unterarm und Mondbein
Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen umfassen im End- gegenüber der fixierten Hand nach palmar. Schließlich rupturiert
zustand das Radiokarpalgelenk, das Midkarpalgelenk und auch die auch der dorsale Bandapparat, sodass das Mondbein in unter-
Interkarpalgelenke. schiedlichem Ausmaß von der Radiusfläche verdrängt wird oder
nach Aufhebung der Dorsalflexion im Handgelenk allein aus der
> Der Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung dieser komple-
proximalen Handwurzelreihe nach palmar luxiert (⊡ Abb. 28.2a).
xen Verletzung liegt in einer anatomischen Rekonstruktion
In der Literatur wird oftmals zwischen einer dorsalen perilunären
des Bandapparates, einer stabilen Frakturversorgung und
Luxation und einer palmaren Lunatumluxation unterschieden. In
28 einer zuverlässigen Transfixation sowohl der proximalen
der Realität sind dies jedoch keine zwei verschiedenen Verlet-
Handwurzelreihe als auch des Midkarpalgelenks. Vorausset-
zungsmuster, sondern stellen verschiedene Stadien desselben Pa-
zung ist eine exakte Kenntnis des Bandapparates sowie sei-
thomechanismus dar. Die Lunatumluxationen sind keine isloierten
ner biomechanische Bedeutung.
Verletzungen des Lunatums, sondern Endstadien der dorsalen
perilunären Luxationen. Bei der dorsalen perilunären Luxation
wird die Hand gegenüber dem fixierten Os lunatum und distalem
28.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Radius nach dorsal luxiert. Kann sich die nach dorsal luxierte
Physiologie Hand durch Muskelspannung oder durch Fortführung des unfall-
verursachenden Kraftvektors gegenüber dem distalen Radius wie-
Anatomie des Bandapparates Kap. 29 der einrichten, wird dabei das Os lunatum nach palmar verdrängt
Gefäßversorgung des Os lunatum (⊡ Abb. 28.2b).
Die Vaskularisation der Handwurzelknochen erfolgt über palmare
und dorsale Gefäße ( Kap. 26). Die Aa. nutriciae treten sowohl
von palmar als auch von dorsal in den Knochen ein. Die externen 28.1.4 Diagnostik
Gefäße treten über die palmare und dorsale Kapsel in den nicht
knorpeltragenden Anteil ein und versorgen das interne Gefäßsys-
> Bei den perilunären Luxationen und Luxationsfrakturen han-
tem des Knochens (⊡ Abb. 28.1a). Bei Dislokation des Os lunatum
delt es sich um komplexe Gefügestörungen der gesamten
mit Ruptur nur eines Ligaments bleibt ein Gefäßzufluss erhalten.
knöchernen und ligamentären Handgelenkanatomie, welche
Erfolgt eine schnelle Reposition besteht eine große Chance eine
das Radiokarpalgelenk, das Midkarpalgelenk und auch die
posttraumatische Lunatumnekrose zu vermeiden (⊡ Abb. 28.1b).
Interkarpalgelenke umfassen.
Sind beide Bänder gerissen oder erfolgt eine Reposition erst ver-
spätet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftreten Die klinische Erscheinung der Patienten mit perilunären Luxa-
einer posttraumatischen Lunatumnekrose (⊡ Abb. 28.1c) tionen ist oftmals anfangs nicht dramatisch und bei oftmals feh-
lender Deformität werden diese schwerwiegenden Verletzungen
in 16–25% primär übersehen. Verzögerte Behandlung führt zu
28.1.2 Epidemiologie schlechten Ergebnissen und benötigt meist »Rettungsoperationen«.
Oft präsentieren sich die Patienten anfangs mit mäßigen Schwel-
Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen sind komplexe Ver- lungen und diffusen Schmerzen im Bereich des Handgelenks.
letzungen der Handwurzel, die meist im Rahmen von Hochrasanz- Um Schmerzen zu vermindern, wird das Handgelenk in leichter
traumen entstehen und in der Regel junge aktive Patienten betref- Beugestellung gehalten. Die Handgelenkstreckung würde vermehr-
fen. Sie sind relativ selten und stehen mit 3–4% an 5. Stelle aller ten Druck auf das palmar luxierte Lunatum verursachen und die
Gelenkluxationen. In 61–65% der Fälle ist das Kahnbein (trans- Schmerzen verstärken. Durch die Luxation des Lunatums in den
skaphoidale perilunäre Luxationsfraktur) zusätzlich frakturiert. Karpaltunnel können je nach Trauma-Ausmaß gelegentlich Sensi-
bilitätsstörungen im Medianusgebiet vorliegen. Die Finger können
häufig nicht vollständig gestreckt werden.
28.1.3 Ätiologie Röntgenaufnahmen beider Handgelenke im dorsopalmaren
und seitlichen Strahlengang sind unabkömmlich für die Abklä-
Die Luxation des Lunatums selbst entsteht ebenfalls meist durch rung und Diagnose einer perilunären Luxation und Luxations-
Sturz auf die dorsal flektierte Hand und gelegentlich durch Kurbel- fraktur.
Prinzipiell wird bei dieser Art der Verletzung zwischen der perilu-
nären Luxation (»lesser arc injuries«), also einer rein ligamentären
Verletzung der Handwurzel, und der perilunären Luxationsfraktur
(»greater arc injuries«) mit zusätzlicher Fraktur eines Handwurzel-
knochens unterschieden.
c d e
a b
⊡ Abb. 28.3 Röntgenaufnahmen einer perilunären Luxation mit knöchernem Ausriss des radioskaphokapitalen Bandes. a Schema: d. p. Strahlengang, b Schema:
lateraler Strahlengang, c Röntgenbild: d. p. Strahlengang, d Röntgenbild: lateraler Strahlengang, e Computertomografische Darstellung einer perilunären Luxati-
on mit knöchernem Ausriss des radioskaphokapitalen Bandes nach Reposition. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
700 Kapitel 28 · Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen
28
a b c
⊡ Abb. 28.4 Winkelmessung zwischen den Handwurzelknochen. a Kapitolunärer Winkel (CL), b skapholunärer Winkel (SL), c radiolunärer Winkel (RL). (Aus
Schmit-Neuerburg et al. 2001)
(1980) experimentell beschrieben und in 4 Stadien eingeteilt Je nach Stellung des Handgelenks zum Zeitpunkt der Kraftappli-
wurde (⊡ Abb. 28.2a): kation können alle Knochen der proximalen Handwurzelreihe
▬ Stadium 1: Durch die axiale Kraftzufuhr kommt es zu einer und das Kapitatum aus der distalen Handwurzelreihe mit in den
Hyperextension der distalen Handwurzelreihe. Die kräftigen Frakturverlauf einbezogen sein. Die in der Literatur bekannten
Bandverbindungen des Skapho-Trapezium-Kapitatum-Gelenks Verletzungen sind transskaphoideo-transkapitato perilunäre Lu-
zwingen das Kahnbein in die Extension. Das Mondbein kann xationsfrakturen, transskaphoideo-transkapitato-transtriquetro
aufgrund seiner palmaren starken Bandverbindung durch das perilunäre Luxationsfrakturen, Subluxationen des Kahnbeins mit
kurze und lange Ligamentum radiolunare die Exkursion des Mondbeinbruch sowie traumatische Spalthand durch Längsspal-
Kahnbeins nicht verfolgen. Somit kommt es zu einer Ruptur tung zwischen der 2. und 3. Mittelhand und Kapitatum und
des intrinsischen skapholunären Bandes von palmar begin- Trapezium oder zwischen 3. und 4. Mittelhand und Kapitatum
nend und nach dorsal fortschreitend mit der Manifestation und Hamatum. Die Processus styloideus radii und ulnae in Form
einer kompletten skapholunärer Dissoziation. Widersteht das von knöchernen Bandausrissen können ebenfalls beteiligt sein
intrinsische skapholunäre Band der Krafteinwirkung schlägt (⊡ Abb. 28.5).
das Kahnbein an den dorsalen Radiusrand. Dabei kommt es zu Entsprechend dieser Verletzungscharakteristik wurde von Pan-
einer Fraktur des Kahnbeins meist in seiner Taille. ting (1984) eine einfache Klassifikation in zwei Gruppen mit
▬ Stadium 2: Bei Fortschreiten der Hyperextension kommt es zu und ohne Skaphoidfraktur vorgenommen. Dadurch können Ver-
einer Ruptur des intrinsischen kapitolunären Bandes mit dor- letzungen mit komplett rupturiertem skapholunärem Bandapparat
saler Luxation des Kapitatums (in 90% der Fälle) gegenüber von Verletzungen mit intaktem Bandapparat bei transskaphoidalen
dem Lunatum mit Eröffnung der Poirier-Lücke. Auch eine Luxationsfrakturen differenziert werden. Die Unterscheidung ist
palmare Luxation des Kapitatums kann vorkommen und sollte pathobiomechanisch von entscheidender Bedeutung, da das skap-
nicht übersehen werden holunäre Band wesentlich zur Stabilität der Handwurzel beiträgt.
▬ Stadium 3: Bei fortschreiten der Hyperextension und Supinati- Die Kombination von kompletter SL-Band-Zerreißung und Kahn-
on kommt es zu einer Ruptur des intrinsischen lunotriquetra- beinfraktur ist zwar beschrieben, muss aber als absolute Rarität
len Bandes mit lunotriquetraler Dissoziation oder aber zu einer angesehen werden. Die Bedeutung dieser einfachen Klassifikation
Fraktur des Triquetrums bei intaktem lunotriquetralen Band liegt in ihrem prognostischen Wert, da transskaphoidale perilunäre
▬ Stadium 4: Bei Fortschreiten der Hyperextension kommt es zu Luxationen im Allgemeinen bessere klinische Ergebnisse erzielen
einer Ruptur der dorsalen Kapsel und des Ligamentum inter- als rein ligamentäre Verletzungen.
carpale dorsale. Das nach proximal verrenkte Kapitatum drängt Aufgrund der geringen Fallzahlen und der verschiedenen Ver-
je nach Kraftzufuhr das Lunatums, welches an den kräftigen letzungsvarianten, die uneinheitlich eingeteilt werden, sind Be-
extrinsischen kurzen und langen radiolunären Bändern gestielt richte über große Fallzahlen lediglich im Rahmen von Multi-
bleibt, nach palmar in den Karpaltunnel. Dieser Zustand ent- centerstudien verfügbar. Verschiedene operative Techniken mit
spricht dem Endstadium der perilunären Luxationsabfolge. variierenden Prioritäten in der ligamentären Rekonstruktion spie-
geln die nicht immer zufriedenstellenden Ergebnisse nach diesen
Luxationsfrakturen (»greater arc injuries«) Verletzungen wider. Während die Anzahl und Art der operativen
Als häufigste Begleitfraktur ist das Skaphoid in Form einer Tail- Zugänge sowie Fixationstechniken kontrovers diskutiert werden,
len- bzw. proximalen Polfraktur betroffen (»Greater arc injuries«). herrscht entsprechend der Multicenterstudie von Herzberg et al.
28.1 · Allgemeines
701 28
a b
Akute vs. chronische/späte Versorgung > Das nach palmar in den Karpaltunnel dislozierte Lunatum ver-
ursacht abhängig von der bestehenden Dauer der Dislokation
Problematisch ist die Therapie einer chronisch bestehenden perilu-
einen Druckschaden des Nervus medianus und ist somit ein
nären Luxation und Luxationsfraktur. Inoue und Shionoya (1999)
handchirurgischer Notfall mit höchster Dringlichkeit.
empfehlen die Entfernung der proximalen Handwurzelreihe (»pro-
Eine sofortige Einrichtung und Beseitigung der Luxation
ximal row carpectomy«) bei Patienten mit bestehender perilunären
ist von großer Bedeutung und sollte anschließend an die
Luxation, die länger als 2 Monate besteht. Givissis et al. (2006)
primäre radiologische Diagnostik baldmöglichst durchge-
hingegen berichten über gute Ergebnisse nach offener Reposition
führt werden.
und Kirschner-Draht-Fixation bei Patienten mit vorbestehender
perilunärer Luxation von über 3 Monaten. Unseren eigenen Erfah-
rungen nach ist die Wiederherstellung der karpalen Anatomie bei Konservative Therapie
chronisch vorbestehender perilunärer Luxation nach 12 Wochen Die gedeckte Reposition und Gipsruhigstellung erscheint uns nur
technisch nicht mehr möglich. Nach diesem Zeitraum verkürzen in Ausnahmenfällen gerechtfertigt. In zwei Drittel der Fälle kommt
sich die intrinsischen Bänder und eine primäre Bandrekonstruk- es bereits innerhalb der ersten 2 Wochen zum Verlust der Reposition
tion ohne etwaige Augmentation oder zusätzliche Bandplastik ist des kapitolunären Gelenks mit zusätzlicher Rotationssubluxation des
nicht mehr durchführbar. In diesen Fällen empfiehlt sich die Skaphoids und skapholunärer Diastase, was wiederum eine Arthrose
Entfernung der proximalen Handwurzelreihe. Sind bereits arthro- mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung des Handglenks ver-
tische Veränderungen der Fossa lunata eingetreten, ist die Handge- ursacht. Bei polymorbiden Patienten oder bei Patienten mit hohem
lenkarthrodese die Therapie der Wahl. Narkoserisiko sollte das Nutzen einer operativen Versorgung gegen-
702 Kapitel 28 · Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen
28
⊡ Abb. 28.6 Technik der geschlossenen Reposition der perilunären Luxation nach Aushängen im »Mädchenfän-
ger«. a Schema: vertikale Distraktion am frei hängenden Arm in adäquater Anästhesie (axillärer Plexusblock oder
a Allgemeinanästhesie), b Reposition des Lunatums durch palmaren Druck
über dem erwarteten Risiko kritisch überdacht werden. Sollten Pati- proximal zu vermeiden. Ist das Kapitatum auf die Gelenkfläche des
enten mit einer perilunären Luxation oder Luxationsfraktur konser- Lunatums reponiert, wird das Lunatum durch eine vorsichtige Ex-
vativ behandelt werden, wird eine Gipsruhigstellung für 12 Wochen tension des Handgelenks auf die Radiusgelenkfläche gebracht und
empfohlen. Allen anderen Patienten empfehlen wir die operative die Reposition vervollständigt (⊡ Abb. 28.6).
Versorgung einer solchen schweren Handgelenkverletzung. Anschließend wird die Stellung der radiolunären und kapi-
Verschiedene Repositionstechniken sind in der Literatur be- tolunären Gelenke unter dem Bildverstärker kontrolliert. Bei zu-
schrieben. friedenstellender Reposition wird eine Unterarmgipslonguette in
neutraler Stellung des Handgelenks angelegt. Sofortige aktive Mo-
> Ein wichtiger Faktor für die problemlose Reposition ist die
bilisierung der Finger zur Vermeidung weiterer Schwellung und
komplette Muskelrelaxierung unter ausreichender Anästhe-
Bewegungseinschränkung sollte angeleitet werden.
sie (axiläre Plexusanästhesie, allgemeine Anästhesie).
> Eine Ruhigstellung in Handgelenkbeugestellung (»Schede-
Das Prinzip der Reposition ist, durch kontinuierlichen Längszug
Stellung«) zur besseren Retention der Reposition kann ein
die nach dorsal proximal dislozierte Hand nach palmar distal zu
akutes Karpaltunnelsyndrom und oder CRPS-I-Syndrom ver-
distrahieren, um so dem nach palmar disloziertem Lunatum wie-
ursachen und sollte unbedingt vermieden werden.
der Raum in der Fossa lunata zu verschaffen. Mayfield et al. (1980)
empfehlen aufgrund ihrer pathomechanischen Kadaverversuche
über perilunäre Luxationen die Umkehrung des Unfallmechanis- Operative Therapie
mus zur Reposition. Die Reposition sollte somit durch Zug, Prona- Die gedeckte Reposition und temporäre perkutane Kirschner-
tion, Radialdeviation und Flexion des Handgelenks erfolgen. Wir Draht-Fixation erhöht die Wahrscheinlichkeit der spontanen Band-
verwenden »Fingerfänger« für einen kontinuierlichen Längszug heilung. Die Kirschner-Drähte fixieren Skaphoid und Kapitatum,
mit 8–10 kg für mindestens 10 Minuten. Der Patient liegt mit 90° Skaphoid und Lunatum, Lunatum und Triquetrum und Triquet-
gebeugtem Ellbogen am Rücken. Vorsichtig wird das palmar dislo- rum und Hamatum. Sie müssen mindestens 6 Wochen in situ
zierte Lunatum getastet und mit dem Daumen ein leichter Druck verbleiben. Die Gipsruhigstellung ist für mindestens 12 Wochen
nach distal und dorsal ausgeübt. Unter ständigem beugeseitigem notwendig.
Druck auf das Lunatum werden dann die Fingerfänger entfernt Offene Reposition, Bandrekonstruktion und innere Fixation:
und manuell eine Traktion nach distal durchgeführt und gleich- Indikationen zur offenen Versorgung der perilunären Luxations-
zeitig das Handgelenk langsam gebeugt. Dabei kommt es zu einer verletzungen sind:
Reposition des Kapitatums auf die distale konkave Gelenkfläche ▬ Repositionshindernis durch Interposition von Weichteilen
des Lunatums. Wichtig ist es, bei diesem Manöver das Lunatum zwischen der distalen Radiusgelenkfläche und dem nach pro-
palmar zu stabilisieren, um eine weitere Dislokation nach palmar ximal dislozierten Kapitatum,
28.1 · Allgemeines
703 28
a b c d
▬ Verdrehung und starker Verschiebung des Lunatums, im Mediokarpalgelenk korrelierte mit schlechten klinischen und
▬ länger bestehende Luxation oder Subluxation, radiologischen Ergebnissen.
▬ Luxation mit N.-medianus-Kompressionssyndrom, Um dieser Anforderung gerecht zu werden, wird in der Lite-
▬ Luxationen mit Mehrfragmentfrakturen des Lunatums, ratur für die offene Reposition und Kirschner-Draht-Fixation der
▬ Luxationen des Lunatums mit Fraktur eines anderen Hand- perilunären Luxationen und perilunären Luxationsfrakturen der
wurzelknochens und beidseitige Zugang (palmar und dorsal) empfohlen. Wir versorgen
▬ Frakturen von mehreren Knochen. die perilunären Luxationen und perilunären Luxationsfrakturen
über einen beidseitigen Zugang. Dabei werden alle an der Ver-
Nach erfolgter geschlossener Reposition und Anfertigung der letzung beteiligten anatomischen ligamentären und knöchernen
Röntgenaufnahmen sollte auch dann die Indikation zur operativen Strukturen erfasst. Kahnbeinfrakturen werden je nach Lokalisation
Freilegung und Naht der Bänder gestellt werden, wenn bei Dorsal- von proximal oder distal stabil versorgt, knöcherne Bandausrisse
kippung des Mondbeins ein an anatomischer Position refixiert.
▬ pathologisch-radiolunärer Winkel, Einige Autoren favorisieren anstatt der Kirschner-Draht-Fixa-
▬ pathologisch-kapitolunärer Winkel, tion transartikuläre Schrauben oder Drahtschlingen zur Sicherung
▬ pathologisch-skapholunärer Winkel oder eine der Bandrekonstruktion, was jedoch zur Destruktion des Gelenkes
▬ skapholunäre Diastase führt. Inwieweit eine frühzeitige Mobilisation in Kombination mit
vorliegt. transartikulären Schrauben oder einer Drahtschlinge zur Siche-
Wurde die gedeckte Reposition problemlos erzielt, führen wir rung der Bandrekonstruktion das Langzeitergebnis günstig beein-
die offene Reposition und interne Fixation erst bei abgeschwolle- flusst muss derzeit noch abgewartet werden.
nen Weichteilverhältnissen nach ca. 5–7 Tagen nach dem Unfall- Die angegebene postoperative Ruhigstellungsdauer schwankt
ereignis durch. in der Literatur zwischen 6 und 14 Wochen, wobei Trumble et al.
Während Einigkeit über die Notwendigkeit einer chirurgischen (2004) als Heilungszeit für den karpalen Bandapparat 12 Wochen
Intervention dieser komplexen Verletzung herrscht, wird immer angeben. Wir führen eine 12-wöchige postoperative Ruhigstellung
wieder über den operativen Zugang debattiert. Herzberg et al. mittels Unterarmgips mit Einschluss des Daumens bis zum Inter-
(1993) empfehlen, dass alle verletzten Strukturen einer perilunä- phalangealgelenk durch. Nach 8 Wochen werden alle Transfixati-
ren Luxation und perilunären Luxationsfraktur bei der operativen onsstifte in Lokalanästhesie entfernt. Im geringen postoperativen
Versorgung angegangen und rekonstruiert werden sollten. Schon Korrekturverlust und dem langfristig erhaltenen karpalen Gefüge
das Nichtbehandeln einer einzigen Komponente, beispielsweise sowie der geringen Arthroserate im eigenen Patientenkollektiv se-
einer lunotriquetralen Diastase oder einer Subluxationsstellung hen wir uns in diesem Vorgehen bestätigt (⊡ Abb. 28.7).
704 Kapitel 28 · Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen
f g h
Lig. radiotriquetrum dors. Lig. scapholunatum
i
k
Lig. intercarpale
dors.
m
l Lig. scapholunatum
⊡ Abb. 28.8 Technik der beugeseitigen Versorgung der perilunären Luxation. a Palmarer Hautschnitt ca. 4 cm proximal der Handgelenkbeugefurche begin-
nend entlang des ulnaren Randes der Sehne des M. palmaris longus; Z-förmige Erweiterung in die Hohlhand entlang der Thenarfurche, b Darstellung der
palmaren Bänder, c Vorlegen der Fäden zur Rekonstruktion der palmaren Bänder: Beugesehnen und N. medianus sind nach ulnar weggehalten, d Vorlegen
der Fäden zur Rekonstruktion der palmaren Bänder: Beugesehnen und N. medianus sind nach radial weggehalten, e geschwungener Hautschnitt streckseitig
über dem Handgelenk , f Darstellung der dorsalen Handwurzel, g Identifikation der aufgetretenen Bandläsionen, h Anschlingen der Ligg. scapholunatum und
intercarpale dorsale, i Bohren von V-förmigen Bohrkanälen im Lunatum und bei Bedarf auch zusätzlich im Sklaphoid zur transossären Reinsertion der Bänder,
j Einbringen von Kirschner-Drähten in Kahn- und Mondbein zur Steuerung der Reposition (Joystick-Technik). k Die intraoperative Bildverstärkerkontrolle zeigt
eine korrekte Rotation des Unterarms bei einwandfreier Einsicht in das distale Radioulnargelenk. Zur Sicherung der Bandheilung erfolgt eine interkarpale und
mediokarpale Kirschner-Draht-Transfixation, l Vorlegen der Bandnähte und Transfixierung der Karpalia in korrekter Stellung mithilfe von perkutanen Kirsch-
ner-Drähten. m Die vorgelegten Bandnähte werden nun geknüpft, wobei darauf zu achten ist, dass die Bandstümpfe an den entsprechenden Ausrissorten zu
liegen kommen. n Die beugeseitig vorgelegten Bandnähte werden geknüpft und somit die Poirier-Lücke wieder verschlossen. (Aus Lutz et al. 2009)
706 Kapitel 28 · Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen
Nach Eröffnung des Karpalkanals wird der N. medianuns an- schluss palmar, sowie die Retinakulumrekonstruktion (⊡ Abb. 28.8n)
geschlungen und die Beugesehnen wechselweise nach radial und und der Hautschluss dorsal. Auch dorsal empfiehlt sich die Einlage
nach ulnar weggehalten. Dadurch besteht eine gute Übersicht über einer Redon-Drainage.
den gesamten palmaren karpalen Bandapparat. Das Mondbein ist
an seinem radio- und ulnolinären Bandapparat gestielt und kann
zur Beugeseite luxiert werden (⊡ Abb. 28.8b). Nach Reposition des 28.2.3 Technik der beuge- und streckseitigen
Mondbeins Anschlingen der Bänder, die in Längsrichtung zum Versorgung der perilunären Luxationsfraktur
Faserverlauf zerrissen sind und zwar zwischen Lig. radiolunatum
longum und Lig. ulonlunatum einerseits sowie Lig. ulnotriquet- Der Hautschnitt beginnt ebenfalls etwa 4 cm proximal der Rascetta,
28 rum andererseits (⊡ Abb. 28.8c,d). Zusätzlich kann das Lig. radio- wird über die Sehne des M. flexor carpi radialis nach distal geführt,
scaphocapitatum vom Processus styloideus radii knöchern oder biegt auf Höhe des Tuberculums ossis scaphoidei rechtwinkelig
ligamentär abgerissen sein. Nach Inspektion der Gelenkflächen auf nach ulnar und läuft in der Thenarfurche aus (⊡ Abb. 28.9a). Nach
Band- und Knocheninterpositionen werden die Bandnähte beuge- subkutaner Präparation wird im proximalen Anteil die Sehnen-
seitig vorgelegt. Anschließend erfolgt der dorsale Zugang. scheide des M. flexor carpi radialis eröffnet. Im querverlaufenden
Streckseitig erfolgt ein geschwungener Hautschnitt über dem Anteil der Inzision muss die Weichteilbrücke erhalten bleiben, um
Handgelenk (⊡ Abb. 28.8e). Das Strecksehnenretinakulum wird Z- den R. palmaris N. mediani zu schonen. Distal wird der Karpalka-
förmig eröffnet und die Retinakulumstreifen zur Seite gehalten. Es nal an seinem ulnaren Rand eröffnet. Unter Sicht wird die Unter-
erfolgt eine Eröffnung des 2.–5. Strecksehnenfaches, um die Sehnen armfaszie quer zur Sehne des M. flexor carpi radialis hin gespalten,
beiseite halten zu können. Nach Einsetzen eines stumpfen Spreizers um eine entsprechende Übersicht über den beugeseitigen Band-
zum Auseinanderdrängen der Strecksehnen werden Gelenkkapsel apparat und das Kahnbein zu bekommen (⊡ Abb. 28.9b). In der
und dorsaler Handgelenkapparat dargestellt. In den meisten Fällen Regel zeigt sich die Dissektion zwischen dem Lig. radiolunatum
zeigt sich ein Abriss der Kapsel vom Radius über dem proximalen longum und dem Lig. radioscaphocapitatum. Wenn das Lig. ra-
Kahnbeinpol. Ausgehend von dieser Lücke erfolgt die Arthrotomie dioscaphocapitatum zusätzlich vom Radius abgerissen ist, lässt sich
am distalen Rand des Lig. radiotriquetrum dorsale zum Os triquet- durch Anschlingen und Beiseitehalten desselben eine ausreichende
rum. Nach radial wird die Gelenkkapsel bis zur Spitze des Proces- Übersicht über das Kahnbein gewinnen. Anderenfalls muss das
sus styloideus scharf abgelöst. Dadurch kann ein ausreichender Lig. radioscaphocapitatum eingekerbt werden. Von radial lässt sich
Überblick über die Handwurzel gewonnen werden (⊡ Abb. 28.8f). der Bandschaden bis zum Mondbein einsehen (⊡ Abb. 28.9c).
Jetzt erfolgt die Identifikation der aufgetretenen Bandrupturen: Das Der ulnare Anteil des karpalen Bandapparats wird von ulnar
Lig. radiotriquetrum dorsale wird in seiner Kontinuität mit einem revidiert, die Bänder beiderseits des längs verlaufenden Risses
Tasthaken auf eventuelle ansatznahe Ausrisse beurteilt. Darstellen zwischen Lig. ulnotriquetrum und Lig. ulnolunatum werden ange-
der Abrisse des Lig. scapholunatum vom Skaphoid oder Luna- schlungen, und nach Kontrolle der Gelenkflächen auf knöcherne
tum und des Lig. intercarpale dprsale vom Lunatum (⊡ Abb. 28.8g). und/oder ligamentäre Interponate werden Nähte für die korres-
Inspektion des lunotriquetralen Gelenkspaltes auf osteochondrale pondierenden Bänder vorgelegt (⊡ Abb. 28.9d). Im Anschluss wird
bzw. Kapselbandinterponate. Auf eine transossäre Refixation des das Kahnbein reponiert und mit einem Kirschner-Draht von distal
Lig. lunotriquetrum verzichten wir, da es vom Lig. radiotriquetrum her gesichert. Dazu wird das STT-Gelenk beugeseitig auf etwa
dorsale überdeckt wird und nach Reposition eine gute Heilungsten- 3 mm quer geöffnet. Ein zusätzlicher Antirotationsstift dient zur
denz zeigt. Anschlingen der Ligg. scapholunatum und intercarpale Repositionssicherung während der Verschraubung. Nach Aufboh-
dorsale (⊡ Abb. 28.8h). Einbringen von Kirschner-Drähten in das ren über den zentralen Führungsdraht wird die Schraube von
Kahn- und Mondbein zur Steuerung der Reposition. Bohren von distal her eingebracht (⊡ Abb. 28.9e). Mehrfragmentfrakturen, die
V-förmigen Bohrkanälen im Lunatum und bei Bedarf zusätzlich im sich mit einer Schraube nicht ausreichend stabilisieren lassen,
Skaphoid zur transossären Reinsertion der Bänder (⊡ Abb. 28.8i). werden mittels Spongiosaplastik vom Beckenkamm in der Technik
Unter Verwendung der Kirschner-Drähte als Repositionshilfen nach Matti-Russe versorgt ( Kap. 27.2.5). Anschließend erfolgt der
(Joysticks) wird primär das Mondbein zur distalen Radiusgelenkflä- dorsale Zugang.
che reponiert und dann das Kahnbein zum Mondbein (⊡ Abb. 28.8). Im Gegensatz zu rein ligamentären Verletzungen ist das ska-
Wesentliches Augenmerk ist dabei auf eine entsprechende Rotation pholunäre Band bei der transskaphoidalen Luxationsfraktur erhal-
des Unterarms zu legen, um eine Rotationsfehlstellung der Hand- ten. Bei Kahnbeinfrakturen im mittleren Drittel wird das Kahnbein
wurzel zu vermeiden (⊡ Abb. 28.8k). Bei Einsicht in das distale beugeseitig verschraubt. Das Verhältnis Radius, Kahrnbein und
Radioulnargelenk mit dem Bildwandler ist eine korrekte Position Mondbein ist dann bereits wiederhergestellt. Bei proximalen Pol-
erreicht. Vorlegen der Bandnähte. Nach Reposition von Skaphoid frakturen erfolgt die Stabilisierung des Kahnbeins mittels Schrau-
und Lunatum zum Radius wird ein Kirschner-Draht perkutan vom benosteosynthese von dorsal. Das Kahnbein wird reponiert und
Kahnbein in das Mondbein gebohrt. Nach Kontrolle der Stellung mit zwei Kirschner-Drähten fixiert; im Anschluss wird der zentrale
der Handwurzel im Bildverstärker in beiden Ebenen wird der Kapi- Kirschner-Draht überbohrt und das Kahnbein mit einer Schraube
tatumkopf zur distalen Mondbeinfläche positioniert und ein zwei- stabilisiert. Der Antirotationsdraht wird danach entfernt. Das ab-
ter Kirschner-Draht vom distalen Skaphoidpol in das Kapitatum gerissene dorsale interkarpale Band wird angeschlungen und durch
gebohrt. Abschließend wird das Gelenk zwischen Lunatum und einen V-förmigen Bohrkanal im Mondbein die transossäre Naht
Triquetrum transfixiert (⊡ Abb. 28.88l). Die vorgelegten Bandnähte vorgelegt. Nach Einstellung des Kapitatumkopfes in die distale
werden nun geknüpft, wobei darauf zu achten ist, dass die Band- Mondbeingelenkfläche und Reposition des lunotriquetralen Ge-
stümpfe an den entsprechenden Ausrissorten zu liegen kommen lenks werden zwei Transfixationsstifte vom Triquetrum in das Lu-
(⊡ Abb. 28.8l). Im Anschluss an den streckseitigen Kapselschluss natum und vom Triquetrum in das Hamatum und Kapitatum ein-
werden die beugeseitig vorgelegten Nähte geknüpft (⊡ Abb. 28.8m). gebracht. Nun wird das Lig. intercarpale dorsale an das Mondbein
Nach Öffnen der Blutsperre erfolgt eine exakte Blutstillung. Nach fixiert (⊡ Abb. 28.9f) und die dorsale Kapsel verschlossen. Die wei-
Einlage einer Redon-Drainage erfolgt der schichtweise Wundver- tere Versorgung entspricht dem Vorgehen unter Abschn. 28.2.2.
28.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
707 28
Lig. radioscaphocapitatum
a
M. flexor carp.
rad. c
M. flexor poll.
long.
b
Antirotationsstift
d e f
⊡ Abb. 28.9 Technik der beuge- und streckseitigen Versorgung der perilunären Luxationsfrakturen. a Hautschnitt, b subkutane Präparation: Der R. palmaris
N. mediani muss geschont werden, c Darstellung der palmaren Bänder und der Bandverletzung, d Darstellung der Skaphoidfraktur, e Versorgung der Skaphoid-
fraktur von palmar, f Versorgung der dorsalen Bandverletzungen. (Aus Lutz et al. 2009)
Mögliche Komplikationen und Gefahren im Rahmen der operati- ▬ Verletzung der A. radialis: Mikrochirurgische Arterienrekons-
ven Versorgung der perilunären Luxation und Luxationsfrakturen truktion.
können sein: ▬ Sehnenverletzung: Primäre Sehnennaht.
▬ Begleitende Nervenkompressionssymptomatik des N. medi- ▬ CRPS Typ 1: Schmerzbehandlung, Antiphlogistika, dosierte
anus oder N. ulnaris: primäre Operation mit entsprechender Krankengymnastik.
Dekompression. ▬ Posttraumatische Arthrose: Handgelenk(teil)arthrodese.
▬ Vorzeitige Transfixationsstiftlockerung: Revision und neuerli- ▬ Posttraumatische Mondbeinnekrose: Proximal Row Carpecto-
che Platzierung. my oder Handgelenkarthrodese oder Mediokarpale Teilarthro-
▬ Nervenverletzung (Ramus superficialis N. radialis, Ramus dese.
palmaris N. medianus): Bei Durchtrennung mikrochirurgische ▬ Kahnbeinpseudarthrose: Revision und Rekonstruktion des
Naht zur Wiederherstellung der Sensibilität. Kahnbeins, z. B. mit einem gefäßgestielten Beckenspan.
708 Kapitel 28 · Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen
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29
Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
Hossein Towfigh
29.1 Allgemeines se spielt in den Konzepten der Behandlung von angeborenen und
erworbenen karpalen Instabilitäten eine wichtige Rolle.
Die klinische Bedeutung der Luxation und Luxationsfrakturen im In der vertikalen oder longitudinalen Aufgliederung werden
Handwurzelbereich zeigt sich vor allem in der großen Zahl von drei Säulen beschrieben (⊡ Abb. 29.3b). Die zentrale Säule besteht
übersehenen und nicht adäquat behandelten Verletzungen. Die aus der distalen Reihe der Handwurzelknochen, die über das Os
Behandlungsergebnisse sind vor allem in ihrer Konzeptlosigkeit capitatum und Os lunatum T-förmig mit dem Radius in Verbin-
unbefriedigend, weshalb nicht selten sekundäre Maßnahmen er- dung stehen. Da das Os lunatum palmar breiter ist als dorsal, hat es
forderlich werden. durch seine Keilform die natürliche Tendenz, nach palmar aus dem
Durch die Bandruptur und/oder Fraktur kommt es zu einer Karpus herauszutreten und nach dorsal zu kippen. Im gleichen
Dissoziation. Diese Dissoziation zeigt sich im Röntgenbild anhand Sinne wirken die Abkippung der Radiusgelenkfläche (⊡ Abb. 29.4a)
von spezifischen Veränderungen, z. B. einer Erweiterung des SL- und die nonaxisymmetrischen Drehachsen von Skaphoid und Ka-
29 Spaltes und rotatorischen Subluxationsstellung des Skaphoids. Die
Instabilität ist die klinische Beschreibung der Symptome der Band-
pitatum. In dieser Betrachtung erscheint die zentrale Säule als
der Hauptkraftübertragungsweg zwischen Metakarpus und Radi-
verletzung bzw. Fraktur (⊡ Abb. 29.1). us. Nach Sennwald (1988) läuft jedoch diese mechanische Sicht
dem eigentlichen Bau der radialen Gelenkpfanne zuwider. Diese
Gelenkpfanne zeigt in ihrem Bau zwei Besonderheiten: In der
29.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Frontalebene bildet die Achse des Gelenks mit der Lotrechten zur
Physiologie Longitudinalachse des Radius einen Winkel von etwa 20°. In der
Sagittalebene schwankt die Gelenkachse zwischen 10–20°. Die dis-
Die Stabilität des Handgelenks hängt ab von tale Gelenkfläche des Radius erscheint als eine Gleitebene, auf wel-
▬ der Form der Knochen und ihrer Gelenkfläche, cher der Karpus beständig abzuweichen sucht. Dieses Abrutschen
▬ dem extrinsischen und intrinsischen Bandapparat und wird durch den extrinsischen und intrinsischen Bandkomplex des
▬ den über das Handgelenk hinwegziehenden Sehnen. Handgelenks verhindert (⊡ Abb. 29.6, ⊡ Abb. 29.7, ⊡ Abb. 29.8).
Die radiale Säule wird durch das Os scaphoideum beweglich
Handwurzelknochen gestaltet. Seinem distalen Pol stemmen sich das Os trapezium und
Das Handgelenk, Karpus, besteht aus 8 Handwurzelknochen, die in Os trapezoideum gemeinsam entgegen und versuchen das Skapho-
2 Reihen angeordnet sind. Die proximale Reihe besteht aus 3 Kno- id nach palmar zu drehen. Die Bewegungstendenzen des Skapho-
chen, dem Kahnbein (Os scaphoideum) auf der radialen Seite, dem ids und des Lunatums sind somit entgegengesetzt und heben sich
Mondbein (Os lunatum) in der Mitte und dem Dreiecksbein (Os gegenläufig auf, solange die Koppelung beider Knochen durch das
triquetrum) auf der Ulnarseite. Als kleines Sesambein ist das Erb- Lig. scapholunatum intakt ist.
senbein (Os pisiforme) in die Sehnen des M. flexor carpi ulnaris Die ulnare Säule wird durch das Os triquetrum und Os pi-
eingeschaltet und liegt dem Os triquetrum auf. Die distale Reihe siforme repräsentiert. Vor allem während der Seitbewegungen
enthält 4 Skelettelemente. Es sind dies von radial nach ulnar: das (Ulnar- und Radialduktion) der Hand gleitet das Os triquetrum
trapezförmige Bein (Os trapezium), das trapezähnliche Bein (Os entlang der schraubenförmigen Gelenkfläche des Os hamatum.
trapezoideum), das Kopfbein (Os capitatum), und das Hackenbein Bei der Ulnarabduktion gleitet das Os triquetrum am Os hamatum
(Os hamatum) (⊡ Abb. 29.2). nach distal, gleichzeitig resultiert daraus eine Extensionsbewegung
Die Architektur des Karpus lässt sich horizontal und vertikal des Os triquetrum. Die karpale Höhe wird ulnar verringert. Das
betrachten (⊡ Abb. 29.3): In der horizonalen bzw. transversalen Os hamatum nähert sich dem Proc. styloideus ulnae. Mit dem Os
Aufgliederung werden 2 Knochenreihen, die proximale und die di- triquetrum über das Lig. lunotriquetrale verbunden und seiner
stale, unterschieden. In dieser Betrachtung erscheint die proximale natürlichen Bewegungstendenz folgend rotiert das Os lunatum in
Reihe wie eine zwischen den Radius und der distalen Karpalreihe eine Extensionsstellung. Dem folgt über das Lig. scapholunatum
zwischengeschaltete Struktur (⊡ Abb. 29.2a). Die Betrachtungswei- geführt das Os scaphoideum in Streckstellung. Umgekehrt kommt
Basis metacarpalis
Os lunare
Mittlere Schicht
Lig. collaterale carpi radiale Lig. radiocarpale palmare Ulnokarpaler Komplex Lig. radiocarpale dorsale
Tiefe Schicht
stal, palmar der Taille des Scaphoids – ohne wirkliche Anheftung interligamentären Sulcus. Dies ist auch die mechanische Schwach-
– in Richtung Os capitatum. Nach ulnar hin verbinden sich die stelle bei traumatischen Läsionen, auch bekannt als Poirier-Raum.
Fasern mit jenen des Lig. ulnotriquetrale und bilden zusammen Das LRL hat keine weitere Insertion am proximalen Skaphoidpol
das distale V-Band (Lig. acuatum). Nur die distalsten Fasern des oder dem Lig. scapholunatum interossea (SLI) und inseriert am
RSC-Bandes erreichen über das Lig. scaphocapitatum eine Inser- radialen Rand der palmaren Fläche des Os lunatum. Es ist wichtig
tion am Os capitatum. Es ist wichtig anzumerken, dass die direkte anzumerken, dass dieses Band keine substanziellen Verbindungen
ligamentäre Verbindung zwischen Radius und Os capitatum sehr zum Os triquetrum hat. Deshalb sollte bei Exstirpation des Lu-
gering ist. Es wird mehr eine »palmare Platte« im Sinne eines Lab- natums zumindest das palmare Horn mit seinen lunotriquetralen
riums geschaffen, das den Kopf des Os lunatum palmar abstützt. Bandanheftungen belassen bleiben.
Das Lig. radiolunatum longus (LRL, »long radiolunate liga- Das Lig. radioscapholunatum (RSL, »ligament de Testut«) ent-
ment«) entspringt von dem palmaren Radiusrand entlang der springt von einer kleinen Vertiefung am distalen Radiusende, die
Fossa scaphoidea. Mit seinen radialsten und palmarsten Fasern in Höhe des Ristes zwischen kleiner und großer Gelenkfacette
überdeckt es das RSC-Band und bildet mit diesem die palmare liegt. Es inseriert am ulnaren Rand des proximalen Pols des Kahn-
Gelenkkapsel. Das LRL verläuft in einer etwas flacheren, fast que- beins, am proximalen Rand des Os lunatum und am proximalen
ren Verlaufsrichtung nach distal. Im Bereich der Gelenkfläche von Anteil des Lig. scapholinatum interosseum. Sein Gefäßreichtum
Skaphoid und Kapitatum sind die Faserzüge des LRL-Bandes und und seine Dehnbarkeit weisen auf eine Sonderstellung hin. Es gibt
des RSC-Bandes scharf voneinander getrennt und bilden den sog. Hinweise, dass dieses Band an der Blutversorgung des proximalen
714 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
Skaphoidpols und Lunatums beteiligt sein soll. Darüber hinaus des Lig. unotriquetrale palmare. Ulnar davon verschmelzt es mit
enthält es auch Nerven, welche möglicherweise eine Mechanore- den Fasern des Lig. ulnolunatum, welches vom palmaren Rand des
zeptorenfunktion habe. Ferner sieht man bei der rheumatoiden TFCC entspringt und an der proximalen palmaren Ecke des Os
Arthritis um seine Anheftung am Radius schon frühzeitig Zysten- lunatum inseriert. Zusammen bilden die zuletzt genannten Bän-
bildung (Signalzysten). der das proximale V-Band. Dieser Bandkomplex ist der palmare
Das Lig. radiolunatum brevis (SRL, »short radiolunat liga- Hauptstabilisator des Lunatums.
ment«) entspringt vom Rand des palmaren Radius entlang der Die dorsalen radiokarpalen Bänder sind breitflächiger und
Fossa lunata. Es verläuft ulnarwärts nach distal und bildet den dünner angelegt. Sie entspringen vom distalen Rand des Radius
Boden der Gelenkkapsel des radiolunären Gelenkraumes. Es in- distal des Lister-Tuberkels und ulnarwärts bis zum Ansatz des
seriert über eine 3–4 mm weite Zone am Kreuzungspunkt der Lig. radioulnaris dorsalis (DRU, »dorsal radioulnar ligament«).
proximalen Gelenkfläche mit dem palmaren gelenkflächenfreien Man unterscheidet hier ebenfalls 3 Faserzüge, die von der dorsa-
29 Horn. Hier verschmelzen die Endfasern mit jenen des LRL und len distalen Radiuskante entspringen und zum Os scaphoideum
⊡ Abb. 29.6 Oberflächliche Schicht des karpalen Bandapparates (»extraartikuläre Schleuder nach Kuhlmann«). a Ansicht von palmar (Retinaculum flexorum),
b Querschnitt, c Ansicht von dorsal (Retinaculum extensorum). (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
29.1 · Allgemeines
715 29
II
III–IV
Sehnenscheide
b des M. extensor carpi ulnaris Radius
Os triquetrum
Os lunatum
Os scaphoideum
dorsale radiokarpale Bänder
c
716 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29
a b
⊡ Abb. 29.7 Mittlere Schicht des karpalen Bandapparates nach Lanz. a Ansicht von palmar, b Ansicht von dorsal. (Aus Lutz et al. 2009)
Lig. capito-
Lig. capito- Lig. capito-
trapezoidum Lig. capito- Lig. trapezio-
Lig. trapezio- hamatum trapezoidum
hamatum trapezoidum
trapezoidum
V V
I
Td H Td
H Lig. triquetro- C Tm
Tm hamatum
C Lig. scapho-
trapezium
S P trapezoidum
T S
Lig. triquetro- Lig. scapho-
L capitatum L capitatum
a b
⊡ Abb. 29.8 Tiefe Schicht des karpalen Bandapparates. a Ansicht von palmar, b Ansicht von dorsal
(Lig. radioscaphoideum dorsale), Os lunatum (Lig. radiolunatum Bandstreifen zum Os triquetrum bzw. scaphoideum ein mit der
dorsale) und Os triquetrum (Lig. radiotriquetrum dorsale) ziehen. Spitze nach distal weisendes V bilden (distales V-Band). Zwischen
Ihre Verlaufsrichtung ist schräg zum Gelenkspalt der Articulatio dem proximalen V-Band und dem distalen V-Band entsteht eine
radiocarpalis ausgerichtet. Die auf das Triquetrum zulaufenden ra- Schwachstelle des Karpus, der Poirier-Raum.
diokarpalen Bandzüge bilden zusammen mit dem Lig. intercarpale
dorsale, welches zwischen Skaphoid und Triquetrum ausgespannt Tiefe Schicht des karpalen Bandapparates
ist, das dorsale V-Band. Die kurzen Faserzüge der tiefen Schicht verklammern benachbart
In der zurzeit gültigen Nomenklatur wird distal palmar ein liegende Handwurzelknochen auf kürzestem Weg sowohl palmar
Lig. carpi radiatum (»deloid radiate, arcuate or V ligament«) be- als auch dorsal sowie in den gelenkflächenfreien Zonen zwischen
nannt. Dieses Bandsystem entspricht einer variablen Ausbildung den karpalen Skelettelementen. Etwas länger sind die Faserzüge
bei verschiedenen Individuen. Manchmal lassen sich von distal zwischen Os scaphoideum und Os trapezium, Os lunatum und
nach proximal fächerartig auseinanderstrebende Fasern darstellen Os triquetrum sowie Os scaphoideum und Os lunatum angelegt.
(Lig. deltoideum oder radiatum). Vom Os capitatum ziehen sie Die kräftigen radiopalmaren Fasern zwischen den Tuberkula des
zum Os triquetrum und Os hamatum (Lig. capitohamatotriquet- Os scaphoideum und Os trapezium erlauben dem Os trapezium
rum), zum Os scaphoideum und zum Os lunatum, sodass die und Os trapezoideum auf dem distalen Pol des Kahnbeins zu
29.1 · Allgemeines
717 29
wandern, eine wesentliche Voraussetzung, damit das Os scapho- nar verlagert. In Extremstellung werden die Karpalknochen durch
ideum während der Radialabduktion und Flexion eine palmar die erhöhte Spannung in den Bändern verriegelt (⊡ Abb. 29.9a).
flektierte Stellung (»tiefe Position«) einnehmen kann. Das starke In Ulnarduktion laufen dann die umgekehrten Bewegungsab-
Lig. lunotriquetrum setzt die Verlaufsrichtung der Fasern des ra- läufe ebenfalls bis zu einer festen Blockierung ab (⊡ Abb. 29.9b).
diolunären Bandzuges fort. Es erlaubt eine Verschiebung des Os Bei Flexion werden die distalen Handwurzelknochen nach
triquetrum von proximal nach distal während der Ulnarabduktion. palmar und proximal verlagert. Das Os capitatum zieht das Mond-
Die proximalen Säume von Kahn- und Mondbein sind durch die bein in Beugestellung, sodass dessen palmar breitere Gelenkfläche
Fasern des Lig. scapholunatum verbunden. Es zieht vom proxima- den Radius berührt. Da der palmare Zügel der »Schleuder« für das
len Pol des Os scaphoideum von seiner ulnaren Seite aus schräg Triquetrum erschlafft, zieht der sich anspannende dorsale Anteil
verlaufend zur radialen Seitenfläche des Os lunatum. Da es sehr das Os triquetrum in eine proximale Position gegenüber dem Os
straff und fest aufgebaut ist, hat es eine wichtige Funktion in der hamatum. Gleichzeitig kippt die proximale Handwurzelreihe in
Erhaltung der karpalen Stabilität. Distal der Bandzüge verbleiben eine Beugestellung gegenüber dem Radius. Dorsale radiokarpale
halbmondförmige, mit Knorpel überzogene Gelenkflächen, die mit und interkarpale Bänder hemmen durch ihre Anspannung extreme
dem Mediokarpalgelenk in offener Verbindung stehen. Diese Kon- Auslenkungen (⊡ Abb. 29.9a).
struktion erlaubt in besonderer Weise Gleit- und Torsionsbewe- In Extension gleitet die distale Handwurzelreihe nach proximal
gungen der beiden Knochen gegeneinander. Möglicherweise liegt und dorsal. In der radialen Säule verhindern das Lig. collaterale
in der ungewöhnlichen Belastung die Erklärung für die bevorzugte radiale und das Lig. radioscaphocapitatum eine uneingeschränkte
Entstehung von Ganglionzysten an diesem Band (⊡ Abb. 29.8). Extension des Kahnbeins. Die sich anspannenden Fasern des
»palmaren Tragbandes« bremsen eine weitläufige Überstreckung
Karpale Kinematik von Os capitatum und Os lunatum. Die dorsalen Zügel der Tri-
Die Beweglichkeit im Handgelenk, nämlich Flexion und Extension, quetrumschleuder werden durch die Extension des Os hamatum
aber auch ulnare und radiale Abwicklung werden in unterschiedli- angespannt. Somit gleitet das Os triquetrum auf der Schrauben-
chem Maße durchgeführt, wobei durchschnittlich eine Flexions-/ fläche des Os hamatum nach distal und kommt gegenüber dem
Extensionsbewegung von 120° und eine Radial- und Ulnarabduk- Radius ebenfalls in eine Extensionsstellung. Im Ganzen kippt die
tion von insgesamt 50° festgehalten werden kann. Die Bewegungen proximale Reihe der Handwurzelknochen in die gegenüber dem
finden zwischen mediokarpalen und radiokarpalen Gelenken, aber Radius extendierte Stellung. Diese Bewegung wird durch die An-
auch interkarpal zwischen einzelnen Handwurzelknochen statt. spannung der palmaren Bandsysteme und des Retinaculum flexo-
Während das Radiokarpalgelenk bei der Extension bevorzugt in rum in seiner Endstellung blockiert (⊡ Abb. 29.9b).
Anspruch genommen wird, ist bei der Flexion das mediokarpale
Gelenk vermehrt beansprucht. Karpaler Kollaps
Bei den radialen Abduktionsbewegungen kommt die gesamte Sowohl die instabile Skaphoidpseudarthrose als auch die ska-
proximale Handwurzelreihe zu einer Palmarflexion, sodass die pholunäre Dissoziation führen zu einem Aufbrechen des karpalen
karpale Höhe radial abnimmt. Das Os lunatum kommt in eine Gefüges, wobei die knöcherne Verletzung (SNAC-Wrist, »scaphoid
leichte PISI-Stellung. nonunion advanced collapse«; ⊡ Abb. 29.10) sich in ihrem Verlauf
Bei der Radialduktion verschiebt sich die distale Handwurzel- bis zum Vollbild des karpalen Kollapses anders verhält als die
reihe nach radial und proximal. Während sich der Karpus um das ligamentäre Verletzung (SLAC-Wrist, »scapholunate advanced col-
Os capitatum dreht, wird gleichzeitig die proximale Reihe nach ul- lapse«; ⊡ Abb. 29.11).
718 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
III
I
29 Radiusgelenkfläche länger ohne wesentliche arthrotische Verände-
rungen. Analog zur SLAC-Wrist laufen auch bei der SNAC-Wrist
II das Tiefertreten und die Radialverschiebung des Kapitatumkopfes.
Langfristig entstehen dann eine radiokarpale Arthrose sowie spä-
ter noch zusätzlich eine Mediokarpalarthrose zwischen den Ge-
lenkanteilen des Kapitatumkopfes und dem proximalen Skaphoid-
fragment bei Skaphoidpseudarthrose. Bei der SLAC-Wrist kommt
es jedoch bei zunehmender Dauer zur Arthrose im Mediokarpal-
gelenk zwischen Kapitatum, Lunatum und Triquetrum. Obwohl
⊡ Abb. 29.10 SLAC-Wrist nach Watson: Stadieneinteilung (Reihenfolge der sich der Beginn und Durchlauf der Arthrose bei SLAC-Wrist und
Arthroseentstehung II,I,III). (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) SNAC-Wrist unterschiedlich gestaltet, sollte die von Watson u.
Ruy (1986) vorgeschlagene Einteilung zur Vereinheitlichung an-
gewandt werden, die auch bei den anderen Autoren zunehmende
Akzeptanz findet (Krakauer et al. 1994; Krimmer et al. 1997;
Towfigh 1988). Sowohl bei SLAC-Wrist als auch bei SNAC-Wrist
kommt es durch verschiedene Kippungen des Skaphoids und des
Lunatums zum Tiefertreten des Kapitatums mit Verschiebung
nach radial. Dadurch ist die karpale Höhe deutlich vermindert
und der Karpus kollabiert. Daher wird die Krafteinwirkung und
Übertragung gestört und dieses führt zum Fortschreiten der be-
stehenden Arthrose in den mediokarpalen Gelenkabschnitten mit
Knorpelabrieb und Destruktion, vor allem im Bereich des Kapita-
I tumkopfes. Bei SLAC-Wrist ist die radiolunäre Gelenkfläche fast
immer von der Arthrose ausgespart (⊡ Tab. 29.1).
II III
29.1.2 Epidemiologie
29.1.4 Diagnostik
Apparative Untersuchungen auf dem Röntgenbild die Mittelhand nur unvollständig abgebildet
Röntgenbilder im Seitenvergleich ist, kann der modifizierte Längenindex nach Nattras (Längenquo-
Für die Diagnostik sind Röntgenaufnahmen in Neutralstellung des tient aus Karpus und Kapitatum) angewendet werden. Der Norm-
Handgelenks notwendig, sowohl was die Streckung und Beugung wert ist 1,57 ±0,05.
als auch Radial- und Ulnarabduktion betrifft. Bei unkorrekter Auf der seitlichen Aufnahme wird zuerst die Gelenkflächenin-
Neutralstellung kann sich die Form und Lage des Kahnbeins und klination des Radius bestimmt, die physiologischerweise 0–20°
Mondbeins beträchtlich verändern (⊡ Abb. 29.13). beträgt ( Kap. 31). Anschließend wird die Stellung des Os lunatum
Auf diesen Röntgenbildern kann die Stellung der Karpalkno- bewertet. Das Mondbein steht physiologischerweise in einer Neu-
chen zueinander exakt vermessen und objektiviert werden. Die tralstellung. Eine Kippung der distalen Gelenkfläche nach dorsal
morphometrische Analyse der d. p. Aufnahme beginnt mit der wird als DISI (»dorsal intercalated segment instability«), eine Kip-
Bestimmung der Gelenkflächeninklination des Radius, die physio- pung nach palmar als PISI (»palmar intercalated segment instabili-
29 logischerweise um 15–35° nach ulnar gerichtet ist ( Kap. 31). Da- ty«) bezeichnet (⊡ Abb. 29.16).
nach wird das relative Längenverhältnis zwischen Radius und Ulna
bestimmt ( Kap. 33). Nach Gilula verlaufen in der d. p. Projektion
physiologischerweise 3 Verbindungslinien harmonisch, parallel
und ohne Unterbrechung entlang der proximalen und distalen
Handwurzelreihe (⊡ Abb. 29.14). Bei einer Unterbrechung besteht
der Verdacht auf eine karpale Gefügestörung.
III
Bei intaktem Gefüge weist der Karpus eine konstante Höhe auf.
Der Index der Karpushöhe nach Youm wird durch die Formel L2/ II
L1 definiert, in der L1 die Länge des Metakarpale III im Röntgen- I
bild bedeutet, und L2 den Abstand zwischen dem palmaren Rand
des Radius und dem CMC-III-Gelenk bezeichnet: Dieser Abstand
wird auf der Achse des Metakarpale III gemessen. Normalerweise
hat dieser Index einen Wert von 0,54 ±0,03 (⊡ Abb. 29.15). Wenn
>15° Arthroskopie
<-15° Die Arthroskopie ist nach wie vor der Goldstandard in der Diag-
nostik der SL-Dissoziation ( Kap. 13).
29.1.5 Klassifikation
Chronizität einer Dissoziation anzusehen ist. Dabei ist der Vergleich mit der
Von einer akuten Dissoziation spricht man, wenn das Ereignis gesunden Seite hilfreich und erforderlich.
<7 Tage zurückliegt. Die SLD wird als Instabilität des Kahnbeins, bedingt durch
Eine subakute Dissoziation liegt vor, wenn das Ereignis >7 Tage eine akute oder chronische Schädigung seiner Bandverbindung
und <6 Wochen zurückliegt. zum Mondbein und des palmaren oder dorsalen Kapsel-Band-
Liegt die Dissoziation >6 Wochen vor, spricht man von einer Apparats, bezeichnet.
chronischen Dissoziation. Diese Einteilung ist besonders im Hin- Die synchrone Bewegung zwischen der proximalen und dista-
blick auf die Wahl des Therapieverfahrens und die Therapieprog- len Karpalreihe ist damit unterbrochen. Neben der SLD wird die
nose wichtig. DISI-Stellung des Lunatums und die Flexionsstellung des Skapho-
ids sowie ein erweiterter skapholunärer Winkel festgestellt. Über
Art der Instabilität längere Zeit bestehende und unbehandelte skapholunäre Bandver-
29 Die Entstehung von Instabilitäten hängt von der Schwere der knö- letzungen können zu einem karpalen Kollaps mit arthrotischen
chernen und ligamentären Verletzung bzw. Degeneration der Kno- Veränderungen, zur sog. SLAC-Wrist, führen, wobei hier eine in-
chenknorpel und ligamentären Strukturen der karpalen Knochen terkarpale Arthrose bei proximalisiertem Kapitatum vorliegt. Hier
ab. Es entstehen vielfältige sowohl dynamische als auch statische besteht eine Translation des Lunatums nach ulnar, das Skaphoid
Instabilitäten. befindet sich in Flexions- und Rotationsstellung.
Das vollständige Bild der SLD ist durch
Statische Instabilität. Fixierte Fehlstellungen der Handwurzel- ▬ einen skapholunären Spalt,
knochen, die weder vom Patienten noch vom untersuchenden ▬ eine DISI-Stellung des Mondbeines und
Arzt manuell zu korrigieren sind, werden als statische Instabilität ▬ eine Flexionsstellung des Kahnbeines (SLAC) mit erweitertem
bezeichnet. Die statische Instabilität findet sich insbesondere bei skapholunären Winkel
Knochenbeteiligungen wie bei in dorsaler Fehlstellung verheilter gekennzeichnet.
Radiusfraktur, Mondbeinnekrose oder auch nach einer perilunären
Luxation oder Luxationsfraktur.
Klinische Symptomatik der SLD
Dynamische Instabilität. Hier ist die Fehlstellung durch Bewe- 1. Schmerzen im Radiokarpalbereich werden durch die Sub-
gung und Manipulation vom Patienten oder Arzt zu provozieren. luxation des Skaphoids verursacht
Diese dynamische Instabilität ist meistens mit einem schmerzhaf- 2. Schnappphänomene bedingen eine Mikrotraumatisierung
ten Klicken verbunden, wobei die klinische Diagnostik gelegentlich des Gelenkknorpels, akustisch als Klickgeräusche und als
schwierig sein kann und die genaue Diagnose erst nach röntgenki- Gelenkknirschen feststellbar
nematografischen Untersuchungen, Arthrografie des Handgelenks 3. Bewegungseinschränkung durch die Nicht-Kopplung von
oder MRT-Untersuchungen gestellt werden kann. Skaphoid und Lunatum
4. Kraftminderung als Folge des sich in Flexion befindlichen
Ätiologie Abschn. 29.1.3 Kahnbeins (Kollapsposition) und der vorhandenen Schmerz-
Lokalisation symptomatik (SLAC-Wrist)
Dissoziationen, die zu Instabilitäten führen, können grundsätzlich 5. Schwellung auf der Streckseite des Handgelenks bei reaktiver
in jedem Gelenkabschnitt des Karpus auftreten. Am häufigsten Synovitis über dem Bandkomplex
werden Instabilitäten im Bereich des SL-Bandes gefunden. Die 6. Skaphoidverschiebetest nach Watson.
lunotriquetrale Instabilität ist ein seltener Befund.
Watson-Test + (–) + +
Röntgen, nativ – – +
Röntgen, Stress – + +
Arthrografie (3 Phasen) + + +
Arthroskopie + + +
CT – – (+) +
MRT + (–) + +
I Teilruptur Ohne
In ⊡ Tab. 29.4 wird der Schweregrad der skapholunären Dissozia- Palmare Instabilität (PISI)
tion in Bezug zur möglichen Therapie gesetzt. Bei dieser selteneren Form der karpalen Instabilität ist das Luna-
Unbehandelt führt das Vollbild des SLD zum fortgeschrittenen tum im seitlichen Röntgenbild im Sinne der Beugung gekippt, wo-
karpalen Kollaps (SLAC-Wrist) mit: bei das Kahnbein verkürzt ist. Dadurch ist der skapholunäre Win-
▬ radioskaphoidaler Arthrose, kel unter 30°, der kapitolunäre Winkel positiv und der radiolunäre
▬ Knorpelschaden am proximalen Pol des Skaphoids, Winkel negativ. Analog zur dorsalen Instabilität führt die palmare
▬ Höhenminderung des Karpus, Instabilität zu vermehrter Abkippung der distalen Radiusgelenk-
▬ Verschiebung des Kapitatums nach proximal und radial und fläche, wodurch die Kippung des Mondbeins nach palmar und die
▬ Arthrose zwischen Kapitatum und Lunatum. Veränderung des radiolunären und skapholunären Gelenkwinkels
verursacht werden. Die Handwurzeln befinden sich dabei in Teil-
Lunotriquetrale Instabilität verrenkungsstellung gegenüber dem Radius, wodurch es zu einer
29 Ulnare Instabilitäten des Karpus sind seltene Befunde, denen entsprechenden Bewegungseinschränkung kommt. Der skapho-
lunäre Winkel wird geringer als 30° und der kapitolunäre Winkel
eine Dissoziation der lunotriquetralen (LT-)Verbindung zugrunde
liegt. Sie werden häufig nicht erkannt oder mit anderen Ursachen wird positiv, wobei der radiolunäre Winkel aufgrund der Kippung
ulnokarpaler Beschwerden verwechselt, weil charakteristische kli- des Mondbeins nach palmar negativ abweicht. Die palmare Insta-
nische und radiologische Zeichen fehlen. Zentrale Struktur ist das bilität wird vor allem bei rheumatoider Arthritis und angeborener
Os triquetrum mit seinen Bandverbindungen zum Os lunatum, interligamentärer Laxizität, jedoch weniger bei posttraumatischen
zum distalen Karpus sowie zu Radius und Ulna. Als wichtigste Veränderungen beobachtet. Bei der palmaren Stabilität erscheint
Ursachen kommen Verletzungen aber auch degenerative Prozesse, das skapholunäre Ligament intakt zu sein, wobei eine gewisse La-
ein »ulnar impaction syndrome« oder eine Ulna-plus-Varianz in- xizität des palmaren radiokarpalen Ligaments feststellbar ist. Eine
frage. Symptomatisch treten ulnokarpale Schmerzen, Instabilitäts- Ruptur der palmaren Bandanteile des Handgelenks, die vom dista-
gefühle und Schwäche sowie schnappende Sensationen im ulnaren len Radius zur Handwurzel ziehen, führt zur Aufhebung der Wir-
Handgelenk auf. Die klinische Untersuchung kann Druckschmerz kung des palmaren Tragbands sowie Teilen der Gelenkschleuder,
über dem LT-Spalt ergeben. Der lunotriquetrale Ballottement- sodass es durch dorsale Kippung des Mondbeins und Drehung des
Test ist positiv. Röntgenologisch ist bei einer Teildurchtrennung Kahnbeins zu einer dorsalen Instabilität mit stark vergrößertem
nur selten eine Verbreiterung des lunotriquetralen Gelenkspaltes skapholunärem Winkel kommt. Bei hochgradiger Lunatummala-
zu sehen. Bei kompletter Dissoziation zeigt sich auf der lateralen zie (Kienböck-Erkrankung) erfolgt beim Zusammensintern des
Aufnahme eine PISI-Fehlstellung des Os lunatum. Diagnostik Mondbeins eine Drehung des Skaphoids im Sinne der Beugung
und Therapie erfolgen analog der Prinzipien der SL-Dissoziation und eine Proximalverschiebung des Kapitatums, weshalb es auch
(⊡ Tab. 29.4). hier zu einer Vergrößerung des skapholunären Winkels und zu
einem positiven radiolunären Winkel und damit zu einer dorsalen
Mediokarpale Instabilität Instabilität kommt. Die Therapie der Lunatummalazie muss darin
Die mediokarpale Instabilität betrifft vor allem die proximale bestehen, die vorhandenen Verkürzungen zu beseitigen, was aller-
Handwurzelreihe. Bei ulnarer Inklination des Handgelenks und dings bei lang bestehenden Malazien aus operationstechnischen
gleichzeitiger Beugung entsteht ein schmerzhaftes Schnapp- Gründen meistens nicht möglich ist (⊡ Abb. 29.16b).
phänomen. Röntgenologisch besteht bei dieser Instabilität eine Die laterale, mediale und proximale Instabilität wurde von
palmare Flexion der gesamten proximalen Handwurzelreihe, vor Taleisnik (1984) ausgearbeitet.
allem des Os lunatum (PISI-Deformität).
Radiale (laterale) karpale Instabilität
Richtung der Instabilität Darunter ist eine zwischen dem Kahnbein und seinen benach-
Dorsale Instabilität (DISI) barten Knochen, nämlich Mondbein, Trapezium, Trapezoideum
Die am häufigsten vorkommende Form der traumatisch beding- und Kapitatum, auftretende Instabilität zu verstehen. Die häufigste
ten karpalen Instabilität ist die dorsale Instabilität, wobei das Form der radialen karpalen Instabilität ist die SLD. Sie entsteht
Mondbein nach dorsal abgekippt und das Kahnbein radiologisch in der Mehrzahl traumatisch primär durch Bandruptur oder als
verkürzt ist. Dadurch wird der skapholunäre Winkel deutlich grö- Folgezustand perilunärer Luxationen und Luxationsfrakturen. Die
ßer, der radiolunäre Winkel positiv messbar und der kapitolunäre Ruptur oder Dehnung des Bandapparats, nämlich Lig. radiosca-
Winkel negativ (⊡ Abb. 29.16a). pholunare, radiocapitatum und scapholunare, führt zur dorsa-
len Subluxation des proximalen Kahnbeinpols, sodass sich das
Kahnbein in der queren Achse dreht. Dieses Instabilitätsmuster
entspricht der DISI-Deformität mit entsprechenden weiteren Ver-
⊡ Tab. 29.4 Stadieneinteilung der lunotriquetralen Dissoziation
änderungen im Handwurzelbereich.
(LTD) nach Viegas
Stadium SNAC-Wrist
29
a b
⊡ Abb. 29.21 Totale Handgelenkarthrodese bei SLAC-Wrist III mit ausgeprägter radiokarpaler und mediokarpaler Arthrose. a Präoperativer Befund, b post-
operativer Befund
kopisch ist mit dem Tasthaken der Spalt und die Dissoziation sicher 29.1.9 Prognose
darstellbar. Bei bestehender Instabilität und Dissoziation zwischen
Lunatum und Triquetrum ist auf eine Läsion des palmaren ra- Wie aus der Literatur bekannt, wurden bei klinischer und radio-
diolunatotriquetralen Bandes als extrinsisches palmares Ligament logischer Untersuchung sowie in der klinischen Studie sehr gute
und des radiotriquetralen und skaphotriquetralen Ligaments als Ergebnisse bei fortgeschrittenem karpalem Kollaps durch medio-
intrinisches Band zu schließen. Hier ist eine elektive Rekonstruk- karpale Arthrodese erreicht, wobei das Handgelenk nach adäquat
tion der ligamentären Strukturen notwendig, wobei die Diagnostik durchgeführter Operation etwa 60–70% der Kraft und Funktion
fast immer verspätet gestellt wird und eine direkte Rekonstruktion im Vergleich zur gesunden Seite erreicht. Die grobe Kraft liegt
nicht mehr möglich ist. Bei seltenen Fällen, die eine dissoziative nach mediokarpaler Teilarthrodese bei etwa 65–75% der gesunden
lunotriquetrale Instabilität zeigen, wurde die Diagnose immer erst Seite. Bei der Röntgenuntersuchung, die bei den Spätergebnis-
lange Zeit nach einem Trauma gestellt (>6 Wochen). Unter diesen sen durchgeführt wurde, wird eine Zunahme der subchondralen
Umständen empfiehlt es sich, eine lunotriquetrale Arthrodose Sklerosierung im Bereich der Fossa lunata beschrieben. Es han-
durchzuführen, da diese eine höhere Erfolgsrate aufweist als eine delt sich hierbei um eine funktionelle Anpassung an die erhöhte
alleinige Bandrekonstruktion, unabhängig von den Knorpelläsio- Kraftübertragung im verbliebenen radiolunären Gelenkabschnitt
nen bei älteren Verletzungen. ohne pathologischen Wert und signifikanten Unterschied. Die
Bei komplexen interkarpalen Instabilitäten ohne Anzeichen ei- mediokarpale Teilarthrodese bietet gegenüber der Entfernung der
ner radiokarpalen Arthrose bringt die interkarpale Arthodese nach proximalen Handwurzelreihe (proximale Row-Karpektomie) eine
Graner (I) gute Ergebnisse. deutlich bessere Funktion unter Kraftentwicklung sowie länger
Bei karpalen Instabilitäten nach in Fehlstellung verheilten dis- anhaltende Beschwerdefreiheit, wie auch aus der Literatur bekannt.
talen Radiusfrakturen braucht die Therapie nicht an den Handwur- Insgesamt wird im Stadium II und III der karpalen Instabilität die
zelknochen anzusetzen, sondern besteht in einer Korrekturosteoto- Indikation zur mediokarpalen Teilarthrodese gestellt, wobei auf ex-
mie der fehlverheilten distalen Radiusfraktur. Hierbei wird auch akte Indikationsstellung bei arthrosefreier Gelenkfläche zwischen
der Kollaps der Handwurzelknochen ausgeglichen ( Kap. 32). Radius und Lunatum geachtet werden sollte.
Für die Auswertung der einzelnen Bewegungen wurde die
Funktionsfähigkeit der Hand nach verschiedenen Parametern ein-
29.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter geschätzt:
▬ Schmerz: variable Analogskala I–IV,
Karpale Instabilitäten kommen auch bei Kindern vor. Die bekann- ▬ grobe Griffkraft: Ballonvigorimeter.
teste Form ist die Madelung-Deformität – eine Unterform der
adaptiven karpalen Instabilität (⊡ Tab. 29.5). Kapsel-Band-Läsionen Es handelt sich um das Schema nach Krimmer, das auf der Grund-
im Sinne einer dissotiativen Instabilität im Handgelenkbereich lage des »Mayo Wrist Score« von Cooney und Mitarbeitern entwi-
kommen auch bei Kindern vor. Diagnostik und Therapie sind ckelt wurde. Es berücksichtigt Schmerz, Beweglichkeit, Kraft und
entsprechend wie bei den Erwachsenen. Bei verschiedenen syste- Gebrauchsfähigkeit anhand einer Punkteskala von 0–100 (80–100
mischen Erkrankungen des Bewegungsapparates (Akromegalie) = sehr gut, 65–80 = gut, 50–65 = befriedigend, 0–50 = schlecht).
besteht eine Laxizität des Kapsel-Band-Apparates im Sinne einer Außerdem werden häufig die Dasch-Fragebögen bei der Bewer-
nicht dissoziativen karpalen Instabilität. Ebenso sind kombinierte tung herangezogen (0 = keine Einschränkung, 100 = maximale
karpale Instabilitäten bei der juvenilen Arthritis bekannt. Einschränkung). Die ulnare Translation des Os lunatum nach Gilu-
29.2 · Spezielle Techniken
731 29
la und Weeks liegt dann vor, wenn ein Überhang um mehr als 50% auf das dorsale Tuberculum am Os triquetrum fortgesetzt und
der Lunatumbreite ulnar der Fossa lunata besteht. hierdurch der proximale Schenkel des dorsalen V-Bandes (Liga-
Die röntgenologisch nach der Durchführung der mediokarpa- mentum radiotriquetrum dorsale) gespalten. Die Inzision wird
len Arthrodese langfristig festgestellte Gelenkspaltverschmälerung nach radial in Richtung auf den Sulcus zwischen Os scaphoideum
zwischen Radius und Lunatum sowie spitzzipfelige Ausziehung im und Os trapezoideum fortgeführt. Hierdurch wird das Lig. inter-
dorsalen radiolunären Gelenkabschnitt im Sinne einer Arthrose ist carpale dorsale (distaler Schenkel des dorsalen V-Bandes) gespal-
für die Funktionsfähigkeit und Schmerzen nicht relevant. Bei allen ten und der am Skaphoid ansetzende Anteil dieses Bandes mit dem
Patienten zeigte sich eine funktionelle Anpassung der veränderten radialseitig gestielten Lappen gehoben (⊡ Abb. 29.22d). Das Hand-
Kraftübertragung mit Zunahme der subchondralen Sklerosierun- gelenk wird nach palmar flektiert und die proximale Handwurzel-
gen im Bereich des radioulnaren Gelenkabschnittes. reihe dargestellt. Das Intervall zwischen Skaphoid und Lunatum
Falls rekonstruktive Maßnamen bei SNAC-Wrist und SLAC- wird angefrischt. Im Bereich von Skaphoid und Lunatum werden
Wrist im Stadium II nicht mehr sinnvoll erscheinen und die Arth- Bohrkanäle angelegt. Hierdurch werden nicht resorbierbare Fäden
rose des Radioskaphoidalgelenks fortgeschritten ist, so kann unter gezogen und vorgelegt (⊡ Abb. 29.22e). Die physiologische Stellung
Resektion des Kahnbeins die mediokarpale Arthrodese durch Fusion der Karpalia wird intraoperativ mit dem Bildwandler geprüft. Nach
von Lunatum, Kapitatum, Hamatum und Triquetrum durchgeführt Einstellung des Lunatum mithilfe eines (temporären) radiolunären
werden. Voraussetzung ist allerdings, dass bei gutem Knorpelüberzug Kirschner-Drahtes werden Skaphoid und Lunatum auf Kompressi-
keine Arthrosezeichen an der Fossa lunata bzw. radiolunär bestehen. on gebracht. In physiologischer Stellung erfolgt die Transfixierung
Bei deutlicher Schmerzreduktion besteht dann noch eine Rest- mit Kirschner-Drähten zwischen dem distalen Skaphoid und dem
beweglichkeit im Handgelenk. Entscheidend bei dem operativen Kapitatum, dem Skaphoid und dem Lunatum und dem Lunatum
Konzept ist die Korrektur der DISI-Fehlstellung des Lunatums, Auf- und Triquetrum. Nun werden die vorgelegten Fäden zwischen
hebung der radialen Translation des Kapitatums und der ulnaren Skaphoid und Lunatum verknotet (⊡ Abb. 29.22f). Zur Augmenta-
Translation des Lunatums sowie Aufrichtung des karpalen Kollapses. tion der Rekonstruktion kann ein dorsaler Kaspellappen aus dem
mittleren Drittel des Lig. intercarpale dorsale verwendet werden.
Er wird ulnar am Triquetrum abgesetzt und bleibt radial an seinem
29.2 Spezielle Techniken Ursprung am distalen Skaphoid gestielt. Nun erfolgt eine Inzision
des Lig. radiotriquetrum dorsale nahe seinem Ansatz am Triquet-
29.2.1 Technik der Akutversorgung der rum. Das freie Ende des Kapsellappens wird durchgezogen, umge-
skapholunären (SL-) Dissoziation schlagen und mit sich selbst mit nicht resorbierbarem Nahtmate-
rial oder PDS vernäht. Die Spannung wird dabei so gewählt, dass
Die Rekonstruktion der akuten SL-Band-Ruptur erfolgt über einen das Handgelenk in 0-Stellung einen skapholunären Winkel von 60°
kombinierten dorsalen und palmaren Zugang, analog der Versor- (intraoperative Bildwandlerkontrolle) bildet. Zusätzliche Stabilität
gung der perilunären Luxation ( Abschn. 29.2.2). kann durch Raffung des verbleibenden proximalen und distalen
Drittels des Lig. intercarpale dorsale mit U-Nähten erreicht werden.
Verschluss der Kapsel durch Rücknähen des Kapsellappens. Öffnen
29.2.2 Technik der verspäteten Versorgung der der Blutleere und subtile Blutstillung. Verschluss des Retinaculum
skapholunären Dissoziation nach Linscheid extensorum. Die Sehne des M. extensor pollicis longus wird hier-
bei subkutan belassen (⊡ Abb. 29.22g). Anschließend Einlage einer
Der dorsale Zugang zum Handgelenk verwendet einen etwa 8 cm Redon-Drainage und schichtweiser Wundschluss. Postoperativ er-
langen S-förmig geschwungenen Hautschnitt, der über dem Tu- folgt eine Immobilisation in einem gespaltenen Skaphoidgips, der
berculum Listeri zentriert ist (⊡ Abb. 29.22a). Nach Darstellung des nach Abschwellung zirkuliert wird und insgesamt für 6–8 Wochen
Retinaculum extensorum unter Schonung der Äste des R. superfici- getragen wird. Danach Entfernung der Kirschner-Drähte und Be-
alis N. radialis sowie des R. dorsalis N. ulnaris wird das 3. Streckse- ginn der intensiven Handtherapie. Zur Augmentation kann auch
henfach eröffnet und die Sehne des M. extensor pollicis longus nach eine distal gestielte ECRL-Sehne verwendet werden.
radial herausluxiert. Anschließend wird das 2. und 4. Streckseh-
nenfach mittels Durchtrennung der vertikalen Septen und Mobili-
sierung nach radial bzw. ulnar eröffnet (⊡ Abb. 29.22b). Der N. in- 29.2.3 Technik der verspäteten Versorgung der
terosseus posterior wird auf einer Länge von 2 cm im Sinne einer skapholunären Dissoziation mithilfe einer
partiellen dorsalen Handgelenkdenervation reseziert. Aufgrund des dorsalen Kapsulodese nach Blatt
ihn begleitenden Gefäßes empfiehlt es sich den Nerven zu ligieren
(⊡ Abb. 29.22c). Nun erfolgt die Eröffnung des dorsalseitigen Hand- Für die Stabilisierung der chronisch bestehenden Rotations-Su-
gelenks unter Bildung eines gestielten Kapsellappens nach Berger. bluxations-Stellung des Skaphoids ist von Blatt eine dorsale Kap-
Hierzu werden drei Orientierungspunkte markiert, nämlich sulodese mit einem Teil des dorsalen Ligaments beschrieben, die
1. die Mitte zwischen dem Tuberculum Listeri und der Incisura allerdings wegen der Pull-out-Naht seltener angewandt wird. Dor-
ulnaris, erkennbar am Septum zwischen den 4. und 5. Streck- soradialer Schnitt am Handgelenk. Darstellung und Schonung
sehnenfach, von R. superficialis N. radialis, EPL, ECRL und ECRB. Vom dor-
2. das dorsale Tuberculum am Os triquetrum sowie salen kapsuloligamentären Gewebe wird am Radius ein proximal
3. der Sulcus zwischen Os scaphoideum und Os trapezoideum. gestielter Lappen präpariert. Die Rotations-Subluxations-Stellung
des Skaphoids wird behoben und durch einen 1,2-mm-Kirschner-
Die Inzision beginnt am Processus styloideus radii, setzt sich Draht zwischen Skaphoid und Kapitatum stabilisiert, am distalen,
entlang des radiokarpalen Gelenkspalts bis zum Mittelpunkt zwi- nicht gelenkexponierten Pol des Skaphoids wird der Knochen mit
schen Tuberculum Listeri und dem Septum zwischen dem 4. und Fräse angefrischt. Das dorsal-proximal gestielte Ligament wird
5. Strecksehnenfach fort. Von dort wird die Inzision in Richtung durch eine Ausziehdrahtnaht über den angefrischten Knochen am
732 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29
b
A. radialis
R. superficialis n. rad.
N. interosseus post.
am Boden
a des 4. Strecksehnenfachs
Gestielter
Kapsellappen
f
⊡ Abb. 29.22 Technik der verspäteten Versorgung der skapholunären Dissoziation nach Linscheid.
a S-förmig geschwungener Hautschnitt von etwa 8 cm Länge, zentriert über dem Tuberculi Listeri,
b Darstellung des Retinaculum extensorum, Eröffnung des 3. Strecksehnenfaches, Luxation der EPL-Seh-
ne und Eröffnung des 2. und 4. Strecksehnenfaches, c Resektion des N. interosseus posterior im Sinne ei- Retinaculum
ner partiellen dorsalen Handgelenkdenervierung mit proximaler und distaler Ligatur (Cave: Blutung aus M. extensor extensorum
poll. long.
Begleitgefäß), d Bildung eines radiodorsal basierten Kapsellappens, e transossäre Bohrungen in Skapho- (subkutan)
id und Lunatum und Vorlage von nicht resorbierbaren Fäden, f nach Einrichtung des Lunatums und Re-
position des Skaphoids, Transfixierung der Karpalia mit Kirschner-Drähten und Knotung der vorgelegten
Fäden. g Nach anatomischer Rekonstruktion der dorsalen Kapsel wird die Blutleere geöffnet, eine subtile
Blutstillung durchgeführt und das Retinaculum extensorum rekonstruiert. Die Sehne des M. extensor car- g
pi radialis bleibt subkutan. (Aus Kalb et al. 2009 [a–d, g] und Schmit-Neuerburg et al. 2001 [e, f]) Redon-Drainage
29.2 · Spezielle Techniken
733 29
Skaphoid nach palmar gezogen und über einem Knopf fixiert. Zur ein 3,2 mm großes Bohrloch zur Passage des Sehnenzügels von
Verminderung der Hautkomplikationen benutzen wir einen Kno- palmar nach dorsal angelegt. Die Verlaufsrichtung des Bohrkanals
chenanker anstelle der Ausziehdrahtnaht. Anschließend erfolgt zielt vom Ursprung des dorsalen Anteils des skapholunären Bandes
eine Schienenruhigstellung für 6–8 Wochen. am Skaphoid in Richtung auf das Tuberculum des Kahnbeins auf
der Beugeseite. Die Bohrung kann unter Bildwandlerkontrolle
erfolgen (⊡ Abb. 29.23b). Anschließend wird der Sehnenstreifen
29.2.4 Technik der distalen Fesselung des durch den Bohrkanal nach dorsal geführt. Die Reposition von
Kahnbeins nach Brunelli in der Modifikation Lunatum und Skaphoid erfolgt in der gleichen Technik wie in
nach Garcia-Elias, Lluch und Stanley zur Abschn. 29.2.2 beschrieben. Als nächstes wird eine bis zum spon-
Behandlung der veralteten skapholunären giösen Knochen reichende Nut im Os lunatum mit der Luer-
Dissoziation Zange oder der Fräse angelegt und ein Knochenanker eingebracht
(⊡ Abb. 29.23c). Nach Schlitzen des Lig. radiotriquetrum dorsale in
Die dorsale Darstellung des Karpus erfolgt analog zu den in Ab- Ansatznähe am Os triquetrum wird der Sehnenstreifen der FCR-
schn. 29.2.2 beschriebenen Operationsschritten. Für die Entnahme Sehne durchgezogen und mit dem Knochenanker am Os lunatum
der distal gestielten halben Sehnen des FCR werden über dem Seh- (Nahtfixation am Lig. radiotriquetrum dorsale) und mit sich selbst
nenverlauf zwei quere Inzisionen im Abstand von 5 cm angelegt. mit nicht resorbierbaren Nähten bzw. mit PDS vernäht. Die Span-
Ein mindestens 8 cm distal gestielter, langer Sehnenstreifen wird nung wird dabei so gewählt, dass das Handgelenk in 0-Stellung
präpariert (⊡ Abb. 29.23a). Nun wird im distalen Skaphoidbereich einen skapholunären Winkel von 60° (intraoperative Bildwandler-
Metacarpale I
Os trapezium
Metacarpale II
Os scaphoideum
Metacarpale I
Proc. styloideus
Führungsdraht
Radius Os scaphoideum
kontrolle) bildet (⊡ Abb. 29.23d). Die weiteren operativen Schritte mit dem Lunatum andererseits durch Drähte, wobei Deformitäten
entsprechen dem Verfahren in Abschn. 29.2.2 wie Transfixation beseitigt sein sollten, wird dann die Sehne, die nun wiederum
Os scaphoideum, Os lunatum und Os capitatum mit Kirschner- palmar liegt, mit sich selbst vernäht. Die Ruhigstellung erfolgt
Drähten und 6-wöchiger Ruhigstellung. 6–8 Wochen auf einem Schienenverband, danach Entfernung der
Drähte und Handtherapie. Bei bestehenden arthrotischen Verän-
derungen oder Bandinsuffizienz ist die Indikation zur Arthro-
29.2.5 Technik der Akutversorgung der dese zwischen Lunatum und Triquetrum gegeben. Nicht selten
lunotriquetralen Läsionen und Instabilität besteht jedoch eine Triquetro-Hamatum-Dissoziation mit oder
ohne Beteiligung des Discus articularis und des distalen Ra-
Falls die Diagnose im Frühstadium arthroskopisch oder durch dioulnargelenks. Klinisch steht ein schmerzhaftes Schnappen im
ein Arthro-MRT gestellt wird, besteht die Indikation in einer Vordergrund, das beim Übergang in die ulnare Abwicklung bei
29 offenen Rekonstruktion des Kapsel-Band-Apparates und tempo- der Pronation im Handgelenk auftritt. Hierbei springt die proxi-
male Handwurzelreihe von der dabei physiologisch auftretenden
rärer Arthrodese mit Kirschner-Drähten zwischen Triquetrum
und Lunatum und Triquetrum und Kapitatum. Nach 6 Wochen Beugestellung in eine Streckstellung über. Bei fortbestehenden
Ruhigstellung erfolgt die Entfernung der Drähte und Handmo- Beschwerden ist eine Arthrodese zwischen Lunatum, Triquetrum
bilisation. und Hamatum in Erwägung zu ziehen.
29.2.6 Technik der verspäteten Versorgung 29.2.8 Technik der verspäteten Versorgung
lunotriquetraler Bandläsionen bei lunotriquetraler Bandläsionen mithilfe einer
Dissoziationen von dorsal mit ECU-Sehne Kapsulodese mit dem Lig. radiotriquetrum/
radiolunatum
Bogenförmige dorsoulnare Schnittführung unter Schonung des
Hautastes des Nervus ulnaris. Eingehend zwischen dem 5. und Bei diesem Verfahren wird ein Streifen des Lig. radiotriquetrum
6. Strecksehnenfach wird die dorsale Gelenkkapsel eröffnet und präpariert, der am Triquetrum fixiert wird. Der Streifen wird in
das Lunatum und Triquetrum bzw. das lunotriquetrale Ligament Höhe des Lunatums sparsam mobilisiert. Nach Anfrischen des Lu-
dargestellt. Der radiale Teil des Extensor carpi ulnaris (ECU) wird natumpols wird die LT-Verbindung reponiert und mit Kirschner-
längs gespalten, distal gestielt und durch etwa in 45° angebrachte Drähten transfixiert. Nach Vorlegen eines Knochenankers wird
Kanäle im Bereich des Os triquetrum und Os lunatum durchge- dann das Lig. radiotriquetrum unter Vorspannung am Lunatum
zogen. Der distal gestielte Sehnenanteil des Extensor carpi radialis fixiert. Es wird hierdurch allerdings nur eine dorsale Stabilisation
wird dorsal durch den Os triquetrum durchgezogen und palmar erreicht. Eine ähnliche Methode mit einem am Triquetrum gestiel-
herausgeleitet, wobei er wiederum palmar in das Os lunatum ten Streifen aus dem Lig. intercarpale dorsale zeigt ⊡ Abb. 29.24.
eingezogen und nach dorsal herausgeleitet wird. Nach Beseitigung Die Anwendung eignet sich daher vor allem für Situationen, in
der Verkippungen werden zwei Kirschner-Drähte zur Fixierung denen der palmare Anteil des LT-Bandes noch stabil ist. Das Ver-
des Os triquetrum mit dem Os lunatum und wiederum des Os fahren stellt eine Analogie zu gleichartigen Kapsulodesevefahren
triquetrum mit dem Os capitatum eingebracht. Nun werden die bei skapholunären Instabilitäten dar. Postoperativ erfolgt eine Ru-
nach dorsal geführten Sehnenenden nach festem Anziehen mit- higstellung im Unterarmgips für 6 Wochen. Die Drähte werden für
einander vernäht (die Sehne ist von dorsal nach palmar durch 8–12 Wochen belassen.
das Triquetrum und von palmar nach dorsal durch das Lunatum
durchgezogen). Wichtig ist die Wiederherstellung des Lig. radio-
triquetrum dorsale beim Verschluss der dorsalen Handgelenkkap-
sel durch End-zu-End-Naht. Anschließend wird der LT-Übergang
transfixiert
Es ist möglich, auch den Flexor carpi ulnaris (FCU) für eine
Bandrekonstruktion bei Instabilität zwischen Lunatum und Tri-
quetrum heranzuziehen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, so-
wohl dorsal als auch palmar die beiden Methoden miteinander
zu kombinieren. Schnittführung palmar/ulnar über dem Flexor
carpi ulnaris. Der Flexor carpi ulnaris wird distal gestielt und in
einer Länge von etwa 8–10 cm längs gespalten. Die Sehne wird
zunächst durch den ulnokarpalen Bandkomplex durchgezogen
auf den palmaren triquetralen Anteil hin, sodass die Sehne durch
den Kanal in das Triquetrum nach dorsal gezogen werden kann.
Weiterhin wird durch einen Kanal im Os lunatum die nun dorsal ⊡ Abb. 29.24 Technik der verspäteten Versorgung lunotriquetraler Bandläsi-
stehende Sehne nach palmar durchgezogen. Nach Fixierung des onen mithilfe einer Kapsulodese mit dem Lig. radiotriquetrum/radiolunatum.
Triquetrums mit dem Kapitatum einerseits und des Triquetrums (Aus Pillukat et al. 2004)
29.2 · Spezielle Techniken
735 29
29.2.9 Technik der skaphotrapeziotrapezoidalen len. Bei Anwendung von Kirschner-Drähten und Gipsschienen
(STT-) Arthrodese für die Arthrodese muss eine 8-wöchige Ruhigstellung erfolgen
(⊡ Abb. 29.26).
Ein etwa 4 cm langer Schnitt wird auf der Streckseite über dem
Handrücken in Höhe der Tabatière durchgeführt (⊡ Abb. 29.25a).
Darstellen (⊡ Abb. 29.25b) und Zurseitehalten des Extensor pollicis 29.2.11 Technik der lunotriquetralen (LT-) Arthrodese
longus ulnar und Abductor pollicis brevis radial (⊡ Abb. 29.25c).
Spaltung der Gelenkkapsel, wobei auf exakte Darstellung und Dorsoulnarer Schnitt unter Darstellung und Schonung des dor-
Schonung des R. superficialis N. radialis geachtet werden muss. salen Astes des N. ulnaris. Eingehen in das 5. Strecksehnenfach,
Darstellen des Skaphoids, des Trapeziums und des Trapezoide- das eröffnet wird. Zur-Seite-Halten der Extensor-digiti-quinti-
ums und der gemeinsamen Gelenkfläche. Inspektion der Gelenk- proprius-Sehne und Eröffnen der dorsalen Handgelenkkapsel in
fläche und Beurteilung der Mobilität des Skaphoids. Gelenkfläche Längsrichtung. Darstellen des lunotriquetralen Gelenks durch Zug
zwischen Skaphoid und Trapezium sowie zwischen Skaphoid und des Handgelenks und Flexion. Inspektion der Gelenkfläche, vor
Trapezoideum wird mit Meißel entknorpelt (⊡ Abb. 29.25d). Hier allem Triquetrum zu Lunatum und Triquetrum zu Hamatum, bei
wird Spongiosa angebracht. Sodann wird das Kahnbein mobi- Schonung und Erhaltung des Discus triangularis. Zur Arthrodese
lisiert, in der physiologischen Stellung gehalten (⊡ Abb. 29.25e), wird die Gelenkfläche zwischen Os lunatum und Os triquetrum
45–60° zur Radiusachse, und mit einem 1,0-mm-Kirschner-Draht dargestellt und der Restknorpel entfernt. Bei vorliegender Dest-
am Trapezoideum fixiert oder mit spitzer Repositionszange fest- ruktion, auch zwischen Triquetrum und Hamatum, wird dieses
gehalten. Kontrolle unter Bildverstärker, der die exakte Position Gelenk ebenso vom Restknorpel befreit und in die Arthrodese ein-
und Aufrichtung des Kahnbeins zeigen muss. Hier ist gleichzeitig geschlossen. Ausgiebige Spongiosaplastik zwischen Lunatum und
auch der karpale Kollaps aufgehoben. Nach exakter Reposition Triquetrum (falls nötig auch zwischen Triquetrum und Hamatum)
kann die Rentention mit Osteosynthesetechniken – Kirschner- aus dem Beckenkamm. Aufrichtung und anatomische Winkel-
Drähten, Plattenosteosynthese – erreicht werden. Neben der Mit- stellung des Lunatums und des Triquetrums; die Reposition kann
hilfe einer T-Platte vom Minifragmentinstrumentarium sowie durch eine spitze Zange fixiert werden.
mit 1,5-mm- oder 2,0-mm-Schrauben wird die entsprechende Je nach Notwendigkeit und Möglichkeit wird gleichzeitig eine
Plattenarthrodese des Triskaphoids zwischen Skaphoid, Trape- Teildenervation im Sinne einer Durchtrennung des Nervus inter-
zium und Trapezoideum durchgeführt. Es kann auch eine win- osseus posterior durchgeführt. Nach Anbringen einer 1,5–2 mm
kelstabile Platte zur Anwendung kommen. Vor Abschluss der starken Platte (eventuell T-Platte und Winkelstabilität) über dem
Operation wird nochmals die korrekte Stellung des Skaphoids in Os triquetrum und Os lunatum sollen jeweils 2 Schrauben in je-
beiden Ebenen und Aufhebung des karpalen Kollapses festgehal- dem Handwurzelknochen zu liegen kommen. Unter Fixation ist
ten und dokumentiert. Naht der dorsalen Gelenkkapsel über der die Kontrolle der Stellung des Os lunatum und triquetrum zur
Platte und den Schrauben, sodass die Sehnen nicht darüberglei- Handachse unter BV erforderlich. Bei stabiler Osteosynthese ist
ten können. Bei Anwendung einer stabilen Plattenarthrodese ist nur eine vorübergehende Ruhigstellung von 1–2 Wochen ausrei-
eine Ruhigstellung höchstens 7–10 Tage erforderlich. Mit einer chend. Bei Einsatz von Kirschner-Drähten für die Arthrodese und
knöchernen Verheilung ist nach 8–12 Wochen zu rechnen. Die Gipsverband ist eine Ruhigstellung für 8 Wochen erforderlich.
Metallentfernung kann, wenn nötig, frühestens nach 6 Monaten Ausheilung 6–8 Wochen mit Röntgenkontrolle.
erfolgen (⊡ Abb. 29.19). Die Triskaphoidarthrodese kann auch
> Die Arthrodese ist technisch anspruchsvoll. Bei Einsatz von
durch eine Kirschner-Draht-Osteosynthese erfolgen. Hierbei ist
Kirschner-Drähten Osteosynthese anstatt Plattenosteosyn-
eine postoperative Ruhigstellung von 8 Wochen in einem Steig-
these ist über häufige Pseudarthrose und Misserfolge auf-
bügelgips notwendig. Die Drahtentfernung erfolgt nach fester
grund der fehlenden Fusion berichtet worden.
Arthrodese nach 10–12 Wochen.
29.2.10 Technik der skaphokapitären (SC-) 29.2.12 Technik der mediokarpalen Arthrodese
Arthrodese (»four corner fusion«)
Bogenförmiger dorsaler Zugang unter Schonung des Hautastes des Die dorsale Darstellung des Karpus erfolgt analog zu den in Ab-
Nervus radialis. Längsschnitt und Eröffnung der Gelenkkapsel. schn. 29.2.2 beschriebenen Operationsschritten (⊡ Abb. 29.22).
Darstellen der Gelenkfläche zwischen Skaphoid und Kapitatum. Nach Resektion des Kahnbeins kann das Mondbein aufgerichtet
Restentknorpelung der Gelenkfläche zwischen Skaphoid und Ka- und die DISI-Position beseitigt werden. Durch Beseitigung der
pitatum. Anbringen von Spongiosa aus dem Beckenkamm und Verwachsungen im Bereich der kapitolunären Gelenkfläche soll
Kompression beider Knochen unter Aufrichtung des Skaphoids das Mondbein in guter und aufgerichteter Position gehalten
mit einer spitzen Repositionszange. Bei guter Reposition, welche werden, wobei das temporäre Anbringen eines dünnen radi-
durch BV-Röntgenkontrolle überprüft werden soll, muss nun das lunären Kirschner-Drahtes (1,0 mm Durchmesser) oder Repo-
Skaphoid in physiologischem Winkel zu Kapitatum und Lunatum sitionszange zur Aufrechterhaltung der Korrekturposition des
stehen (radioskaphoidaler Winkel etwa 40°). Die Stabilisierung Mondbeins zum Radius hilfreich ist. Es wird dann die medio-
erfolgt durch Osteosynthese mit einer 1,5 mm oder 2 mm star- karpale Gelenkfläche zwischen Kapitatum und Lunatum sowie
ken Platte, welche auch als winkelstabile Platte eingesetzt werden zwischen Triquetrum und Hamatum entknorpelt (⊡ Abb. 29.27a).
kann, oder durch Schraube mit Doppelgewinde. Die Ruhigstellung Um die karpale Höhe wiederherzustellen ist gelegentlich ein
erfolgt 1–2 Wochen, wobei bei stabiler Osteosynthese dann Be- kortikospongiöser Span vom vorderen Beckenkamm notwendig.
wegungsübungen ohne Belastung erlaubt werden. Die Ausheilung Bei der Aufrichtung ist auch auf die Korrektur einer radialseiti-
wird 8 Wochen dauern. Eine Röntgenkontrolle ist zu empfeh- gen Verlagerung des Os capitatum zu achten (⊡ Abb. 29.27b,c).
736 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29
d
c f
⊡ Abb. 29.25 STT-Arthrodese bei Skapholunärer Dissotiation. a Dorsoradiale Schnittführung. b Darstellung des Retinaculum Extensorum und des R. super-
ficialis N. Radialis. c Darstellung der Gelenkkapsel. d präoperativer röntgenologischer Aspekt: Drehung und Kippung des Kahnbeins in die tiefe Position (po-
sitives Ring-Zeichen). e postoperativer röntgenologischer Aspekt: Korrektur durch Aufrichtung des Skaphoids aus Rotationssubluxationsstellung in die hohe
Position und Arthrodese mit Minifragmentosteosynthese und Implantation von Spongiosa. f röntgenologischer Aspekt nach Materialentfernung. (a,b,c,d,e,f
Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
29.2 · Spezielle Techniken
737 29
b
d
⊡ Abb. 29.26 Technik der skaphokapitären Arthrodese nach Sennwald. a Planung einer 4 cm
langen dorsoradialen Hautinzision, b,c Darstellung und Eröffnung der Gelenkkapsel, d parti-
elle Styloidektomie und Entnahme von spongiösem Knochen aus dem Beckenkamm. Reposi-
tion des Skaphoids in die hohe Position und Retention mit Kirschner-Drähten oder Schraube
mit Doppelgewinde. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
a b c
⊡ Abb. 29.27 Technik der mediokarpalen Arthrodese (»four corner fusion«). a Unter Zug Aufweiten des Mediokarpalgelenks und Entknorpelung der Ossa
capitatum, hamatum, triquetrum und lunatum bis spongiöser Knochen sichtbar wird. Soll ein kortikospongiöser Span vom Beckenkamm eingesetzt werden,
Verwendung eines Meißels zur Schaffung glatter spongiöser Flächen. Wird nur Beckenspongiosa benutzt ist ein konturgerechtes Entknorpeln wegen der
Spongiosamenge notwendig. b, c Bei ausgeprägtem karpalen Kollaps ist eine Aufrichtung des Os lunatum und eine Korrektur der radialen Verlagerung des
Os capitatum notwendig. (b) Befund präoperativ und (c) postoperativ. (Aus Krimmer u. Lanz 1996)
738 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29
a b c
d e f
h i
a b c d
Falls nach Aufrichtung des Mondbeins und korrekter Lage des und koaguliert (Teildenervation des Handgelenks). Überprüfung
Mondbeins zum Kapitatum kein wesentlicher karpaler Kollaps der Indikation und Inspektion der Fossa lunata am Radius und der
festgestellt werden kann, wird nur die Spongiosaplastik zwi- Gelenkfläche des Os capitatums.
schen den entknorpelten Gelenkflächen eingebracht und die Fi-
> Der gute Knorpelüberzug in diesem Bereich ist die Vor-
xierung der Knochen durch eine kleine Spider-Platte (zuvor
aussetzung für die Durchführung einer proximalen Row-
muss das Plattenlager aufgefräst werden), T- oder H-Miniplat-
Karpektomie im Sinne einer proximalen Reihenresektion
ten-Osteosynthese mit 2,0- bzw. 2,4-mm-Schrauben so durch-
(⊡ Abb. 29.30a).
geführt, dass Hamatum, Triquetrum, Lunatum und Kapitatum
durch Schrauben und Platte fixiert werden. Die Fixation kann Bei Knorpeldefekten im Bereich der Fossa lunata kann mithilfe
auch durch 3 Kirschner-Drähte, Stärke 1,4 mm, die zwischen eines osteochondralen Transplantats aus dem resezierten Skaphoid
den oben genannten Knochen eingebracht werden, durchgeführt die Knorpeloberfläche wiederhergestellt werden (⊡ Abb. 29.30b).
werden, wobei das Radiokarpalgelenk immer frei bleiben muss. Distraktion des Handgelenks in Längsrichtung sowie Palmarfle-
Wichtig erscheint die stabile Säule des Kapitatums und Lunatums xion im Handgelenk ermöglicht die exakte Exploration. Unter
(⊡ Abb. 29.28). Beachtung der Unversehrtheit der palmaren Kapsel werden alle
Die weiteren operativen Schritte entsprechen dem Verfahren in 3 proximalen Handwurzelknochen in entsprechender Reihenfolge,
Abschn. 29.2.2 (⊡ Abb. 29.22g). nämlich Lunatum, Skaphoid und Triquetrum, schrittweise in toto
Postoperativ wird bei Durchführung einer Plattenarthrodese oder unter Zuhilfenahme von Meißel und Luer entfernt. Gelegent-
lediglich 1–2 Wochen das Handgelenk in einer Unterarmschiene lich können Kirschner-Drähte im Bereich der einzelnen zu entfer-
ruhiggestellt. Bei der Durchführung der Kirschner-Draht-Osteo- nenden Knochen angebracht werden, die als Joystick Erleichterung
synthese ist eine mindestens 8-wöchige Ruhigstellung in einem bringen. Einzelne knöcherne Anteile werden sorgsam aus den kap-
Unterarmgips notwendig. Die Plattenarthrodese kann, wenn nötig, suloligamentärten Anteilen abgelöst und vollständig entfernt. Nach
nach 12 Monaten, die Kirschner-Draht-Osteosynthese nach 4 Mo- vollständiger Resektion aller 3 proximalen Handwurzelreihenkno-
naten, nach Röntgenkontrollen entfernt werden. Mit Bewegungs- chen wird die Vollständigkeit der Resektion unter BV kontrolliert.
übungen kann bereits nach Entfernung des Schienenverbandes Es wird peinlichst auf vollständige Resektion der einzelnen Kno-
begonnen werden. chen geachtet, damit keine Knochenteile in dem neu geschaffenen
Bei bestehender SLAC-Wrist Stadium III und zusätzlicher Ar- Gelenk zwischen Radiusgelenkfläche und distaler Handwurzelrei-
throse des Daumensattelgelenks empfiehlt es sich, eine mediokar- he verbleiben. Gelegentlich ist die Fixation des Kapitatums durch
pale Arthrodese und zusätzliche Plattenarthrodese des Daumensat- einen Kirschner-Draht, welcher radial über die Lippe des Radius
telgelenks durchzuführen (⊡ Abb. 29.29). geführt wird, zur Zentrierung des Kapitatums in der Fossa lunata
angezeigt (⊡ Abb. 29.30c). Nach Kapselnaht und Raffung erfolgt die
Wiederherstellung des Retinaculum extensorum.
29.2.13 Technik der Resektion der proximalen Eine Ruhigstellung von 3–4 Wochen ist erforderlich. Danach
Karpalreihe (»proximal row carpectomie«, sollen die eventuell angebrachten Kirschner-Drähte entfernt wer-
PRC) den. Anschließende krankengymnastische Bewegungsübungen
bringen relativ gute Funktion, wobei zunächst eine Kraftminde-
Leicht bogenförmiger Schnitt dorsal über dem Handgelenk und rung aufgrund der relativen Verlängerung der Streck- und Beu-
Handwurzelknochen. Schonung der Hautäste des N. radialis und gesehnen besteht. In der Literatur ist ein endgültiger Stellenwert
ulnaris. Darstellen des Retinaculum extensorum, welches dann dieser Operation noch nicht gesichert. Die konkurrierende Ope-
zwischen 3. und 4. Strecksehnenfach eröffnet wird. Die Handge- ration ist die mediokarpale Arthrodese, wobei in der Literatur eine
lenkkapsel wird dargestellt und der N. interosseus posterior wird gute postoperative Schmerzreduktion und Funktion wiederholt
am ulnaren Rand des Tuberculum Listeri aufgesucht, durchtrennt bescheinigt wird.
740 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29 d
a b c
⊡ Abb. 29.30 Resektion der proximalen Karpalreihe (Handgelenk in a.-p. Strahlengang). a Resektion des processus styloidens radii unter Schonung
des RSC-Bandes. Das RLT-Band wird bei Entfernung des Lunatums geschont. b Das intakte RSC-Band wird für den korrekten Sitz des Kapitatums in
der fossa lunata gerafft. c Schema: Rekonstruktion der Fossa lunata mit einem osteokartilaginären Span vom Skaphoid nach Langer, d postoperativer
Röntgenbefund
29.2.14 Technik seltener Arthrodesen lung. Danach erfolgt das Auffüllen der Defekte durch Spongiosa
und die Osteosynthese der einzelnen Knochen miteinander durch
Es bestehen weitere seltene Arthrodosen, wie zwischen Kapitatum 2,0-Mini-Fragment-T-Platten oder runde Platte (Spider-Platte,
und Lunatum und zwischen Triquetrum und Hamatum. Diese ⊡ Abb. 29.32).
Arthrodesen werden bei Instabilität zwischen den Handwurzel- Bei der Osteosynthese muss auf exakte Niveauhaltung der
knochen durchgeführt, wobei die alleinigen intrinsischen und in- Interkarpalknochen, vor allem in Bezug auf den Radius, geachtet
traossären Bandverletzungen nicht zur Instabilität der karpalen werden. Die Achse der Handwurzelknochen zum Radius muss
Knochen führen. Aus diesem Grund sind wir der Ansicht, dass korrigiert und fixiert werden. Über der Platte und den Schrauben
bei bestehenden einzelnen Dissoziationen zwischen Handwurzel- wird die Gelenkkapsel vernäht, sodass die Strecksehnen nicht über
knochen wie Kapitatum, Lunatum und Triquetrum und Hamatum das Osteosynthesematerial gleiten. Danach erfolgt die Naht des
hier eine interkarpale Arthrodese unter Belassung des Skaphoids Retinaculum extensorum; Entfernung der Blutleere, Blutstillung,
durchgeführt werden soll (⊡ Abb. 29.31) Hautnaht, steriler Verband und Anlegen von Wattekompressions-
Da jedoch die mediokarpale Arthrodese durch Fusionierung verband, Röntgenkontrolle. Danach wird ein geschlossener Unter-
der Handwurzelknochen eine Bewegungseinschränkung mit sich armgips angelegt, der sofort gespalten wird. Als Alternative kann
bringt, sind wir der Meinung, dass die Arthrodese nur die Kno- anstatt autologer Spongiosa auch Endobon verwendet werden.
chen und Nachbargelenke einschließen soll, die von der Hauptin- Postoperativ wird der Arm in einem geschlossenen Unterarm-
stabilität betroffen sind. gips für insgesamt 2–3 Wochen ruhiggestellt. Je nach Fortschritt
der knöchernen Verheilung der Arthrodese kann mit Bewegungs-
Technik der Interkarpalarthrodese nach Graner I übungen im Bereich des Handgelenks begonnen werden.
Bei der ersten Interkarpalarthrodese (Graner I) werden die Ge-
lenkflächen zwischen Skaphoid, Lunatum, Triquetrum, Kapitatum Technik der Karpalarthrodese nach Graner II
und Hamatum entknorpelt und diese Knochen durch Einbringen Bei stark deformiertem Lunatum wird dieses in der zweiten Tech-
von spongiösem Knochen miteinander verblockt. Eine Revasku- nik (Graner II) exstirpiert. Zum Auffüllen der entstandenen Lücke
larisation oder genauer Neovaskularisation des nekrotischen Os wird das Kapitatum osteotomiert, der proximale Pol nach proximal
lunatum erfolgt durch Einwachsen von Gefäßen aus den umliegen- verlagert und der Defekt zwischen dem proximalen und distalen
den entknorpelten Karpalknochen. Kapitatumanteil mit einem kortikospongiösen Span ausgefüllt (zur
Als Hauptindikationen der Interkarpalarthrodese gelten die Technik Kap. 30).
posttraumatischen Zustände und die Lunatumnekrose ohne Form-
verlust des Os lunatum.
Das Handgelenk wird von einem queren S-förmigen Haut- 29.2.15 Technik der kompletten
schnitt von der dorsalen Seite her freigelegt. Das Retinaculum ex- Handgelenkarthrodese
tensorum wird Z-förmig und die Strecksehnen aus dem 4. Streck-
sehnenfach herausluxiert und zur Seite gehalten. Die dorsale Kap- Die Operation wird in Rückenlage und Vollnarkose durchgeführt.
sel wird durch eine V-förmige Inzision parallel zum Verlauf des Die Hand wird auf einem Handtisch gelagert. Die Operation erfolgt
Lig. radiotriquetrum dorsale und Lig. intercarpale dorsale eröffnet. in Oberarmblutleere (250 mmHg). Zur Entnahme von spongiösem
Die dorsalen Flächen der einzelnen Knochen wie Kapitatum, Skap- Knochen wird ein Beckenkamm vorbereitet.
hoid und Lunatum werden dargestellt. Nun wird nach Resektion Die dorsale Darstellung des Carpus erfolgt analog zu den in
der gemeinsamen Gelenkflächen zwischen den einzelnen Hand- Abschn. 29.2.2 beschriebenen Operationsschritten (⊡ Abb. 29.21).
wurzelknochen der Knorpel reseziert. Es erfolgt die Aufrichtung Anschließend wird das 3. Strecksehnenfach auf seiner gesam-
des Knochens (Skaphoid und/oder Lunatum) von der DISI-Stel- ten Länge gespalten und sowohl Sehne als auch der Muskel-
29.2 · Spezielle Techniken
741 29
a b
c d
⊡ Abb. 29.31 Technik der Interkarpalarthrodese nach Graner I. a Planung der Hautinzision, b Z-förmige Eröffnung des Retinaculum extensorum, c Herauslu-
xieren der Strecksehnen aus dem 4. Strecksehnenfach und V-förmige Eröffnung der dorsalen Kapsel, d Entknorpelung der Gelenkflächen zwischen Skaphoid,
Lunatum, Triquetrum, Kapitatum und Hamatum, Einbringen von spongiösem Knochen, Minifragment-Platten-Osteosynthese und 2,0-mm-Schrauben oder
2,4-mm-Spider-Platte
742 Kapitel 29 · Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich
29 b
c d
bauch des M. extensor pollicis longus (EPL) nach radial verlagert der Beugesehnen führt (⊡ Abb. 29.33d,e). Wenn möglich sollten die
(⊡ Abb. 29.33a). Über eine tiefe gerade Inzision, beginnend radi- ulnaren Anteile des mediokarpalen Gelenkspaltes erhalten bleiben,
alseitig des 3. Os metacarpale und nach proximal bis zum dista- um die für den festen Faustschluss notwendige Beweglichkeit der
len Radiusdrittel reichend, werden ein radialer und ein ulnarer beiden ulnaren Fingerstrahlen nicht zu beeinträchtigen. Der für
Faszien-Gelenkkapsel-Lappen gebildet. Im Bereich des Os meta- die Verblockung notwendige spongiöse Knochen wird vorzugs-
carpale III (oder II) und des Radius erfolgt die Präparation in der weise aus dem Bereich der Crista iliaca gewonnen. Über eine Inzi-
subperiostalen Schicht. Mit dem radialen Faszien-Gelenkkapsel- sion kann die Spongiosa und ein kortikospongiöser Span aus dem
Lappen wird das 2. Strecksehnenfach ohne Eröffnung nach radial, Beckenkamm entnommen werden.
mit dem ulnaren Lappen das 4. Strecksehnenfach ebenfalls ohne Abhängig von den individuellen Verhältnissen wird die Artho-
Eröffnung nach ulnar weggehalten (⊡ Abb. 29.33c). Die tangentiale deseplatte entweder auf der Dorsalfläche des Os metacarpale II
Dekortikation im Bereich des Plattenlagers am Radius soll eine oder vorzugsweise III fixiert. Die distale Grenze des Plattenlagers
funktionell und ästhetisch störende Plattenprominenz vermeiden. darf den Übergang des mittleren zum distalen Metakarpaldrittel
Alle Gelenkflächen der interkarpalen Knochen und im Bereich nicht wesentlich überschreiten. Die proximale Grenze des Platten-
des Plattenlagers werden mit einem Meißel entknorpelt. Dabei ist lagers liegt etwa auf Höhe des M. abductor pollicis brevis. Die ul-
darauf zu achten, dass eine möglichst sparsame Resektion durch- nare Grenze darf das distale Radioulnargelenk nicht beeinflussen,
geführt wird, da eine zu große Verkürzung zu einem Kraftverlust um Störungen dieses Gelenks zu vermeiden (⊡ Abb. 29.33f). Für die
29.2 · Spezielle Techniken
743 29
b
c
a
Becken-
kamm-
span
d f
Unilaterale Hand- Extension 0–30° Aufgrund der großen Beeinträchtigung im täglichen Leben durch
gelenkarthrodese Ulnarabduktion 5–10° ein instabiles Handgelenk sollte die Indikation zur möglichst frü-
hen operativen Versorgung großzügig gestellt werden. Dasselbe
Unilaterale Hand- Extension 0°
gilt für die Indikation zu funktionsverbessernden Sekundäropera-
gelenkarthrodese Ulnarabduktion 5–10°
tionen im Sinne einer Resektion der proximalen Karpalreihe oder
beim Spastiker
einer mediokarpalen Arthrodese bei entsprechendem klinischem
Bilaterale Hand- Dominante Hand Extension 10–20° oder 0° und radiologischem Befund.
gelenkarthodese Ulnarabduktion 5–10° Je nach Beanspruchung der Hand haben partielle Arthrodesen
eine mehr oder weniger lange Halbwertzeit. Durch die Verblo-
Nicht dominante Leichte Flexion (10–20°)
29 Hand Ulnarabduktion 5–10° ckung von Segmenten werden die benachbarten Gelenke verstärkt
belastet. Eine spezifische Komplikation der STT-Arthrodese be-
steht in der Läsion des R. superficialis N. radialis.
Nach Hastings (1994) können die spezifischen Komplikationen
Arthrodese wird eine gerade Arthrodeseplatte verwendet, die distal nach kompletter Handgelenkarthrodese mithilfe der Plattenosteo-
mit 2,7-mm-Schrauben und maximal mit 3,5-mm-Schrauben be- synthese in leichte und schwerwiegende eingeteilt werden.
setzt werden. Zur Dekompression des distalen Radioulnargelenks, Leichte Komplikationen haben keinen Einfluss auf das Opera-
einem oft vergessenen aber extrem wichtigen Operationsschritt, tionsergebnis und sind bei bis zu 33% aller Patienten nach subtiler
genügt es vor der Fixation der Platte den Karpus leicht zu distra- Untersuchung zu finden. Die häufigste leichte Komplikation stellt
hieren, nach radial zu schieben und ausreichend spongiösen Kno- eine massive postoperative Schwellung dar. Von etwa 19% aller
chen einzubringen. Bei ausgeprägtem Knochenverlust und Ulna- Patienten werden Plattenbeschwerden vor allem im Metakarpal-
plus-Variante sollte ein kortikospongiöser Beckenkammspan zum bereich, welche in Ruhe (Wetterfühligkeit, Kälteempfindlichkeit)
Niveauausgleich eingebracht werden (⊡ Abb. 29.33g). und/oder bei Belastung (Druck- und/oder Klopfempfindlichkeit)
Anbringen von Spongiosa in den interkarpalen Knochen und auftreten, angegeben. Nach Entfernung der Platte nach 12–18 Mo-
eines kortikospongiösen Blocks über dem distalen Radius (tangen- naten verschwinden sie vollständig. Bei 14% aller Patienten treten
tiale Dekortikation) und den Handwurzelknochen, worauf dann postoperativ die Symptome eines Karpaltunnelsyndroms auf, wel-
die Arthrodeseplatte angebracht wird. Die Stellung der Arthrodese che eine konservative oder meist operative Therapie notwendig
ist abhängig von mehreren Kriterien (⊡ Tab. 29.8). machen. Temporäre oder andauernde Gefühlsstörungen im Be-
Die Plattenfixierung beginnt im Metakarpalbereich. Die Posi- reich des R. superficialis N. radialis werden beschrieben.
tion des Zentrums des distalsten Loches wird markiert. Die Platte Schwerwiegende Komplikationen beeinflussen das Operations-
wird mit einem 2,0-mm-Bohrer (für 2,7-mm-Schrauben) an der ergebnis und machen einen erneuten oder verlängerten stationären
Mittelhand und 2,5-mm-Bohrer für 3,5-mm-Schrauben an dem Aufenthalt notwendig. Sie treten bei etwa 14% aller Patienten auf
Radius fixiert. Um eine Rotationsfehlstellung im Metakarpalbe- und beinhalten fehlende knöcherne Konsolidierung mit oder ohne
reich zu vermeiden, muss darauf geachtet werden, die Bohrlöcher Plattenbruch (1,5%), postoperative Sehnenadhäsionen (3,5%),
exakt in der d. p. Ebene anzubringen. Weitere Schrauben werden postoperative Störungen der Pronosupination (5,6%), Wundhei-
nach der gleichen Technik im Metakarpalbereich bzw. am Radius lungsstörungen bis Infektionen im Handgelenkbereich und Wund-
eingebracht. Das Loch für die vorletzte Schraube wird exzentrisch heilungsstörungen bis Infektionen im Beckenkammbereich (6%).
gebohrt, um Kompression auf die Arthrodese zu bringen. Insge-
samt werden drei Kortikalisschrauben und eine Spongiosaschraube
am Radius eingebracht. Kontrolle unter BV nach Abschluss der Weiterführende Literatur
Osteosynthese. Bewertungskriterien der intraoperativen Röntgen-
kontrolle in d. p. und seitlichem Strahlengang sind die Achsenver- American Society for Surgery of the Hand (Hrsg) (1983) The hand – examina-
hältnisse im Handgelenkbereich und die Schraubenlänge. Nach tion und diagnosis, 2. Aufl. Churchill Livingstone, Edinburgh
Eröffnung der Blutleere und ausgiebiger Blutstillung wird die Os- Arbeitlang E, Trojan E (1963) Irreponible Fingerluxation. Monatsschr Unfall-
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teosyntheseplatte mit den beiden Kapsel-Faszien-Lappen bedeckt
Asche G (1984) Stabilisierungsmöglichkeit fingergelenksnaher Frakturen mit
und Lage sowie freie Beweglichkeit von Muskelbauch und Sehne
dem Minifixateur externe. Handchir Mikrochir Plast Chir 16: 192–195
des EPL kontrolliert. Nach Einlage einer Redon-Drainage erfolgt Asche G (1988) Die Behandlung der Frakturen der Metacarpalia mit dem
der schichtweise Wundverschluss. Postoperativ wird das Handge- Minifixateur externe. In: Nigst H (Hrsg) Frakturen der Hand und des
lenk auf einer palmaren Unterarmgipsschiene mit freier Fingerbe- Handgelenkes. Hippokrates, Stuttgart, S 81–87
weglichkeit gelagert. Abschwellende Maßnahmen wie Hochlagern Bartelmann U, Kotas J, Landsleitner B (1997) Ursachen von Nachoperationen
(auf einem Keilkissen) und Eisapplikation werden verordnet. Die nach Osteosynthesen von Finger- und Mittelhandfrakturen. Handchir
systemische antiphlogistische und analgetische Therapie hat sich Mikrochir Plast Chir 29: 204–208
im Hinblick auf eine frühe aktive und passive Mobilisation sehr be- Boscheinen-Morrin J, Davey V, Conolly WB (1988) Physikalische Therapie der
währt. Mit aktiver und passiver krankengymnastischer Übungsbe- Hand. Hippokrates, Stuttgart
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zur Osteosynthese der frischen Skaphoidfraktur. Unfallchirurgie 10:
begonnen. Nach Durchführung einer Röntgenkontrolle ohne Gips
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kann im Allgemeinen nach 3 Wochen die Ruhigstellung beendet Broome A, Cedell C, Collen S (1964) High plaster immobilization for fracture
und das Handgelenk in Pronation und Supination krankengym- of the carpal scaphoid bone. Acta Chirurg Scand 128: 42–45
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chen erfolgen. Die Entfernung der Platte sollte, wenn überhaupt Buck-Gramcko D, Hoffmann R, Neumann R (1989) Der Handchirurgische
noch, 12–18 Monate nach Implantation erfolgen. Notfall. 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart
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30
Idiopatische Mondbeinnekrose
Markus Gabl, Rohit Arora
30.1 Allgemeines tum. Beim flachen Typ des Os capitatum (65%) fanden sie kleine
Gelenkflächen beider Typen des Os lunatum, beim sphärischen
Von Anatomen wurden im 19. Jahrhundert abnorme Variationen Typ des Os capitatum (22%) betrug die Gelenkfläche des Os luna-
des Mondbeins beschrieben und als »Lunatum partitum, bipar- tum Typ 2 bis zu 4 mm und beim V-geformten Os capitatum (14%)
titum, hypo- oder epilunatum« benannt. Pfitzner (1900) stellte fanden sie nur ein Os lunatum des Typs 2 vor mit großer Gelenk-
erstmals die Frage, ob es sich bei dieser Veränderung des Mond- fläche zum Os hamatum.
beins als »Produkt eines Zerfalles durch Entartungserscheinungen« Die Gefäßversorgung des Os lunatum ist inkonstant. Nur we-
handelt und Wolff (1903) sah die Mondbeinnekrose verursacht nige Foramina nutritia sind an der größeren palmaren und der
durch Kompression zwischen Radius und Kopfbein. Robert Kien- kleineren dorsalen Fläche des Os lunatum zu sehen. Gelbermann
böck (1910) veröffentlichte eine detaillierte Symptomatologie mit et al. (1980) beschrieben drei häufig vorkommende intraossäre
radiologischer Beschreibung der Veränderung des Mondbeins und Verzweigungsmuster. Der Y-förmige Typ (59%) zeigt 2 palmare
benannte diese Erkrankung als Lunatummalazie. Als Ursache für Zuflüsse aus der A. ulnaris und der A. interossea anterior sowie
diese Veränderung vermutete Kienböck eine »perilunäre Dorsallu- einen dorsal aus der A. radialis. Der I-förmige Typ (31%) weist
xation der Hand von momentaner Dauer«, begleitet von einer Zer- einen dorsalen und einen palmaren Zustrom auf, der X-förmige
30 rung der Bandstrukturen und Ruptur der Gefäße des Mondbeins. Typ (10%) jeweils zwei dorsale und 2 palmar zuführende Gefäße
Er betonte, dass die beschriebenen Traumata zu gering seien, um (⊡ Abb. 30.3). Lee (1963) fand in 26% ein einzelnes arterielles Gefäß
eine Fraktur zu verursachen, und dass die bei einer Lunatummala- entweder von dorsal oder palmar, 8% hatten palmare und dorsale
zie beobachteten Frakturen nur bei einem pathologisch geschwäch- Gefäße ohne intraossäre Anastomose, die Verbleibenden zeigten
ten Knochen möglich seien. Im Gegensatz zu dieser Theorie der keine intraossären Anastomosen. Lamas et al. (2001) beschreiben
Durchblutungsstörung wurde argumentiert, dass nach Luxation 1–3 Foramina nutritia am dorsalen Horn des Mondbeins und eine
des Mondbeins keine »Lunatummalazie« bislang beobachtet wur- größere Anzahl von 1–5 palmar.
de. Diese Hypothesen prägen die Diskussion zur Entstehung der Die Gefäßversorgung verläuft entlang dem Ansatz einzelner
Mondbeinnekrose bis heute. karpaler Bandstrukturen (RSL, RL, DIC, DCL). Sie schließen da-
Die idiopathische Mondbeinnekrose ist ein destruierender, raus, dass Schädigungen der Bandstrukturen durchaus auch die
progredient verlaufender Krankheitsprozess des Handgelenks. Mit arterielle Versorgung des Os lunatum beeinflussen können.
einer verfeinerten Diagnostik können heute einzelne Krankheits-
stadien differenziert werden, die als Basis für neue Therapieansätze
dienen.
a b c
⊡ Abb. 30.3 Blutversorgung des Os lunatum nach Gelbermann. a Der Y-förmige Typ (59%) zeigt 2 palmare Zuflüsse aus der A. ulnaris und der A. interossea
anterior sowie einen dorsal aus der A. radialis. b Der I-förmige Typ (31%) weist einen dorsalen und einen palmaren Zustrom auf. c Der X-förmige Typ (10%)
hat jeweils 2 dorsale und 2 palmar zuführende Gefäße
Anatomische Formvarianten
30.1.3 Ätiologie Gegenwärtig wird die Bedeutung anatomisch prädisponierender
Formvarianten der Handwurzelknochen näher untersucht. So
Die Entstehung einer avaskulären Osteonekrose des Os lunatum ist scheint die trapezoidale Form des Os lunatum, die Ausprägung der
bis heute nicht gesichert. Gelenkfläche zum Os hamatum eines Os lunatum des Typs 2, die
Entsprechend des jeweiligen Wissenstandes wurde das Krank- radiale Inklination des Radius und die Abdeckung des Os lunatum
heitsbild bisher auch als septische, aseptisch-avaskuläre Nekrose durch die distale Radiusgelenkfläche untersucht.
des Os lunatum bezeichnet.
Vaskuläre Faktoren
Als möglicher auslösender Faktor bei der Entstehung einer Lu-
Hypothesen zur Entstehung der Lunatumnekrose natumnekrose wird auch eine Schädigung der Gefäßversorgung
▬ Akutes Trauma des Os lunatum diskutiert. Die Formvielfalt des extraossären Ge-
▬ Repetitives Trauma fäßnetzes und die Variabilität intraossärer Anastomosen können
▬ Anatomische Prädisposition dabei prädisponierend sein, ein minimales Trauma Ursache einer
▬ Vaskulitis (Raynaud, SLE, Sklerodermie) Schädigung der Endstrombahn, die bei fehlender Anastomose zur
▬ Virale Infektion (Reaktive Arthritis, HIV) partiellen Nekrose des Os lunatum führen kann. In Anlehnung an
▬ Koagulopathie (Sichelzellanämie) die Pathogenese der Femurkopfnekrose (Morbus Perthes) wird
▬ Kongenital erworben auch eine venöse Abflussstörung als Ursache diskutiert, bei der bei
▬ Steroide Hyperextension des Handgelenks der Blutstrom stagniert und sich
▬ M. Caisson Thromben bilden, welche die Infarzierung einleiten. Nachweis-
bar ist ein erhöhter intraossärer Druck. Schiltenwolf et al. (2001)
untersuchten die Bedeutung des intraossären Drucks hinsichtlich
Biomechanische Faktoren der Pathogenese des M. Kienböck und fanden die Ursache für die
Einen bedeutenden Ansatz zur Entstehung der Lunatumnekrose pathologische Drucksteigerung im gestörten venösen Abfluss. Der
lieferten die biomechanischen Untersuchungen von Hulten (1928), venöse Abfluss wurde von Pichler und Putz (2003) dann näher un-
die eine vermehrte Inzidenz der Erkrankung bei Ulnaminus-Vari- tersucht. Sie fanden ein dorsal und palmar gelegenes feines Venen-
ante des distalen Radioulnargelenks zeigten. Hulten beschrieb das geflecht, das im festen periostalen Bindegewebe eingeflochten ist.
752 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
Dieses scheint den schwächsten Punkt der venösen Drainage dar- xation des Kahnbeins, sowie die Proximalisierung des Kopfbeins.
zustellen, auch durch die kleine Kontaktfläche des hemizirkulären, Nur in geringem Maß weicht das Dreieckbein nach ulnar ab. Es
großteils knorpelig überzogenen Mondbeins. Für eine vaskuläre resultieren Arthrosen, ein karpaler Kollaps ist eingetreten.
Genese spricht auch das seltene Auftreten einer Lunatumnekrose
bei Sichelzellanämie oder bei Zerebralparese mit Beugekontraktur
des Handgelenks oder anderer Vaskulitiden. 30.1.4 Diagnostik
Konventionelle Röntgendiagnostik
Wichtige Voraussetzung für eine akkurate Beurteilung einer Mond-
beinerkrankung ist eine normierte Aufnahmetechnik des Handge-
lenks in Neutralstellung ( Kap. 29).
> Das konventionelle Röntgen ist die Basisdiagnostik der
Lunatumnekrose ( Abschn. 30.1.5.2).
Es zeigen sich Sklerosierungen der Trabekel und Grenzlamel-
len, fleckige oder zystische Aufhellungen, teilweise begrenzt von
Sklerosesäumen. Dadurch wirkt die Knochendichte inhomogen.
Von Bedeutung ist auch eine Formveränderung des Mondbeins,
wobei die Nekrose oft subchondral an der proximalen konvexen
⊡ Abb. 30.4 Zonen der Mondbeinnekrose: proximale Nekrosezone, mittlere Gelenkfläche beginnt und Konturverformungen, Frakturen und
Regenerationszone, distale Vitalitätszone Fragmentation auftreten können. Das Os scaphoideum erscheint
30.1 · Allgemeines
753 30
flektiert. Die Unterscheidung zwischen den Stadien 3a und 3b er- Für die präoperative Planung ist der Nachweis einer Fraktur
folgt anhand der Rotationsfehlstellung des Os lunatum mit einem und deren Verlauf von Bedeutung, wobei auf ein koronares Frak-
SL-Winkel über 60°, dem Höhenindex nach Stahl (⊡ Abb. 30.5), turmuster besonders geachtet werden soll.
dem Kapitatumindex nach Nattrass und dem karpalen Höhenin-
dex nach Youm ( Kap. 29). Arthroskopie
Die relative Verkürzung der Elle im Bezug zum Radius kann Die Beurteilung und Klassifikation des Knorpelschadens erfolgt
nur an normierten Aufnahmen und im a.-p. Strahlengang beur- arthroskopisch. Sie ist hilfreich bei der Indikation rekonstruktiver
teilt werden. Nach Hulten können Ulna-plus-, Ulna-minus- und Eingriffe und unterstützt die Auswahl sekundärer Rekonstrukti-
Ulna-Null-Varianten unterschieden werden. Die Extremausschläge onsverfahren. In der Arthroskopie kann der Knorpelzustand der
bertragen ±2 mm ( Kap. 33). perilunären Gelenksituation erfasst werden. Nach Lokalisation des
Knorpelschadens sind 4 arthroskopische Stadien zu unterscheiden
Magnetresonanztomografie (⊡ Tab. 30.3). Im Frühstadium sind synovitische Veränderungen zu
Im Frühstadium der Lunatumnekrose ist die Magnetresonanz- beobachten.
untersuchung von wesentlicher Bedeutung. Mit ihr lässt sich ein
Ödem von einer partiellen Nekrose oder kompletten Nekrose des
Os lunatum differenzieren. Das pränekrotische Stadium muss als 30.1.5 Klassifikation
Knochenmarködem diagnostiziert werden und darf nicht als Nek-
rose fehlgedeutet werden. Die Lunatumnekrose kann aufgrund mehrerer Kriterien klassifi-
ziert werden:
> Entscheidend zur Darstellung von Osteonekrosen ist der
▬ Lebensalter,
Einsatz eines intravenösen Kontrastmittels.
▬ röntgenologischer Befund,
Besondere Bedeutung hat die Magnetresonanztomografie in der ▬ kernspintomografischer Befund,
Frühdiagnostik vor dem radiologischen Stadium 1 nach Licht- ▬ arthroskopischer Befund.
man. In diesem Stadium ruft die Ischämie ein Knochenmarködem
hervor. Nach Absterben der Fettmarkzellen kommt es zu einem Lebensalter
intensiven Signalverlust. Somit lassen sich bereits pathologische Die Genese der Lunatumnekrose bleibt bislang ebenso unklar wie
Veränderungen feststellen, bevor erste radiologische Zeichen er- der natürliche Krankheitsverlauf. Dennoch hat sich die Einteilung
sichtlich sind. Ihre Ergebnisse sind entsprechend der untersuchten nach Manifestation und Lebensalter zum Zeitpunkt der Erstmani-
Gewebe nicht identisch mit der radiologischen Klassifikation. In festation als hilfreich erwiesen:
diesen frühen Stadien der Erkrankung kann man korrekterweise
> Infantile Lunatummalazie – meist selbstheilend
nicht von einer Knochennekrose ausgehen (⊡ Tab. 30.2).
▬ Juvenile Lunatummalazie – mit zunehmenden Alter
Computertomografie progredienter Verlauf
▬ Lunatumnekrose Erwachsenenalter – progredienter
Mit der Computertomografie in Feinschichtung sind eine Sklero-
Verlauf
sierung, pseudozystische partielle Nekrosezonen, Frakturierungen
▬ Lunatumnekrose im höheren Alter – ab dem 60. Lebens-
und Deformierungen des Os lunatum früher zu erkennen und
jahr auch stagnierender Verlauf
genauer zu lokalisieren. Die Einstufung des Krankheitsbildes ist
im Vergleich zur konventionellen Bildgebung meist um einen Grad
erhöht. Die Computertomografie ist besonders zur Abklärung des Röntgenologische Stadien der Erkrankung
Stadiums 3a von zunehmend großer klinischer Bedeutung. Eine erste Stadieneinteilung im konventionellen Röntgen erfolgte
1957 durch Decoulx und Mitarbeiter. Die heute am häufigsten
verwendete Einteilung ist jene nach Lichtman und Ross (1994), sie
berücksichtigt sowohl klinische als auch radiologische Parameter
(⊡ Abb. 30.6).
Dabei ist das Stadium 1 durch eine diffuse Sklerosierung im
trabekulären Bereich gekennzeichnet. Eine Formveränderung
des Os lunatum ist noch nicht eingetreten. Im Stadium 2 treten
zystische Einschlüsse hinzu, die Kontur des Mondbeins ist erhal-
ten. Das Stadium 3 weist eine Formveränderung des Mondbeins
auf, häufig mit einer typischen subchondralen Aufhellung, mit
sichtbarer Abflachung der proximalen konvexen Gelenkform,
die aber auch Folge zentraler Einbrüche mit plastischer Ver-
formung oder Folge der Dislokation nach Frakturen sein kann.
Mit dem Kollaps des Os lunatum ist jener Punkt im natürli-
chen Verlauf der Mondbeinnekrose eingetreten, ab dem eine
selbstheilende morphologische Restitutio nicht mehr möglich
ist. Durch den Höhenverlust des Os lunatum verändert sich die
Position der Handwurzelknochen, die auch zu einer vermehrten
Rotationssubluxation des Os scaphoideum führt, Stadium 3b.
Mit den nunmehr eingetretenen Veränderungen dominiert die
⊡ Abb. 30.5 Höhenindex nach Stahl: Quotient aus longitudinalem und Problematik der karpalen Instabilität das Krankheitsbild. Im
sagittalem Diameter des Os lunatum (Norm: 0,53). (Aus Sennwald 1988) Stadium 4 ist das Os lunatum fragmentiert, kollabiert, skle-
754 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
rotisch, das Handgelenk ist arthrotisch verändert (⊡ Tab. 30.1, Arthroskopische Stadien der Erkrankung
⊡ Abb. 30.6). In Stadium 1 besteht eine Knorpelschädigung im Bereich der
proximalen Gelenkfläche des Os lunatum. Im Stadium 2 ist zu-
Kernspintomografische Stadien der Erkrankung sätzlich die Fossa lunata radii betroffen. Im Stadium 3 kommt
Im MR-Stadium 1 (Ödem) ist das T1-Signal erniedrigt, es zeigt sich eine Knorpelschädigung im Bereich der distalen Gelenkfläche
ein homogenes Bild nach Kontrastmittelgabe. Im MR-Stadium 2 des Os lunatum hinzu. Im Stadium 4 ist zusätzlich noch die
(partielle Nekrose) ist das T1-Signal erniedrigt, nach Kontrastmit- proximale Gelenkfläche des Os capitatum arthrotisch verändert
telgabe zeigt sich ein fleckig inhomogenes Bild. Im MR-Stadium 3 (⊡ Tab. 30.3).
(komplette Nekrose) ist das T1-Signal erniedrigt, nach Kontrast-
mittelgabe zeigt sich keine Anreicherung (⊡ Tab. 30.2).
30.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
⊡ Tab. 30.1 Röntgenologische Stadieneinteilung der Lunatumnekrose nach Decoulx, modifiziert nach Lichtman
Eingriffe am Mondbein bzw. Handgelenk Skapho-Kapitatum-Arthrodese. Mit einer Arthrodese von Skap-
Prinzipiell können die vielfältigen Therapieoptionen nach ihrer hoid und Kapitatum soll die Migration des Kapitatums bei fortschrei-
Zielsetzung in drei Kategorien zusammengefasst werden: tendem Verlust der karpalen Höhe durch Kollaps des Mondbeins
1. biomechanische Druckentlastung des Mondbeins, verhindert werden. Dabei werden über einen streckseitigen Zugang
2. Vaskularisierung des Mondbeines mit Knochentransplantaten die Gelenkflächen zwischen Kapitatum und Skaphoid entknorpelt
und und die spongiösen Knochenflächen mit Kirschner-Drähten oder
3. »Rettungsoperationen« bei eingetretener Arthrose im fortge- kopflosen Schrauben miteinander fusioniert ( Abschn. 29.2.10). Auf
schrittenen Stadium. die Stellung des Skaphoids ist zu achten, da eine Fixierung in mehr
als 60° Beugung zu einer deutlichen Bewegungseinschränkung führt.
Stadium 1 nach Lichtman Biomechanische Beobachtungen zeigten jedoch, dass die SL Arth-
Immobilisation rodese zu keiner für das Mondbein relevanten Druckentlastung des
Stahl und Kuhlmann berichteten im Jahre 1947 über erste klini- radiolunären Gelenks führt. Auch war zu sehen, dass die Druckver-
sche Ergebnisse der Behandlung der aseptischen Mondbeinne- teilung auf das Kahnbein und somit auf die Fossa scaphoidea zur
krose nach Immobilisation der Hand im Gipsverband. Die Au- Entwicklung einer radioskaphoidalen Arthrose führte.
toren konnten bei 50% der Patienten Schmerzfreiheit und eine
Remission der Erkrankung erzielen. 1977 berichteten Lichtman Skaphoid-Trapezium-Trapezoideum-(STT-)Arthrodese. Eine
et al. über 22 Patienten mit aseptischer Mondbeinnekrose, die im Arthrodese von Skaphoid, Trapezium und Trapezoideum führt zu
Gipsverband behandelt wurden. Siebzehn Patienten zeigten einen einer Druckentlastung des Mondbeins und wirkt somit einem kar-
progressiven karpalen Kollaps und 19 Patienten waren aufgrund palen Höhenverlust entgegen ( Abschn. 29.2.9). Über einen dorsalen
der anhaltenden Schmerzen unzufrieden. S-förmigen Zugang werden die Gelenke zwischen Skaphoid, Trape-
Eine Gipsfixation des Handgelenks mit Einschluss des Dau- zium und Trapezoideum dargestellt und entknorpelt. Je ein Kirsch-
mengrundgelenks kann je nach Schmerzsymptomatik für bis zu ner-Draht wird von dorsal in das Trapezium und das Trapezoideum
6 Monaten durchgeführt werden. Retrospektive Vergleichsstudien eingebracht und nach Reposition des Skaphoids auf 60° Beugung
zwischen konservativer Therapie und Radiusverkürzungsosteoto- vorgetrieben. Die Defekte werden zusätzlich mit Spongiosa aus dem
mie zeigten allerdings deutlich bessere Ergebnisse zugunsten der distalen Radius oder dem vorderen Beckenkamm aufgefüllt. Eine
Radiusverkürzungsosteotomie. Bei symptomatischer aseptischer postoperative Ruhigstellung im Unterarmgips für 6 Wochen und
Mondbeinnekrose wird die konservative Therapie nur noch im die Entfernung der Kirschner-Drähte nach durchbauter Arthrodese
Stadium 1 und im Kindesalter eingesetzt. sind erforderlich. Zusätzlich kann das kollabierte Mondbein entfernt
und durch ein Sehneninterponat ersetzt werden. Die Entfernung
Lunatumanbohrung nach Beck des Processus styloideus radii wird empfohlen, wenn intraoperativ
Wird als Ursache der aspetischen Mondbeinnekrose eine venöse eine Impaktion des Trapeziums bei Radialduktion beobachtet wird.
Abflussstörung angenommen, kann man versuchen durch An- Langzeitstudien zeigten jedoch, dass die Druckverlagerung auf das
bohren des Mondbeins den intraossären Druck zu senken, um Kahnbein und in Folge auf die Fossa scaphoidea des Radius letztend-
eine Verbesserung der Zirkulation zu erzielen. In der Bildgebung lich zur Entwicklung einer radioskaphoidalen Arthrose führte.
konnte bislang allerdings keine Verbesserung der Mondbeindurch-
blutung nachgewiesen werden und auch im längerfristigen Verlauf Druckentlastende Therapieoptionen – Niveauangleichende
wurde das Eintreten eines karpalen Kollaps nicht verhindert. Die Maßnahmen
Schmerzen konnten kurzfristig gelindert werden. Kapitatumverkürzungsosteotomie. Hori et al. (1990) führten
bei Patienten mit Ulna-plus-Variante eine Verkürzung des Kopf-
Stadium 2 nach Lichtman beins durch, um das Mondbein zu entlasten. Dabei wurde eine Re-
Arthroskopisches Débridement duktion der Druckbelastung des Mondbeins auf 66% erreicht. Die
Die zunehmende Erfahrung mit der Handgelenkarthroskopie er- Druckbelastung auf das Skaphotrapezoidalgelenk stieg auf 150%.
möglicht heute auch einen minimalinvasiven Therapieansatz. Vor Als problematisch erwies sich das Auftreten einer avaskulären
allem das arthroskopische Débridement der schmerzverursachen- Nekrose des proximalen Kapitatfragments. Auch wurde über die
den Begleitsynovitis im Stadium 2 hat sich als vorübergehende Entwicklung einer sekundären Arthrose des Skaphotrapezoidalge-
minimalinvasive Maßnahme zur Verbesserung der Schmerzsymp- lenks berichtet.
tomatik bewährt.
Die Mondbeinnekrose im Stadium 2 kann entweder mit druck- Radiusverkürzung- und Ulnaverlängerungsosteotomie. Bei
entlastenden Verfahren oder mit gestielten, lokalen Knochenplasti- der Radiusverkürzung und Ulnaverlängerungsosteotomie werden
ken behandelt werden. die Gelenkkörper von Ulna und Radius im distalen Radioul-
756 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
Metaphysäre Dekompression nach Illarramendi. Einen inte- > Bei bereits eingetretenem Kollaps des Mondbeins kann mit
ressanten Therapieansatz zur Behandlung der Mondbeinnekrose druckentlastenden Verfahren die Progression des Krankheits-
im Frühstadium stellt die Kerndekompression der distalen Radius- verlaufs nicht mehr günstig beeinflusst werden.
30.1 · Allgemeines
757 30
Aspenburg et al. beobachteten, dass die Revaskularisierung zu ei-
ner passager vermehrten Aktivität der Osteoklasten führt und das
Transplantat während seiner Reorganisation biomechanisch ge-
schwächt ist. Sie folgerten, dass in dieser vulnerablen Phase stören-
de Kraftflüsse durch Kraftträger neutralisiert werden sollten, um
einen ungestörten biologischen Heilungsvorgang zu ermöglichen.
Vitalität und Stabilität bilden die beiden entscheidenden Säulen im
Behandlungskonzept der vaskularisierenden Verfahren.
ren, der die Implantation des Knochenspans im Mondbein er- Formung des Transplantats entsprechend der gesamten Ausdeh-
schwert. Der Schwenkradius kann durch partielle Mobilisation des nung des ausgehöhlten Mondbeins. Der Gefäßstiel wird mikro-
Muskelbauchs am ulnaren Ansatz erweitert werden (Kawaii). Rath chirurgisch an die A. ulnaris End-zu-Seit und an die Begleitvenen
erreicht einen ausreichend großen Schwenkradius, indem er den End-zu-End anastomosiert. Durch die Anwendung eines Fixateur
Knochenspan am R. communicans der A. interossea anterior distal externe mit Distraktionsmodul können die während der Heilungs-
gestielt belässt. Technisch anspruchsvoll bleibt das Heben eines phase störend einwirkenden Druckkräfte neutralisiert werden. In
ausreichend großen Knochenspans, das Zurechtformen und stabile einer Langzeitnachuntersuchung zeigte sich, dass die intraoperativ
Einbringen in das ausgehöhlte Mondbein, ohne den Gefäßstiel wiederhergestellte Lunatumhöhe über die durchschnittliche Nach-
dabei zu gefährden. untersuchungszeit von 13 Jahren erhalten und die Progression der
aseptischen Mondbeinnekrose verhindert werden konnte ( Ab-
Lunatumaushöhlung und Transposition eines vaskulari- schn. 9.2.10). Das Verfahren ist indiziert für das Stadium 3a. Bei
sierten palmaren Knochenspans nach Kuhlmann/Mathou- transversalem Frakturverlauf muss der Span ganz im Hinterhorn
lin. Durch Skelettierung des Gefäßstiels und distale Stielung lässt verankert sein. Mit seiner dichten trabekulären Struktur erweist er
sich der Schwenkradius eines vaskularisierten Knochenspans vom sich stabil genug, die über das Kopfbein spaltende Krafteinleitung
30 palmaren distalen Radius erhöhen ( Abschn. 9.2.6). zu kompensieren. Frakturen nahe dem Hinterhorn neigen eher
zur Dislokation und sollten bei Verdacht auf eine verbleibende
Freie gefäßgestielte Revaskularisierungsverfahren Frakturinstabilität zusätzlich von dorsal mitversorgt werden. Eine
Gabl et al. (2002) berichteten über die Ergebnisse eines freien ausreichend vorhandene Restdurchblutung des Hinterhorns ist in
gefäßgestielten Beckenkammtransplantats zur Behandlung einer dieser Situation für die knöcherne Heilung entscheidend.
Mondbeinnekrose im Stadium 3 nach Lichtman. Dabei wird ein
kortikospongiöser Knochenblock gestielt an der A. circumflexa Fortgeschrittenes Stadium 3
ilium profunda aus dem Beckenkamm entnommen (⊡ Abb. 30.11) Im Stadium 3b mit kollabiertem, fragmentiertem Mondbein und
und in das unter Schonung der intrinsischen Bandansätze aus- eingetretener Fehlstellung des Kahnbeins haben sich Rekonstrukti-
gehöhlte Mondbein (⊡ Abb. 30.11) eingepflanzt und stiftfixiert. onsverfahren nicht bewährt. Ab diesem Stadium sind Rettungsein-
Die ausreichend zur Verfügung stehende Spangröße erlaubt eine griffe (»salvage procedures«) indiziert. Die Wahl des Rettungsver-
fahrens richtet sich primär nach dem vorliegenden Knorpelscha-
den am Radius und den in Betracht kommenden Karpalia.
Lunatumexstirpation
Über gute klinische Ergebnisse durch partielle oder komplette
Exzision des Mondbeins wurde vereinzelt berichtet. Die Handge-
lenkschmerzen konnten dabei zwar kurzfristig gelindert, der pro-
gressive Kollaps im Langzeitverlauf aber nicht verhindert werden.
Die Lunatumexzision als alleinige Therapieoption kann aufgrund
des fortschreitenden karpalen Kollaps nicht mehr allgemein emp-
fohlen werden.
⊡ Abb. 30.12 Silikonprothese mit deutlichen de- ⊡ Abb. 30.13 Titanprothese mit DISI- ⊡ Abb. 30.14 Röntgen des Handgelenks 9 Jahre
generativen Gelenkveränderungen, Erweiterung Stellung als Zeichen einer karpalen nach Entfernung der proximalen Handwurzel-
des skapholunären Gelenks und Ulnartranslation Instabilität reihe wegen aseptischer Mondbeinnekrose im
des Karpus Stadium 3b nach Lichtman
760 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
Stadium 4 auftritt, von der juvenilen Lunatummalazie, die sich ab dem 13. Le-
Bei fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen der Fossa lu- bensalter bis zum Schluss der Wachstumsfugen manifestiert. Die
nata, des Kapitatumkopfes mit karpalem Kollaps oder nach erfolg- konservative Behandlung der infantilen Lunatummalazie mit Ru-
loser Rettungsoperation wird die totale Handgelenkarthrodese als higstellung im Gipsverband zeigte durchweg gute klinische und
Ultima Ratio empfohlen. radiologische Verläufe. Langzeitergebnisse von bis zu 21 Jahren
zeigten eine komplette Wiederherstellung der Mondbeinanatomie
Zusätzliche Therapiemaßnahmen und Durchblutung mit asymptomatischen Patienten. Die Dauer
Handgelenkdenervation nach Wilhelm der Immobilisation wird für bis zu 12 Wochen angegeben. Bei
Eine teilweise oder vollständige Denervation des Handgelenks als Patienten ab dem 15. Lebensjahr (juvenile Lunatummalazie) führte
alleinige Therapieoption im fortgeschrittenen Stadium führte zu die konservative Therapie zu keiner klinischen und radiologischen
keiner wesentlichen Besserung der Beschwerden. Als zusätzlicher Verbesserung. Für diese symptomatische Altersgruppe wird primär
Eingriff in Kombination mit anderen Rettungsoperationen kann die die Radiusverkürzungsosteotomie empfohlen. Ist das Mondbein
Denervation zu deutlicher Schmerzreduktion führen ( Kap. 17). frakturiert und kollabiert versuchen wir bei noch offener Wachs-
tumsfuge eine Rekonstruktion mit freiem Femur- oder Beckenspan
30 und Druckentlastung mit einem Fixateur externe.
30.1.7 Therapie
Folgender Algorithmus zur Behandlung der aseptischen Luna- 30.2 Spezielle Techniken
tumnekrose wird von uns, abhängig vom Krankheitsstadium, dem
Ausmaß der vorbestehenden Ulnavarianz und der Abdeckung der 30.2.1 Operationstechnik der
proximalen Lunatumgelenkfläche durch die distale Radiusgelenk- Verkürzungsosteotomie des Radius
fläche (»lunate cover ratio«) praktiziert ( Übersicht).
Die Bedeutung der proximal flächigen Insertion des Lig. radio car-
peum dorsale in Bezug auf die Osteotomiehöhe am Radius wurde
Von den Autoren bevorzugtes therapeutisches Vorgehen vielfach diskutiert. Eine Osteotomie mit Verkürzung würde zu
bei vorliegender Lunatumnekrose vermehrter Zugbelastung auf das Os triquetrum führen und dieses
▬ Stadium 1: gegen das Os lunatum pressen. Somit führt diese Osteotomie zu kei-
– Konservativ: Gipsfixation für maximal 6 Monate ner Entlastung, sondern eher zu einer Kompression des Mondbeins.
– Operativ: arthroskopische Synovektomie, Kerndekompres- Das zusätzliche periostale Ablösen des Lig. radio carpeum dorsale
sion nach Illirramendi kann zur Entlastung des Mondbeins führen. Eine Verschiebung des
▬ Stadium 2: Dreieckbeins nach distal wird dadurch erleichtert. Die beugeseiti-
– Ulna-minus-Variante: gen Bandstrukturen werden dadurch jedoch nicht entlastet und der
– Radiusverkürzungsosteotomie bei normaler »lunate cover Druck über den Ellenkopf und TFCC auf das ulnar überstehende
ratio« Mondbein kann sich theoretisch erhöhen. Das Ausmaß der Resekti-
– Ulna-Null-Variante: on scheint dabei entscheidend zu sein (⊡ Abb. 30.15a).
– Laterale schließende Radiusosteotomie bei Ulnarshift Die Operation erfolgt in Rückenlage mit ausgelagertem Arm
(»lunate cover ratio«) und angelegter Oberarmblutleere. Die dorsale Darstellung des Kar-
– Vaskularisierter Knochenspan nach Moran oder Kuhl- pus erfolgt analog zu den in Abschn. 29.2.2 beschriebenen Opera-
mann ohne Ulnarshift tionsschritten. Nach Darstellung und Schonung des R. superficialis
▬ Stadium 3a: N. radialis wird zwischen den Sehnen des M. extensor carpi radialis
– Freier Beckenspan und Fixateur externe und des M. extensor digitorum communis eingegangen, das distale
▬ Stadium 3b: Radiusende und die Membrana interossei, auf welcher der N. inte-
– Ohne Knorpelschaden in der Fossa lunata und Kapitatum- rosseus superior verläuft, werden dargestellt und der N. interosseus
kopf: Entfernung der proximalen Handwurzelreihe dorsalis reseziert (Denervationseffekt). In Folge kann ein dorso-
– Mit Knorpelschaden radiokarpal und ohne Knorpel- radialer Kapselperiostlappen mit Ablösen des Lig. radiocarpeum
schaden mediokarpal: radioskapholunäre Arthrodese dorsale und der Membrana interossea bis 1 cm proximal der Ge-
– Mit degenerativen Veränderungen radiokarpal und medio- lenkkapsel gebildet werden (⊡ Abb. 30.15b). Nach Markierung der
karpal: totale Handgelenkarthrodese Osteotomiestelle wird das gewählte Implantat proximal und distal
▬ Stadium 4: über Kompressionsgleitlöcher zunächst unikortikal achsengerecht
– Totale Handgelenkarthrodese positioniert. Danach wird das Implantat wieder entfernt und eine
hitzearme quere Osteotomie des Radius durchgeführt. In die Pla-
nung der Korrektur muss der Verschnitt durch die Sägeblattdicke
einbezogen werden. Nach Entfernen des Resektats erfolgt die Stabi-
30.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter lisierung durch das Implantat über die vorgelegten Bohrlöcher und
durch exzentrische Schraubenbesetzung. Durch die Verwendung
Aseptische Mondbeinnekrosen im Wachstumsalter sind selten. Da neuer winkelstabiler Implantate ist eine bessere Rotationsstabilität
diese Erkrankung im Wachstumsalter eine günstigere Prognose zu erzielen. Viele Systeme erlauben auch eine weichteilschonendere
und kaum eine Tendenz zur Progression aufweist, sollte von einer palmare Plattenlage. In diesem Fall wäre ein limitierter dorsaler
anderen Erkrankungsform, einer Mondbeinmalazie, ausgegangen Zugang zum Kapsel-Band-Apparat möglich. Der Spongiosaanteil
werden. Es liegt eine Erweichung des Mondbeins, aber keine Kno- des entnommenen Resektates wird angelagert. Auf eine korrekte
chennekrose vor. Irisarri et al. (2010) unterscheiden die infantile Achsenstellung und Korrektur der Länge im DRUG ist zu achten
Lunatummalazie, welche bis zu einem Lebensalter von 12 Jahren und eine intraoperative Bildwandlerkontrolle ist erforderlich. Eine
30.2 · Spezielle Techniken
761 30
Os capitatum Os lunatum
Os scaphoideum
M. extensor digitorum
Radius
⊡ Abb. 30.15 Schema der Operationsschritte der Verkürzungsosteotomie am Radius zur Dekompression des Os lunatum. a Prinzip der Dekompression des
Os lunatum durch Radiusverkürzungsosteotomie. Die Osteotomie im Metaphysenbereich hat im Vergleich zur Osteotomie im Diaphysenbereich eine gerin-
gere Komplikationsrate hinsichtlich der Knochenheilung. b Bilden eines dorsoradialen Kapselperiostverschiebelappens unter Ablösung des Lig. radiocarpeum
dorsale. c Klassische Osteosynthese mit herkömmlicher DC-Platte. Erhöhte Rotationsstabilität und geringere Weichteilirritation können bei Verwendung neuer
winkelstabiler Implantatsysteme mit optionaler dorsaler oder palmarer Plattenlage erzielt werden. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Ruhigstellung des Handgelenks im Gipsverband für 3-5 Wochen in Nach Eröffnen der Loge Guyon und Darstellen des ulnaren
Abhängigkeit von den verwendeten Implantatsystemen ist empfeh- Gefäß-Nerven-Bündels wird das in der Tiefe liegende Retinacu-
lenswert (⊡ Abb. 30.15c). lum flexorum unter Schonung sämtlicher anderer Arterienäste
durchtrennt und nach radial umgeschlagen. Nach Verlagerung
der Beugesehnen auf die radiale Seite des Canalis carpi wird der
30.2.2 Technik der Entnahme des gestielten palmare Kapsel-Band-Apparat über dem Mondbein eröffnet. Mit
vaskularisierten Knochenspans vom einer feinen Luer-Zange und einer Fräse wird das nekrotische
4./5. Extensorkompartment nach Moran Knochengewebe unter Schonung der kortikalen Strukturen des
Mondbeins und der intrinsischen Bandansätze entfernt. Eine
Die Operation erfolgt in Rückenlage, der Arm ist auf einem Arm- intraoperative Bildwandlerkontrolle zur Beurteilung des Débri-
tisch ausgelagert. Eine Oberarmblutsperre wird angelegt. Nach An- dements ist empfehlenswert. Das Os pisiforme wird unter Lupen-
zeichnen des dorsalen geraden oder geschwungenen Hautschnit- brillenvergrößerung präpariert und sein Gefäßbündel am Abgang
tes wird das Retinaculum extensorum Z-förmig eröffnet und die aus dem R. carpalis dorsalis oder aus der A. ulnaris bis zum
Sehnen des 4. und 5. Streckerfachs retrahiert und die Gefäße am Knocheneintritt zunächst dargestellt. Anschließend wird das Os
Boden der Strecksehnenfächer identifiziert. Gemeinsam mit der pisiforme an seiner proximalen, ulnaren und distalen Seite von
5. Extensorkompartmentarterie kann die 4. Extensorkompartmen- den Ansätzen des M. flexor carpi ulnaris und des M. abductor
tarterie distal gestielt an der A. interossea posterior mit einem digiti minimi zusammen mit den Ligg. pisohamatum und piso-
Knochenspan gehoben werden. Die Hebestelle des Transplantats metacarpale abgelöst. Jetzt kann das Os pisiforme von ulnar mo-
wird 10 mm proximal des Radiokarpalgelenks markiert. Die A. in- bilisiert und unter dem N. ulnaris, an seinem Gefäßstiel hängend,
terossea posterior wird proximal ligiert, das durch retrograden in das ausgehöhlte Lunatum geschwenkt werden (⊡ Abb. 30.16c).
Blutfluss versorgte Transplantat vom dorsalen Radius gehoben Die Form des Erbsenbeins wird mit einer Luer-Zange an den
und in das ausgehöhlte Mondbein eingepflanzt. Bei Bedarf kann zuvor präparierten Hohlraum des Mondbeins angepasst, be-
zusätzlich noch Radiusspongiosa gewonnen werden. Vorteil dieser vor es in den Knochendefekt eingepresst wird. Der Gefäßstiel
Methode ist die Notwendigkeit einer einzigen dorsalen Inzision darf dabei nicht torquiert werden (⊡ Abb. 30.16d). Bis zum Ab-
unter Schonung der wichtigen palmaren karpalen Bänder. schluss der Knochenheilung empfiehlt sich eine Fixierung des
Os pisiforme im Lunatum mit Kirschner-Drähten. Die Sehne des
M. flexor carpi ulnaris wird mit dem Ursprung des M. abductor
30.2.3 Technik der Entnahme des palmaren digiti minimi und den Ligg. pisohamatum und pisometacar-
vaskularisierten Knochenspans nach pale adaptiert. Nach Einlage einer Redon-Drainage erfolgt der
Kuhlmann/Mathoulin Abschn. 9.2.3 Wundverschluss.
Postoperativ wird die Hand in einem gespaltenen Unterarmgips
30.2.4 Technik des Os-pisiforme-Transfers nach Beck für 6 Wochen ruhiggestellt. Nach Entfernung der Kirschner-Drähte
sind krankengymnastische Behandlungen empfehlenswert. Es ist
Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Ober- nur eine belastungsfreie Mobilisation der Hand bis zu 3 Monaten
armblutleere. Als Zugang wird ein S-förmiger Schnitt gewählt, der erlaubt, da in diesem Zeitraum durch Knochenumbauvorgänge
zunächst in der Linea vitalis verläuft, auf Höhe der Rascetta quer und damit eine verminderte Stabilität eine erhöhte Frakturgefahr
nach ulnar geführt wird und schließlich entlang dem FCU nach besteht. Starke manuelle Belastung oder sportliche Aktivitäten mit
proximal auf den Unterarm hin ausläuft (⊡ Abb. 30.16a). der Hand sollten bis zum 6. Monat vermieden werden.
762 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
30
Os pisiforme
c
Tendo m. flexoris
carpi ulnaris
R. cubitodorsalis
b
72% 24% 4% d
⊡ Abb. 30.16 Os-pisiforme-Lappenplastik nach Beck zur Neovaskularisierung des Os lunatum bei Lunatummalazie im Stadium 2. a Anatomie und Lappen-
planung, b Variationen des R. carpalis dorsalis (sog. R. ulnodorsalis) der A. ulnaris und seiner Äste, c Zustand nach Lappenhebung, d intraossäre Transposition
nach Beck
30.2 · Spezielle Techniken
763 30
30.2.5 Technik der Entnahme des freien Unter Längszug wird das Radiokarpalgelenk aufgeweitet
vaskularisierten Knochentransplantats (⊡ Abb. 30.17a). Mit einem (Lambotte-) Meißel erfolgt die kontur-
vom medialen Kondylus nach Masquelet gerechte Entknorpelung unter Mitnahme der subchondralen Kno-
Abschn. 9.2.8 chenlamelle von Radius, Skaphoid und Lunatum. Zur Verbesse-
rung der Ulnar- und Radialabduktion kann das distale Viertel des
30.2.6 Technik der Entnahme des freien Os scaphoideum reseziert werden. Für die RSL-Arthrodese ist eine
mikrovaskulären vorderen Spongiosaplastik dringend angeraten. Das dafür erforderliche Kno-
Beckenkammspans nach Taylor Abschn. 9.2.8 chentransplantat kann vom Beckenkamm ( Abschn. 9.2.1) oder aus
dem distalen Radius gewonnen werden. Für die Osteosynthese ste-
30.2.7 Skaphoid-Trapezium-Trapezoideum-(STT-) hen mehrere Verfahren zur Auswahl. Klassischerweise erfolgt eine
Arthrodese Abschn. 29.2.7 Kirschner-Draht-Osteosynthese. Hierzu werden zwei 1,6 mm dicke
Kirschner-Drähte vom Tuberculum Listeri des Radius eingebracht,
30.2.8 Skaphokapitäre (SC-) Arthrodese bis deren Spitzen an der entknorpelten Radiusgelenkfläche gerade
Abschn. 29.2.10 sichtbar werden (⊡ Abb. 30.17b). Nach Anlage der Spongiosaplastik
werden beide Kirschner-Drähte in Neutralstellung des Handge-
30.2.9 Radioskapholunäre (RSL-) Arthrodese lenks nach distal in das Kahn- und Mondbein vorgetrieben. Be-
steht eine karpale Gefügestörung, müssen Lunatum und Skaphoid
Die Operation erfolgt in Rückenlage, der Arm ist auf einem Arm- jeweils mithilfe eines von dorsal eingebrachten Kirschner-Drahts
tisch ausgelagert. Eine Oberarmblutleere wird angelegt. Die dorsale (»Joystick-Technik«) reponiert und temporär stiftfixiert werden.
Darstellung des Karpus erfolgt analog zu den in Abschn. 29.2.2 Die restliche Spongiosa wird noch angelagert und ein anatomi-
beschriebenen Operationsschritten. scher Kapselverschluss durchgeführt (⊡ Abb. 30.17c). Die weiteren
b
⊡ Abb. 30.17 Technik der radioskapho-
lunären Arthrodese. a Unter Längszug
Aufweiten des Radiokarpalgelenks und
konturgerechte Entknorpelung von
Radius, Skaphoid und Lunatum mit
dem (Lambotte-) Meißel bis auf spon-
giösen Knochen. b Einbringen von zwei
1,6 mm dicken Kirschner-Drähten vom
Tuberculum Listeri des Radius in Rich-
tung Skaphoid und Lunatum. c Nach
Einpressen von spongiösem Knochen,
Durchführung der Osteosynthese in
Neutralstellung des Handgelenks. d Bei
Ulna-plus-Stellung und ausgedehnter
Nekrose ist die Interposition eines
d kortikospongiösen Knochenspans vom
vorderen Beckenkamm indiziert. (Aus
c Prommersberger et al. 2003)
764 Kapitel 30 · Idiopatische Mondbeinnekrose
operativen Schritte entsprechen dem Verfahren in Abschn. 29.2.2. einem kortikospongiösen Beckenkammspan überbrückt und ent-
Zur Verminderung der Rate an Pseudarthrosen hat sich auch weder mit Kirschner-Drähten oder einer Osteosyntheseplatte fixiert
der Einsatz neuer Implantatsysteme bewährt. (⊡ Abb. 30.18c). Die weiteren operativen Schritte entsprechen dem
Bei Ulna-plus-Stellung oder Vorliegen einer kompletten Mond- Verfahren in Abschn. 9.2.2. Die Ruhigstellung erfolgt nach Ab-
beinnekrose ist zur besseren Durchbauung der Arthrodese die schwellung im zirkulären Skaphoidgips für insgesamt 6–8 Wochen.
Interposition eines kortikospongiösen Knochenspans vom vorde- Nach guter knöcherner Durchbauung kann mit einer intensiven
ren Beckenkamm ( Abschn. 9.2.1) indiziert. Zur Schaffung glatter krankengymnastischen Nachbehandlung begonnen werden.
spongiöser Flächen am Radius, Skaphoid und Lunatum haben sich
der Lambotte-Meißel oder die Minisäge bewährt (⊡ Abb. 30.17d).
30.2.11 Technik der Kallusdistraktion des Os
capitatum
30.2.10 Operation nach Graner II
Die operativen Schritte entsprechen jenen der Interkarpalarthrodese
Die dorsale Darstellung des Karpus erfolgt analog zu den in Ab- nach Graner II bis zur Resektion des frakturierten und nekrotischen
30 schn. 29.2.2 beschriebenen Operationsschritten. Die Gelenkkapsel Os lunatum. Wird eine Kallusdistraktion des Os capitatum durch-
wird vollständig vom darunter liegenden Lunatum abpräpariert. Der geführt, werden nach Markierung der Osteotomiehöhe beiderseits
Knochen des Os capitatums wird nur auf einem dünnen Streifen 2 Vorbohrungen mit einem 1,0-mm-Kirschner-Draht für die später
freigelegt, um die dorsale Blutversorgung möglichst wenig zu beein- einzubringenden selbstschneidenden Steinmann-Nägel (1,6 mm)
trächtigen. Zur besseren Darstellung des Skaphoids wird eine quere unter direkter Sicht plaziert. Im distalen Kapitatumpol kann nur ein
Kapselinzision etwas distal der dorsalen Radiuskante durchgeführt; Steinmann-Nagel eingebracht werden, der zweite wird in der Basis
die Kapselinzision erhält somit ein L-förmiges Aussehen. Unter di- des Metakarpale III gesetzt. Aufgrund des amphiarthrotischen Cha-
rekter Sicht kann die Position des Skaphoids kontrolliert und evtl. rakters der CMC-III-Gelenke sind keine Nagellockerungen zu er-
korrigiert werden. Um die Karpushöhe zu erhalten, sollte das Ska- warten. Nun werden 4 seperate Stichinzisionen in der Handrücken-
phoid in seine anatomische Position in Neutralstellung zu liegen haut angelegt, die Steinmann-Nägel hindurchgeführt und an den
kommen. Im Rahmen der Kallusdistraktion wird dashalb eine tempo- Strecksehnen vorbei in die Vorbohrungen eingebracht. Die selbst-
räre perkutane Kirschner-Draht-Fixierung (1,0 mm) von Kahn- und schneidenden Steinmann-Nägel müssen die dorsale und palmare
Kopfbein oder Skaphoid-Trapezium-Trapezoideum durchgeführt. Kortikalis sicher fassen. Die Osteotomie erfolgt im Übergang vom
Anschließend wird das Os lunatum unter Schonung der Ge- mittleren zum distalen Drittel. Eine intraoperative Röntgenkontrolle
lenkflächen des distalen Radius und des Os capitatum exstirpiert ist empfehlenswert. Ein dichter Kapselschluss muss erreicht werden,
(⊡ Abb. 30.18a). Nur bei guten Knorpelverhältnissen können die um das Frakturhämatom möglichst zu konzentrieren und eine Inter-
Graner-II-Operation und ihre Varianten durchgeführt werden. Die position von Weichteilgewebe zu verhindern. Nach Rekonstruktion
Auswahl der optimalen Osteotomiestelle erfolgt unter Berücksich- des Retinaculum extensorum wird nach vorhergehender Funkti-
tigung der extra- und intraossären Blutversorgung. Die Osteotomie onskontrolle der Distraktor montiert. Um Weichteilkomplikationen
wird am Übergang vom mittleren zum distalen Kapitatumdrittel vorzubeugen, ist auf einen ausreichenden Abstand zur Oberfläche zu
durchgeführt. Hierbei ist darauf zu achten, dass die palmaren Band- achten, wobei die postoperative Schwellung einzubeziehen ist. Post-
verbindungen zum proximalen Anteil des Os capitatum erhalten operativ wird die Hand auf einer palmaren Unterarmschiene mit ei-
bleiben. In der Orginaltechnik nach Graner II wird durch einzeitige ner Handgelenkstreckung von etwa 20° für 7–10 Tage ruhiggestellt.
Distraktion der proximale Kapitatumpol an die Stelle des extrahier- Während dieser Prädistraktionsphase bildet sich Kallusgewebe.
ten Mondbeines verlagert (⊡ Abb. 30.18b). Der entstehende Defekt Bei einem Distraktionsbeginn vor dem 7. postoperativen Tag besteht
zwischen dem proximalen und distalen Kapitatumpol wird mit das Risiko einer ungenügenden Regeneratbildung, bei späterem Dis-
a b c
⊡ Abb. 30.18 Technik der Interkarpalarthrodese nach Graner II. a Präoperativer Befund des nekrotischen und deformierten Os lunatum. b Resektion des nekro-
tischen Mondbeins und Ersatz durch das osteotomierte Kapitatum. Die Lücke zwischen dem neugebildeten Mondbein und dem Kapitatum wird mit Spongiosa
oder einem kortikospongiösen Span aus dem vorderen Beckenkamm aufgefüllt. c Osteosynthese mit Minifragmentsystem. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
30.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
765 30
traktionsbeginn kann eine partielle knöcherne Durchbauung eine
Verlängerung verhindern. Die progressive Kapitatumverlängerung
erfolgt fraktioniert (2-mal 0,5 mm) mit einer Distraktionsgeschwin-
digkeit von 1 mm pro Tag. Die Verlängerung kann entweder durch
den Patienten selbst oder den Hausarzt durchgeführt werden. Bei
starken Schmerzen, Hautischämie oder Entzündungszeichen muss
die Distraktion verlangsamt werden und der Patient sich umgehend
vorstellen. Bei komplikationslosem Verlauf ist eine wöchentliche
Kontrolluntersuchung oft ausreichend. Die gewünschte Distrakti-
onslänge ist erreicht, wenn sich die Gelenkfläche des proximalen
Kapitatumpols röntgenologisch harmonisch in die proximale Ge-
lenkfläche der ersten Karpalreihe einfügt. Während der gesamten
Distraktionsphase wird der Patient angeleitet, krankengymnastische
Übungen zur Erhaltung der Fingerbeweglichkeit durchzuführen.
Die sich anschließende Konsolidierungsphase dauert 2- bis 3-mal
so lange wie die Distraktionsphase. Zur Verringerung möglicher
a Weichteilkomplikationen kann der externe Distraktor durch 2 per-
kutan eingebrachte Kirschner-Drähte (1,2 mm), welche Triquetrum,
proximalen Kapitatumpol und Skaophoid stabilisieren, ersetzt wer-
den. Die palmare Unterarmschiene mit Handgelenkextension von
20° wird bis zur Entfernung der Kirschner-Drähte getragen, um Ext-
rembewegungen zu vermeiden. Das Ende der Konsolidierungsphase
ist erreicht, wenn röntgenologisch gerichtete Trabekelstrukturen im
Distraktionsbereich zu sehen sind. Nach ambulant chirurgischer
Entfernung der Kirschner-Drähte wird eine intensive krankengym-
nastische Übungsbehandlung 1- bis 2-mal täglich für 4–6 Wochen
(Rehabilitationsphase) angeschlossen (⊡ Abb. 30.19).
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31.1 Allgemeines im Mittelpunkt des Interesses. Neben der Flexion und Extension
sowie Ulna- und Radialduktion stellen die Pronation und Supina-
Die Erstbeschreibung der distalen Radisufraktur in loco typico tion des Unterarms in ihrer Kombination die hohe Mobilität der
geht auf den französischen Chirurgen Clause Pouteau (1725–1775) Hand in ihrem täglichen Gebrauch sicher. Diese Bewegungsmuster
zurück. Typischerweise wird der irische Chirurg und Anatom Abra- müssen unabhängig von der Gewichtsbelastung sowohl für die
ham Colles (1773–1843), der erst im Jahre 1814 im »Medical Jour- grobe Kraft wie auch für die Feinmotorik erhalten bleiben.
nal« einen Artikel über Frakturen des distalen Radius veröffentlich- Obwohl im Schrifttum meist nur von der distalen Radiusfrak-
te, in der Literatur häufiger zitiert, da die französische Literatur – tur gesprochen wird, ist bei diesen Verletzungen immer die gesamte
unglücklicherweise für die gesamte Handchirurgie – im deutschen radioulnare Funktionseinheit, d. h. Radius, Ulna, distales Radioul-
und angloamerikanischen Sprachraum relativ unbekannt ist. nargelenk (DRUG), die proximale Handwurzelreihe, die Memb-
rana interossea und das proximales Radioulnargelenk (PRUG) in
unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Deshalb erscheint es uns
31.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und richtiger, anstatt von einer distalen Radiusfraktur, von einer dis-
Physiologie talen Verletzung der radioulnaren Funktionseinheit (⊡ Abb. 31.1)
bzw. von einer distalen Unterarmfraktur zu sprechen.
Konzept der distalen radioulnaren Funktionseinheit Die Kenntnis der speziellen Anatomie ist Voraussetzung für
Der distale Radius kann nicht als isolierter Knochen betrachtet das Verständnis pathologischer Veränderungen. Bei der distalen
31 werden. Vielmehr steht die funktionelle Einheit des Handgelenks Radiusfraktur umfasst dies den Entstehungsmechanismus des
c
a
⊡ Abb. 31.1 Die radioulnare Funktionseinheit. a Übersicht, b Detailansicht im distalen Bereich. c Die Gelenkfläche des distalen Radius ist bikonkav, die Gelenk-
facetten zum Os scaphoideum und Os lunatum sind konkav in d.p. Richtung und in radioulnarer Richtung. (Aus Weinberg u.Tscherne 2006 [a, b]; Oestern 1999 [c])
31.1 · Allgemeines
771 31
Knochenbruchs selbst, die möglichen Mechanismen einer sekun- sehnenfächer. Die Crista listeri ist osteofibrös ausgebildet und gut
dären Dislokation sowie das Auftreten von Begleitverletzungen. tastbar. Diese dient als Hypomochlion für die Umlenkung der Seh-
Bei mangelnder Rekonstruktion, also bei nicht wiederhergestellten ne des Extensor pollicis longus.
anatomischen Verhältnissen ist mit sekundären Verletzungsfolgen
und damit Funktionseinbußen zu rechnen. Neben den theore- Kapsel-Band-Strukturen
tischen Betrachtungen stellt auch hier die umfassende Kenntnis Um eine geführte Stabilität der Handgelenkbeweglichkeit in allen
der Anatomie die Basis für die chirurgische Vorgehensweise, die Lagen gewährleisten zu können, verfügt das Handgelenk über
Wahl des operativen Zugangs wie auch zur Vermeidung iatrogener palmare sowie dorsale oberflächliche und tiefe Bandstrukturen.
Läsionen dar. Diese können im Gefolge einer Fraktur gedehnt werden, rupturie-
ren oder mit einem knöchernen Fragment ausreißen ( Kap. 28).
Knöcherne Strukturen Zur Stabilisation des distalen Radioulnargelenks finden sich neben
Der distale Radius, die proximale Karpalreihe sowie die distale dem TFCC (»triangular fibrocartilaginous complex«), welcher ein
Ulna bestimmen die drei entscheidenden knöchernen Strukturen ulnares Auslaufen der Radiusgelenkfläche darstellt ( Kap. 34). Der
des Handgelenks. Diese bilden das Radiokarpalgelenk, das distale gesamte Kapsel-Band-Apparat ermöglicht die geführte Bewegung
Radioulnargelenk und den karpoulnaren Raum. Die Radiusge- des Handgelenks bei gleichzeitigem Verhindern eines Abrutschens
lenkfläche unterteilt sich in eine Fossa scaphoidea sowie eine Fossa oder Luxierens der Handwurzelknochen.
lunata. Diese beiden Gelenkoberflächen werden in dorsopalmarer
Richtung durch den Radiusfirst getrennt. Somit entstehen eigene Sehnen
Gelenkschalen für das Skaphoid und das Lunatum. Die dritte Funktionell unterscheidet man zwei Gruppen von Sehnen: Dies
knorpelig überzogene Gelenkfläche stellt den radialen und ulnaren sind einerseits die Handgelenkstrecker und die Handgelenkbeuger
Anteil des distalen Radioulnargelenks dar. Diese wird als »sigmoid sowie die Strecksehnen und Beugesehnen der Finger. Erstere be-
notch« bezeichnet. inhalten die Sehnen des M. extensor carpi ulnaris sowie extensor
Betrachtet man die Fossa scaphoidea sowie die Fossa lunata carpi radialis longus et brevis am dorsalen Handgelenk und die
von lateral, so fällt eine deutlich erkennbare Schüsselform auf. Der Sehnen des M. flexor carpi ulnaris sowie flexor carpi radialis am
Boden der Gelenkfläche liegt hierbei proximal der palmaren und palmaren Handgelenk. Diese Sehnen haben neben der Zuständig-
dorsalen Begrenzungen des Radius. Dies kann die Ursache für eine keit für die Handgelenkbeweglichkeit eine stützende bzw. stabilisie-
ungewollte Schraubenpenetration in das Gelenk bei jedweder Os- rende Funktion für das Radiokarpalgelenk. Bei einem Sturz auf das
teosynthese sein (⊡ Abb. 31.1c). hyperextendierte Handgelenk wirken die Handgelenkbeuger im
Die distale Gelenkfläche weist im Mittel eine palmare Inklina- Moment ihrer maximalen Überstreckung als palmare Zuggurtung
tion von 14° (11–15°) sowie eine radioulnare Inklination von 22° und Tragen somit ihrerseits zu einer Überlastungsstauchung der
(10–25°) auf (⊡ Abb. 31.2). dorsalen Kortikalis bei. Während der Ausheilungsphase einer dis-
Radiologisch wird dieser Sachverhalt durch die sog. Böhler- talen Radiusfraktur muss der Spontantonus dieser Muskelgruppen
Winkel beschrieben. Die Spitze des Processus styloideus radii mit berücksichtigt werden. Die den Handgelenkspalt kreuzenden,
projeziert sich 10–12 mm distal der Gelenkoberfläche an ihrem stabilisierenden Sehnen können bei inadäquater Gipsimmobilisati-
tiefsten Punkt. Betrachtet man die Oberfläche des distalen Radius on eine sekundäre Dislokation der Fraktur erklären.
außerhalb der Gelenkflächen, so findet sich palmar eine relativ pla- Die zweite Gruppen stellen die Beugesehnen sowie Streckseh-
ne Knochenoberfläche, welche ca. 1,5–2 cm proximal des Gelenk- nen der Finger dar. Auch diese Sehnen können im Rahmen ihrer
spalts aus der Ebene des Radiusschafts nach palmar inkliniert. Im Funktion sowie bei Übungsbehandlungen zu ungünstigen Kraft-
Bereich des Processus styloideus radii geht der Knochen in einen übertragungen und somit einer sekundären Dislokation führen.
fibrösen Kanal über und bildet die Begrenzung des 1. Streckseh- Die Beugesehnen verlaufen palmar vom Unterarm entlang des
nenfachs. Dorsal erhebt sich etwas ulnarseitig der Mittellinie eine Radius bis in den Karpalkanal und dann weiter nach distal in ihren
ähnliche fibroossäre Längsfalte. Diese dient als Anheftungsstelle Sehnenscheiden. Im Rahmen der distalen Radiusfraktur sowie
des Retinaculum extensorum zur Schaffung der weiteren Streck- ihrer Versorgung spielen sie aufgrund der guten Weichteildeckung
a b c
⊡ Abb. 31.2 Vermessung des distalen Radius. a Bestimmung der Radiuslänge, b Bestimmung des Radiuswinkels, c Bestimmung des palmaren Neigungswin-
kels. (Aus Schmidt Neuerburg 2001)
772 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
a b
⊡ Abb. 31.4 Biomechanische Entwicklung einer metaphysären Fraktur durch Sturz auf die ausgestreckte Hand. a,b Mechanismus einer volaren Abscherfrak-
tur (B3) durch Sturz auf die flektierte Hand. (Aus Oestern 1999)
774 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
Unfallmechanismus
Klinischer Aspekt
Untersuchung
a b c
⊡ Abb. 31.7 Vergleich der Darstellung einer intraartikulären Fraktur im konventionellen Röntgen, der Computertomografie und der 3D-Rekonstruktion.
a Intraartikuläre Mehrfragmentfraktur mit dorsaler Trümmerzone. b In der Dünnschicht CT zeigt sich das Ausmaß der Gelenkzerstörung, der metaphysäre
Substanzdefekt sowie die dorsale Instabilität. c In der 3D-Rekonstruktion können die einzelnen Fragmente in ihrer Lagebeziehung beurteilt werden
776 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
31
Der Stellenwert der Kernspintomografie ist noch unklar. Hilf- schen Verfahren. Schnittbildverfahren wie die Computertomogra-
reich ist diese jedoch bei der Darstellung von Weichteilverletzungen fie können ergänzend mit herangezogen werden. Eine Frakturklas-
und Begleitverletzungen sowie zum Auffinden okkulter Frakturen sifikation ist der schwierige Versuch, die einzelnen Knochenbruch-
oder zur Analyse osteochondraler Läsionen. Bei rein spongiöser typen gemäß ihrer Morphologie in Haupt- und Untergruppen
Infraktion im Sinne eines »bone bruise« kann diese als Knochen- einzuteilen und damit zu definieren und vergleichbar zu machen.
ödem nachgewiesen werden (⊡ Abb. 31.8). Es ergibt sich hieraus Diese Vergleichbarkeit wird benötigt, um Therapieergebnisse im
zwar keine therapeutische Konsequenz, mögliche Beschwerden des klinischen Alltag, wie auch im Rahmen von Studien adäquat
Patienten können allerdings verifiziert werden. gegenüberstellen und bewerten zu können. Daraus ergeben sich
Therapieempfehlungen im Einzelnen oder auch ganze Therapieal-
Arthroskopie gorithmen. Distale Radiusfrakturen können nach mehreren Krite-
Die in den letzten Jahren auch bei der akuten Versorgung von rien eingeteilt werden:
Verletzungen des distalen Radius eingesetzte Arthroskopie erlaubt ▬ Name des Erstbeschreibers,
unter erhöhtem Aufwand die Entfernung freier Knochen-Knorpel- ▬ Mechanismus der Verletzung,
Fragmente, die Kontrolle intraartikulärer Frakturen und des Repo- ▬ Richtung der Dislokation,
sitionsergebnisses, die Erkennung frischer oder degenerativer Lä- ▬ Röntgenbefund oder Dislokationsgrad (AO-Klassifikation),
sionen des Discus triangularis und Läsionen mit Instabilitäten des ▬ Gelenkbeteiligung (Klassifikation nach Melone),
intrinsischen karpalen Bandapparats. Bei bestimmten Verletzungs- ▬ Mitbeteiligung des distalen Radioulnargelenks (Klassifikation
mustern (intraartikulären Mehrfragmentbrüchen mit assoziierten nach Frykman).
karpalen und ulnokarpalen Begleitverletzungen) erlaubt somit die
bei der definitiven Versorgung dieser Verletzung durchgeführte Name des Erstbeschreibers
Handgelenkarthroskopie neben diagnostischen auch therapeuti- Die Frakturen des distalen Radius wurden früher lediglich mit
sche minimalinvasive Verfahren ( Kap. 13). Eigennamen (Eponymen) belegt (⊡ Tab. 31.1). Bei der Vielzahl der
möglichen Frakturformen im Bereich des distalen Radius ist eine
derartige Klassifikation auf lange Sicht nicht möglich.
31.1.5 Klassifikation
Mechanismus der Verletzung Abschn. 31.1.3
Für die Klassifikation der distalen Radiusfraktur finden sich in der Richtung der Dislokation
Literatur etwa 40 zum Teil sehr unterschiedliche Vorschläge. Diese Die einfachste Unterteilung der distalen Radiusfraktur ist die nach
stützen sich primär auf die bekannten konventionellen radiologi- der Richtung ihrer Dislokation. Die sogenannte Colles-Fraktur
31.1 · Allgemeines
777 31
⊡ Abb. 31.11 Klassifikation nach Frykman. Unterschieden werden extraartikuläre Frakturen (Typ I und II) und intraartikuläre Frakturen (Typ III, Typ IV). Die Klassi-
fikation erfolgt nach extra- und intraartikulären Frakturverlauf und dem zusätzlichen Abriss des Proc. styloideus ulnae. Obere Reihe (ohne Fraktur des Proc. Sty-
loideus ulanae): Typ I Radius extraartikulär ohne Fraktur des Proc. styloideus ulnae; Typ III Radius intraartikulär ohne Fraktur des Proc. Styloideus; Typ V distales
Radioulnargelenk ohne Fraktur des Proc. styloideus ulnae; Typ VII radiokarpal und DRUG ohne Fraktur des Proc. styloideus ulnae. Untere Reihe (mit Fraktur des
Proc. styloideus ulane): Typ II Radius extraartikulär mit Fraktur des Proc. styloideus ulnae; Typ IV Radius intraartikulär mit Fraktur des Proc. styloideus; Typ VI dista-
les Radioulnargelenk mit Fraktur des Proc. styloideus ulnae; Typ VIII radiokarpal und DRUG mit Fraktur des Proc. styloideus ulnae
31.1 · Allgemeines
779 31
⊡ Tab. 31.3 Universelle Klassifikation der Frakturen des distalen Radius nach Gartland und Werley mit dazugehörigem Therapiealgorithmus
Typ I Extraartikuläre, nicht dislozierte und stabile Frakturen Gips oder Schiene
Typ III Intraartikuläre, nicht dislozierte und stabile Frakturen Gips und ggf. perkutane Spickung
Typ IVa Intraartikuläre, dislozierte Frakturen, welche nach der Reposition Geschlossene Reposition
als stabil gelten Gips, ggf. Drähte
⊡ Abb. 31.12 Klassifikation intraartikulärer Radiusfrakturen nach Melone. Am häufigsten werden am distalen Radius 4 Fragmentlokalisationen angetroffen:
1 Fragment des Radiusschaftes, 2 Fragment des Proc. styloideus radii das auch die Fossa scaphoides trägt, 3 Fragment der palmaren Fossa lunata, 4 Fragment
der dorsalen Fossa lunata
welche disloziert oder komprimiert sein können. Die grundlegenden ▬ Unter Typ IV werden Brüche der Gelenkfläche mit Rotations-
Komponenten hierbei sind der Radiusschaft, der Processus styloide- fehlstellung subsummiert.
us radii sowie dorsomediale und palmomediale Komponenten.
▬ Typ I beschreibt hierbei eine wenig dislozierte Mehrfragment- Im angloamerikanischen Sprachgebrauch hat sich in den letzten
fraktur. Jahren die »universal classification« nach Gartland und Werley
▬ Typ II beschreibt eine Impression- bzw. Berstungsfraktur der durchgesetzt (⊡ Abb. 31.13). Grund dieser neuen Betrachtung war
Radiusgelenkfläche (»die punch injury«). Diese umfasst mo- der Versuch, dem aktuellen Verständnis der Fragmentdislokation
derate bis schwerwiegende Fragmentdislokationen und wird der distalen Radiusfraktur, nicht zuletzt auch durch die CT-Dia-
als instabil eingestuft. gnostik, wie auch den moderneren Möglichkeiten der Therapie
▬ Typ III beinhaltet zusätzlich Komponenten im Bereich des Ra- gerecht zu werden. Im Gefolge der »universal classification« wurde
diusschafts, welche in das Beugesehnenkompartment hinein- ein eigener Therapiealgorithmus für die distale Radiusfraktur an-
ragen können. gegeben (⊡ Tab. 31.3).
780 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
Typ I Typ II
extraartikulär-undisloziert extraartikulär-disloziert
31
Typ IV Typ IV
⊡ Abb. 31.13 Universelle Klassifikation nach intraartikulär-disloziert intraartikulär-disloziert
Gartland und Werley B: reponierbar-instabil C: nicht reponierbar-instabil
Distale
Radiusfraktur
nein nein
Krankengymnastik
⊡ Abb. 31.14 Vorschlag eines Algorithmus zur einheitlichen Behandlung der distalen Radiusfraktur
Ausgehend vom radiologischen Bild bzw. ergänzender Zusatzdi- Vorerkrankungen im Bereich der Hand oder des Handgelenks müssen
agnostik werden die Frakturform und der Frakturtyp festgelegt. bei der individuellen Therapieplanung ebenso wie der Allgemeinzu-
Entsprechend dieser Zuordnung wird die Behandlungsstrategie stand des Patienten mit berücksichtigt werden. Gerade vorbestehen-
individuell bestimmt. Das Spektrum der Behandlung reicht von de Arthrosen im Bereich der Hand wie z. B. eine Sattelgelenkarthrose
der konservativen Therapie über eine operative Behandlung mittels können sich durch eine 6-wöchige Ruhigstellung klinisch und funkti-
Kirschner-Drähten, Plattenosteosynthese, Schraubenosteosynthese onell deutlich verschlechtern. Bei derartigen Vorerkrankungen kann
bis zum Einsatz des Fixateur externe. eine großzügige Indikationsstellung hin zur Plattenosteosynthese, die
eine sofortige Übungsbehandlung ermöglicht, Vorteile für die spätere
> Im Verlauf der Behandlung kann abhängig von den radiolo- Funktion der Hand und des Handgelenks erbringen.
gisch dokumentierten Ergebnissen ein Verfahrenswechsel Schwerwiegende Allgemeinerkrankungen, wie etwa eine nicht
erforderlich werden. Die Ursache hierfür ist entweder ein unterbrechbare Antikoagulationstherapie, beeinflussen die Wahl
zunehmender und damit nicht akzeptabler Verlust des in- des Behandlungsverfahrens. Bei dem Vorliegen derartiger Grund-
itial erreichten Repositionsergebnisses oder ein Erkennen erkrankungen ist die Entscheidung zur geschlossenen Reposition
weiterer Zusatzverletzungen, welche eine Intervention er- und perkutaner Drahtfixation als am wenigsten invasives operati-
forderlich machen. ves Verfahren trotz geringerer Stabilität zu bevorzugen.
782 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
Behandlung der Begleitverletzungen Fixateur externe ist obsolet. Begleitverletzungen können im Verlauf
Vor allem durch die Arbeiten von Pechlaner et al. (2002) sind die zu einem Verfahrenswechsel zwingen.
Begleitverletzungen im Rahmen einer Fraktur der distalen Funkti-
onseinheit bekannt geworden. Hierzu zählen: Zusätzliche Läsion des DRUG ( Kap. 33). Die distale Ulna mit
▬ zusätzliche karpale Frakturen, ihrer Gelenkfläche hin zum Radius, ihren stabilisierenden Kapsel-
▬ zusätzliche Läsionen des Kapsel-Band-Apparates, Band-Strukturen und sowie dem karpoulnaren Raum ist bei der
▬ karpale Instabilität und Beurteilung der distalen Radiusfraktur mit einzubeziehen. Diesem
▬ zusätzliche Läsion des DRUG. Umstand wird in der AO-Klassifikation mit dem Typ A1, also der
isolierten Fraktur der distalen Ulna, Rechnung getragen. Der ulna-
Zusätzliche karpale Frakturen. Frakturen des Os scaphoideum re Handgelenkabschnitt spielt eine tragende Rolle sowohl für die
sind zu einem geringen Anteil mit distalen Radiusfrakturen asso- Pronation und Supination des Unterarms wie auch für die kraftvolle
ziiert (⊡ Abb. 31.15), häufiger jedoch bei den Luxationsfrakturen statische und dynamische Stabilisierung des Handgelenks. Begleiten-
des Karpus mit Kantenabrissen des distalen Radius anzutreffen. de Verletzungen sowie posttraumatische Fehlstellungen im Gefolge
Bei Verdacht einer begleitenden Kahnbeinfraktur des Handgelenks einer Radiusfraktur können eine Bewegungseinschränkung in allen
bringt die CT-Untersuchung in mm-Schichtung des Kahnbeins Ebenen, einen Kraftverlust für die Greiffunktion sowie bleibende
in seiner Längsrichtung die größtmögliche Sicherheit. Eine be- Schmerzen verursachen. Erfolgt die Ausheilung einer Radiusfraktur
gleitende Skaphoidfraktur erfordert eine operative Stabilisierung in Fehlstellung mit Verkürzung des Radius so entsteht eine Inkon-
31 ( Kap. 27). Als Basis für diese Versorgung hat sich die zusätzliche gruenz der Gelenkflächen des distalen Radioulargelenks (radioulna-
Plattenosteosynthese der Radiusfraktur bewährt (⊡ Abb. 31.14). re Arthrose) sowie eine Einengung des karpoulnaren Raums (ulno-
karpales Impingement). Dies bedeutet bei einem relativen Ulnavor-
Zusätzliche Läsionen des Kapsel-Band-Apparates. Beim schub von 2 mm eine Einschränkung von Pronation und Supination
Vorliegen einer behandlungsbedürftigen SL-Band-Verletzung um etwa 20%, bei einem Vorschub von 4 mm um etwa 50%, was zu
Grad II und Grad III ist ebenfalls eine Plattenosteosynthese die einer empfindlichen Behinderung der gesamten Unterarmfunktion
Grundlage für weitere Rekonstruktionen im Bereich der Handwur- führt. Durch die Einengung des karpoulnaren Raums entsteht ein
zel ( Kap. 29). Aufgrund des dorsalen Zugangs zum Handgelenk Impingement zwischen Ulna, Os lunatum und Os triquetrum mit
wird hier üblicherweise eine dorsale Plattenanlagerung am Radius Einklemmung des Discus triangularis und damit Schädigung des
gewählt. Eine begleitende Fraktur der distalen Ulna destabilisiert TFCC. Die Folgen hiervon sind Kraftverlust und eine Bewegungs-
die Radiusfraktur zusätzlich. Auch hier ist eine Plattenosteosyn- einschränkung für die Extension und Flexion. Eine Gelenkstufe in
these am distalen Radius sowie ggf. eine zusätzliche Osteosynthese der »sigmoid notch« des Radius oder eine durch Radiussinterung
mittels Kirschner-Draht oder Miniplatte an der distalen Ulna zu bedingte Fehlbelastung dieses Gelenks sind Ursachen einer posttrau-
fordern. Eine Behandlung dieser Frakturkombinationen mittels matischen Arthrose des distalen Radioulnargelenks ( Kap. 32).
kungen in der radiokarpalen Beweglichkeit. Gerade der Längen- Osteopenie des betroffenen Skelettabschnitts im Gefolge einer
verlust des Radius im Verhältnis zum Ulnaköpfchen verursacht Fraktur langfristig zu behandeln bzw. ihr vorzubeugen.
auch bei älteren Patienten deutliche Funktionseinbußen in Pro-
> Trotz aller technischen Maßnahmen und Bemühungen kann
nation und Supination. Bei einer verbleibenden intraartikulären
es zu einer Fehlstellung kommen. Diese führt bei alten Pa-
Gelenkstufe von mehr als 2 mm ist initial von einem schlechten
tienten aufgrund der geringen beruflichen und privaten
funktionalen Ergebnis und auf längere Zeit gesehen von der Aus-
Beanspruchung oftmals zu klinisch befriedigenden Ergebnis-
bildung einer Radiokarpalarthrose auszugehen.
sen, während bei jungen Patienten erfahrungsgemäß auch
Therapieziele kleinste Fehlstellungen zu Bewegungseinschränkungen,
Kraftverlust und belastungsabhängigen Schmerzen führen
Adäquate Schmerztherapie. Zur Verbesserung der Lebensqua-
können. Abhängig von Lebensalter und Leidensdruck ist eine
lität sollte immer eine posttraumatische Schmerztherapie ( Kap. 3)
Korrektur der Fehlstellung indiziert ( Kap. 32)
durchgeführt werden. Diese erleichtert dann auch die mög-
lichst frühzeitig einsetzende handtherapeutische Begleittherapie
( Kap. 15). Der übliche Ruhigstellungszeitraum beim Erwachsenen Konservative (nichtoperative) Therapie
beträgt hierbei 6 Wochen, es kann jedoch im Einzelfall notwendig > Die konservative Therapie umfasst die Ruhigstellung bzw. die
sein, von dieser Vorgabe abzuweichen. Technisch stehen verschie- Reposition und Ruhigstellung des Handgelenks im Unterarm-
dene Kunststoffgipse zur Verfügung. gips (in seltenen Ausnahmefällen ggf. Oberarmgips).
31
Wiederherstellung von Form und Funktion. Ziel der Behand- Das Problem der konservativen Therapie besteht darin, primär
lung der distalen Radiusfraktur ist eine Abwägung zwischen scho- keine ausreichende Reposition zu erreichen bzw. einer sekundären
nendster Therapieform und einer bestmöglichen anatomischen Dislokation Vorschub zu leisten, die unkorrigiert zur Fehlstellung
Rekonstruktion. Dies ist die wesentliche Voraussetzung für die führt. Die Domäne der konservativen Therapie sind die extraarti-
Wiederherstellung einer guten Funktion in allen Bewegungsebe- kulären, wenig dislozierten Radiusfrakturen ohne größere dorsale
nen. Hierunter fällt eine weitgehende Rekonstruktion der alten Trümmerzone, welche als stabil eingestuft werden können (A2-
Winkelverhältnisse unter Vermeidung der Abkippung der Gelenk- Frakturen). Zeigt sich initial keine nennenswerte Fehlstellung, so
fläche nach radial, palmar oder dorsal. Eine relative Ulna-plus- erfolgt lediglich die Anlage des Gipsverbandes.
Variante und damit Störung des distalen Radioulnargelenks infolge Bei in akzeptabler Stellung eingestauchten Frakturen er-
einer Verkürzung der Speiche durch Sinterung sollte ebenso ver- folgt die Retention der Fraktur in einem zirkulären Unterarm-
mieden werden wie intraartikuläre Gelenkstufen oder eine Vertie- gips, der bis auf die letzte Faser gespalten werden muss. Die
fung der Gelenkfläche durch Impaktionierung der komprimierten MP-Gelenke müssen frei beweglich sein. Das Handgelenk steht in
Spongiosa. Mittelstellung (etwa 30° Extension, Pronation/Supination in neu-
tral; ⊡ Abb. 31.17d). Auf eine ausreichende Polsterung mit Watte
Adäquate Therapie der Begleitverletzungen Abschn. 31.1.7.3 (oder anderen Polsterstoffen) sollte immer geachtet werden, um
Druckstellen zu vermeiden. Der Gipsverband wird an der palma-
Vermeidung von Komplikationen. In der unmittelbaren Folge ren Unterarm- und Handgelenkseite angebracht und zirkulär mit
einer distalen Radiusfraktur und deren Behandlung ist es wichtig, Gipsbinden verstärkt. Der noch nicht ausgehärtete Gips kann
die Entstehung einer Reflexalgodystrophie/CRPS (»complex regi- nun anatomisch anmodelliert werden. Hierbei sollte das palmare
onal pain syndrome«) zu verhindern. Da keine echten Interven- proximale Quergewölbe und das Längsgewölbe sowie dorsal der
tionsmöglichkeiten bekannt sind, um eine derartige Zweiterkran- radiokarpale Übergang herausgearbeitet werden. Nach Aushärten
kung auszuschließen, ist es wichtig, alle negativen Faktoren, welche des Gipsverbandes muss dieser bis auf die letzte Faser – d. h. das
zur Entstehung eines CRPS beitragen können, zu vermeiden. Ne- Polstermaterial mit inbegriffen – gespalten werden. Der gespaltene
ben der richtigen Wahl der Therapie sowie der fürsorglichen Pa- Gips wird mit einer elastischen Binde fixiert.
tientenführung besteht diese Vorsorge in einer ausreichenden und
kontinuierlichen analgetischen Behandlung. Vor dem Hintergrund
der Zunahme der ambulanten Versorgungen haben sich konkrete Eine Palmarflexion – die sog. Schede-Stellung – ist aus folgenden
postoperative Nachbehandlungsregime bewährt. Ein angepasstes Gründen abzulehnen:
antiphlogistisch/analgetisches Medikamentenschema, ggf. mit pe- 1. Eine starke Flexion des Handgelenks im Gipsverband kann
rioperativer Opiatgabe, ist als Schmerztherapie gefordert ( Kap. 3). nicht durch Zug an der Gelenkkapsel die Redislokation ver-
Bei Zunahme von Schmerzen ist stets auf die korrekte Lage eines hindern. Erst eine Beugung von 80–90° führt zu Anspannung
Gipses oder einer Gipslonguette zu achten. Ein zu enger Gips oder der Gelenkkapsel, aber auch – im Sinne eines Phalen-Tests –
Verband, welcher zu Zirkulationsstörungen führt, kann das spätere zur Kompression des N. medianus im Karpaltunnel.
funktionelle Ergebnis deutlich negativ beeinträchtigen. Patienten 2. Die Schede-Stellung verhindert darüber hinaus den festen
mit einem CRPS in der Anamnese werden zur Sicherstellung einer Faustschluss und zentriert die proximale Handwurzelreihe
ausreichenden Analgesie üblicherweise unter stationären Bedin- auf die dorsale Hälfte der Radiusgelenkfläche. Dadurch wird
gungen behandelt. Hierbei kann auch eine fortlaufende Plexusan- der größte Druck in diesem Bereich ausgeübt.
ästhesie mittels Plexuskatheter für 2–4 Tage gute Dienste leisten 3. Die Schede-Stellung hat eine höhere Inzidenz des CRPS I
( Kap. 18). ( Kap. 18)
⊡ Abb. 31.16 Ausbehandeln einer nicht dislozierten, stabilen Fraktur im Unterarmgips. Keine sekundäre Dislokation im Verlauf der routinemäßigen Röntgen-
kontrollen nach 1,2,4 und 6 Wochen
darauf hingewiesen werden, dass, wenn Schmerzen oder Kribbel- fällen – sehr ängstlicher Patient, Nachreposition – notwendig. Zur
parästhesien auftreten oder zunehmen, er unverzüglich ärztliche Bruchspaltanästhesie wird das Handgelenk entsprechend desinfiziert
Hilfe aufsuchen muss. Darüber hinaus ist die routinemäßige Kont- und der Bruchspalt mit der Injektionsnadel von der Streckseite des
rolle des Gipses am nächsten Tag obligat. Nach erfolgter Abschwel- Handgelenks aufgesucht. Wichtig ist dabei, dass die Nadel schräg
lung nach 7–10 Tagen wird dieser Gips dann »zirkuliert« und bis von proximal-dorsal in Richtung distal-palmar geführt wird, da bei
zur Ausheilung der Fraktur nach 4–6 Wochen belassen. Andere senkrechtem Einstich aufgrund der Dislokation der Bruchspalt nicht
Autoren befürworten ein »Umgipsen« nach 7–10 Tagen, da der erreicht werden kann. Zur besseren Orientierung kann die Bruch-
initiale Gips durch die Abschwellung nicht mehr genügend Halt spaltanästhesie unter Bildwandlerkontrolle erfolgen. Unter Kno-
bieten kann. Zur radiologischen Kontrolle des Heilungsverlaufs chenkontakt wird Blut (Frakturhämatom) aspiriert und 5–10 cm³
empfehlen sich Röntgenkontrollen nach 1, 2, 4 und 6 Wochen eines 1–2% Lokalanästhetikums ohne Adrenalinzusatz (Cave: Vaso-
(⊡ Abb. 31.16). Diese engmaschige Röntgenkontrolle ermöglicht es, spasmus im Bereich der Akren) eingespritzt (⊡ Abb. 31.17a).
bei einer Verschlechterung des Repositionsergebnisses eine erneute Nun erfolgt das Aushängen der Extremität. Der Patient liegt
Reposition durchzuführen oder auf ein anderes Therapieverfahren auf dem Rücken, die Schulter am Tischrand, der Oberarm in 90°
rechtzeitig umsteigen zu können. abduziert und der Unterarm steht in Neutralposition. Die Einrich-
Findet sich primär eine dorsale Abkippung bzw. Fehlstellung, tung des Bruches wird nach dem Prinzip von »Zug und Gegenzug«
welche als stabil eingeschätzt werden kann, so geht der Gipsan- und manuellem Druck ausgeführt. Die Extension erfolgt über
lage eine geschlossene Reposition voraus. Bei einer Radiusfraktur Extensionshülsen, sog. »Mädchenfänger«, die an einem Extensi-
von über 5 mm initialer Verkürzung ist von einer sekundären onsständer aufgehängt sind. Der Zug verläuft über den Daumen.
Dislokation bei ausschließlicher Ruhigstellung auszugehen. Eine Der 2. und 4. Finger werden ebenfalls mit sog. »Mädchenfängern«
dorsale Abkippung bis zu 9° und eine radiale Abkippung bis zu 3° ausgehängt. Dadurch befindet sich die Hand in einer Mittelstellung
sind nach Reposition noch akzeptabel. und eine Rotation des Karpus wird vermieden. Der alleinige Zug
am Daumen führt über eine Rotation des Karpus zu einer Verlän-
> Die Reposition sollte technisch unter Bedingungen durch-
gerung der ulnaren Bandverbindungen und zu einer Subluxations-
geführt werden, in denen man bei Bedarf eine zusätzliche
stellung der Hand mit entsprechend eingeschränkter Funktion. Zur
perkutane Kirschner-Draht-Fixation anschließen kann.
Distraktion werden 5–8 kg am Oberarm befestigt.
Voraussetzung für eine optimale Reposition ist eine adäquate Die reine Zugdauer beträgt mindestens 5–10 Minuten. Hier
Schmerztherapie. Hierfür stehen die lokale Bruchspaltanästhesie, reponiert sich bereits eine große Anzahl der Achsenfehlstellun-
die Leitungsanästhesie in Form des subaxillären Plexusblocks und gen von selbst (⊡ Abb. 31.17b). Ist eine ausreichende Reposition
die Allgemeinnarkose zur Verfügung ( Kap. 3). Die Bruchspaltan- erreicht, erfolgt die Retention im gespaltenen Unterarmgips nach
ästhesie bringt in den meisten Fällen genügend Schmerzfreiheit und den oben geannnten Richtlinien.
ist sehr komplikationsarm. Bei der Regionalanästhesie können dar- Ist noch keine ausreichende Frakturstellung erzielt worden,
über hinaus auch reflektorische Muskelkräfte ausgeschaltet werden. sind manuelle Repositionsmanöver notwendig. Diese richten sich
Die Allgemeinanästhesie ist bei Erwachsenen nur in Ausnahme- vor allem nach der Dislokationsrichtung der Fraktur.
786 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
> Alle Repositionsmanöver müssen behutsam durchgeführt knochen unter Kippung nach ulnar und Gegenzug am Unterarm
werden. Forcierte Manöver mit starken Schmerzen für die erreicht (⊡ Abb. 31.17c, links). Anschließend wird die Dislokation
Patienten sind häufig Auslöser eines CRPS I ( Kap. 18). nach dorsal reponiert. Die eine Hand umfasst als Gegenhalt von
palmar her den distalen Unterarm in Höhe des proximalen Frag-
Bei Frakturen mit Dislokation nach dorsal haben sich zwei Repo- ments, mit der anderen wird ein Druck von dorsal auf das distale
sitionstechniken besonders bewährt: Bei den meisten Patienten Fragment und die Handwurzel ausgeübt, dabei muss eine zu starke
beginnt die Reposition zunächst mit einer Reposition der Radial- Flexion nach palmar vermieden werden, um eine palmarseitige
verschiebung. Dies wird durch verstärkten Zug am 1. Mittelhand- Fragmentsprengung zu vermeiden. Eine zu forcierte Reposition
31
c d
⊡ Abb. 31.17 Technik der Reposition der nach dorsal dislozierten distalen Radiusfraktur im Aushang. a Technik der Bruchspaltanästhesie: Infiltration eines Lokal-
anästhetikums (ohne Adrenalinzusatz) in den Bruchspalt, b Anlage des »Mädchenfängers« über dem Daumen, dem 2. und (3.)4. Finger, Rechtwinkelstellung des
Ellbogens, Neutralstellung des Unterarm, Anhängen von 5–8 kg Gewicht, korrekte Bildwandlereinstellung. c Der Repositionsvorgang beginnt mit der Reposition
der Radialverschiebung durch verstärkten Zug am 1. Mittelhandknochen und Kippung nach ulnar (links). Die Dorsalverschiebung wird durch Druck von dorsal auf
das distale Fragment und die Handwurzel ausgeübt, wobei die eine Hand als Gegenhalt für das proximale Fragment dient (rechts). d Gipsanlage am distalen Un-
terarm: Sog. 3–Punkte-Fixation des Gipsverbandes über der Mittelhand dorsal, dem proximalen Unterarm dorsal und auf Höhe der Fraktur palmar. (Aus Weinberg
u. Tscherne 2006, Oestern 1999, Kohn u. Pohlemann 2010)
31.1 · Allgemeines
787 31
kann ebenso zu einer Palmarkippung des distalen Fragments füh- und Ruhigstellung, nach 1 Woche, nach 2 Wochen, nach 4 Wochen
ren. Die Einrichtung erfolgt mit dem Kleinfingerballen, während vor geplanter Gipsentfernung sowie nach 6 Wochen durchgeführt
der Gegendruck mit dem Daumenballen ausgeübt wird. Ein punk- (⊡ Abb. 31.17). Sollte sich in der Frühphase der Behandlung eine
tueller Druck von dorsal, nur auf das distale Radiusfragment, kann sekundäre Dislokation, in der Regel mit Dorsalabkippung einstel-
zu einer Pronationsfehlstellung und damit Supinationsminderung len, so muss frühzeitig über einen Verfahrenswechsel mit erneuter
führen (⊡ Abb. 31.17c, rechts). Die Retention der Fraktur erfolgt in Reposition und zusätzliche Kirschner-Draht-Osteosynthese oder
einem zirkulären Unterarmgips, der bis auf die letzte Faser gespal- sonstige operative Therapie nachgedacht werden. Gefährlich ist das
ten werden muss (⊡ Abb. 31.17d). Tolerieren einer dorsalen Abkippung von 5–10° in der 1. Woche
Bei Frakturen mit Dislokation nach palmar wird zuerst durch sowie weiterer 5–10° in der 2. Woche. Vergleicht man den schlei-
Zug und Gegenzug am Unterarm die Achsenfehlstellung in der chenden, aber zunehmenden Verlust des Repositionsergebnisses
Frontalebene korrigiert. Die Reposition in der Sagittalebene erfolgt über die komplette Behandlungsdauer, so findet sich oftmals in
dadurch, dass man die Hand als Gegenhalt dorsalseitig quer an das der Summe abschließend eine höherwertige Fehlstellung, welche
proximale Fragment legt und mit der anderen Hand drückt. Diese vermeidbar gewesen wäre (⊡ Abb. 31.18).
Hand liegt dorsalseitig quer an der Handwurzel und am distalen
Fragment, wodurch das verschobene Fragment nach dorsal in die Nachbehandlung bei konservativer Therapie. Für die Dauer
korrekte Position zurückgeschoben werden kann. der Ruhigstellung bis zur Gipsentfernung nach 4–6 Wochen erfor-
Bei der konservativen Therapie der distalen Radiusfraktur dert das konservative Therapieregime eine engmaschige klinische
sollte in der Nachbehandlungszeit ein Zeitschema bezüglich der sowie radiologische Kontrolle (⊡ Tab. 31.4). Auf alle Beschwerden
radiologischen Kontrollen festgelegt werden (⊡ Tab. 31.4). So wer- des Patienten insbesondere bezüglich Schmerzen oder Druckge-
den Röntgenaufnahmen direkt nach Ruhigstellung bzw. Reposition fühl muss angemessen reagiert werden.
⊡ Tab. 31.4 Behandlungsplan (»clinical pathway«) bei konservativer Therapie und Spickdrahtosteosynthese in Abhängigkeit vom posttraumatischen
Zeitintervall. Das Schema dient als Leitfaden, damit wichtige Kontrolltermine nicht übersehen werden
(+) die Einklammerung bedeutet, dass dieser Röntgenkontrolltermin bei stattgehabter Spickdrahtosteosynthese entfällt
a b
⊡ Abb. 31.18 Sekundäre Dislokation nach primär reponierter distaler Radiusfraktur. a Initial nicht verschobene distale Radiusfraktur, b Dislokation nach radial
und palmar mit Ausheilung in Fehlstellung bei konservativer Therapie
788 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
> Es gilt der traditionelle Merkspruch: »Klagt ein Patient im Kirschner-Draht-Fixierung (Spickdrahtosteosynthese)
Gips hat er/sie immer recht«. Die perkutane Fixation mittels Kirschner-Drähten (1,5–2,0 mm)
hat das Ziel, eine geschlossene Reposition, welche instabil oder
Ein zu enger oder drückender Unterarmgips kann zur Ursache fraglich stabil erscheint, mit wenig Operationstrauma zu reti-
für spätere schwerwiegende Komplikationen werden. Hier sei ex- nieren. Für dieses Verfahren kommen extraartikuläre Frakturen
emplarisch das CRPS I (Synonym: Reflexalgodystrophie, Morbus ohne größere dorsale Trümmerzone in Betracht, wenn sich diese
Sudeck) genannt ( Kap. 18). geschlossen adäquat reponieren lassen. Bezüglich der Stabilität ist
Nach geschlossener Reposition erfolgt die Ruhigstellung im die Kirschner-Draht-Fixation der reinen Gipsimmobilisation in
gespaltenen Unterarmgips. jedem Fall überlegen. Entscheidend ist die korrekte Einschätzung
der Fraktur, um spätere Dislokationen zu vermeiden. C2- und C3-
> Einen Tag nach der Gipsanlage muss eine klinische Kontrolle Frakturen sind ungeeignet für eine alleinige Kirschner-Draht-Os-
der Schwellungssituation sowie der Durchblutung und Sensi- teosynthese. Bei älteren Patienten mit osteoporotischen Knochen
bilität der Finger erfolgen und dokumentiert werden. muss die Indikation im Einzelfall aufgrund der häufig instabilen
Verankerung kritisch überprüft werden. Intraartikuläre Fraktu-
Röntgenkontrollen bei der konservativen Behandlung erfolgen di- ren sollten nur in Einzelfällen mittels perkutaner Drahtfixation
rekt nach der Primärversorgung, nach dem Zirkulieren des Unter- behandelt werden. Der große Vorteil der Kirschner-Draht-Fixati-
armgipses nach 5–7 Tagen, nach 14 Tagen, nach 28 Tagen sowie on liegt in dem geringen Operationstrauma. Weitere Komplikati-
31 42 Tagen. Die Röntgenkontrollen werden direkt im Anschluss an onen sind Infekte an den Eintrittsstellen der Kirschner-Drähte. In
das Umgipsen veranlasst. Eine Kontrolluntersuchung zur Doku- solchen Fällen erfolgt die Entfernung der Kirschner-Drähte und
mentation der Schwellung, Durchblutung und Sensibilität ist auch u. U. der Wechsel auf den Fixateur externe. Zu schwach dimensi-
hier 24 Stunden später zu fordern. onierte Kirschner-Drähte können das Repositionsergebnis nicht
Unmittelbar nach der Gipsentfernung beginnt eine intensive halten, und es kommt zu einer Dislokation der Kirschner-Drähte
krankengymnastische Übungsbehandlung mit Bewegungsübungen sowie zu einer sekundären Fragmentdislokation. Zu flach ein-
des Handgelenks sowie der Finger. Die Interphalangealgelenke der gebrachte Kirschner-Drähte bedingen ebenfalls eine sekundäre
Finger sollen auch während der Immobilisationsphase des Hand- Dislokation, wenn der Kirschner-Draht nur wenige Millime-
gelenks aktiv beübt werden ( Kap. 15). ter proximal der Fraktur in der Gegenkortikalis platziert wird.
Das Einbringen muss langsam unter Vermeidung von Hitzeent-
Operative Therapie wicklung erfolgen. Zu hochtourig eingebrachte Kirschner-Drähte
Aufklärung. Neben den üblichen Risiken wie Infektion und führen zu einer Hitzenekrose und damit zu einem Durchwan-
Nachblutung muss man den Patienten, abhängig von der Art dern der Kirschner-Drähte nach proximal. Parallel eingeführte
des gewählten Verfahrens, auf verschiedene Dinge aufmerksam Kirschner-Drähte bringen keine ausreichende Stabilität, deswe-
machen. Die Spickdrahtosteosynthese und der Fixateur externe gen müssen sich die Kirschner-Drähte kreuzen. Das größte Ri-
kommen zwar, da sie perkutane Verfahren sind, mit den kleinst- siko dieses Verfahrens ist die Verletzung des Ramus superficialis
möglichen Zugängen aus, verursachen aber häufig Weichteilprob- des N. radialis. Auch bei der Materialentfernung kann dieser
leme (⊡ Tab. 31.5). Nervenast verletzt werden. Wegen der Gefahr der Verletzung des
Für die Versorgung der primär instabilen distalen Radius- Ramus superficialis des N. radialis empfehlen einige Autoren die
fraktur stehen eine Reihe unterschiedlicher operativer Verfahren offene Bohrdrahtosteosynthese. Als Operationstisch wird der
zur Verfügung. Die Schwierigkeit ist, das richtige zu wählen, da um 180° gedrehte Bildverstärker verwandt. Der Proc. styloideus
sich die einzelnen Bruchtypen nicht immer zweifelsfrei einem radii wird durch eine 1 cm lange Längsinzision an der Basis der
bestimmten Typ zuordnen lassen und andererseits auch Weichteil- Tabatiere, parallel zum Hautast des N. radialis, freigelegt. Der
situation und Knochenqualität über die Art des Eingriffs mitent- Ramus superficialis wird angeschlungen, die Stabilisierung der
scheiden (⊡ Tab. 31.5). Fraktur erfolgt dann entsprechend dem geschlossenen Verfahren.
⊡ Tab. 31.5 Möglichkeiten der operativen Versorgung der distalen Radiusfraktur unter Angabe des spezifischen Risikos der jeweiligen Operations-
technik (nach Weigel)
Art des Risikos Spickdrähte Fixateur Dorsale Platte Palmare Platte Schrauben
Nervenläsion ++ + + + +
Gefäßläsion +
Sehnenläsion + ++ ++ +
Weichteilläsion ++ ++ +
Sekundäre Dislokation ++ ++
Algodystrophie ++ ++ + +
Implantatlockerung ++ ++ + +
Pseudarthrose + ++
⊡ Tab. 31.6 Absolute und relative Indikationen zur Implantatentfernung palmarer Platten am distalen Radius
pronator quadratus häufig nicht ausreicht, um die distale Platten- der Frakturzone, wodurch eine stabile Retention, auch kleinerer
kante abzudecken und somit den Kontakt zwischen dem metal- Zwischenfragmente, sichergestellt wird.
lischen Fremdkörper und den knochennah verlaufenden Beuge- Beim beidseitigen Vorgehen ist der präoperativen Weichteil-
sehnen (FPL, FDP) zu verhindern. Orbay et al. wiesen in diesem situation besonderes Augenmerk zu schenken, zumal es sich bei
Zusammenhang erstmals auf die Bedeutung der richtigen Platten- den Verletzungen häufig um Hochrasanztraumen handelt. Eine
position proximal der sog. watershed line, also der Ansatzzone der Dekompression des Karpalkanales ist deshalb meist obligat, nicht
palmaren Gelenkkapsel, hin. Die Beugesehnen werden an dieser selten auch eine beugeseitige Fasziotomie am Unterarm. Ist der pri-
Knochenprominenz in ihrem Verlauf vom Unterarm in Richtung märe Wundverschluss nicht möglich, kann dieser nach Abschwel-
Karpaltunnel umgelenkt, so dass es bei zu weit distaler oder vom lung der Weichteile frühsekundär erfolgen. Um die Weichteilprob-
Knochen abstehender Plattenpositionierung vor allem während lematik zu umgehen, empfiehlt es sich, derartige Frakturen initial
der Extension der Handgelenkes zu langfristigen Beugesehnenirri- mittels Fixateur externe zu stabililisieren und erst nach Weichteil-
tationen kommen kann. Da dorsal überstehende Schraubenspitzen konsolidierung die definitive Doppelplattenosteosynthese im Sinne
noch eine zusätzliche potentielle Gefahr für die Strecksehnen dar- eines Verfahrenswechsel vorzunehmen (⊡ Abb. 31.22)
stellen, ist der Vermeidung von Sehnenkomplikationen auch bei
der palmaren Plattenosteosynthese Beachtung zu schenken. Fixateur externe
In der Praxis sind sowohl der mediale Zugang zwischen den Seh- Trotz der rasanten Fortentwicklung von Implantaten für interne
nen des M. flexor carpi radialis und des M. palmaris longus als auch Osteosynthesen distaler Radiusfrakturen hat der handgelenksüber-
der radiale Zugang zwischen der Sehne des M. flexor carpi radialis greifende Fixateur externe einen unverzichtbaren Stellenwert be-
und der A. radialis anzutreffen. Aus unserer Sicht ist der radiale Zu- halten. Indikationen für den Fixateur externe sind:
gang zu präferieren, da dieser durch die kräftige FCR-Sehne einen gu- ▬ schwerer offener oder geschlossener Weichteilschaden
ten Schutz des N. medianus gegenüber Hakenzug oder direkten Ver- ▬ primäre Frakturstabilisierung bei komplexen Frakturen und
letzungen bietet. Trotz der Nähe der A. radialis ist deren Verletzungs- beim polytraumatisierten Patienten mit der Option eines se-
gefahr bei konsequenter Orientierung am Verlauf der FCR-Sehne kundären Verfahrenswechsels
gering, kleine kreuzende Arterienäste sollten aber subtil koaguliert ▬ stark kontaminierte offene Frakturen
werden. Hingegen sind beim medialen Zugang allein durch die not- ▬ Fraktur begleitende Verletzungen der extrinsischen Hand-
wendige langstreckige Mobilisation des N. medianus postoperative gelenksbänder und der Handwurzel mit Instabilität (Luxati-
epineurale Vernarbungen mit Adhäsionen zur Haut und neuropa- onsfrakturen, CMC-Gelenkluxationen) als Ergänzung zu den
thischen Beschwerden relativ häufig zu beobachten. Im Hinblick auf internen Osteosynthesen und Bandrekonstuktionen
die spätere Narbenbildung sollte der Bereich zwischen den Handge-
lenksbeugefalten Rascetta und Restricta beim Hautschnitt ausgespart Frakturreposition und Fragmentretention geschehen bei Anwen-
bleiben, distale Schnitterweiterungen dürfen das Areal nur schräg dung des Fixateurs externe nicht direkt, sondern indirekt durch
verlaufend kreuzen. Auch bei simultaner Spaltung des Karpalkanales Ligamentotaxis. Diese lässt aber bereits wenige Tage nach Fixa-
muss diese Zone nicht tangiert werden, wenn ein separater Zugang teuranlage nach, so dass es regelmäßig zu einem Repositionsverlust
loco typico in der proximalen Hohlhand gewählt wird. der Fragmente kommt. Nach Fixateurentfernung kann es zu einem
Eine generelle Implantatentfernung der palmaren Platten ist weiteren Nachsintern kommen, weshalb bei Einsatz des Fixateurs
mit Ausnahme der in ⊡ Tab. 31.6 aufgeführten Indikationen beim als definitives Osteosyntheseverfahren eine additive direkte Frag-
älteren Menschen nicht erforderlich, bei jüngeren Altersgruppen mentaddressierung durch K-Drähte unbedingt zu empfehlen ist.
sollte man sich am Patientenwunsch orientieren. Das Handgelenk sollte auch im Fixateur externe eine annä-
hernd physiologische Stellung einnehmen, um eine gute Fingerbe-
Kombinierte dorsale und palmare Plattenosteosynthese weglichkeit zu ermöglichen und die Gefahr eines CRPS gering zu
Bei bestimmten sehr komplexen C2- oder C3-Frakturen kann auch halten. Aus Patientensicht nachteilige Aspekte der Fixateuranwen-
die gleichzeitige Plattenanlage von palmar und dorsal hilfreich oder dung sind der schlechte Tragekomfort, die aufwendige Pinpflege,
sogar zwingend notwendig sein. Dies trifft insbesondere dann zu, die mehrwöchige deutliche Gebrauchsminderung der Hand und
wenn sowohl palmar als auch dorsal langstreckige Trümmerzonen die langwierige Nachbehandlung.
anzutreffen sind oder im gelenktragenden Knochenblock sagittale
und frontale Frakturverläufe mit Fragmentdislokation nebenein- Kombinationsosteosynthesen
ander vorliegen. Hierbei wird durch das zumeist primäre Anbrin- Je nach Art des Frakturtypes, der persönlichen Erfahrung sowie der
gen der palmaren Platte mit Reposition der palmaren Kortikalis technischen Möglichkeiten kommt auch die kombinierte Anwen-
eine Referenz bezüglich der Radiuslänge und Gelenkflächenwinkel dung verschiedener Osteosyntheseverfahren in Betracht. So kann
geschaffen, die bei der Reposition der zentralen und dorsalen beispielsweise der Fixateur externe der Erhaltung der Radiuslänge
Fragmente als Orientierung dient. Aus der beidseitigen Plattenpo- und zur Neutralisation des Muskelzuges der Handgelenksbeuger und
sition resultiert eine Fragment komprimierende Umklammerung -strecker dienen bei gleichzeitiger Feinadaptation der Gelenkflächen-
792 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
fragmente durch Kirschner-Drähte, kleine Platten oder Schrauben. masse kommen. Ursache hierfür ist eine Kompression der trabe-
Es besteht dann die Möglichkeit, den Fixateur nach 3–6 Wochen zu kulären Strukturen, welche bei der Dislokation im Rahmen des
entfernen und damit die Handgelenksbeweglichkeit freizugeben. Bei Frakturgeschehens stattfindet. Diese Kompressionszone hinterlässt
intraartikulären Frakturen mit zwei größeren dehiszenten Fragemen- nach Reposition einen knöchernen Substanzdefekt. Patienten mit
ten kann durch primäre Platzierung einer Zugschraube ein stabiler osteoporotischen Knochen sind aufgrund der Rarefizierung der
distaler Block geschaffen werden, welcher danach mittels Plattenos- Spongiosabälkchen von diesem Phänomen stärker betroffen.
teosynthese am Radiusschaft fixiert wird. Randständige knöcherne Umfasst der knöcherne Defekt die komplette Breite des distalen
Band- und Kapselausrisse oder kleine Styloidfragmente erfordern bis- Radius und findet sich zusätzlich durch Impaktierung ein Subs-
weilen eine direkte Refixation mit dünnen K-Drähten zusätzlich zur tanzverlust der abstützenden dorsalen Kortikalis, so ist die dorsale
Plattenosteosynthese, sofern eine Fixation durch stabile transossäre Radiussäule mit potenzieller Instabilität anhaltend geschwächt. In
Naht an der Platte nicht gelingt. Weitere Materialkombinationen sind diesen Fällen wird der Knochendefekt aufgefüllt. Traditionell wird
in der Praxis anwendbar mit dem Ziel einer möglichst anatomischen eine Transplantation eines kortikospongiösen Spans, vornehmlich
Rekonstruktion und eines zusätzlichen Stabilitätsgewinns. aus dem hinteren Beckenkammbereich, durchgeführt. Alternativ
Insbesondere für Gelenkfrakturen mit zentral imprimierten kommen verschiedenste kommerzielle Präparate vom demineralisier-
Fragmenten schlagen Pinal et al. die arthroskopisch assistierte Os- ten Knochen bis hin zu soliden oder formbaren mineralischen oder
teosynthese vor. Dabei dient die Arthroskopie sowohl der direkten keramischen Knochenersatzstoffen infrage. Der Einsatz solider Kno-
instrumentellen Fragmentreposition als auch der Kontrolle der Ge- chenersatzstoffe erfordert in der Regel einen dorsalen Zugang, um die
31 lenkflächenrekonstruktion ohne weite Eröffnung der dorsalen Hand- Defektzone direkt inspizieren zu können und ggf. aufzufüllen. Beim
gelenkskapsel. Desweiteren lassen sich chondrale und ligamentäre palmaren Zugang ist es nur schwer möglich, solide Elemente einzu-
Begleitverletzungen am Karpus sowie TFCC-Verletzungen sicher bringen. Aus diesem Grund wurden formbare bzw. injizierbare Er-
nachweisen oder ausschließen, mit den entsprechenden therapeuti- satzstoffe entwickelt, welche nach der Applikation in vivo aushärten.
schen Konsequenzen. Die Osteosynthese erfolgt dann vorzugsweise Mit zunehmender Verbreitung winkelstabiler Plattensysteme ist
mit palmarer Plattenosteosynthese. Da der zusätzliche apparative die Notwendigkeit zur Augmentation der Defekthöhle deutlich selte-
und zeitliche Aufwand für die simultane Handgelenksarthroskopie ner geworden. Signifikant bessere klinische sowie radiologische Er-
nicht unerheblich ist, hat das Prozedere trotz seiner nachvollziehba- gebnisse sind bei der Kombination von Plattenosteosynthesen bzw.
ren Vorteile noch keine allgemeine Verbreitung gefunden. Fixateur externe mit Knochenersatzstoffen nicht nachgewiesen wor-
den. Eine Sonderstellung nimmt die Augmentation der Gelenkfläche
Indikation für Spongiosaplastik oder Knochenersatzstoffe ein. Ist es hier zu einer Impression der Gelenkfläche gekommen und
Insbesondere bei der Colles-Fraktur kann es durch Impression der muss diese subchondral angehoben werden, so ist der Einsatz von
dorsalen Spongiosa bei Abkippung zu einem Verlust an Knochen- körpereigenem Knochen oder Knochenersatzstoffen unverzichtbar.
a b c
d e
⊡ Abb. 31.22 Versorgung einer komplexen C3.3-Fraktur mittels kombinierter dorsaler und palmarer Plattenosteosynthese. a Unfallaufnahme mit temporärer
Stabilisierung im Fixateur externe, b definitive Osteosynthese von palmar und dorsal, c Röntgenaufnahme nach Implantatentfernung, d Vergleichsaufnahme
der unverletzten Gegenseite und e funktionelles Ergebnis 12 Monate p.o.
31.1 · Allgemeines
793 31
Nachbehandlung Chirurgisch relevante Anatomie
Für die Nachbehandlung distaler Radiusfrakturen lässt sich kein Ossifikationszentren
allgemein gültiges Zeitschema aufstellen, da deren Beginn und Radius und Ulna ossifizieren, ausgehend von primären Ossifika-
die Intensität vom Therapieverfahren (konservativ, Fixateur, Plat- tionskernen, in der 8. Schwangerschaftswoche. Am Handgelenk
tenosteosynthese) sowie von der Schwere der Verletzung und des erscheinen die sekundären Ossifikationskerne der distalen radia-
zusätzlichen Operationstraumas abhängig zu machen sind. Damit len Epiphyse bei Mädchen im 5. Monat, bei Jungen etwas später.
erfordert jeder Patient einen individuell angepassten Nachbehand- Wissenschaftlich ist nicht eindeutig geklärt, inwieweit es sich an
lungsplan. Obwohl nach internen Osteosynthesen in der Regel eine der Spitze des Processus styloideus radii um einen eigenen Os-
primär übungsstabile Handgelenksbeweglichkeit resultiert, steht sifikationskern handelt. Dieser kann im Rahmen von Frakturen
die unmittelbar postoperative Anlage einer vorzugsweise dorsalen Wachstumsstörungen aufweisen.
Schiene nicht im Widerspruch zur gipsfreien Nachbehandlung. Die Ossifikation an der distalen ulnaren Epiphyse beginnt bei
Durch die vorübergehende Immobilisation des Handgelenkes wird Jungen und Mädchen gleichermaßen im 6. Lebensjahr und geht
die Regredienz der posttraumatischen Schwellung und Schmerz- häufig von zwei verschiedenen Punkten aus. Der Anteil der dista-
haftigkeit beschleunigt, was wiederum die Voraussetzung für ei- len Epiphysen von Radius und Ulna macht 75–80% des Gesamt-
nen frühzeitigen Beginn der eigentlichen Bewegungsübungen des wachstums des Unterarmknochens aus.
Handgelenkes bildet. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu Der Schluss der distalen radialen Epiphysenfuge findet bei
berücksichtigen, dass jeder distalen Radiusfraktur eine schwere Mädchen im Alter von 15, bei Jungen im Alter von 16–19 Jahren
Handgelenksdistorsion vorangeht. statt. Zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr verschließt sich bei den
In der postoperativen Frühphase der Nachbehandlung gelten Mädchen die distale ulnare Fuge, bei Jungen zwischen dem 17. und
die Hochlagerung des Armes und lokale Kühlung sowie regelmäßige 18. Lebensjahr.
Fingerbewegungen als obligate abschwellende Maßnahmen. Diese Der proximale Epiphysenkern des Radius erscheint im 5.–7. Le-
können durch manuelle Lymphmassagen und -drainagen ergänzt bensjahr, der proximale Kern der Ulna im 9.–10. Lebensjahr, dies
werden. Als neueres Verfahren kann auch das Kinesio-Taping zur gilt für Mädchen und Jungen gleichermaßen. Zwischen dem 15.
Anwendung kommen, womit wir gute Erfahrungen gemacht haben. und 18. Lebensjahr verbinden sich bei beiden Geschlechtern die
Die suffiziente Behandlung der postoperativen Schmerzen ist Fugen mit dem Schaft ( Kap. 21).
ein wesentlicher Faktor zur Vermeidung eines CRPS. Meist ist eine
orale Basismedikation ausreichend. Bei schwerem Verletzungs- Korrekturmechanismen
befund, sehr starken oder therapierefraktären Schmerzzuständen Am Unterarmschaft können Korrekturen sowohl direkt als auch
sollte die Indikation zur Anlage eines Armplexuskatheters großzü- indirekt ablaufen. Man unterscheidet die Korrektur der Seit-zu-
gig gestellt werden. Seit-Verschiebung, der Verkürzung oder der Verlängerung. Weiter-
Ergo- und Physiotherapie sind die Hauptbestandteile der inter- hin gibt es Korrekturen nach Achsfehlstellungen, welche in Fehl-
mediären Nachbehandlungsphase. Neben der schnellstmöglichen stellungen der Frontal- und der Sagittalebene eingeteilt werden,
Wiedererlangung einer guten Finger- und Handgelenksbeweg- sowie Korrekturen nach Rotationsfehlern.
lichkeit durch belastungsfreie Bewegungsübungen geht es darum, Allen Korrekturen ist gemeinsam, dass sie altersmäßig limitiert
Muskelatrophien, Fehlstellungen, Schonhaltungen und Störungen sind. In der Literatur hat sich die Einteilung der Kinder mit einem
der Gelenkkette zu vermeiden, die Weichteiltrophik zu verbessern Lebensalter über oder unter 10 Jahren bewährt. Dennoch finden
und die Narbenbildung günstig zu beeinflussen. sich am Unterarm sowohl am distalen als auch proximalen Radius
Die Spätphase der Nachbehandlung beginnt nach Eintritt ei- noch bis zum 12. Lebensjahr ausgesprochen gute Korrekturpoten-
ner belastungsfähigen Frakturkonsolidierung. Schwerpunkt sind zen, die in einen Behandlungsalgorithmus integriert werden kön-
nun der Kraftaufbau der Hand- und Unterarmmuskulatur sowie nen. Diesbezüglich stellt der Unterarm eine Ausnahme gegenüber
die vollständige soziale und berufliche Reintegration. Nicht selten anderen Skelettabschnitten dar.
sind in dieser Phase noch Narbenbehandlungen und Lymphdrai- Seit-zu-Seit-Verschiebungen werden am Unterarm problemlos
nagen, in Einzelfällen auch die Verordnung eines Kompressions- auch bis zur Schaftbreite ausgeglichen. Die Schnelligkeit der Kor-
handschuhs, notwendig. rektur hängt von ihrer Nähe zur distalen Fuge und vom Alter des
Patienten ab. Distal sollte die Seit-zu-Seit-Verschiebung nicht über
halbe Schaftbreite und für die Schaftmitte nicht über ein Drittel des
31.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Schafts betragen, da es sonst gehäuft zu sekundären Dislokationen
kommen kann.
Annelie Weinberg, Barbara Schmidt Die Korrektur von Achsenabweichungen in der Frontal- und
Sagittalebene wird wie folgt beurteilt: Metaphysäre Frakturen zei-
> Die Behandlung der Frakturen des Unterarms in der Kindheit gen eine ausgesprochen gute Korrekturpotenz bei Fehlstellungen
unterscheidet sich fundamental von der Behandlung der glei- von bis zu 40°, vor allem in dorsoradialer Richtung. Die palmare
chen Frakturen im Erwachsenenalter. Fehlstellung korrigiert sich schlechter. Die Korrektur, der in Ver-
kürzung verheilten Knochen am Unterarmschaft, ist möglich. Die
Dies begründet sich durch das mögliche Remodelling, welches eine im Zuge des Wachstums eintretende Verlängerung eines der Part-
achsengerechte Heilung auch bei nicht exakter Stellung ermöglicht. nerknochen wird meistens bis zum Wachstumsabschluss ausgegli-
Dieses Korrekturvermögen ist abhängig von folgenden Faktoren: chen. Dieses Phänomen wirkt sich nicht bei den entsprechenden
1. Zeitpunkt des Fugenschlusses, Knochen der anderen Körperseite aus.
2. Wachstumspotenz der jeweiligen Fuge, Die Korrektur des Rotationsfehlers wird von den meisten Auto-
3. Lokalisation der Fraktur zur Fuge, ren bestritten. Da es sich um Röhrenknochen handelt und an anderen
4. Bewegungsebene des angrenzenden Gelenks, Skelettabschnitten Derotationsvorgänge registriert wurden, ist der
5. Alter des Kindes. eigentliche Nachweis für oder gegen mögliche Derotationsvorgänge
794 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
a b c
⊡ Abb. 31.23 12-jähriger Junge, Salter-Harris-II-Verletzung beim Sturz mit dem Fahrrad
bisher nicht geführt worden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jeder Fraktur anzutreffen. Das Auftreten einer verstärkten Längen-
der Rotationsfehler unter 20° radiologisch nur schwer zu diagnosti- zunahme korreliert entsprechend anderer Lokalisationen am Skelett
zieren ist. Klinisch ist der Rotationsfehler erst ab einem Ausmaß von mit der Zahl der Repositionen und Refrakturen. Die resultierende
20° mit Einschränkungen der Umwendbewegung verknüpft. Diese Längendifferenz zwischen Radius und Ulna ist jedoch aufgrund der
können auch im radiologischen Bild, durch einen Kalibersprung schnellen Frakturheilung gering und wird meist bis zum Wachs-
der Fragmente, nachgewiesen werden. Es erscheint fragwürdig, ob tumsabschluss auf ein tolerables Ausmaß zurückkorrigiert. Diese
mögliche Derotationsvorgänge dieses Ausmaß korrigieren würden. Längenkorrektur findet nur gegenüber der Ulna und nicht gegen-
Daher ist der radiologisch nachgewiesene Rotationsfehler nicht zu über dem entsprechenden Knochen der anderen Körperseite statt.
belassen und sollte behandelt werden (⊡ Tab. 31.7) Refrakturen nach Grünholz-Frakturen im metadiaphysären
Übergang und nach abgekippten Frakturen des distalen Radius
Wachstumsprognose treten im Gegensatz zu Brüchen der Diaphyse seltener auf. Eine
Hemmende Wachstumsstörungen. Zu Wachstumsstörungen des verzögerte Frakturheilung an der konkaven Seite ist zwar möglich.
vorzeitigen partiellen oder vollständigen Verschlusses einer Wachs- Diese kommt jedoch durch die Schnelle der Heilung klinisch nicht
tumsfuge mit konsekutivem Fehlwachstum kann es nach Epiphy- zum Tragen.
senfrakturen, Epiphysenlösungen, aber auch nach epiphysennahen
metaphysären, undislozierten und dislozierten Frakturen kommen. Möglichkeiten und Grenzen der Spontankorrektur
Die eigentliche Ursache derartiger Wachstumsstörungen ist unbe- Bei der metaphysären Unterarmfraktur können bedingt durch die
kannt. Die Rate der angegebenen Wachstumsstörungen variiert, Nähe ihrer Lage zur distalen Radiusepiphyse und durch den späten
dabei werden für den Radius Werte zwischen 1 und 7% und für Verschluss derselben zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr sowohl
die Ulna bis zu 21% genannt. Die Häufigkeit ist signifikant niedri- Seit-zu-Seit-Verschiebungen bis zur vollen Schaftbreite als auch Ach-
ger als der entsprechende Wert für die untere Extremität, der mit senfehlstellungen – in der Frontal- und Sagittalebene – bis zu 40° im
20–30% angegeben wird (⊡ Abb. 31.23). weiteren Wachstum spontan korrigiert werden. Die seltene palmare
Abkippung korrigiert sich schlechter als die dorsale. Im Allgemeinen
Stimulative Wachstumsstörungen. Am Radius sind Wachs- wird als Altersgrenze für das Auftreten dieser Korrektur das 10. Le-
tumsstörungen im Sinne eines partiellen Mehrwachstums nach bensjahr angegeben. Aber auch nach dem 10. Lebensjahr treten auf-
31.1 · Allgemeines
795 31
a b
grund des späten Verschlusses der Fuge noch Spontankorrekturen von Zugspannung wird das intakte Periost bei Grünholz-Frakturen
von Fehlstellungen von bis zu 20–30° auf (⊡ Abb. 31.24). die Stabilität im Bereich der Fraktur wahren (⊡ Abb. 31.25).
Do et al. (2003) bestätigten dies mit der Beobachtung, dass
sich bei offener Epiphysenfuge Achsabweichungen bei isolierten Pro- und Supination
Verletzungen von 15° dorsopalmar und 15° radioulnar sowie eine Die Umwendbewegung ist eine fast ausschließlich dem Menschen
Verkürzung von 1 cm im Durchschnitt von 7,5 Monaten vollstän- zur Verfügung stehende Bewegung. Nach Frakturen des Unterarmes
dig remodellieren. kommt es am häufigsten zu Störungen von Pro- oder Supination,
wobei die Pronation häufiger beeinträchtigt ist. Die durchschnittli-
Periost che Umwendbewegung des Unterarmes liegt bei 150–170° und kann
Die Knochen von Kindern verfügen über ein sehr dickes, pluripo- durch Einbeziehung des Handgelenks Werte über 180° erreichen.
tentes Periost, welches eine Fraktur mechanisch stabilisiert und auch Der Abstand der Ansätze der Membrana interossea antebrachii
zu einem schnellen Heilungsverlauf beiträgt. Im Gegensatz zu der zwischen Ulna und Radius wird für jede Knochenstellung und in
oft offenen Reposition und Fixation der Frakturen bei Erwachsenen jeder Schnittebene möglichst minimal gehalten. Für die beschrie-
können diese daher bei Kindern geschlossen ohne Osteosynthese bene Umwendbewegung konnte keine konstante Drehachse gefun-
therapiert werden. Im Falle einer Grünholzfraktur wird das Periost den werden. Stattdessen findet die Bewegung um eine Bezugsachse
üblicherweise auf der konvexen oder gespannten Seite verletzt, wäh- statt, deren räumliche Lage sich abhängig vom Drehwinkel ändert.
rend auf der konkaven oder Kompressionsseite eine intakte Brücke Sie ist kinematisch als momentane Schraubachse zu definieren.
des Periostes vorhanden ist. Im Zuge der Frakturheilung kann es an Dies kann auf die Bewegungsabläufe von Radius und Ulna
der konvexen Bruchstelle zu einer Durchbauungsstörung kommen. zurückgeführt werden. Der Radius rotiert um seine Längsachse.
Diese kann als Refraktur klinisch relevant werden. Unter Anwendung Die Ulna führt eine Lateralisation, welche eine Abduktions-Exten-
796 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
a b c
Funktionelle Deformitäten
Einschränkungen der Umwendbewegung sind abhängig von der
Richtung der Achsenfehlstellung im Raum, dem Ausmaß und der
Lokalisation der Fraktur. Anhand von Experimenten an humanen
Präparaten konnte aufgezeigt werden, dass besonders in der Schaft-
mitte ein Funktionsverlust bereits bei einer Angulation von 10°
eintreten kann. Die Defizite sind vor allem bei Einengungen des
interossären Raums zu erwarten. Andererseits müssen Fehlstellun-
gen, die den interossären Raum vergrößern, nicht mit einer Bewe-
d gungsbehinderung einhergehen. Bei proximalen Frakturen kann die
interossäre Distanzverkürzung eine Verminderung des Rotations-
ausmaßes dadurch verursachen, dass es zu einem Impingement der
Tuberositas radii gegenüber der Ulna kommt. Frakturen am distalen
Ende des Unterarms gehen seltener mit einer Bewegungseinschrän-
kung einher. Dies begründet sich in der Tatsache, dass die Über-
kreuzung beider Knochen am anfälligsten für Störungen ist. Daher
können im distalen Bereich auch höhere Fehlstellungen belassen
werden. Distale metaphysäre Frakturfehlstellungen der Ulna können
die Spannung am Diskus derartig erhöhen, dass das Ulnaköpfchen
nicht mehr frei bewegt werden kann. Demzufolge kommt es dann
ebenfalls zu Funktionsstörungen der Umwendbewegung, aber auch
der anderen Bewegungsrichtungen des Unterarms. Die Experimente
an humanen Präparaten berücksichtigen nicht, ein für Kinder typi-
scherweise auftretendes Remodelling. Es findet sich eine Korrelation
des Restwinkels der Frakturen und des Bewegungsausmaßes der
involvierten Extremitäten einerseits sowie der eintretenden Spontan-
korrektur anderseits. Allerdings finden sich in der Literatur Hinwei-
se, dass auch Frakturen, die in anatomischer Stellung verheilen, mit
Verlusten der Rotationsfähigkeit einhergehen können.
Knochenbereiche gestaucht sein. Sie werden als Wulstfrakturen des der Fraktur der Ulna vorgenommen. Neben der klassischen
kindlichen Unterarms bezeichnet. Form ist vor allem bei Kindern auch eine äquivalente Läsion
bekannt; die Radiusfraktur kombiniert mit einer Epiphysiolyse
Metaphysäre Biegungsbrüche eines oder beider Knochen. der distalen Ulna. Die Äquivalentverletzung ist bei Kindern
Diese Läsionen imponieren durch eine Fraktur nur einer Kortikalis häufiger als die klassische Läsion. Diese Klassifikation ist hilf-
und meist der Stauchung der anderen Kortikalis. Diese Frakturen reich für die Beschreibung der Läsion, aber für die Therapie
gehen häufig mit einer Achsenabweichung einher. Zusätzlich wei- und Prognose wenig aussagekräftig.
sen diese Frakturen oft einen Wulstbruch der Ulna auf. Es ist nicht
immer einfach, die Grünholzfraktur von der Stauchungsfraktur, Indikationen und Differenzialtherapie
die abgekippt ist, zu trennen. Da die Grünholzfraktur in der Meta- Extraartikuläre distale Unterarmfrakturen
physe nur selten Komplikationen aufweist, kann man diese beiden Bei den metaphysären Frakturen einschließlich der Epiphysenlö-
Frakturformen zusammen betrachten. sung ist das Ziel der Therapie, sowohl funktionelle als auch kosme-
tische Deformitäten zu vermeiden. Da es sich um extraartikuläre
Vollständige Fraktur. Hier sind beide Kortikales durchbrochen Frakturen handelt, muss die achsengerechte Redression nicht um
und sie ist meist vollständig disloziert. Hier kommt es zu einer jeden Preis angestrebt werden. Als Behandlungsmöglichkeiten ste-
Verkürzungsfehlstellung. hen folgende Optionen zur Verfügung:
1. Konservation mit Integration der Spontankorrekturen,
31 Epiphysenlösung des distalen Radius mit oder ohne meta- 2. geschlossene Reposition und Gips,
physären Keil. Meist gehen diese Verletzungen mit einer Läsion 3. geschlossene Reposition mit zusätzlicher Kirschner-Draht-
der Ulna einher. Dabei kann es sich um Frakturen des Processus Stabilisierung,
styloideus ulnae, eine Epiphysenlösung oder einen metaphysären 4. offene Reposition, Osteosynthese (»open reduction internal
Wulstbruch handeln. Neben der Epiphysenlösung werden auch fixation«, ORIF),
Epiphysenlockerungen am Radius beschrieben, die wiederum zu- 5. Gipskeilung (dies ist nur möglich bei entsprechend geschultem
sätzlich von den oben genannten Läsionen der Ulna begleitet sein Personal und Weiterbehandlung des Patienten in derselben
können. Insitution),
6. Kirschner-Draht-Stabilisierung, Plattenosteosynthese beim
Frakturen am metadiaphysären Übergang. Sie nehmen eine Adolszenten.
Sonderstellung ein. Ihre Versorgung entspricht den diaphysären
Frakturen. Prognostisch sind diese Frakturen jedoch zu den meta- Alle primär undislozierten stabilen Frakturen werden in Unter-
physären Läsionen zu rechnen, sowohl bezüglich der Spontankor- armgips bzw. -schiene ruhiggestellt. Geschlossene Gipse müssen
rekturen als auch den zu erwartenden Bewegungseinschränkungen. gespalten werden und sind um den 8. Tag zirkulär zu schließen.
Diese Frakturen befinden sich hinter dem Überkreuzungspunkt Eine radiologische Kontrolle der stabilen metaphysären Unterarm-
bei der Umwendbewegung. fraktur ist nicht notwendig.
Zusätzlich nützt die Einteilung in stabile und instabile Verlet- Handelt es sich um eine undislozierte instabile Fraktur, so
zungen der radioulnaren Funktionseinheit: wird diese ebenfalls im Gips retiniert, wobei die Instabilität per se
Als stabil gelten alle Frakturen mit Bruch nur einer Kortika- einen Oberarmgips für den Patienten nach sich zieht. Geschlossene
lis (Grünholz-Fraktur), weiterhin alle Stauchungsfrakturen sowie Gipse müssen gespalten werden und um den 6.–8. Tag nach dem
Frakturen nur eines Knochens. Trauma bei entsprechender Abschwellung zirkulär geschlossen
werden. Zu diesem Zeitpunkt werden diese Frakturen radiologisch
> Die Abkippung stellt ein therapeutisches Kriterium, jedoch
kontrolliert. Zeigt sich eine sekundäre Dislokation der Fraktur, so
keinen eindeutigen Hinweis auf Instabilität bei diesen Fraktu-
entscheiden die Kriterien Verschiebung ad latus, Verkürzung sowie
ren dar.
Ausmaß der Abkippung – entsprechend den primär abgekippten
Als instabil gelten alle Frakturen beider Kortikales sowie alle Epi- Frakturen – über das weitere Vorgehen.
physenlösungen und vollständig dislozierte Frakturen. Primär oder sekundär abgekippte/dislozierte stabile Fraktu-
ren bedürfen einer geschlossenen Reposition. Die Technik der
Intraartikuläre distale Unterarmfrakturen Reposition im Aushang und/oder manuellen Manöver entspricht
Epiphysenfrakturen des distalen Radius können eingeteilt wer- jenem beim Erwachsenen (⊡ Abb. 31.17).
den in reine epiphysäre Frakturen (Salter-Harris III) und epimeta- Bezüglich der Anästhesie bestehen im Vergleich zum Erwach-
physäre Läsionen (Salter-Harris IV). Zusätzlich sind Übergansfrak- senen wichtige Unterschiede:
turen beschrieben worden ( Kap. 10). ▬ Eine Bruchspaltanästhesie und eine subaxilläre Plexusanästhe-
sie kommen nur beim Adoleszenten in Frage.
Sonderformen ▬ Eine Analgosedierung ist in Abhängigkeit von der Fraktur-
Isolierte distale Fraktur (Epiphysenverletzung) der Ulna form und dem Alter möglich. Sie sollte nur dann gewählt wer-
Bei dieser Verletzung wird eine transepiphysäre Verletzung von den, wenn kein zusätzlicher chirurgischer Eingriff notwendig
einer intraepiphysären Läsion abgegrenzt. werden könnte.
▬ Die Indikation zur Allgemeinanästhesie ist bei Kindern groß-
Galeazzi-Läsionen zügig zu stellen (Traumabewältigung). Bei Kindern unter
Bei der Galeazzi-Läsion handelt es sich um die Kombination aus 4 Jahre ist sie obligat. Bei Kindern über 12 Jahren sollte die
Radiusschaftfraktur mit Luxation des distalen Ulnaendes, wobei Reposition immer in Allgemeinanästhesie erfolgen, da bei
vielfältige Kombinationen zu beobachten sind. Nach Letts und Instabilität der Fraktur eine sofortige osteosynthetische Ver-
Rowhani (1993) werden 4 Haupttypen unterschieden. Die wei- sorgung erfolgt. Absolute Indikationen zur Reposition in All-
tere Unterteilung wird dann entsprechend der Dislokation bzw. gemeinanästhesie sind in der folgenden Übersicht dargestellt.
31.1 · Allgemeines
799 31
⊡ Abb. 31.27 Einteilung der distalen metaphysären Unterarmfrakturen. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
800 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
⊡ Tab. 31.9 Maximal tolerable altersabhängige Fehlstellung bei der Primärtherapie für die distale Radiusepiphysenlösung im Wachstumsalter. Bei
Überschreiten der Werte wird die Reposition empfohlen
⊡ Tab. 31.10 Maximal tolerable altersabhängige Fehlstellung bei der Primärtherapie für komplett durchgebrochene distale metaphysäre Unterarm-
frakturen im Wachstumsalter. Bei Überschreiten der Werte wird die Reposition empfohlen
a b c d
⊡ Abb. 31.28 Palmare Plattenosteosynthese mit Positionierung der Schrauben proximal der adoleszenten Wachstumsfuge
a
b
⊡ Abb. 31.29 Die Schienung von distal kann bei Frakturen des Übergangs von Meta- zu Diaphyse problematisch sein. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
802 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
Üblicherweise erfolgt die Reposition in Allgemeinanästhesie und der Luxation im distalen Radioulnargelenk anstreben. Gelingt eine
unter Bildwandlerdurchleuchtung im Operationssaal. Diese gelingt stabile Reposition, so kann die Verletzung konservativ im Ober-
in der Regel problemlos ohne operative Freilegung des Knochens. armgips in Supinationsstellung ausbehandelt werden. Bringt die
Die Stabilität des Repositionsergebnisses bzw. die Gefahr einer geschlossene Reposition keine stabile Retention am Radius, ist die
Redislokation ist oftmals nur schwer einzuschätzen. Diese wird Stabilisierung operativ durch eine intramedulläre Markraumschie-
für die ersten 2 Wochen mit bis zu 13% angegeben. Aus diesem nung oder bei Adoleszenten ggf. durch eine Plattenosteosynthese
Grund ist beim geringsten Verdacht auf eine mögliche Instabilität zu sichern. Eine zusätzliche Revision am Handgelenk ist meistens
eine perkutane Fixierung mittels Kirschner-Draht zu fordern. Die nicht erforderlich.
Retention der operierten Frakturen kann angesichts der geringen Bei operativ versorgten Frakturen kann die Nachbehandlung
Größe der Knochen nur mit dünnen Kirschner-Drähten erfol- frühzeitig mit spontanen Bewegungsübungen, anfänglich aus einer
gen. Je nach Knochengröße wählt man die Drahtdicke zwischen Gipsschiene heraus, erfolgen.
0,8–1,4 mm.
Therapie
> Nach Kreuzen der Wachstumsfuge muss die Eindrehge-
Der Therapiealgorithmus richtet sich nach dem Alter bzw. der Rei-
schwindigkeit zur Vermeidung thermischer Schäden mög-
fe der Epiphysenfuge:
lichst gering gehalten werden.
▬ Bei geschlossener Fugen erfolgt die Behandlung wie bei den
Die Drahtentfernung erfolgt nach einem altersabhängigem Zeit- Erwachsenen.
31 schema (⊡ Tab. 31.11): ▬ Kinder über 12 Jahre mit abgekippten Frakturen sind primär
Da es sich um Gelenkverletzungen handelt, sind eine offene definitiv zu versorgen und werden daher in Allgemeinan-
Reposition und eine Fixation bei Dislokationen oder Distraktionen ästhesie reponiert. Bei Instabilität werden diese Frakturen
über 2 mm angezeigt. entsprechend osteosynthetisch versorgt, insbesondere weil in
Mögliche Wachstumsstörungen sind durch eine Operation dieser Altersgruppe die Epiphysenlösungen zunehmen und
nicht zu verhindern. Handelt es sich um Patienten mit geschlosse- die Gefahr besteht, im Verlauf eine sekundäre Dislokation zu
nen Fugen, kommen die winkelstabilen Implantate bei palmarem entwickeln. Repositionen in Analgosedierung haben sich in
Zugang am häufigsten zum Einsatz. dieser Altergruppe bei instabilen, verkürzten Frakturen nicht
Nachbehandlung und Nachkontrollen erfolgen entsprechend bewährt, da bei insuffizientem Repositionsergebnis – durch
den anderen Läsionen des distalen Unterarmes. die zu geringe Spontankorrektur – ggf., d.h. in etwa einem
Drittel der Patienten, Nachrepositionen notwendig werden.
Sonderformen ▬ Kinder zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr werden in Allge-
Isolierte distale Fraktur (Epiphysenverletzung) der Ulna meinnarkose reponiert, wenn es sich um verkürzte, vollstän-
Transepiphysäre Frakturen werden im Rahmen der konservati- dig dislozierte und instabile Verletzungen handelt. Bei diesen
ven Therapie geschlossen reponiert. Intraepiphysäre Frakturen des Frakturformen sollte die Reposition in »Kirschner-Draht-Be-
ulnaren Styloids liegen in 33% der Fälle als Begleitverletzungen reitschaft« durchgeführt werden. Bei ungenügender Stabilität
einer distalen Radiusfraktur vor. In diesen Fällen wird der Radius erfolgt eine zusätzliche Kirschner-Draht-Osteosynthese. Alle
zuerst reponiert. Die Therapie der Ulna ist sekundär und häufig dislozierten abgekippten per se stabilen Frakturen werden in
nicht separat notwendig, da sie während der Reposition des Radius Analgosedierung reponiert. Dabei wird in Kauf genommen,
spontan mitreponiert wird. dass bereits initial eine mögliche Spontankorrektur bei der
Kann eine geschlossene Reposition aufgrund von interponierten Beurteilung der altersentsprechenden akzeptablen Ergebnisse
Weichteilen nicht erfolgreich durchgeführt werden, so ist, ebenso mitintegriert wird (Absprache mit den Eltern, die über das
wie bei Frakturinstabilität, ein operatives Vorgehen zu wählen. Pri- zumutbare Maß und den Aufwand aufgeklärt wurden).
mär offene Frakturen bedeuten eine absolute Operationsindikation. ▬ Bei Kindern unter dem 6. Lebensjahr kann nach durchge-
Die Nachbehandlung erfolgt wie bei distalen Radiusverletzungen führter Reposition eine konservative Therapie in allen Fällen
empfohlen werden, da sich fast alle Fehlstellungen in einem
Galeazzi-Läsionen zumutbaren Zeitfenster spontan korrigieren können und da-
Die Therapie muss die physiologische Armlänge wiederherstellen mit eine zweite Narkose zur Materialentfernung vermieden
und damit die Reposition der Radiusfraktur sowie die Beseitigung werden kann.
⊡ Tab. 31.11 Zeitschema für die bzw. Drahtentfernung bei der kindlichen Radiusfraktur
Undislozierte metaphysäre Frakturen ohne Reposition 3 Wochen 3–4 Wochen 4–5 Wochen
Metaphysäre Frakturen nach Reposition 3–4 Wochen 3–4 Wochen 4–5 Wochen
Metaphysäre Frakturen nach Reposition und Osteosynthese 3–4 Wochen 3–4 Wochen 4–5 Wochen
Epiphysäre Frakturen nach Reposition und Osteosynthese 3 Wochen 3–4 Wochen 3–4 Wochen
31.1 · Allgemeines
803 31
Das therapeutische Vorgehen für die Unterguppen der distalen letzungen. In der Literatur wird betont, dass diese Verletzung mit einer
metaphysären Frakturen im Wachstumsalter ist in ⊡ Tab. 31.12, hohen Rate an Pseudarthrosen einhergeht. Diese brauchen in den
⊡ Tab. 31.13, ⊡ Tab. 31.14 und ⊡ Tab. 31.15 dargestellt. meisten Fällen nicht behandelt werden, da sie fast immer asymptoma-
tisch bleiben. Gelegentlich kann die Exzision des Fragments ratsam
Komplikationen sein, um Schmerzen und Funktionseinschränkungen zu verhindern.
Die meisten distalen Unterarmfrakturen heilen folgenlos aus. Bei Ver- Eine persistierende Schmerzsymptomatik im Handgelenk kann
letzungen mit Beteiligung der Epiphysenfuge können Wachstumsstö- auf eine Begleitverletzungen oder chronische Kompression des ulno-
rungen vorkommen. Dieses Risiko ist hoch bei ulnaren Epiphysenver- karpalen Diskus im distalen Radioulnargelenk zurückzuführen sein.
Zu den Komplikationen zählen belassene Fehlstellungen, die
funktionelle Beeinträchtigungen nach sich ziehen.
⊡ Tab. 31.12 Therapeutisches Vorgehen bei der distalen metaphysären Nach wie vor existieren nur wenige Studien, in denen dezidiert
Fraktur im Wachstumsalter: Undislozierte metaphysäre Stauchungsfraktur die Fehlstellung hinsichtlich der Wiedererlangung der Beweglich-
Unfall Gipsschiene keit prospektiv kontrolliert wurde. Blockierende Fehlstellungen
korrigieren sich meist nicht.
7. Tag Gipsschluss
Bei offenen Frakturen ist das Risiko einer Infektion erhöht. Des
14.–21. Tag Gipsentfernung Weiteren können Refrakturen und Wachstumsstörungen vermehrt
Klinische Kontrolle nach diesen Verletzungen beobachtet werden.
Bei der Galeazzi-Läsion können Angulationen von mehr als
Kein Röntgen notwendig
10° mit Einschränkungen von Pro- und Supination einhergehen.
⊡ Tab. 31.13 Therapeutisches Vorgehen bei der distalen metaphysären Fraktur im Wachstumsalter: Undisloziert bzw. mit primär altersentsprechend
akzeptabler Achsenfehlstellung
⊡ Tab. 31.14 Therapeutisches Vorgehen bei der distalen metaphysären Fraktur im Wachstumsalter: Primär abgekippte stabile Fraktur (Bruch nur eines
Knochens, Biegungsfraktur)
⊡ Tab. 31.15 Therapeutisches Vorgehen bei der distalen metaphysären Fraktur im Wachstumsalter: Vollständig dislozierte Epiphysiolysen/Frakturen
beider Knochen (instabil)
Zwischen 10. und 12. Lebensjahr entsprechend dem Knochenalter und nicht dem biologischen Alter vorgehen!
Weitere Komplikationen sind Nervenverletzungen, radioulnare Su- 31.2.2 Kirschner-Draht-Spickung nach Kapandji
bluxationen und Wachstumsstörungen.
Die traditionelle Spickung nach Kapandji erfolgt mit drei Drähten
> Galeazzi-äquivalente Verletzungen weisen, trotz anatomischer
von dorsal bzw. dorsoradial. Diese werden in den Frakturspalt di-
Reposition, eine hohe Rate an frühzeitigem Fugenschluss auf.
rekt eingebracht und anschließend die distale Metaphyse über die
distalen Schäfte der Drähte reponiert. Die Fixation erfolgt dann in
der Gegenkortikalis. Vorteil dieses Verfahrens ist die Möglichkeit
31.2 Spezielle Techniken der Reposition unter Zuhilfenahme der Kirschner-Drähte, im Sinne
eines Hebels (Joystick-Methode; ⊡ Abb. 31.31). Der große Nachteil
31.2.1 Kirschner-Draht-Osteosynthese nach Lambotte dieses Verfahrens ist eine mögliche Irritation der Strecksehnen so-
wie eine fraglich ausreichende Stabilität. Insbesondere Brüche mit
Beim Erwachsenen erfolgt der Eingriff in Plexusanästhesie, im größerer dorsaler Trümmerzone neigen zu Instabilität.
Bier-Block oder ggf. auch in einer Bruchspaltanästhesie. Beim Kind
ist eine Allgemeinanästhesie zu fordern. Obligat ist eine intraope-
rative Durchleuchtungsmöglichkeit. Bei der Kirschner-Draht-Os- 31.2.3 Kombinierte Kirschner-Draht-Verfahren
teosynthese nach Lambotte werden nach der geschlossenen Repo-
sition zwei Kirschner-Drähte über dem Processus styloideus radii, Bei einem kombinierten Verfahren kann man sich die Repositi-
31 die Frakturzone überbrückend, in die Gegenseite der Kortikalis des onstechnik nach Kapandji zunutze machen. Dorsal werden hier 1
Radius proximal verankert. Dieses Verfahren erfordert genügend oder 2 Drähte eingebracht. Es erfolgt eine zusätzliche Stabilisation,
Knochenmasse im Bereich des Processus styloideus radii sowie entweder über einen Draht über dem Processus styloideus radii,
eine stabile Knochenstruktur auf der Verankerungsseite. im Sinne einer Spickung nach Lambotte, oder eine direkte Fixation
Dünnere Kirschner-Drähte als 1,6 mm sind biomechanisch in- größerer Fragmente. Kombinierte Verfahren scheinen bezüglich
stabil. 2,0-mm-Kirschner-Drähte führen zu einer verbesserten Rota- ihrer Stabilität den Einzelverfahren überlegen zu sein. Auch die
tionsstabilität. Die Biegefestigkeit weist bei 2,0-mm-Kirschner-Dräh- Verwendung von lediglich zwei Drähten kann für die notwendige
ten keine Verbesserung gegenüber den 1,6-mm-Kirschner-Drähten Stabilität ausreichen.
auf. Bei diesem Zugangsweg, werden die Strecksehnenfächer ge-
schont. Um eine größtmögliche Stabilität zu erreichen, muss der
Draht in einem möglichst steilen Winkel kreuzen und die Gegenkor- 31.2.4 Schraubenosteosynthese
tikalis sicher fassen. Dies bedeutet bei Kindern in den meisten Fällen
einen Zugang über die Epiphyse mit Kreuzung der Fuge. Die Reposition des Proc.-styloideus-Fragments kann entweder
manuell oder mit einer kleinen Repositionszange erfolgen. Die
> Es ist unbedingt darauf zu achten, dass die Kirschner-Drähte B1.3-Frakturen lassen sich am besten über einen dicken Kirschner-
zentral durch die Fuge eingebracht werden, da eine peri- Draht unter Längszug direkt geschlossen oder offen reponieren.
phere Lage die Durchblutung der Epiphyse in der Ranvier- Die B1.1-Frakturen (lateral einfach) und B1.2-Frakturen (la-
Zone gefährdet (⊡ Abb. 31.30). teral Mehrfragment) werden zunächst mit 2 Kirschner-Drähten
stabilisiert. Aufgrund der ventralen Lage des Proc. styloideus im
Bei einer Gelenkfraktur wird zuerst ein zum Gelenk paralleler Vergleich zur mittleren Achse des distalen Radius sollte die Ver-
Draht eingeführt oder aber das ulnare Fragment von dorsolateral laufsrichtung der Kirschner-Drähte nach proximal ulnar und etwas
her mit einem weiteren Kirschner-Draht stabilisiert. Seine Aufgabe dorsal gerichtet sein, um die dorsoulnare Kortikalis zu erreichen.
besteht in der Retention des reponierten Radioulnargelenks. Ein Es erfolgt zunächst die Stabilisierung mit 2 Kirschner-Drähten. Bei
Oberarmgipsverband zur Verhinderung der Supination und Pro- genügend großem Fragment kann der Austausch gegen 2 Schrau-
nation ist dann natürlich unerlässlich. ben erfolgen oder es wird ein Kirschner-Draht belassen und der
b c d
a
⊡ Abb. 31.30 Technik der perkutanen Kirscher-Draht-Osteosynthese nach Lambotte. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
31.2 · Spezielle Techniken
805 31
andere Kirschner-Draht durch eine Zugschraube ersetzt. Um eine werden und nach Applikation der Platte auf die Platte zurückver-
gleichmäßige Kompression zu erzielen, sollen die Schrauben paral- lagert werden. Dieses Vorgehen erzielt einen sicheren Schutz der
lel eingebracht werden (⊡ Abb. 31.20). EPL-Sehne. Die Gelenkkapsel kann über eine Längsarthrotomie
Bei den B1.3-Frakturen (medial) kann das in Reposition ge- zur besseren Übersicht der radialen Gelenkfläche des Karpus eröff-
haltene Fragment perkutan mit 1–2 Kirschner-Drähten fixiert net werden (⊡ Abb. 31.32)
werden. Durch manuelle Kompression in radioulnarer Richtung
durch einen Assistenten und das Fixieren des Fragments durch den Operatives Vorgehen bei A3- und B2-Frakturen ohne knö-
von dorsal eingebrachten Kirschner-Draht wird beim Einbringen chernen Defekt. Die dorsal applizierte Platte fungiert als Ab-
der beiden zur Stabilisierung eingebrachten Kirschner-Drähte eine stützplatte. Es erfolgt zunächst die Reposition und Fixierung des
weitere Diastase bzw. Dislokation vermieden. Proc.-styloideus-radii-Fragmentes mit einem Kirschner-Draht.
Postoperativ kann für einige Tage eine dorsale Gipsschiene Die anatomische Reposition kann metaphysär überprüft wer-
angelegt werden. Ansonsten ist bei guter Knochenstruktur die den. Die dorsale Randfraktur wird anschließend gegen Skaphoid
Fraktur übungsstabil versorgt. und Lunatum reponiert und die dorsale Subluxation des Karpus
korrigiert. Die intraartikuläre Kongruenz wird über eine dorsale
Querarthrotomie oder mit Bildwandler überprüft. Die Gelenk-
31.2.5 Plattenosteosynthese fragmente können gegen das palmare Fragment des Radius fixiert
werden. Bei metaphysärem Defekt ist u. U. eine Spongiosaplastik
Für die Durchführung einer Plattenosteosynthese bestehen mehre- notwendig.
re operative Zugänge zum distalen Handgelenk.
Operatives Vorgehen bei A3- und B2-Frakturen mit knö-
Dorsaler Zugang chernen Defekt. Mit den neuen winkelstabilen Platten kann
Beim dorsalen Zugang erfolgt ein S-förmiger oder bogenförmiger nicht nur eine Abstützfunktion erreicht werden, sondern auch
Hautschnitt über dem Radius nach distal auslaufend. Nach Durch- im Sinne eines Fixateur interne eine dauerhafte Retention. Der
trennung des subkutanen Fettgewebes trifft man auf das R. exten- Knochendefekt muss nicht mehr mit einem kortikospongiösen
sorum. Dieses wird üblicherweise vom 3. bis hin zum 4. Streckseh- Span aufgefüllt werden, es genügt die einfache Unterfütterung
nenfach Z-förmig eröffnet oder als ulnar gestielter türflügelartiger mit dem osteogenetisch aktiveren spongiösen Knochen. Nach
Lappen zwischen dem 1. und 2. Strecksehnenfach abgelöst. Durchführung der Osteosynthese kann die Rekonstruktion des
Das 4. Strecksehnenfach kann subperiostal abgeschoben wer- Retinakulums über eine Retinakulumplastik erfolgen. Hierbei
den, um die Unterfläche des Kompartments nicht zu verletzen. wird das Band transversal in 2 Lappen gespalten. Der eine Lappen
Dadurch wird die Irritation der Strecksehnen über der Platte ver- wird zwischen Platte und Strecksehnen, der andere Lappen über
mindert. Die Extensor-pollicis-longus-Sehne wird mobilisiert und die Strecksehnen gelegt und an der radialen Seite vernäht. Dies
verbleibt beim Wundverschluss oberhalb des Retinakulums, um vermeidet einen Bogensehneneffekt bei Anspannung der Handge-
eine Verletzung der Sehne durch Ischämie oder direkten Kontakt lenk- und Fingerstrecksehnen.
mit dem Implantat zu vermeiden. Jetzt können die Strecksehnen
beiseite gehalten werden. Am Boden des 4. Strecksehnenfachs fin- Operatives Vorgehen bei C2-Frakturen nach Rikli. Die in-
det man den Nervus interosseus posterior. Dieser hat die Aufgabe termediäre Säule (⊡ Abb. 31.3) wird über den oben beschriebenen
der Schmerzweiterleitung des Handgelenks. Hier kann eine Teil- Zugang dargestellt. Die radiale Säule wird nicht unter Weiterfüh-
denervierung durch Nervenexhärese durchgeführt werden. Die ren der Präparation subperiostal von ulnar nach radial unter dem
Fraktur lässt sich nun darstellen. Zum Anpassen einer dorsalen 2. Fach angegangen, sondern durch eine subkutane Präparation
Platte kann eine Entfernung der fibrösen Anteile des Tuberculum zwischen Hautlappen und Retinakulum nach radial dargestellt.
listeri erforderlich sein. In diesem Bereich findet man in der Regel Dabei muss der Ramus superficialis N. radialis aufgesucht und
eine dorsale Trümmerzone, welche sich ggf. für das Einbringen von geschont werden. Die Sehnen des 1. Fachs werden proximal im
Knochenersatzstoffen eignet. Alternativ kann das Tuberkulum Lis- Bereich des muskulotendinösen Übergangs aus ihrem Fach he-
teri samt der EPL-Gleitschicht mit einem Flachmeißel abgehoben rausgelöst. Hier liegt meist die Frakturzone der radialen Säule
31
c b
⊡ Abb. 31.32 Darstellung möglicher dorsaler Zugänge zum distalen Radius und zum Ra-
dioulnargelenk, zur Ulna sowie zum distalen Radioulnargelenk und zum Ulnokarpalgelenk.
a Mögliche Lokalisationen des Hautschnittes, b dorsaler Zugang zum Handgelenk mit Dar-
stellung des Retinaculum extensorum, c Eingehen zwischen dem 3. und 4. Strecksehenfach:
Das 4. Strecksehnenfach kann subperiostal abgeschoben werden, um die Unterfläche des
Kompartments nicht zu verletzen. Dadurch wird die Irritation der Strecksehnen über der
Platte vermindert. Die Extensor-pollicis-longus-Sehne wird mobilisiert und verbleibt beim
Wundverschluss oberhalb des Retinakulums, um eine Verletzung der Sehne durch Ischämie
oder direkten Kontakt mit dem Implantat zu vermeiden. d Nach Resektion des N. interosseus
posterior auf einer Länge von 2 cm (dorsale partielle Handgelenkdenervierung), Darstellung
der Fraktur. Die Gelenkkapsel kann über eine Längsarthrotomie zur besseren Übersicht der
radialen Gelenkfläche des Karpus eröffnet werden. e Verschluss der Gelenkkapsel und des
Retinaculum extensorum im proximalen Anteil über den Strecksehnen. Im distalen Anteil
kann eine Retinaculumstreifung unter die Strecksehnen geführt werden, um die Streckseh-
e nen von der Osteosyntheseplatte zu trennen. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
31.2 · Spezielle Techniken
807 31
(⊡ Abb. 31.33a). Mit diesem Zugang kommt die Platte radial und sollte dabei nicht über die Spitze des Styloids ragen. Manchmal ist
nicht dorsoradial zu liegen und stützt damit die radiale Säule kor- es erforderlich, die Sehnen des M. brachioradialis an ihrem Ansatz
rekt ab. Die Reposition wird vorläufig mit dünnen Kirschner-Dräh- etwas einzukerben, da deren Zug als Repositionshindernis wirken
ten fixiert. Zur Einstellung der Länge sind die dorsal ausgebroche- kann. Die Platte wird ebenfalls vorläufig im langen Loch fraktur-
nen Kortikalisschalen im Bereich der metaphysären Trümmerzone nahe im proximalen Fragment mit einer Standardschraube fixiert.
hilfreich. Nun wird eine passende L-Platte angeformt. Sie muss Anschließend Kontrolle der Reposition und Positionierung der
meist distal etwas zurückgebogen und in sich verwrungen werden. Implantate im Bildverstärker. Korrekturen der Reposition und der
Die Platte wird mit einer Standardschraube bevorzugt durch das Lage der Platten können jetzt noch problemlos vorgenommen wer-
lange Loch im proximalen Fragment frakturnah vorläufig fixiert den. Die Osteosynthese wird dann vervollständigt, indem zuerst
(⊡ Abb. 31.33b). Eine S-förmig vorgeformte Platte wird unter den jeweils das proximalste Plattenloch mit einer Standardschraube be-
Sehnen des 1. Fachs durchgeschoben und so platziert, dass sie den stückt wird. Damit kann die Platte nicht mehr verrutschen. Dann
Processus styloideus radii und damit die radiale Säule abstützt. Sie werden die distalen Plattenlöcher mit winkelstabilen Schrauben
a
b
⊡ Abb. 31.33 Operatives Vorgehen bei C2–Frakturen nach Rikli. a Darstellung der radialen Säule über eine subkutane Erweiterung des dorsalen Zugangs
unter Beachtung der Äste des R superficialis N radialis. Das 1. Strecksehnenfach wird eröffnet. b Nach Reposition der Knochenfragmente mit temporärer
Kirschner-Draht-Fixierung, Anbringen der L-förmigen Platte im Bereich der intermediären Säule. Nach Durchschieben unter dem 1. Strecksehnenfach,
Anbringen der lateralen Platte. c Nach intraoperativer Bildwandlerkontrolle Fertigstellung der Osteosynthesen, Lösung des Fixateur externe und Durch-
bewegen des Handgelenks unter klinischer und röntgenologischer Kontrolle. d Schichtweiser Wundverschluss, wobei das erste Fach offen gelassen wird.
Die EPL-Sehne belassen wir subkutan, indem der Retinakulumlappen zwischen Sehne und dorsoulnare Platte gezogen und vernäht wird. Die EPL-Sehne
bleibt durch Belassen des distalen Teils des Fachs genügend geführt. Proximal kommt sie subkutan zu liegen, ohne Kontakt zur dorsoulnaren Platte. (Aus
Rikli et al. 2005)
808 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
besetzt. In der radialen Platte reichen 2 Schrauben aus. Die distals- Kirschner-Drähte hilfreich sein. Dazu werden 1,0–1,5 mm starke
te Schraube wird in der Regel sehr kurz sein, die proximale lang; Kirschner-Drähte in schräger Verlaufsrichtung außerhalb der spä-
sie unterstützt zusätzlich das radiokarpale Gelenk. Im Bereich der teren Plattenlage eingebracht. Alternativ können die Drähte auch
dorsoulnaren Platte wird in der Regel der quere Plattenschenkel nach dorsal hindurchgeführt werden und zwar so weit, bis das
mit winkelstabilen Schrauben besetzt. Damit wird die rekonst- Drahtende mit der palmaren Fläche abschließt. Eine Radiusplatte
ruierte Gelenkfläche subchondral abgestützt. Es muss darauf ge- wird nun entsprechend angebogen und zunächst proximal pro-
achtet werden, dass die Schrauben nicht in das Gelenk vorragen. visorisch fixiert. Bei der distalen Plattenlage ist darauf zu achten,
Die aufschraubbare Bohrbüchse für die winkelstabilen Schrauben dass der distale Plattenrand die sog. Watershed Line nicht überragt
muss sehr sorgfältig auf die Platte geschraubt werden. Nur so lässt (⊡ Abb. 31.34e).
sich sicherstellen, dass die Schrauben ganz in der Platte versinken
und stabil im Plattengewinde verankert sind. Kontrolle im Bild- Operatives Vorgehen bei Mehrfragmentfrakturen. Bei einer
verstärker. Ist die Rekonstruktion zufriedenstellend und liegen die Mehrfragmentfraktur und sehr osteoporotischen Knochen genügt
Implantate korrekt, wird der Fixateur geöffnet und das Handgelenk es häufig, die Fraktur nur abzustützen. In diesen Fällen wird die
wird unter Bildverstärkung durchbewegt, um die Stabilität der Platte nur mit den proximalen Schrauben besetzt, während der
Fixation im Hinblick auf die frühe funktionelle Nachbehandlung distale quer verlaufende Schenkel unbesetzt bleiben kann.
zu dokumentieren (⊡ Abb. 31.33c). Schichtweiser Wundverschluss,
wobei das 1. Fach offen gelassen wird. Auch die Arthrotomie wird Operatives Vorgehen zur Reposition einer A3-Fraktur. Nach
31 nicht verschlossen. Die EPL-Sehne belassen wir subkutan, indem Markierung der Gelenkebene, ggf. kontrolliert durch eine seitliche
der Retinakulumlappen zwischen Sehne und dorsoulnare Platte Bildwandleraufnahme, wird nun die geeignete Platte ausgewählt.
gezogen und vernäht wird (⊡ Abb. 31.33d). Die EPL-Sehne bleibt Sie wird zunächst ausgerichtet und ein weiterer Spickdraht parallel
durch Belassen des distalen Teils des Fachs genügend geführt. zu dem Markierungsdraht in das distale Fragment eingebracht
Proximal kommt sie subkutan zu liegen, ohne Kontakt zur dorsoul- (⊡ Abb. 31.34f). Idealerweise wird die Position so gewählt, dass der
naren Platte. Optional kann eine Drainage eingelegt werden. Nach Draht durch ein Schraubenloch eingebracht wird, damit die Plat-
Wundverschluss wird der Fixateur externe entfernt. Anlegen einer tenpositionierung nicht behindert wird. Die Position des Kirsch-
palmaren Unterarmgipsschiene. ner-Drahts wird nun nochmals unter dem Bildwandler kontrol-
liert, ggf. müssen erneut Korrekturen vorgenommen werden bzw.
Palmarer Zugang bei der Besetzung der Schrauben notwendige Über- und Unterkor-
Für den palmaren Zugangsweg stehen zwei Möglichkeiten zur Ver- rekturen berücksichtigt werden (⊡ Abb. 31.34g). Der in das Gelenk
fügung, der radiale und der mediane Zugang. eingesteckte Spickdraht wird nun entfernt, die Platte in der a.-p.
Ebene nochmals ausgerichtet und die Führungshülsen aufgesetzt.
Radialer palmarer Zugang Die entsprechende Distalisierung oder Proximalisierung der Platte
Der radiale Zugang eignet sich für den überwiegenden Teil aller ist über den durch das Plattenloch eingebrachten Kirschner-Draht
B3.1- und B3.2-Frakturen. Hierbei erfolgt der Hautschnitt längsge- gesichert. Die Führungshülse wird nun genau parallel zum einge-
richtet über der Flexor-carpi-radialis-Sehne, wobei er distal in ei- brachten Kirschner-Draht ausgerichtet. Die Platte kommt nahezu
nem kleinen Bogen nach radial verläuft (⊡ Abb. 31.34a). Unter dem automatisch in die richtige Lage. Es muss darauf geachtet werden,
Subkutangewebe kommt man auf die Sehnenscheide der FCR-Seh- dass das proximale Ende der Platte ausreichend vom Knochen ab-
ne. Diese wird längs gespalten. Um eine Verletzung der A. radialis steht. Die Reposition wird durch vorsichtiges Andrücken der Platte
zu verhindern, muss die Längsspaltung der Unterarmfaszie entwe- an den Knochen erreicht. Abschließend erfolgt eine Bildwandler-
der exakt am Rand der Sehne oder etwas ulnar davon unter der kontrolle in d.p. und lateralem Strahlengang. Dokumentation der
Sehne erfolgen. Man tritt nun nach Eröffnen der Unterarmfaszie in Bilder, Prüfen der freien Handgelenkbeweglichkeit ohne Krepitati-
das radialseitige Beugesehnenkompartement (⊡ Abb. 31.34b,c). Die on als Zeichen einer intraartikulären Schraubenlage und sorgfälti-
Sehnen und die Muskelbäuche, soweit diese nach distal reichen, ge Prüfung zum Ausschluss einer Perforation einer Schraube in die
werden beiseite gehalten. Als nächste Struktur findet man den dorsalen Sehnenfächer.
M. pronator quadratus. Dieser wird an der ulnaren Radiuskante Anschließend Eröffnung der Blutleere, subtile Blutstillung und
längs abgesetzt und anschließend mit dem Raspartorium von Einlage einer Redon-Drainage. Refixierung des M. pronator qua-
Knochen entfernt. Nun hat man die direkte Sicht auf den distalen daratus über der Osteosyntheseplatte und Verschluss der Sehnen-
Radius und kann die Frakturlinien beurteilen (⊡ Abb. 31.34d). scheide des M. flexor carpi radialis. Tiefdermale Nähte, Hautnaht
in Einzelknopftechnik oder intrakutaner fortlaufender Naht.
Operatives Vorgehen zur Reposition einer B3.1- und B3.2-
Fraktur. Die Reposition lässt sich am einfachsten erreichen über Medianer palmarer Zugang
ein Hypomochleon, welches unter das Handgelenk dorsalseitig Erfordert die Geometrie der Fraktur ein Zugehen mehr ulnarwärts,
gelegt wird. Am besten eignet sich ein Operationstuch oder ein so kann ein medianer palmarer Zugang gewählt werden. Die
Operationskittel. Unter Extension lässt sich dadurch die Reposition operativen Schritte entsprechen jenen beim palmaren Zugang zur
einfach erzielen. Bei diesem Frakturtyp sollte die palmare Kapsel Therapie einer perilunären Luxation ( Abschn. 28.2.2). Der Haut-
zur Darstellung der Gelenkfläche nicht eröffnet werden. Durch schnitt erfolgt längsgerichtet über der Palmaris-longus-Sehne. Man
Verletzung der radiokarpalen Bänder könnte dies zu einer post- kann ihn im Bereich der Linea raszetta etwas bogenförmig nach ul-
operativen Instabilität führen. Besteht aufgrund der präoperativen nar ausschwingen und über dem Karpalkanal verlaufen lassen. Da-
Röntgenbilder ein Hinweis auf ein weiteres disloziertes Gelenk- bei besteht auch die Möglichkeit einer Spaltung des Retinakulum
fragment, sollte dies zunächst durch Weghalten des anterioren flexorum. Nach Durchtrennen des subkutanen Fettgewebes wird
Gelenkfragments dargestellt werden. Dadurch ist die Reposition die Unterarmfaszie am radialen Rand der Palmaris-longus-Sehne
ohne zusätzliche Verletzung der palmaren Bänder möglich. Ge- längs eröffnet. Bereits hier kann man auf den Ramus palmaris
legentlich kann die temporäre Stabilisierung der Fraktur über des Nervus medianus treffen. Auf diesen Nerven muss gesondert
31.2 · Spezielle Techniken
809 31
b
M. flexor digitorum superficialis
c
g
f
⊡ Abb. 31.34 Radiopalmarer Zugang zum distalen Radius. a Hautschnitt erfolgt ulnar der A. radialis bis zur Rascetta. b Anatomischer Situs im Querschnitt des Un-
terarms im distalen Drittel. Der rote Pfeil markiert den Zugangsweg auf den Radius. c Nach Spaltung der Sehnenscheide des M. flexor carpi radialis erfolgt die Prä-
paration radial des M. flexor carpi radialis in die Tiefe auf den M. flexor pollicis longus. d M. flexor digitorum superficialis und M. flexor pollicis longus werden nach
ulnar beiseite gehalten. Der M. pronator quadratus wird entlang der gestrichelten Linie vom darunter liegenden Radius abgelöst. e Operatives Vorgehen zur Repo-
sition einer B3.1– und B3.2–Fraktur: Zunächst erfolgt die Fixierung der proximalen Schraube. Die Platte steht leicht von der Kortikalis des Radius ab. Anschließend
wird mit der 2. Schraube von proximal die Platte gegen die Kortikalis fixiert. Damit kommt es zu einer Reposition des distalen Fragments. Zusatzschrauben können
dann in das periphere Fragment eingebracht werden. f Operatives Vorgehen zur Reposition einer A3–Fraktur: Die Platte ist distal verankert, die Schrauben liegen
parallel zur Gelenkfläche. Mithilfe einer Tuchrolle, leichter Extension und vorsichtigem Andrücken der Platte an den Schaft wird die Reposition erreicht und durch
Einbringen einer Plattenzugschraube, bevorzugt in ein Langloch, gesichert. Durch leichtes Lösen dieser Schraube lassen sich ggf. noch leichte Längenkorrekturen
erreichen. g Schematische Darstellung der reponierten und stabilisierten Fraktur. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001, Kohn u. Pohlemann 2010)
810 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
geachtet werden. Die weitere Präparation in die Tiefe bringt den ten Fällen ist das der Radius. Gelingt nach 2 Versuchen weder die
Nervus medianus zur Darstellung. Dieser wird separiert und üb- Reposition von Radius noch die der Ulna, so ist die Fraktur offen
licherweise mittels »Vessel-loop« angeschlungen und nach ulnar zu reponieren, da meist ein Muskelinterponat vorliegt. Dafür
verlagert. Nach Verlagerung des Nerven werden die Beugesehnen wird ein kleiner Zugang (entsprechender Verlauf der Inzision)
separiert und verlagert. Man gelangt ebenfalls ulnarseits auf den für Radius und Ulna bei offener Reposition über der Fraktur
M. pronator quadratus. Dieser wird hier an der ulnaren Kante des betroffenen Knochens gelegt und unter Sicht reponiert. Die
abgesetzt und abgeschoben. Somit gewinnt man den gewünschten Nagelspitzen sollen aufeinander zugedreht zu liegen kommen,
Überblick über die Fraktur vor allem im Bereich der Fossa lunata da dann die Knochen in physiologischer Krümmung zueinander
und des distalen Radioulnargelenks. Das Ziel einer anschließenden liegen. Damit bleibt gewährleistet, dass die Membrana interossea
Osteosynthese ist die stabile Fixation des ulnaren »Schlüsselfrag- aufgespannt wird und der interossäre Raum nicht eingeengt wird.
ments« in anatomischer Stellung, einer wichtigen Voraussetzung Die Nagelenden sollten nicht zu weit (5–6 mm) aus dem Kno-
für ein gutes Therapieergebnis. Bei der Extension des Handgelenks chen herausragen, um nach Abschwellung der Weichteile Haut-
ist die palmare Abstützung des Lunatums von zentraler Bedeutung irritationen auf ein Minimum zu begrenzen. Alternativ können
(⊡ Abb. 31.3). die Enden bei Stahlnägeln umgebogen werden. Alle Patienten
erhalten postoperativ einen elastischen Schlauchverband oder
ausschließlich einen Pflasterverband. Zusätzlich kann ein Drei-
31.2.6 Fixateur externe Abschn. 43.2.7 eckstuch die ersten Tage getragen werden. Kinder können diesen
31 entsprechend der individuell empfundenen Schmerzen jederzeit
Es stehen verschiedene Techniken zur externen Stabilisierung zur abnehmen (⊡ Abb. 31.35).
Verfügung. Primär werden Bridging-Verfahren von Non-Bridging-
Verfahren unterschieden: Bei Bridging-Verfahren handelt es sich
um eine Positionierung der Steinmann-Nägel im Bereich des dista- 31.2.8 Frakturen der distalen Ulna und
len Radius sowie Metakarpale II oder III. Man erreicht hierbei eine Verletzungen des distalen Radioulnargelenks
Überbrückung des Handgelenks. Zusätzlich kann hier eine milde
Distraktion angewandt werden. Eine Übungsmöglichkeit für die Frakturen des Processus styloideus ulnae und der distalen
Handgelenkbeweglichkeit besteht nicht ( Abschn. 43.2.7). Ulna
Beim Non-Bridging-Fixateur werden die Steinmann-Nägel bei Im Rahmen der traumatischen Dislokation der Radiuskonsole
geeigneter Frakturform in der Radiusdiaphyse sowie Metaphyse kann es über die Ligamenta radioulnare anterior et posterior zu
verankert. Der Fixateur stabilisiert somit zwar die Frakturzone, einer Ausrissfraktur des Processus styloideus ulnae kommen. Die
überbrückt jedoch nicht den Handgelenkspalt. Größe des hier entstehenden Fragments variiert zwischen einem
kleinen Flake bis hin zu einem kompletten Abriss des Griffelfort-
satzes. Bei der Versorgung der Radiusfraktur ist die Stabilität des
31.2.7 Intramedulläre Marknagelung distalen Radioulnargelenks klinisch zu prüfen. Zeigen sich Zeichen
einer Instabilität, so wird das Gelenk bei kleinen Flakes für 4 Wo-
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Allgemeinanästhesie. chen transfixiert, größere Fragmente werden mittels Draht oder
Die obere Extremität muss frei beweglich abgedeckt werden, Schraube refixiert und damit stabilisiert.
wobei ein Armtisch empfehlenswert ist, aber nicht obligat). Die Eine isolierte Fraktur der distalen Ulna im metaphysären An-
Operation erfolgt in Oberarmblutleere (200–250 mmHg). Im Ge- teil kann bei fehlender Dislokation mittels Oberarmgips behandelt
gensatz zu anderen Indikationsbereichen der intramedullären werden. Instabile Frakturen werden je nach Größe mittels Draht,
Schienung sollte am Unterarmschaft die Nageldicke zwei Drittel Schraube oder Platte osteosynthetisch versorgt (⊡ Abb. 31.36).
des Markraums betragen. Handelt es sich nicht um bereits präpa-
rierte bzw. Titanschienen, so wird der Nagel zunächst zum Erhalt Distale Unterarmfraktur
der Vorspannung vorgebogen und das stumpfte Ende etwa 10 mm Bei einer kombinierten Fraktur von Radius und Ulna spricht man
vom Ende 15–20° abgewinkelt, um die Manövrierfähigkeit zu von einer distalen Unterarmfraktur. Wird der Speichenbruch os-
verbessern. Grundsätzlich sollte das Nagelende stumpf sein, da es teosynthetisch versorgt, so ist auch die Elle zu stabilisieren um die
sonst beim Vorschlagen zu Perforationen der Kortikalis kommen Kongruenz der Radioulnargelenkflächen wiederherzustellen. Eine
kann, falls der Nagel sich mit der Spitze in den Knochen bohrt. nicht mitversorgte distale Ulnafraktur würde die Osteosynthese am
Um diese Gefahr zu minimieren ist es wichtig, unter drehenden Radius mechanisch schwächen. Als stabilisierende Verfahren kom-
Bewegungen den Nagel voranzutreiben. Die dorsale Eintrittsstelle men Kirschner-Drähte, Schrauben sowie Miniplatten zum Einsatz
am Radius sollte radialwärts etwa 2 cm proximal der Epiphysen- ( Kap. 32; ⊡ Abb. 31.37).
fuge liegen. Der R. superficialis N. radialis sollte immer darge-
stellt und angezügelt werden. Wichtig ist die stumpfe Präparation Begleitende Weichteilverletzungen
zum Knochen. Unter Sicht den Pfriem einbringen. Anschließend Im Rahmen der distalen Radiusfraktur kann es zu schwerwie-
erfolgt die Eröffnung der Kortikalis mit dem Pfriem. Die Ulna genden Verletzungen der stabilisierenden Weichteilstrukturen
wird meist deszendierend geschient. Die Hautinzision erfolgt kommen. Hierzu zählen der radiale oder ulnare Ausriss des Dis-
dorsal unter Schonung der Olekranonepiphyse. Die Elle wird cus triangularis, eine Verletzung des TFCC mit Zerreißung des
etwa 2 cm distal der Apophysenfuge mit dem Pfriem im Winkel 6. Strecksehnenfachs sowie Rupturen der intrinsischen ulnokarpa-
von 45° perforiert. Beide Nägel werden je von distal-radial bzw. len Bänder. Ein relativer Ulnavorschub bei gesinterter Radiusfrak-
von proximal-ulnar unter Hin- und Herdrehen bis auf die Höhe tur kann zu einer Einklemmung des Discus triangularis führen. All
der Fraktur vorgeschoben. In der Praxis hat es sich gezeigt , dass diese Veränderungen können zu einer akuten posttraumatischen
der schwer zu reponierende Knochen, meist der vollständig dislo- Instabilität des distalen Radioulnargelenks oder zu sekundären
zierte, zuerst reponiert und stabilisiert werden sollte. In den meis- chronischen Veränderungen führen ( Kap. 33).
31.2 · Spezielle Techniken
811 31
Technische Fehler
Technische Fehler bei der Osteosynthese sind nicht selten, jedoch
a b
auch nicht immer vermeidbar. Ihre Konsequenz kann sich von
einer fehlenden klinischen Relevanz bis hin zu schwerwiegenden
⊡ Abb. 31.36 Isolierte Schrägfraktur der distalen Ulna (AO-Typ A1).
Folgen erstrecken.
a Präoperativer Aspekt, b Osteosynthese mit winkelstabiler Miniplatte
Das Wissen um mögliche technische Fehler kann helfen, diese
zu vermeiden oder rechtzeitig intraoperativ zur korrigieren. Letzt-
endlich kann es sogar notwendig werden, eine fehlerhafte Osteo-
synthese durch einen Zweiteingriff zu korrigieren.
Falsche Schraubenlänge oder Plattengröße Die intraoperativen Kontrollmöglichkeiten mittels seitlicher und
Gerade bei der palmaren Plattenosteosynthese ist auf eine korrekte schräg-seitlicher Röntgenaufnahmen haben sich durch die im
Schraubenlänge zu achten. Bei winkelstabilen Systemen müssen »Strahlenschatten« des Tuberkulum listeri gelegenen radial und
instabiles DRUG
Sehnenverklebungen/Sehnenrupturen
a b
⊡ Abb. 31.39 Intraartikuläre Schraubenlage. a Verdacht auf intraartikuläre Schraubenlage im konventionellen Röntgenbild, b Nachweis der Fehllage der
Schrauben in der CT
814 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
VK + Neuzugänge
Neuzugänge pos. Symptom.
mit Entstehung einer sekundären Deformität die wesentliche Rolle. Arora R, Gabl M, Gschwentner M, Deml C, Krappinger D, Lutz M (2009) A
Hierzu gehören die Fälle, in denen die Stabilität der Implantate we- comparative study of clinical and radiologic outcomes of unstable
gen unzureichender Knochenneubildung (Remodelling) nachlässt colles type distal radius fractures in patients older than 70 years: nono-
perative treatment versus volar locking plating. J Orthop Trauma 23(4),
und es somit zu einer Lockerung der Frakturzone kommt. Auch
237–242
Schraubenlockerungen aus der Platte bei insuffizienter Verriege-
Attia MW, Glasstetter DS (1997) Plastic bowing type fracture of the forearm in
lung und seltene Implantatbrüche verursachen einen Stabilitätsver- two children. Pediatr Emerg Care 13: 392–393
lust mit konsekutiver Dislokation. Zusätzlich kann sich ein spätes Bado LJ (1958) La lesion de monteggia. Inter-Medica Sarandi 328
Karpaltunnelsyndrom entwickeln. Bezüglich der Gelenkstruktur Bado LJ (1962) The monteggia lesion. Springfield, Charles Thomas
besteht die Möglichkeit einer Entstehung eines instabilen distalen Bado LJ (1967) The monteggia lesion. Clin Orthop 50: 71–86
Radioulnargelenks sowie bei primär nicht erkannten Kapsel-Band- Bailey DA., Wedge JH, McCullough RJ, Martin A.D, Bernhardson SC (1989)
Verletzungen die Entstehung eines karpalen Kollaps. Epidemiology of fractures of the distal end of the radius in children
associated with growth. J Bone Joint Surg [Am] 71: 1225–1231
Spätkomplikationen Bass RL, Stern PJ (1994) Elbow and forearm anatomy and surgical approa-
ches. Hand-Clin 10: 343–356
Die häufigste Spätkomplikation ist die radiokarpale Arthrose. Be-
Bellemans M, Lamoureux J (1995) Indications for immediate percutaneous
dingt durch eine unzureichende Wiederherstellung der Gelenkflä-
intramedullary nailing of complete diaphyseal forearm shaft fractures in
che und Knorpelschädigung entstehen sekundäre Arthrosen un- children. Acta Orthop Belg 61, Suppl 1: 169–172
terschiedlicher Form und zeitlicher Ausprägung. Auch im distalen Beyer W, Stolzenburg T, Paris S (1995) Functional limitation of the forearm
Radioulnargelenk kann eine Gelenkstufe oder eine zunehmende after shaft fracture in childhood. possible role of the antebrachial in-
Dissoziation zu einer Arthrose dieses Gelenks führen. Auch nach terosseous membrane: MRI and ultrasound studies. Unfallchirurgie 21:
Monaten besteht die Möglichkeit der Entstehung eines späten 275–284
Karpaltunnelsyndroms oder Gyon-Logen-Syndroms sowie später Biasca N, Battaglia H, Simmen HP, Disler P, Trentz O (1995) An overview of
Affektion der oberflächlichen Äste des N. radialis. snow-boarding injuries. Unfallchirurg 98: 33–39
Ein Wandern von Schrauben oder Drähten kann hier mit be- Blackburn N, Ziv I, Rang M (1984) Correction of the malunited forearm frac-
ture. Clin Orthop 54–57
teiligt sein. Es finden sich Adhäsionen vor allem der Beugesehnen
Blount WP (1955) Fractures in children. Baltimore, Williams & Wilkins
mit Beeinträchtigung der Fingerbeweglichkeit ebenso wie späte
Blount WP (1967) Forearm fractures in children. Clin Orthop 51: 93–107
Rupturen der Finger-beuge- und Strecksehne. Als seltene späte Bohler J (1969) Gelenknahe frakturen des unterarmes. Chirurg 40: 198–203
Komplikation ist die Entstehung einer Pseudarthrose des distalen Borton D, Masterson E, O‘Brien T (1994) Distal forearm fractures in children:
Radius zu nennen. The role of hand dominance. J Pediatr Orthop 14: 496–497
Zu allen Phasen gehören die akuten wie auch chronischen Boyd HB (1940) Surgical exposure of the ulna and proximal one-third of the
Veränderungen aus der Gruppe des »chronical regional pain syn- radius through one incision. Surg Gynecol Obstet 71: 86–88
dromes« (CRPS bzw. Morbus Sudeck; Kap. 18). Boyd HB, Altenberg A.R (1944) Fractures about the elbow in children. Arch
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Brandesky G, Eberhard D (1989) Analyse und Ergebnisse von 100 kindlichen
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816 Kapitel 31 · Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit)
Camargo J, Wilkins KE (1995) Comparison of long-arm and short-arm casts in Gibbons CL, Woods DA, Pailthorpe C, Carr AJ, Worlock P (1994) The manage-
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32
32.1 Allgemeines durch eine knöcherne Fehlstellung bedingt sein kann und/oder
auf einer unphysiologischen Gelenkführung aufgrund von Kapsel-
32.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie Band-Läsionen beruhen kann, stellt eine »präarthrotische Defor-
und Physiologie mität« nach Hackenbroch dar. Die Zeitdauer bis zur Entstehung
einer Osteoarthrose ( Kap. 10) ist hauptsächlich abhängig von ver-
Konzept der »distalen radioulnären Funktionseinheit« schiedenen Faktoren wie:
Der distale Radius kann nicht als isolierter Knochen betrachtet ▬ Ausmaß der Fehlstellung,
werden. Vielmehr steht die funktionelle Einheit des Handgelenks ▬ Belastung des betroffenen Gelenks,
im Mittelpunkt des Interesses. Neben der Flexion und Extension ▬ Zustand des Gelenks vor der Verletzung,
sowie Ulna- und Radialduktion stellen die Pronation und Supina- ▬ Alter (→ voraussischtliche Belastungsdauer).
tion des Unterarms in ihrer Kombination die hohe Mobilität der
Hand in ihrem täglichen Gebrauch sicher. Diese Bewegungsmuster Durch die veränderte Gelenkgeometrie im Bereich des distalen
müssen unabhängig von der Gewichtsbelastung sowohl für die radioulnären Einheit kommt es zu:
grobe Kraft wie auch für die Feinmotorik erhalten bleiben. 1. Veränderungen der Kraftübertragung im Radiokarpalge-
Obwohl im Schrifttum meist nur von der distalen Radius- lenk und somit zu einer Veränderung der Kraftübertra-
fraktur gesprochen wird, ist bei diesen Verletzungen immer die gung im horizonalen Kompartment des distalen Radioul-
gesamte radioulnäre Funktionseinheit, d. h. Radius, Ulna, dista- nargelenks,
les Radioulnargelenk (DRUG), die proximale Handwurzelreihe, 2. Veränderung der Kraftübertragung im vertikalen Kompart-
die Membrana interossea und das proximales Radioulnargelenk ment des distalen Radioulnargelenks,
32 (PRUG) in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Deshalb er- 3. Beeinträchtigung der Umwendbewegung,
scheint es uns richtiger, anstatt von einer distalen Radiusfraktur, 4. Instabilität des DRUG.
von einer distalen Verletzung der radioulnären Funktionseinheit
zu sprechen ( Abschn. 31.1.1). Veränderung der Kraftübertragung im Radiokarpalgelenk
und Veränderung der Kraftübertragung im horizontalen
Auswirkungen einer Fraktur des distalen Radius auf Kompartment des distalen Radioulnargelenk. Die Kraft-
das Radiokarpalgelenk übertragung erfolgt am gesunden Handgelenk zu 15 bis maximal
Eine knöcherne Fehlstellung des Radius ist die Ursache einer ad- 30% über die Ulna und zu 70–85% über den Radius.
aptiven karpalen Instabilität. Durch die veränderte Gelenkachse
> In Abhängigkeit von der Fehlstellung und Verkürzung des
kommt es zu einer Veränderung der Relativbewegungen der Ge-
distalen Radius kommt es bei Ausheilung einer distalen Radi-
lenkpartner zueinander. Als Frühzeichen entsteht die sekundäre
usfraktur in Fehlstellung zu einer erhöhten Druckbelastung
DISI-Fehlstellung des Os lunatum. Durch die Fehlstellung bedingte
des ulnokarpalen Gelenkkompartments.
Fehlbelastung resultiert eine ektope Mehr- bis Überbelastung von
Knorpel und Kapsel-Band-Strukturen des Radiokarpalgelenks. Eine Radiusverkürzung von 2 mm verdoppelt nahezu den Anteil
Dies ist die Ursache für eine posttraumatische Osteoarthrose mit der Kraftübertragung über die Ulna. Bei einer Dorsalkippung der
den Leitsymptomen Schmerz, Bewegungseinschränkung und Radiusgelenkfläche von 20° werden 50% des gesamten Kraftflus-
Kraftlosigkeit. Radiologische Zeichen sind eine frühzeitige Abnut- ses von der Hand auf den Unterarm über die Ulna übertragen.
zung der dorsalen Radiusanteile und des Os lunatum, eine zuneh- Bei lang andauernder starker Druckerhöhung ulnokarpal kommt
mende DISI-Fehlstellung und schließlich ein Zickzackkollaps der es als sichtbare radiologische Anzeichen der Osteoarthrose im
Handwurzel (⊡ Abb. 32.1). ulnaren Kompartment zur Ausbildung von Zysten im Ulnakopf
sowie einer Arrosion von Lunatum und Triquetrum. Auch das
Auswirkungen einer Fraktur des distalen Radius auf lunotriquetrale Band bleibt nicht ausgespart. Das chronische Ul-
das distale Radioulnargelenk (DRUG) und den TFCC na-Impakt Syndrom ist mit Ursache für die ulnokarpalen Hand-
Eine Veränderung der Gelenkgeometrie durch eine direkte Ge- gelenkschmerzen der Patienten mit fehlverheilten distalen Radius-
lenkstufe und/oder eine Veränderung der Gelenkachse, welche frakturen (⊡ Abb. 32.2a).
a b c d
⊡ Abb. 32.2 Veränderungen durch in Fehlstellung konsolidierte distale Radiusfraktur im Bereich des distalen Radioulargelenks (DRUG). a Veränderungen der
Kraftübertragung im Radiokarpalgelenk: Bei jeder Fehlstellung im distalen Radioulnargelenk (DRUG) kommt es zum einen zu einer Lastverteilung auf das
ulnare Kompartment und zu einer Verminderung der Kontaktfläche im DRUG. Bei gleicher Krafteinleitung kommt es durch die reduzierte Oberfläche deshalb
zu einem Anstieg des Drucks auf die verbleibende kleinere Kontaktfläche und somit zu einem vermehrten Abrieb und damit zu einer Osteoarthrose. b Im Be-
reich des TFCC kann ein Ulna-Impakt-Syndrom auftreten. c Bei Verkürzung des Radius kommt es zu einer Reduktion der Pronosupinationsbewegung, d Durch
Läsion des palmaren oder dorsalen Verstärkungsbandes des TFCC oder gar einen vollständigen Abriss des TFCC selbstresultiert eine Instabilität des DRUG
822 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
Instabilität des DRUG. Kommt es beim Unfall zu einer Ruptur des 32.1.3 Ätiologie
palmaren oder dorsalen Verstärkungsbandes des TFCC oder gar zu
einem vollständigen Abriss des TFCC selbst, so resultiert eine In- Ursachen, welche zur Ausheilung in Fehlstellung führen können,
stabilität des DRUG. Dies bedeutet zunächst eine erhöhte Mobilität sind
im DRUG. Erst die durch die Läsion mögliche Subluxation oder gar 1. die Bruchform (ausgedehnte Trümmerzonen etc.),
Luxation im DRUG verursacht eine Einschränkung der Umwend- 2. die mangelnde Primärstabilität und
bewegung. Rupturiert z. B. das Lig. radioulnare dorsale, gleitet der 3. die Fehleinschätzung des primären Behandlungsverlaufes.
distale Radius bei der Supination aufgrund seiner erhöhten Mobilität
vermehrt nach dorsal und rutscht schließlich über den Ulnakopf, In zahlreichen Publikationen konnte die Korrelation von anatomi-
was die Umwendbewegung limitiert (⊡ Abb. 32.2c,d). scher Reposition zum funktionellen Ergebnis nachgewiesen werden.
Eine Funktionsstörung war vorhanden, wenn
▬ die dorsale Neigung der Speichengelenkfläche mehr als 20°
32.1.2 Epidemiologie betrug,
▬ eine Verkürzung der Speiche von mehr als 4 mm vorlag und
> Fehlheilungen in Bereich des distalen Radius sind die ▬ die ulnare Inklination um mehr als 10° herabgesetzt war.
dritthäufigste Komplikation nach distalen Speichenbrüchen.
Schmerzen Schmerzen im radiokarpalen Gelenkabschnitt Der Ellenvorschub kann ein schmerzhaftes Impingement zwischen Ellenkopf
können durch ein radiokarpales Impingement des und Os lunatum und triquetrum bewirken
Carpus an der dorsalen Speichenlippe verursacht Die Lastumverteilung durch die Speichenverkürzung kann eine schmerzhafte
sein Überbelastung des ulnaren Gelenkabschnitts verursachen
Die adaptive Instabilität der Handwurzel äußert Die Verkürzung und Dorsalabkippung der distalen Speiche kann durch die er-
sich in Handgelenkschmerzen, wobei oftmals ein höhte Belastung zu einer schmerzhaften Sekundärschädigung des TFCC führen
schmerzfreies Intervall von Wochen oder auch Typischerwesie treten die Schmerzen bei der Pronosupination auf, so beim
Monaten zwischen Frakturheilung und Schmerz- Öffnen von Drehverschlüssen und beim Auswringen eines Lappens, aber auch
beginn vorliegt beim Aufstützen mit der Hand
Die Dorsalverkippung des Gelenkblocks führt zu Inkongruenzen des DRUG führen erst im fortgeschrittenen Stadium zur
einer Querschnittverringerung des Karpalkanales schmerzhaften Arthrose. Während sich bei der Arthrose des DRUG ein Druck-
und kann ein Karpaltunnelsyndrom verursachen schmerz dorsal über dem Gelenk auslösen lässt, findet sich das Punctum ma-
ximum des Druckschmerzes bei einem TFCC-Schaden weiter distal und eher
palmar des Processus styloideus ulnae gelegen mit Verstärkung bei Drehung des
Unterarmes gegen Widerstand und forcierter Ulnarduktion des Handgelenks
Bewegungs- Die dorsale Fehlstellung der Gelenkfläche führt zur Inkongruenzen im distalen Radioulnargelenk verursachen ebenfalls eine Ein-
einschränkung Einschränkung der Flexion des Handgelenks schränkung der Vorderarmdrehung
Die Abnahme der ulnaren Inklination führt zur Eine fehlverheilte Radiusextensionsfraktur geht mit einer symmetrischen Ein-
Reduktion der Ulnaduktion schränkung der Pro-/Supination einher, während fehlverheilte Flexionsfraktu-
Die Verkürzung der Speiche und die Abnahme der ren durch eine Einschränkung der Supination gekennzeichnet sind
Inklination führen neben der dorsalen Fehlstellung Die Luxation des DRUG geht meist mit einem charakteristischen klinischen Bild
zur Spannungszunahme des TFCC und der Memb- einher, nämlich der fixierten Blockade der Unterarmdrehung in Supination mit
rana interossea und damit zur Einschränkung der deutlicher Prominenz des Ulnakopfes palmar
Vorderarmdrehung
Die adaptive Fehlstellung des Karpus führt zu ei-
ner komplexen Bewegungseinschränkung
Kraftverlust Der durch die Dorsalneigung des Gelenkblocks Schmerzbedingt kommt es zu einer Abnahme der Grobkraft
geänderte Verlauf der Beuge- und Strecksehnen
führt zu einer Abnahme der Kraftentwicklung
Gestörte Gabel und Bajonettstellung im Bereich des dista- Prominentes Caput ulnae bei Instabilität
Ästhetik len Handgelenks Schwellungen laterodorsal und -palmar über dem Ulnakopf bei ansonsten
unauffälligem Erscheinungsbild des Handgelenks sprechen hingegen eher für
eine Läsion des TFCC
32.1 · Allgemeines
823 32
es angebracht, die Symptomatik einzuteilen in Symptome des ra- Apparative Untersuchungen
dialen und ulnaren Kompartments inklusive des DRUG (»ulnare Standardröntgenbilder im Seitenvergleich
Handgelenkbeschwerden«) (⊡ Tab. 32.1). Obligatorisch zur Operationsplanung ist die Durchführung einer
Röntgenuntersuchung beider Handgelenke d. p. und streng seitlich
Spezifische klinische Tests im Seitenvergleich. Auf diesen Aufnahmen wird die Fehlstellung in
Durch Provokationstests am Handgelenk werden dynamische In-
stabilitäten durch Provokation einer Subluxation aufgedeckt. Die
Tests sollen immer im Seitenvergleich durchgeführt werden, da bei
Laxizität des Bandapparates seitengleiche Instabilitäten oft keine
klinische Relevanz haben. Jede Instabilität sollte als statische (bereits
auf dem Röntgenbild sichtbar) oder dynamische (nur durch Provo-
kation auslösbar) klassifiziert werden. Die statischen Instabilitäten
sollten klinisch auf ihre Reponierbarkeit (»statisch-reponierbar«
oder »statisch-irreponierbar«) getestet werden. Man beginnt mit
der gesunden Hand. Die spezifischen klinischen Provokationstest
zur Diagnostik der karpalen Instabilität sind in Kap. 29 beschrie-
ben. Spezifische Provokationstest für das DRUG sind:
⊡ Abb. 32.3 Diskus-Grinding-Test. (Aus Nakamura et al. 1992) ⊡ Abb. 32.5 ECU-Test. (Aus Nakamura et al. 1992)
824 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
der Sagittal- und Frontalebene beurteilt und vermessen. Außerdem setzt sind, durch das Vorliegen von Knochenmarködemen identi-
kann unter Einbezug der Ulnavariante der Gegenseite der Längen- fiziert werden.
verlust der Speiche bestimmt werden ( Abschn. 29.1.4). Auf den
streng seitlichen Aufnahmen kommt eine eventuelle Subluxation im MR-Arthrografie
DRUG zur Darstellung. Die Krümmung der Sigmoid Notch kann Die direkte MR-Arthrografie ist für die Darstellung der karpalen
im Seitenvergleich bestimmt werden. Auf den Nativröntgenaufnah- Bänder und des TFCC der diagnostische Goldstandard ( Ab-
men können eventuell begleitende Fehlstellungen des Karpus, sei schn. 29.1.4).
es adaptiv oder durch stattgehabte, begleitende ligamentäre Verlet-
zungen, gesehen werden. Weiterhin sind bereits bestehende ausge- Arthroskopie
dehnte Veränderungen des fehlverheilten Handgelenks erfassbar. Für die Diagnostik der Gelenkflächen, der Kapsel-Band-Struk-
Radiologische Kriterien der Fehlstellung im Extensionstyp sind: turen und des TFCC ist die Arthroskopie von großem Wert. In
▬ Achsenfehlstellung nach dorsal von mehr als 20°, d. h. Ge- ausgewählten Fällen, wie zur exakten Evaluierung intraartikulärer
samtfehlstellung von 30°, Stufenbildungen, zur Beurteilung begleitender Bandverletzungen
▬ Verkürzung von mehr als 4 mm, und/oder sekundär-arthrotischer Veränderungen kann vor der
▬ Verringerung der ulnaren Inklination von mehr als 10°, Korrekturosteotomie die Arthroskopie des Handgelenks indiziert
▬ Luxation oder Subluxation im distalen Radioulnargelenk. sein ( Kap. 13).
Zur Bestimmung der exakten Knochenlänge sind zusätzlich Auf- Zusätzliche Untersuchungen
nahmen beider Unterarme in maximaler Pronation und Supina- Beim Vorliegen einer Neuropathie, insbesondere des Nervus medi-
32 tion durchzuführen. anus, muss praeoperativ eine elektrophysiologische Untersuchung
durchgeführt werden ( Abschn. 56.1.4).
> Die Pronation führt zu einer relativen Proximalisierung der
Speiche im distalen Radioulnargelenk von 1 mm. Niveauve-
ränderungen im distalen Radioulnargelenk im Verlauf der 32.1.5 Klassifikation
Umwendbewegungen der Hand müssen bei der Planung von
Längenkorrekturen berücksichtigt werden, die Röntgenauf-
Fehlstellungen im Bereich der distalen radioulnären Funktions-
nahmen sollten daher in Neutralstellung des Handgelenks
einheit nach distaler Radiusfraktur können bedingt sein durch
(»Handgelenk-Normaufnahme«) angefertigt werden.
eine Achsenabweichung von Radius und/oder Ulna und/oder eine
Subluxationsstellung des DRUG nach dorsal (häufig) oder nach
Stressaufnahmen und Kinematografie palmar (selten) (Übersicht im Kasten Fehlstellungen im Bereich
Begleitende ligamentäre Verletzungen können unter Umständen der distalen radioulnären Funktionseinheit nach distaler Radius-
Funktionsaufnahmen oder eine kinematograpische Untersuchung fraktur).
notwendig machen ( Abschn. 29.1.4.2).
> Durch die palmare Fehlstellung des distalen Speichengelenk- agnostik eine Feinschicht-CT-Untersuchung oder besser noch eine
blocks kommt es im Radiokarpalgelenk zur Einschränkung diagnostische Arthroskopie unbedingt erforderlich.
der Dorsalextension. Knirk und Jupiter (1986) konnten in einer retrospektiven Stu-
die von 43 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 27,6 Jahren
Die Verkürzung der Speiche, einerseits durch die palmare Fehl- mit distalen, intraartikulären Speichenfrakturen bei den 24 Patien-
stellung, andrerseits durch die Trümmerzone, führt, wie beim ten, bei welchen die Frakturen mit Stufenbildung ausheilten, nach
Extensionstyp, zur Lastumverteilung von radial nach ulnar. Dies einem Nachuntersuchungszeitraum von 6,7 Jahren in 91% eine
führt zum ulnaren Impingement mit Schmerzen im ulnokarpalen Arthrose feststellen; hingegen bei den 19 Patienten, bei welchen
Gelenkabschnitt. die Frakturen mit kongruenten Gelenkverhältnissen ausheilten,
Die Verkürzung der Speiche und die Abnahme der Inklination nur in 11%.
führen neben der palmaren Fehlstellung zur Spannungszunahme Grundsätzlich können 3 Typen von intraartikulären Fehlstel-
des TFCC und der Membrana interossea und damit zur Einschrän- lung unterschieden werden:
kung der Vorderarmdrehung. 1. Fehlverheilte palmare oder dorsale Abscherungsfrakturen
Die palmare Fehlstellung des Gelenkblocks führt zur Subluxa- (Typ Barton) mit Palmar- bzw. Dorsalsubluxation des Karpus
tion im DRUG und zur Einschränkung der Vorderarmdrehung. (AO-Klassifikation B2 und B3).
2. Die-Punch-Typ (AO-Klassifikation B4): Fehlverheilte Im-
Intraartikuläre Fehlstellungen pressionsfrakturen der Fossa lunata oder Fossa scaphoidea.
Intraartikuläre Fehlstellungen führen zur Knorpelüberlastung und Fehlstellungen vom Die-Punch-Typ finden sich häufiger in
stellen somit einen präarthrotischen Faktor dar, weshalb sie zum der Fossa lunata und dort häufiger dorsal als palmar. Ein
32 frühest möglichen Zeitpunkt operativ korrigiert werden müssen. fehlverheilter Impressionsbruch durch die Fossa lunata führt
Knirk und Jupiter (1986) berichteten, dass Stufenbildungen zum sekundären Malalignement der proximalen Handwurzel-
von 2 mm oder mehr zur posttraumatischen Arthrose führten. reihe durch chronische Überlastung des SL-Band-Apparates
Trumble et al. (1986) fanden bereits bei Stufenbildungen von nur (⊡ Abb. 32.6).
1 mm Schmerzen und Bewegungseinschränkungen des Handge- 3. Speichengriffelfortsatztyp ( AO-Klassifikation B1): Fehlver-
lenks. Im Tiermodell wurden nur Stufenbildungen von weniger als heilte Fraktur durch den Speichengriffelfortsatz.
1 mm vollständig ausgeglichen. Es zeigte sich, dass die Remodellie-
rungsfähigkeit des Knorpels von seiner Dicke abhängt, so können Fehlstellungen der Ulna
beispielsweise im Kniegelenk stärkere Stufenbildungen toleriert In Analogie zum Radius kann man bei der Ulna auch extraartiku-
werden als an der distalen Radiusgelenkfläche. läre und intraartikuläre Fehlstellungen unterscheiden.
Extraartikuläre Fehlstellungen (A1-Frakturen) können grund-
> Die Indikation zur Korrektur kann sich daher im Einzelfall
sätzlich in 3 Ebenen vorliegen:
bereits bei Stufenbildung von 1–2 mm ergeben.
▬ in sagittaler Ebene nach dorsal bzw. palmar,
Da das Abschätzen von Stufenbildungen am Nativröntgen nicht ▬ in frontaler Ebene – Verringerung der ulnaren Inklination,
exakt möglich ist, ist zur Indikationsstellung und präoperativen Di- Verkürzung,
▬ in koronarer Ebene – in Supination oder Pronation.
Keine Keine
Arthrose Arthrose Arthrose Arthrose
frühzeitige
Keine weitere Korrektur-
operative Therapie osteotomie
KG 1.) Handgelenksdenervirung
Schmerztherapie 2.) Partielle HG-Arthrodese
3.) Komplette HG-Arthrodese
4.) Handgelenksprothese
5.) HG-Orthese bei fehlender ⊡ Abb. 32.7 Behandlungsalgorithmus für radio-
OP-Fähigkeit karpale Handgelenkbeschwerden bei fehlverheil-
ter distaler Radiusfraktur
828 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
stabil instabil
⊡ Abb. 32.8 Behandlungsalgorithmus für ulnare Handgelenkbeschwerden bei fehlverheilter distaler Radiusfraktur bei erhaltener Kongruenz im DRUG.
32 PSU processus styloideus ulnae (Aus Prommersberger u. van Schoonhoven 2008)
„Rettungsoperation“
⊡ Abb. 32.9 Behandlungsalgorithmus für ulnare Handgelenkbeschwerden bei fehlverheilter distaler Radiusfraktur nach Prommersberger u. van Schoonhoven
bei direkter Inkongruenz im DRUG. (Aus Prommersberger u. van Schoonhoven 2008)
schmerzhaft oder aber eingesteift sein. Ist das Gelenk instabil, gilt konstruktionsfähigkeit der Gelenkfläche als auch eine vorhandene
es, den Ausprägungsgrad der Instabilität bei der Therapiewahl zu oder nicht vorhandene Instabilität über die Therapie (⊡ Abb. 32.9).
berücksichtigen, wobei zumindest bei geringer Instabilität einer Ursache für eine »indirekte« Inkongruenz des DRUG kann
Pseudarthrose des Ulnastyloids als zusätzliche Quelle von Be- eine Radiusluxation, eine isolierte Radiusverkürzung oder aber
schwerden Beachtung geschenkt werden sollte (⊡ Abb. 32.8). eine multidirektionale Fehlstellung des Radius sein. Die Therapie
Liegt eine Inkongruenz des DRUG vor, muss zwischen einer einer isolierten Verkürzung des Radius mit Arthrose des DRUG
»direkten« und »indirekten« Inkongruenz unterschieden werden. ist identisch mit der Therapie einer »direkten« Inkongruenz des
Dabei gibt es durchaus Überschneidungen bei der Therapie. Bei DRUG, sofern trotz fehlender Arthrose die Gelenkfläche nicht
»direkter« Inkongruenz des Gelenks entscheiden neben dem Um- mehr rekonstruierbar ist oder bereits eine Arthrose vorliegt. Eine
stand, ob bereits eine Arthrose vorliegt oder nicht, sowohl die Re- isolierte Radiusverkürzung ohne Arthrose sollte mittels Ulnaver-
32.1 · Allgemeines
829 32
Beschwerden/Klagen DRUG nach distaler Radiusfraktur
Gelenk inkongruent
Radiusverkürzung Radiusverkürzung
>12mm <12mm
⊡ Abb. 32.10 Behandlungsalgorithmus für ulnare Handgelenkbeschwerden bei fehlverheilter distaler Radiusfraktur bei indirekter Inkongruenz im DRUG.
(Prommersberger u. van Schoonhoven 2008)
kürzung angegangen werden, wobei weder das Ausmaß der Ver- supination wiedererlangt werden. Die Patienten sollen so schnell wie
kürzung noch eine vorhandene Instabilität zu berücksichtigen sind. möglich alle Tätigkeiten im alltäglichen Leben durchführen. In hart-
Unklar ist bisher jedoch, ob die Morphologie des Ulnakopfes und näckigen Fällen kann eine gezielte Schienenbehandlung wie nach
damit die Konfiguration des DRUG, besonderer Beachtung bedarf einer Arthrolyse mit einer Umdrehquengelschiene indiziert sein.
( Kap. 33). Multidirektionale Radiusfehlstellungen bedürfen einer
Radiuskorrekturosteotomie. Abhängig vom Ausmaß der Radius- Operative Therapie
verkürzung und der evtl. vorhandenen Instabilität und Arthrose > Die Korrektur der verschiedenen Fehlstellungen wird
des DRUG sind gleichzeitig oder sekundär Zusatzeingriffe auf der operativ durchgeführt.
Ellenseite des Handgelenks ratsam (⊡ Abb. 32.10).
Eine Korrektur der Fehlstellung nach distaler Radiusfraktur Schon vor 200 Jahren wurde die Resektion des distalen Ellenendes
ist bei hoher Komorbidität, bei Osteoporose, hohem Patientenal- zunächst von Desault (1771), Moore (1880) und später von Darrach
ter verbunden mit einem niedrigen Aktivitätslevel, mangelnder (1913) zur Behandlung schmerzhafter fehlverheilter distaler Spei-
Patientencompliance sowie Alkohol- und Drogenabusus kontra- chenfrakturen beschrieben. Campell beschrieb 1937 erstmals eine
indiziert bzw. es sollte die angewendete Operationstechnik auf die Korrekturosteotomie am distalen Speichenende mit Interposition
Knochenqualität abgestimmt werden. eines vom distalen Ellenende entnommenen Knochenspanes.
Korrektureingriffe am Radius
32.1.7 Therapie Die Korrekturoperation sollte vor Auftreten von Sekundärschäden
durchgeführt werden. Eine Lösung der Fraktur ist innerhalb der
> Die beste Therapie ist die Vermeidung der Fehlstellung ersten 3–4 Monate noch mit dem Meißel möglich, welcher dem
durch möglichst anatomische Rekonstruktion der knöcher- ursprünglichen Frakturverlauf folgt, wodurch die anatomischen
nen Fehlstellung der Fraktur und kompletter Versorgung Verhältnisse am besten nachvollzogen werden können.
aller verletzten Weichteile. Jupiter et al. (2001) verglichen den Einfluss des Operationszeit-
punkts der Korrekturosteotomie auf das klinische Ergebnis anhand
Konservative Therapie von zwei Vergleichskollektiven. Bei der 1. Gruppe wurde die Korrek-
Die krankengymnastische Übungstherapie stellt die Basis jeder Be- turosteotomie bereits durchschnittlich 8 Wochen nach dem Trauma;
handlung dar. Nahezu alle Patienten weisen nach Beendigung der bei der 2. Gruppe erst nach 40 Wochen durchgeführt. Die funkti-
Immobilisation ihres Handgelenks im Rahmen der Behandlung ei- onellen und radiologischen Ergebnisse zeigten keinen relevanten
ner distalen Radiusfraktur nach 4–6 Wochen eine Einschränkung Unterschied. Die frühere Osteotomie führte aber zu einer deutlichen
der Unterarmdrehung auf. Durch eine intensive handtherapeutische Verkürzung der Krankheits- und Krankenstandsdauer von 21 Wo-
Begleitbehandlung kann in den meisten Fällen eine normale Prono- chen gegenüber 70 Wochen. Wenngleich beim jüngeren Patienten
830 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
32
⊡ Abb. 32.11 Korrektur einer Fehlstellung vom Extensionstyp über einen dorsalen Zugang. a Die Verkürzung des Radius beträgt 7 mm, die radiale Inklination
ist von 25° (im Seitenvergleich) auf 10° vermindert. Zusätzlich besteht eine Dorsalkippung der distalen Raduisgelenkfläche. b Nach Osteotomie im ehemali-
gen Bruchspalt erfolgt die Aufrichtung der Fraktur mittels dorsal eingebrachtem Mini-AO-Fixateur – zur Korrektur der Fehlstellung in sagittaler Ebene – und
mittels eines radial eingebrachten Spreizers – zur Korrektur der Fehlstellung in frontaler Ebene. c In Höhe der Osteotomie wird ein zugeschnittener kortiko-
spongiöser Span (10/5 mm) eingebracht und mittels eines Kirschner-Drahtes temporär fixiert, d Anbringen der »low-profile« winkelstabilen Osteosynthese-
platte von dorsal
eine Frühkorrektur anzustreben ist, sollte bei älteren Patienten, wel- zuweilen eine streckseitige Zusatzinzision erforderlich. Von Vorteil
che nicht mehr berufstätig sind, das Ergebnis einer intensiven ergo- ist die beugeseitige Plattenlage, wodurch die Implantate im Regel-
und physiotherapeutischen Nachbehandlung abgewartet werden. fall dauerhaft belassen werden können.
Der Vorteil des radialen Zugangs liegt in der Übersicht nach
Fehlstellungen des Extensionstypes dorsal und palmar und bewährt sich somit bei komplexen Kor-
Sie können über einen dorsalen, palmaren oder radialen Zugang rekturen mit Wiederherstellung der ulnaren Inklination, aber auch
korrigiert werden: bei einfachen Closing- (Subtraktionsosteotomie) oder Opening-
Der dorsale Zugang wird von den meisten Autoren zur Korrek- Wedge-Osteotomien (Additionsosteotomie). Die Osteosynthese
tur einer Fehlstellung des Extensionstypes bevorzugt. Der Vorteil kann häufig nur mit Kirschner-Drähten erfolgen oder mittels
liegt im direkten Einblick auf den knöchernen Defekt, welcher spezieller Platten, welche für die radiale Säule des distalen Spei-
der Basis des zu interponierenden Knochenspanes entspricht. Ein chenendes vorgeformt sind. Das 1. Strecksehnenfach soll nicht
weiterer Vorteil ist die direkte Visualisierung des radiokarpalen verschlossen werden; eine subtile Präparation der sensiblen Radia-
Gelenkabschnitts. Als Nachteil des Zugangs kann es trotz der Ver- lisäste ist erforderlich.
wendung von Niederprofilplatten zu Konfliktsituationen mit den Entsprechend der präoperativen Planung wird die Osteotomie
Strecksehnen kommen, was im Regelfall eine frühzeitige Entfer- der distalen Speiche wenn möglich im ehemaligen Frakturbereich
nung des Osteosynthesematerials erforderlich macht (⊡ Abb. 32.11). vorgenommen. Anschließend erfolgt die Stellungskorrektur ent-
Der palmare Zugang hat den Nachteil, dass keine direkte Visu- sprechend der präoperativen Planung in allen 3 Ebenen. Zur tem-
alisierung der knöchernen Defektzone möglich ist. Das Einpassen porären Aufrechterhaltung der Korrekturstellung haben sich meh-
der dorsal liegenden Keilbasis ist deutlich schwieriger und macht rere Typen von Wirbelspreizern und Handmeißeln verschiedener
32.1 · Allgemeines
831 32
Breite als Platzhalter bewährt. Erst nach diesem Operationsschritt abstützung mit Rezentrierung der Handwurzel. Die Osteosynthese
wird das Korrekturergebnis mit Bohrdrähten temporär fixiert. Die erfolgt je nach Größe des Fragments mit Schrauben oder mittels
Kontrolle der Korrektur erfolgt unter Bildwandlersicht unter Be- einer Plattenosteosynthese.
rücksichtigung der kontralateralen, unverletzten Seite. Nach Ent-
nahme eines mono- oder bikortikalen kortikospongiösen Spanes Fehlverheilte Impressionsfrakturen der Fossa lunata oder
aus dem Beckenkamm ( Kap. 9) wird dieser entsprechend der Fossa scaphoidea: Fehlstellungen vom Die-Punch-Typ (AO-
Defektgröße zubereitet und »press-fit« zur Erzielung einer hohen Klassifikation B4). Die Korrektur erfolgt je nach Vorliegen der
Primärstabilität eingebracht. Im Regelfall erfolgt die Osteosynthese Fehlstellung von dorsal oder palmar. Nach Osteotomie und Mobi-
mit einer winkelstabilen Platte, welche eine frühfunktionelle Nach- lisierung des imprimierten Gelenkanteils wird dieser reponiert und
behandlung zulässt (⊡ Abb. 32.11). Die sog. Trapezoidalosteotomie mit einem autologen Knochenspan unterfüttert. Die Osteosynthe-
hat den Vorteil, dass die Spanentnahme direkt aus dem Operati- se erfolgt je nach Größe des Fragments mit Kirschner-Drähten,
onsbereich, aus der dorsalen Kortikalis der distalen Speiche, und Schrauben oder mittels Plattenosteosynthese. Del Piñal et al. (2006)
nicht vom Beckenkamm vorgenommen wird. Dadurch kann die führten die Operation in einer Inside-out-Osteotomie-Technik
Operation in Regionalanästhesie durchgeführt werden. Die Ergeb- durch. Dabei wurden die fehlverheilten Frakturlinien unter arth-
nisse sind mit der Standardmethode durchaus vergleichbar. roskopischer Sicht von der Gelenkseite her gelöst, die imprimierten
Im Falle einer Spätkorrektur, wenn der ehemalige Frakturspalt Gelenkanteile gehoben und über einen extraartikulären Zugang
nicht mehr auffindbar ist, kann die Markierung der Fehlstellung durch Spongiosa unterfüttert und osteosynthetisiert.
mittels Kirschner-Drähten zumindest in sagittaler Ebene hilfreich
sein. Dabei wird der distale Kirschner-Draht in a.-p. Richtung Fehlverheilte Fraktur des Proc. styloideus radii (AO-Klas-
parallel zur fehlgestellten Gelenkfläche, der proximale normal zur sifikation B1). Die Korrektur erfolgt im Regelfall von dorsal.
Schaftachse eingebracht. Die Osteotomie erfolgt parallel zum dis- Der dorsale Zugang bietet den Vorteil einer besseren Visualisie-
talen Kirschner-Draht. Mithilfe dieses Kirschner-Drahtes wird das rung der Gelenkfläche und der proximalen Handwurzelreihe. Die
distale Fragment aufgehebelt (»Joystick-Technik«), bis der distale Wiederherstellung kongruenter Gelenkverhältnisse erfolgt durch
Bohrdraht parallel zum proximalen steht. Die weiteren Operations- die Lösung der fehlverheilten Fraktur mit Anpassen des radialen
schritte entsprechen der oben angeführten Technik (⊡ Abb. 32.12). Fragments an den zentralen Pfeiler und Osteosynthesetechnik je
nach Größe des Fragments, entweder durch Kirschner-Drähte oder
Fehlstellungen des Flexionstyps meist kanülierte Schrauben.
Operationszeitpunkt und Technik entsprechen im Wesentlichen
dem Extensionstyp. Für die Korrekturosteotomie der Speiche Korrektureingriffe an der Ulna
bei der Flexionsfehlstellung eignet sich der palmare Zugang am Da eine genaue Beschreibung aller ulnarer Zusatzeingriffe den
besten. Rahmen dieses Kapitels überschreiten würde, werden diese nur
tabellarisch angeführt ( Kap. 33).
Fehlverheilte palmare oder dorsale Abscherungsfrakturen
(Typ Barton) mit Palmar- bzw. Dorsalsubluxation des Kar- Eingrifffe im Bereich des Proc. styloideus ulnae. Der Proc. sty-
pus (AO-Klassifikation B2 und B3). Die Korrektur erfolgt über loideus ulnae hat für die Anheftung des Discus articularis eine zen-
einen palmaren oder dorsalen Zugang unter Lösung der fehlver- trale Bedeutung und sollte wenn immer möglich erhalten bleiben.
heilten Fraktur und Wiederherstellung einer regelrechten Gelenk- Bei einer schmerzhaften Pseudarthrose sollte bei einem ausreichend
832 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
großen Fragment eine Refixierung erwogen werden (⊡ Abb. 32.13). des Ulnakopfes aus der Incisura ulnaris um mehr als zwei Drittel
Bei kleinem Fragment erfolgt eine Resektion mit Refixierung des Schaftbreite des Radius) der TFCC aufgebraucht, empfiehlt sich
Diskus an der Basis des Proc. styloideus ulnae. eine Rekonstruktion der Ligg. radioulnare palmare und dorsale.
Therapie a b
Bei korrekter Therapie sind operative Interventionen zur Achsen-
korrektur am distalen Radius nur nach Verletzungen mit Beteili- ⊡ Abb. 32.14 Dynamische Korrektur einer polyplanaren Fehlstellung mit-
gung der Wachstumsfuge und persistierender Schädigung dersel- hilfe eines Hexapodenfixateurs. a Befund nach Osteotomie, b Befund nach
ben erforderlich. Abschluss der Distraktionsperiode (Korrekturperiode)
834 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
Die Verkürzung der Elle ist nur bei monoplanarer Fehlstellung rechten Winkel zu den beiden anderen eingebracht, was eine hohe
im Sinne einer reinen Verkürzung der Speiche bei achsgerechter Winkelstabilität ergibt. Beim Einbringen der Schrauben ist die
Gelenkfläche möglich. Zur Vermeidung von Pseudarthrosen sollte Dorsalkippung der Radiusgelenkfläche zu berücksichtigen. Nach
die Osteotomie schräg oder treppenförmig erfolgen ( Kap. 32). der Fixierung der Platte distal steht der Plattenstiel proximal ent-
Bei polyplanaren Fehlstellungen mit Verkürzung von mehr als sprechend dem Korrekturwinkel der dorsopalmaren Ebene vom
10 mm bietet sich optional die dynamische Korrektur über Hexa- Radiusschaft ab (⊡ Abb. 32.15e). Nach Markierung der vorgesehe-
podenfixateur an (⊡ Abb. 32.14). Der Vorteil besteht in der steten nen Osteotomiestelle mit dem Meißel wird die Platte entfernt. Bei
Möglichkeit zur Änderung der initial geplanten Korrektur, dies extremer Dorsalkippung der Radiusgelenkfläche ist eventuell ein
kann EDV-gestützt erfolgen. Über Kallusdistraktion ist eine adju- geringfügiges Nachbiegen der Platte erforderlich.
vante Knochenanlagerung vermeidbar. Nachteilig sind die lange Die Osteotomiestelle sollte möglichst dem Ort der ursprüng-
Therapiedauer, der durch den Fixateur externe verminderte Pati- lichen Fraktur entsprechen und knapp proximal des mittleren
entenkomfort und eine zwingend erforderliche hohe Compliance Schraubenlochs der 3 distalen Schrauben liegen.
des Patienten bzw. der Eltern des Patienten.
> Die Osteotomie erfolgt in der Winkelhalbierenden des
Korrekturwinkels in beiden Ebenen.
32.1.9 Prognose Dies hat sich als günstig erwiesen: Beim Aufspreizen entsteht eine
doppeltrapezförmige Lücke; dies erleichtert das Zurechtschneiden
Bei sorgfältiger Indikationsstellung und korrekter Operationstech- und Verkeilen des Knochenspans. Osteotomiert man in einem
nik können durch Korrekturosteotomien der Speiche sowohl bei kleineren Winkel, muss man das distale Fragment stärker kippen,
32 extraartikulärer als auch intraartikulärer Fehlstellung beim wach- und die Längsachse des Karpus kommt palmar der Langsachse
senden Skelett und beim Erwachsenen zufriedenstellende Ergeb- des Unterarmes zu liegen. Osteotomiert man in einem größeren
nisse erzielt werden. Winkel, wird das distale Fragment dorsal länger. Beim Aufspreizen
entsteht dadurch ein dorsaler Knochenbuckel. Nach der Osteoto-
mie wird die Platte distal wieder fixiert. Der Osteotomiespalt wird
32.2 Spezielle Techniken mit einem Pseudarthrosenspreizer, der im dorsalen Drittel der
Osteotomiefläche des Radius eingebracht wird, aufgedehnt. Hier-
32.2.1 Korrektur der Fehlstellung vom bei legt sich die Platte an den Radiusschaft, wenn der Gelenkblock
Extensionstyp des Radius über einen seine ursprüngliche Neigung – vor der Fraktur – eingenommen
radiopalmaren Zugang hat. Zur Reposition müssen erhebliche Kräfte aufgewendet werden.
Hierzu kann auch die Anlage eines Minifixateur sehr hilfreich sein.
Die Operation erfolgt in Allgemeinanästhesie, da ein kortikospon- Mit zwei kräftigen Plattenhaltezangen wird die Platte provisorisch
giöser Span entnommen werden muss ( Abschn. 9.2.1). Die Hand am Radiusschaft fixiert. In den Osteotomiespalt wird ein dop-
wird auf einen Handtisch ausgelagert, die Operation erfolgt unter peltrapezförmig zugeschnittener, kortikospongiöser Knochenspan
Blutleere. Die Möglichkeit der intraoperativen Durchleuchtung vom Beckenkamm eingebracht (⊡ Abb. 32.15f). Die Platte wird am
muss vorbereitet werden. Radiusschaft befestigt. Abschließend fixiert man den Knochenspan
Der Hautschnitt, Durchtrennung der Sehnenscheide des mit einer Zugschraube. Der Span wird dadurch zwischen die Radi-
M. flexor carpi radialis und Darstellung des M. pronator quadratus usfragmente eingezogen und interfragmentär komprimiert.
erfolgen wie zum palmaren Zugang zum Radius ( Abschn. 31.2.5). Anschließend Eröffnung der Blutleere, subtile Blutstillung und
Zur Darstellung des lateralen Radius erfolgt nun die vollständige Einlage einer Redon-Drainage. Refixierung des M. pronator qua-
Spaltung des 1. Strecksehnenfaches und das teilweise Ablösen des daratus über der Osteosyntheseplatte und Verschluss der Seh-
Ansatzes der Sehne des M. brachioradalis (⊡ Abb. 32.15a). An- nenscheide des M. flexor carpi radialis. Die Sehne des M. pollicis
schließend Eröffnen des 3. Strecksehnenfaches und Herausluxieren longus verbleibt subkutan. Tiefdermale Nähte, Hautnaht in Einzel-
der Sehne des M. extensor pollicis longus. Nun wird der M. pro- knopftechnik oder intrakutaner fortlaufender Naht. Eine Ruhig-
nator quadratus zusammen mit dem M. flexor pollicis longus und stellung im Gipsverband mit einer leicht gepolsterten, palmaren,
dem radialen Gefäßbündel nach ulnar vom Radius abgeschoben ulnar das Handgelenk umgreifenden Gipsschiene ist nur bis zur
(⊡ Abb. 32.15b). Die palmare Knochenkante des 1. Strecksehenefa- gesicherten Wundheilung erforderlich.
ches muss abgetragen werden, um hier eine glatte Auflagefläche für
die Platte zu schaffen. Anschließend wird der radiokarpale Gelenk-
spalt mit einem Kirschner-Draht markiert. Der distale Rand der 32.2.2 Korrektur der Fehlstellung
Platte sollte bis an die »Watershed-Line« heranreichen. Die Platte vom Extensionstyp des Radius
wird im mittleren Loch fixiert. Dadurch hat man die Möglichkeit, über einen dorsalen Zugang
die Platte entsprechend dem geplanten Korrekturwinkel der Ulna-
rinklination noch zu drehen (⊡ Abb. 32.15c). Der Korrekturwinkel Der operative Zugang erfolgt analog dem dorsalen Zugang zur
entspricht dem Winkel zwischen der radialen Radiuskante und Versorgung der frischen distalen Radiusfraktur ( Abschn. 31.2.5).
dem radialen Rand des Plattenstiels (⊡ Abb. 32.15d). Nach dem Die Korrekturosteotomie erfolgt wieder im Bereich der alten Frak-
Einstellen der Platte entsprechend dem Korrekturwinkel der Ulna- tur. Die Berechnung der Osteotomie – bzw. der Korrekturach-
rinklination wird das ulnare, distale Schraubenloch besetzt und das sen – erfolgt analog dem Vorgehen in Abschn. 32.2.1. In dem
radiale Schraubenloch vorgebohrt. Die Platte weist neben ihrer der überkorrigierten Osteotomiespalt wird der der Planung entspre-
physiologischen palmaren Krümmung des Radius entsprechen- chend zubereitete kortikospongiöse Span eingebracht und mittels
den Biegung in der Längsachse distal eine zweite Biegung radial Kirschner-Drähten temporär fixiert. Nach Kontrolle unter Bild-
auf, sodass sie die laterale Kante des Radius leicht umgreift. Von wandlersicht erfolgt die definitive Osteosynthese entweder mit
hieraus wird die radiale der drei distalen Schrauben nahezu im einer herkömmlichen Osteosyntheseplatte oder mit einer anato-
32.2 · Spezielle Techniken
835 32
b
a
e f
⊡ Abb. 32.15 Technik der Korrektur der Fehlstellung vom Extensionstyp des Radius über einen radiopalmaren Zugang. a Erweiterung des klassischen palma-
ren Zugangs nach radial mit teilweisem distalem Ablösen der Ansatzsehne des M. brachioradialis, Spaltung des 1. Strecksehnenfaches und Herausluxieren der
Sehnen des M. abductor pollicis longus und M. extensor pollicis brevis. b Spaltung des 3. Strecksehnenfaches und Herausluxieren der Sehne des M. extensor
pollicis longus. c Nach Abtragen der Knochenkante des 1. Strecksehnenfaches Anpassen der winkelstabilen Platte und Fixierung im mittleren Loch der dista-
len queren Schenkels. Dadurch besteht die Möglichkeit die Platte entsprechend dem geplanten Korrekturwinkel der Ulnarinklination zu drehen. d Nach dem
Einstellen der Platte entsprechend dem Korrekturwinkel der Ulnarinklination wird das ulnare, distale Schraubenloch besetzt und das radiale Schraubenloch
vorgebohrt. e Nach Osteotomie im alten Frakturbereich Refixierung der entsprechend der sagittalen Fehlstellung vorgebogenen Osteosyntheseplatte. f Kor-
rektur der Fehlstellung mit der Platte. Temporäre Fixierung mit 1 oder 2 Repositionszangen und Einbringen des kortikospongiösen Knochenspans. Komplet-
tierung der Osteosynthese. (Aus Prommersberger u. Lanz 1998)
836 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
misch vorgeformten winkelstabilen Platte. Wichtig im dorsalen Bewegungsumfangs und des Zustands der Gelenkflächen abzu-
Handgelenkbereich ist ein möglichst flaches und stabiles Implantat wägen, ob eben doch noch eine Korrekturosteotomie oder eine
einzusetzten, um mit den Strecksehnen so wenig wie möglich Rettungsoperation im Sinne von Teilarthrodesen oder Resektions-
zu interferieren. Anschließend schichtweiser Wundverschluss. Die arthroplastiken oder ein Belassen der Fehlstellung indiziert ist. Je
EPL-Sehne belassen wir subkutan. Sie bleibt durch Belassen des länger das Intervall zwischen Initialtrauma und Korrekturosteo-
distalen Teils des 3. Strecksehnenfaches genügend geführt. Einlage tomie, desto unsicherer wird der subjektive Operationserfolg für
einer Redon-Drainage und schichtweiser Wundschluss. Eine Ru- den Patienten. Diese Überlegungen sind auch in die präoperative
higstellung im Gipsverband mit einer leicht gepolsterten, palma- Patientenaufklärung mit einzubeziehen.
ren, ulnar das Handgelenk umgreifenden Gipsschiene ist nur bis Chronische Schwellungszustände und CRPS I stellen nicht
zur gesicherten Wundheilung erforderlich. unbedingt eine Kontraindikation zur Korrekturosteotomie dar,
da schmerzverursachende Fehlstellungen, gelockerte bzw. fehl-
platzierte Implantate etc. eine Triggerfunktion ausüben können.
32.2.3 Verkürzungsosteotomie (»closing-wedge«) In derartigen Fällen empfehlen wir zur Erzielung einer absoluten
des Radius in Kombination postoperativen Schmerzfreiheit und zur Sympatikolyse die Opera-
mit Ellenverkürzungsosteotomie tion bei liegender Plexusverweilkanüle bis zum 10. postoperativen
Tag durchzuführen.
Mit der Closing-Wedge-Osteotomie in Kombination mit Ellenver- Zur Minimierung des Infektrisikos ist eine Single-Shot-An-
kürzungsosteotomie können mit Standardtechniken vergleichbare tibiotikaprophylaXE mittels Cephalosporine (1. Wahl) 1 Stunde
Ergebnisse erzielt werden. Es wird an Stelle der Spaninterposition präoperativ obligat, bei lang dauernden komplexen Korrekturope-
32 die Korrektur durch Spanentnahme aus dem ehemaligen Fraktur- rationen mit OP-Dauer von über 2 Stunden kann eine 2. Gabe bei
bereich vorgenommen und die Osteotomie geschlossen. Durch noch offener OP-Wunde indiziert sein.
fehlende Wiederherstellung der ursprünglichen Speichenlänge ist Die Osteosynthese bei Korrekturosteotomie erfolgt im Re-
diese Technik zwingend mit einer Verkürzungsosteotomie oder gelfall mittels winkelstabilen Platten wodurch sich die gleichen
Resektionsarthroplastik der Elle verbunden. technischen Fehlerquellen, wie bei primärer Osteosynthese (auch
Abschn. 28.3.1)ergeben. Zu erwähnen sind vor allem eine intraar-
tikuläre Schraubenlage im Radiokarpalspalt oder im Radioulnarge-
32.2.4 Korrektur der Fehlstellung vom Flexionstyp lenk bzw. überlange Schrauben, welche streckseitig zu Sehnenarro-
des Radius mit Anlage einer Platte sionen führen können.
Bei Interposition eines kortikospongiösen Spanes ist dieser in
Entsprechend der präoperativen Planung wird die Osteotomie des Erwartung von Resorptionsvorgängen, insbesondere bei schlechter
distalen Speichengelenkblocks über einen palmaren Zugang im Knochenqualität eher größer als geplant zu entnehmen. Ein Aus-
ehemaligen Frakturbereich durchgeführt. In dem überkorrigierten wandern des meist keilförmigen Spanes ist möglich, wenn dieser
Osteotomiespalt wird der der Planung entsprechend zubereitete keine ausreichende Primärstabilität (»Press-fit-Technik«) aufweist
kortikospongiöse Span eingebracht und mittels Kirschner-Drähten oder die Osteosynthese mangelhaft ist.
temporär fixiert. Nach Kontrolle unter Bildwandlersicht erfolgt die
definitive Osteosynthese entweder mit einer herkömmlichen Ab-
stützplatte oder mit einer anatomisch vorgeformten winkelstabilen Weiterführende Literatur
Platte. Die als Druckplatte eingebrachte Abstützplatte erscheint uns
zur Neutralisierung der Kräfte geeigneter. Bei Anwendung einer Abe M, Shirai H, Okamoto M, Onomura T (1996) Lengthening of the forearm
anatomisch vorgeformten winkelstabilen Platte empfehlen wir den by callus distraction. J Hand Surg Br 21(2): 151–163
vorgegebenen palmaren Schwung der Platte gering zu reduzieren. Adams BD (1993) Effects of radial deformity on distal radioulnar joint mecha-
nics. J Hand Surg 18A: 492–498
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Zur Vermeidung von Planungsfehlern empfehlen wir dem Opera-
dius osteotomy. J Hand Surgery 28: 951–958
teur eine Skizzenzeichnung der in Fehlstellung verheilten Fraktur Bailey DA, Wedge JH, McCulloch RG, et al. (1989) Epidemiology of fractures
mit den geplanten Korrekturschritten, nicht zuletzt auch unter Be- of the distal end of the radius in children as associated with growth. J
rücksichtigung der Längenverhältnisse zwischen Elle und Speiche, Bone Joint Surg Am 71: 1225–1231
durchzuführen. Barr SJ, Zaleske DJ (1992) Physeal reconstruction with blocks of cartilage of
Es können die einzelnen Operationsschritte aber auch mittels varying developmental time. J Pediatr Orthop 11: 766–773
entsprechender Software an einem Computerprogramm animiert Barr SJ, Zaleske DJ (1992) Physeal reconstruction with blocks of cartilage of
werden. Die in Abschn. 32.2.1 angeführte Operationstechnik er- varying developmental time. J Pediatr Orthop 11: 766–773
möglicht, nach Meinung der Autoren, eine präzisere Vornahme Beaty JH, Kasser JR (2009) Rockwood and Wilkins‘ fractures in children. Lip-
der Korrektur. Computerassistierte Operationstechniken führen zu pincott William & Wilkins, Philadelphia
Bell MJ, Hill RJ, McMurtry RY (1985) Ulnar impingement syndrome. J Bone
vergleichbaren Ergebnissen wie die herkömmliche Operationstech-
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nik. Dadurch werden die zur Erreichung einer optimalen Korrek- Berger RA (2004) Hand surgery. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
tur erforderlichen Operationsschritte präzise geplant. Bronstein AJ, Trumble TE, Tencer AF (1997) The effects of distal radius fracture
Bereits nach einigen Monaten oder Jahren kommt es zu mehr malalignment on forearm rotation: a cadaveric study. J Hand Surg 22A:
oder weniger ausgeprägten Sekundärarthrosen und adaptiven Ver- 258–262
änderungen ( Abschn. 32.1.1). In diesen Fällen ist unter sorgfäl- Brunelli GA (2003) Dome-shaped osteotomy for distal radius fracture maluni-
tiger Berücksichtigung der klinischen Symptomatik, des aktiven ons. Tech Hand Up Extrem Surg 7: 7579
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838 Kapitel 32 · Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur
33.1 Allgemeines
a b c d
⊡ Abb. 33.2 Formvarianten des Caput ulnae in Abhängigkeit von den distalen radioulnaren Lagepositionen. a Ulna-Null-Variante (Zylinder), b Ulna-plus-Variante
(Kugel), c Ulna-minus-Variante (schräg stehender Zylinder), d ausgeprägte Ulna-minus-Variante (Kegel)
tragene Kraft auf bis zu 42%. Es zeigte sich auch, dass bei Ulna- und somit die Funktion ungünstig beeinflussen. In dorsopalmarer,
minus-Varianten prozentual die gleiche Kraftverteilung vorliegt transversaler Ebene kann die Incisura ulnaris radii flach (42%),
wie bei Ulna-plus-Varianten, wobei der bei der Ulna-plus-Variante schiförmig (14%), C-förmig (30%) oder S-förmig (14%) erscheinen
dünnere Dreiecksknorpel häufiger rupturiert ist. Ekenstam (1984) (⊡ Abb. 33.2).
konnte nachweisen, dass in Radialabduktion des Handgelenks die Die knorpelbedeckte Oberfläche des meist sphärisch oder oval
Kraftverteilung auf den Dreiecksknorpel um 60%, in Pronation erscheinenden Ellenkopfes ist deutlich größer als jene der Incisura
und Ulnarduktion um 150%, bezogen auf die Werte in Neutralpo- ulnaris radii, deren Segmentwinkel in der Transversalebene mit
sition, zunimmt. durchschnittlich 60° geringer ist, als jener des Ellenkopfes mit
durchschnittlich 100°. Der Radius der Incisura ulnaris radii ist mit
Knöcherne Strukturen (ulnokarpaler Komplex) 19 mm größer als jener des Ellenkopfes mit 10 mm. Diese ana-
Die Facetten des distalen Radioulnargelenks (DRUG) formen ein tomischen Gegebenheiten führen zu einer relativen Inkongruenz
nicht kongruentes Radgelenk, dessen Stabilität passiv durch den der Gelenkflächen mit geringem, punktuellem Gelenkkontakt, sie
Diskuskomplex mit seinem diffizilen Bandapparat (TFCC) und der führen auch dazu, dass die Umwendbewegungen der Hand über
Membrana interossea, aktiv durch Muskel- und Sehnenstrukturen, mehrere Drehzentren im Ellenkopf nahe dem distalen Radioul-
welche die Unterarmdrehachse queren, gewährleistet wird. nargelenk im Sinne einer Rotation und Translation in allen drei
Die Form des distalen Radioulnargelenks ist variabel, die Raumebenen verlaufen (⊡ Abb. 33.3).
Längsachse der Incisura ulnaris radii kann parallel zur Radius-
> Die Pronation führt zu einer relativen Proximalisierung der
längsachse verlaufen, von dieser jedoch auch signifikant nach ra-
Speiche im distalen Radioulnargelenk von 1 mm. Niveau-
dial oder ulnar abweichen. Mit zunehmender Abweichung wächst
veränderungen im distalen Radioulnargelenk während der
die Häufigkeit degenerativer Veränderungen. So steigt z. B. bei
Umwendbewegungen müssen bei der Planung von Längen-
zunehmendem Winkel zwischen Längsachse der Elle und Neigung
korrekturen bedacht werden, die Röntgenaufnahmen zur
der Incisura ulnaris radii die Arthrosehäufigkeit. Auch kann der
präoperativen Planung sollten daher in Neutralstellung des
Ellenkopf die ulnare Radiusgelenkfläche nach distal überragen
Handgelenks (»Handgelenk-Normaufnahme«) angefertigt
(Ulna-plus-Stellung), auf gleichem Niveau (Ulna-Null-Stellung)
werden.
oder proximal davon (Ulna-minus-Stellung) enden. Die Längs-
ausdehnung der Knorpelfläche beträgt an der Incisura ulnaris
radii etwa 8 mm, an der korrespondierenden Ellengelenkfläche Kapsel-Band-Strukturen
in etwa 7 mm. Außerordentliche Veränderungen der Längenver- Anatomisch besteht der ulnokarpale Komplex (⊡ Abb. 33.4) aus
hältnisse (posttraumatisch oder operativ) können die Kongruenz den in der folgenden Übersicht aufgeführten Bestandteilen:
842 Kapitel 33 · Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC)
Akzessorischer Bandzug
Praestyloidaler Recessus
Meniscus ulnocarpalis
b
a Ulna
Lig. ulnotriquetrum
Lig. ulnolunatum
Lig. collaterale carpi ulnare Lig. collaterale carpi ulnare
Recessus ulnaris
Meniscus ulnocarpalis Meniscus ulnocarpalis
c d
⊡ Abb. 33.4 Ulnokarpaler Komplex. a Ansicht von dorsal, b Ansicht von dorsal (Histologiescher Schnitt), c Ansicht von palmar, d Ansicht von distal
33.1 · Allgemeines
843 33
ist ein konstanter kreisrunder Defekt zu finden. Die ist der Eingang
zum Recessus ulnaris.
10%
1,6%
62% 16%
⊡ Abb. 33.6 Lokalisation der Recessus ulnares von distal und palmar gesehen
844 Kapitel 33 · Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC)
Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris. Als ein wei- Kapsel zwischen dem 5. und 6. Sehnenscheidenfach unter dem
terer stabilisierender Bestandteil sowohl des ulnokarpalen Kom- Retinaculum extensorum. Der Faserzug ist in Pronation gespannt
plexes als auch des distalen Radioulnargelenks ist die etwa 50 mm und in Supination entspannt. Der von der Membrana interossea
lange Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris aufzufassen. palmar in die Gelenkkapsel einstrahlende Anteil der Membrana
Zusammen mit den infratendinösen Faserlamellen des Retina- interossea wurde von Fick als »Septum falciforme« beschrieben
culum extensorum im Bereich des Strecksehnenfachs und dem (⊡ Abb. 33.8). Es entspringt im Mittel 3 mm breit an der weit distal
Lig. radioulnare dorsale zügelt die Sehnenscheide den Ulnakopf gelegenen Nische zwischen Radius und Ulna an der Membrana
in seiner gelenkigen Verbindung mit dem Radius. Durch ihre interossea, ist etwa 2 mm dick und zieht mit einer mittleren Länge
enge Faserverbindung mit dem ulnokarpalen Komplex wird die von 12,6 mm – bedeckt von der tiefen Portion des M. pronator
Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris vor allem dorsoul- quadratus – zur Kapsel des distalen Radioulnargelenks. In Pro-
nar fest fixiert. Der ulnokarpale Komplex wirkt als Widerlager nation deutlich erschlafft, spannt es sich in Supination stark an.
(»pulley«) für den ulnaren Handgelenkstrecker und verhindert Es wirkt folglich kapselstraffend und stabilisiert den Ulnakopf im
einen gelenkmechanisch ungünstigen Bogensehneneffekt (»bow Sinne einer Zügelung in Supination.
stringing«; ⊡ Abb. 33.4a–c). Schräge Fasern dorsaler radiotrique-
traler Bänder und quere Fasern des Lig. intercarpale dorsale Dynamische (muskuläre) Stabilisatoren
vervollständigen diesen Zügelungskomplex als das sog. dorsale Wesentliche muskuläre Stabilisatoren sind der M. pronator quad-
V-Band. Es schließt auch Fasern mit ein, die schlingenförmig ratus, der M. pronator teres, der M. supinator sowie der M. biceps
um die ulnare Seite des Os triquetrum herumziehen. Sie setzen brachii.
sich kontinuierlich in die Gelenkkapsel der Articulatio ossis
pisiformis fort und verlaufen von hier als Fasern des Lig. radiolu-
notriquetralis als sog. Gelenkschleuder nach Pauwels zum Radius 33.1.2 Epidemiologie
zurück (⊡ Abb. 33.7).
33 Mikic (1978) untersuchte ein Patientengut, bei dem keine Trauma-
Kapsel des distalen Radioulnargelenks (DRUG). Die Gelenk- anamnese bestand und fand bei Patienten unter dem 20. Lebens-
kapsel ist vom Diskuskomplex deutlich abgrenzbar und wird dorsal jahr keine Perforation des Dreieckknorpels (TFC), ab dem 50. Le-
und palmar durch den einstrahlenden Zügel der Membrana inter- bensjahr hingegen zeigten alle Patienten mit und ohne Trauma-
ossea verstärkt (s. oben). anamnese Anzeichen einer Degeneration, ab dem 60. Lebensjahr
wiesen bereits 50% dieses Patientenkollektivs eine Perforation des
Membrana interossea Dreieckknorpels auf. Er schloss daraus, dass nicht alle Schädigun-
Die interossäre Membran des Unterarms verbindet Radius und gen des Diskuskomplexes klinisch relevant, sondern vielmehr als
Ulna nahezu in ganzer Länge. Neben der Chorda obliqua stabi- altersabhängige Zufallsbefunde zu werten sind.
lisiert vor allem das »zentrale Band« im Mittelabschnitt die ra-
dioulnaren Gelenke bei der axialen Kraftübertragung. Der distale
Anteil der Membrana interossea strahlt dorsal und palmar in die
Gelenkkapsel des DRUG ein. Der dorsal in die Gelenkkapsel des
DRUG einstrahlende Anteil der Membrana interossea ist etwa
8 mm breit, 1 mm dick und 3 cm lang und entspringt von der
Dorsalseite der Membrana interossea (⊡ Abb. 33.1). Er setzt dorsal
an der Kapsel des distalen Radioulnargelenks an, umfängt den
Ulnakopf schlingenartig und sichert damit eine Schwachstelle der
⊡ Abb. 33.8 Septum falciforme nach Fick. Palmare Verstärung der Gelenk-
⊡ Abb. 33.7 Radioulnare Gelenkschleuder nach Pauwels. (Aus Koebke 1988) kapsel ausgehend von der Membrana interossea
33.1 · Allgemeines
845 33
33.1.3 Ätiologie Distales Radioulnargelenk (DRUG)
Im Bereich des distalen Radioulnargelenks (DRUG) lassen sich
Nach Palmer (1981) kann eine traumatische Schädigung des 3 wesentliche Pathologien unterscheiden: Instabilitäten, Inkongru-
Diskuskomplexes von degenerativen Veränderungen abgegrenzt enzen und Arthrosen.
werden. Degenerative Veränderungen des Dreieckknorpels sind
vorwiegend druckbedingt, sie werden als Folge einer ulnaren Im- Instabilität des DRUG
paktion erklärt, bei der der zentrale Anteil des Dreieckknorpels Die Ursache einer Instabilität des DRUG kann posttraumatischer,
zwischen Ellenkopf und proximaler Handwurzelreihe eingeklemmt habitueller oder degenerativer Natur sein, wobei sowohl an eine
wird. In Folge kann der TFC zentral ausgedünnt werden und Schädigung der Gelenkkörper als auch der passiven und/oder
letztlich perforieren. Der angrenzende Gelenkknorpel wie auch aktiven Stabilisatoren zu denken ist. Sie kann sich in einer symp-
der lunotriquetrale Bandapparat werden geschädigt, dies wiede- tomatischen Subluxation oder Luxation der Speiche nach palmar
rum fördert die Instabilität und arthrotische Veränderungen. Ein oder dorsal äußern.
kraftvolles repetitives Greifmuster in Pronation und Ulnarduktion Die Subluxation führt zu wechselnden, belastungsabhängigen
werden als Ursache angenommen, es können jedoch auch syste- Beschwerden, wobei Schwierigkeiten angegeben werden, die Hand
mische Grunderkrankungen zu degenerative Veränderungen des in endlagiger Rotation unter Last zu stabilisieren (⊡ Abb. 33.9).
Dreieckknorpels führen. Bei der Inspektion kann sich eine Einziehung der Weichteil-
Traumatische Rissbildungen des Diskuskomplexes sind Folge kontur wie auch ein prominenter Ellenkopf zeigen (⊡ Abb. 33.10).
dislozierender Krafteinwirkung auf das distale Radioulnargelenk. Ein passiv durchgeführter dorsopalmarer Translationstest ohne
Sie sind vorwiegend Begleitverletzungen bei Hyperextensionst- festen Anschlag (»Klaviertasten-Zeichen«) kann als positiver kli-
raumen des Handgelenks. Bei distalen Radiusfrakturen kommt nischer Befund gewertet werden. Eine komplexe Schädigung liegt
es vorwiegend zur ulnaren Desinsertion des Diskuskomplexes, vor, wenn die Hand dabei in Radialduktion gehalten wird und der
mit oder ohne knöcherne Beteiligung des Ellengriffels. Die ra- ulnare Abschnitt des TFC maximal gespannt sein sollte. Der »Tab-
diale Desinsertion wird bei intraartikulären Radiusfrakturen als le-press-Test«, ausgeführt mit Druck der flachen Hand bei freiem
Abriss- bzw. als Abscherverletzung gesehen. Während knöcherne Handgelenk auf die Ober- oder Unterseite einer Tischfläche, führt
Abrisse des Ellengriffels oder Frakturen an der Incisura ulnaris ebenfalls zu einer im Seitenvergleich nach palmar oder dorsal ver-
radii in der Röntgenbildgebung gut darstellbar sind, können mehrten symptomatischen Einziehung der Weichteile über dem
rein ligamentäre Verletzungen der Erstdiagnostik leicht entge- distalen Radioulnargelenk. Komplette Luxationen können auch
hen. Diese Rupturen sind gehäuft ulnar distal nahe dem Kol- verhaken und zu einer Druckschädigung des N. ulnaris führen.
lateralband, ulnar proximal in der Fovea ulnaris oder kombi- Im Nativröntgen weist ein Basisabriss des Ellengriffels (mit Des-
niert zu finden und führen unbehandelt zu einer Instabilität insertion des Ansatzes in der Fovea ulnaris) ebenso auf eine Instabi-
des Dreieckknorpels bzw. des distalen Radioulnargelenks. Bei lität des distalen Radioulnargelenks hin, wie ein druckschmerzhafter
maximaler Rotation treten am radialen Ansatz des Diskuskom- pseudarthrotischer Ellengriffel. Komplexe Instabilitäten können mit
plexes erhebliche Zugkräfte auf, die dort zu Abrissverletzun- »gehaltenen Aufnahmen« und »cineradiografisch« dokumentiert
gen der radioulnaren Bänder führen können, aber auch ra- werden. Zur genaueren Bestimmung eignen sich frontale CT-Abbil-
diopalmare und radiodorsale Rissformen des Dreieckknorpels dungen im Seitenvergleich, wobei die »Radioulnar-Ratio-Methode«
bewirken ( Kap. 31). Weitere posttraumatische Störungen der als eine aussagekräftig Messmethode erscheint.
Umwendbewegung können auftreten als Folge der Galeazzi-
Fraktur, der Moore-Fraktur, der Essex- Lopresti-Verletzung, als Inkongruenzen und Arthrose
Folge unterschiedlicher Abrissfrakturen des Ellengriffels, perilu- Knöcherne oder weichteilbedingte Instabilitäten des DRUG füh-
närer Luxationen bzw. Luxationsfrakturen ( Kap. 28), wie auch ren zu einer Arthrose. Die Verdachtsdiagnose einer Arthrose im
als Folgen einer postraumatischen oder rheumatischen Arthri-
tis (RA; Kap. 52), angeborener oder erworbener Längenunter-
schiede der Unterarmknochen, fixierten Rotationsdeformitäten
der Madelung-Deformität ( Kap. 21) sowie der mitunter schwer
erkennbaren Instabilitäten der Sehne des ulnaren Handgelenk-
streckers.
33.1.4 Diagnostik
⊡ Abb. 33.10 Translationsverschiebetest. a Dorsalverschiebung der Speiche ⊡ Abb. 33.11 Ulna-Impakt-Syndrom. Die longitudinale Subluxation der Elle
mit festem Anschlag und ohne Vorspringen des Ellenkopfes, b Palmarver- nach distal führt zur vermehrten Druckbelastung des Dreieckknorpels (TFC-
33 schiebung der Speiche mit weichem Anschlag, Einziehung der Weichteil- Asterix), der im Kontaktbereich zwischen Ulnakopf und Os Lunatum ruptu-
kontur streckseitig mit Ausprägung einer Delle (Instabilität des« Ellenkopfes riert ist. Der Knorpel am Ellenkopf ist stark ausgedünnt. Das LT-Band scheint
nach palmar«) erhalten (Kryoschnitttechnik nach A. Kathrein)
DRUG wird klinisch gestellt, wenn neben einer schmerzhaften zystische Veränderungen im Mondbein, Dreieckbein oder Ellen-
Pro-/Supinationsbewegung der proximale Druck auf Radius und kopf als einen indirekten Hinweis auf eine Druckschädigung.
Ulna zu »Fernschmerzen« im DRUG führt. Die Diagnose wird in Zur selektiven Diagnostik dienen besonders die Dreikompart-
der Regel radiologisch und/oder im CT gestellt. mentarthrografie, die MRT, das Arthro-CT und die Arthroskopie,
welche als goldener Standard in der Diagnostik betrachtet werden
Ulnokarpalgelenk kann. Als nichtinvasives Verfahren ist die MRT mit Kontrast
Das Ulnokarpalgelenk besteht aus dem Discus ulnocarpalis mit sei- – durchgeführt mit einer Handspule und befundet von einem
nen komplexen Bandstrukturen, die dem Ulnakopf teils aufliegen handchirurgisch versierten Radiologen – von hoher Aussagekraft,
und damit das DRUG nach distal abschließen und gleichzeitig sta- da zusätzlich auch extraartikuläre Strukturen beurteilt werden
bilisieren. Distaler Partner ist der gegenüberliegende »lunotrique- können, die der Arthroskopie entgehen.
trale« Handwurzelblock, wobei Os lunatum und Os triquetrum
zusätzlich miteinander artikulieren. Symptomatischer Riss des Dreieckknorpels (TFC)
Im Bereich des Ulnokarpalgelenks können ebenfalls 3 Patholo- Ein symptomatischer Riss des Dreieckknorpels kann ein Klicken,
gien unterscheiden: Ulna-Impakt-Syndrom, symptomatische Ein- Blockieren oder Schnappen verursachen. Palpatorisch weist ein
risse des Dreieckknorpels und Instabilität des TFCC. Druckschmerz palmar des Ellengriffels auf eine Pathologie des ul-
naren Ansatzes des Diskuskomplexes oder auf entzündliche Verän-
Ulna-Impakt-Syndrom (ulnares Anschlagsyndrom) derungen des prästyloiden Recessus hin. Im Nativröntgen ist eine
Das symptomatische Ulna-Impakt-Syndrom ist Folge eines post- knöcherne Begleitverletzung auszuschließen. Der Riss ist mittels
traumatisch oder degenerativ bedingten Engpasses zwischen proxi- MRT (⊡ Tab. 33.1) oder in der Arthrografie nachweisbar und kann
maler Handwurzelreihe und Ellenkopf. Es ist charakterisiert durch nach positiven Vorbefunden in der Arthroskopie bestätigt werden.
eine Druckschädigung des Diskuskomplexes bei intakter ligamen-
tärer Führung (⊡ Abb. 33.11). Klinisch besteht eine belastungsab- Instabilität des TFCC
hängige Schmerzsymptomatik, vorwiegend in Pronation und unter Die Instabilität des TFCC führt zur Verlagerung des Dreieck-
axialer Kraftaufwendung. Besteht ein Riss des Dreieckknorpels, knorpels mit symptomatischer Einklemmung zwischen proximaler
kann auch hier ein Schnappen, Klicken oder Blockieren auftreten. Handwurzelreihe und Ellenkopf, dem Impingement-Syndrom. Der
Bei der Palpation ergibt sich ein Druckschmerz über dem Diskus- Patient gibt belastungsabhängige Schmerzen über dem ulnaren
komplex. Der passiv geführte Impingement-Test ist positiv. Handgelenkkompartiment an, häufig in Pronation und Extension.
Im standardisierten Röntgenbild des Handgelenks (»Handge- Die Untersuchung ergibt einen positiven Impingement-Test. Dabei
lenknormaufnahme«), Schulter abduziert auf 90°, im Ellbogen- führt die forcierte Durchbewegung des Handgelenks in der Fron-
gelenk gebeugt auf 90° und dem Mittelfinger ausgerichtet nach talebene zur symptomatischen Kompression des Dreieckknorpels
der Radiuslängsachse und eingeschwenktem, auf das Lunatum in Ulnarposition. Im Nativröntgen kann ein (pseudarthrotischer)
zentriertem Leitstrahl, können Längenunterschiede im distalen Ra- Abriss des Ellengriffels oder dessen Dislokation auf eine mögliche
dioulnargelenk im Seitenvergleich gemessen werden, wobei die am Instabilität des Dreieckknorpels hinweisen. Mit der dynamischen
häufigsten angewendeten Messmethoden als gleich aussagekräftig Aufzeichnung standardisierter MRT-Sequenzen während der Ul-
gelten. Das Nativröntgen zeigt zusätzlich arthritische und/oder nar- und Radialduktion, können unterschiedliche Pathologien des
33.1 · Allgemeines
847 33
⊡ Tab. 33.1 MRT-Befunde der posttraumatischen Läsionen des TFCC in der Klassifikation nach Palmer. (Mod. nach Schmidt et al. 2004)
IB Diskusabriss vom Proc. sty- Flüssigkeitsäquivalentes Signal am Kontrastmittelanreicherung Kontrastmittel zwischen Diskus
loideus ulnae Proc. styloideus ulnae am Proc. styloideus ulnae und Proc. styloideus ulnae und
(vaskularisiertes Segment) mit Übertritt in das distale Radio-
ulnargelenk
IC Osteoligamentäre Avulsion Lig. ulnolunatum oder Lig. ulnotriquet- Palmarseitige Kontrastmittel- Fakultativ Kontrastmitteldepot
des Lig. ulnolunatum oder rum mit flüssigkeitsäquivalenten Sig- anreicherung (vaskularisier- palmarseitig, aber keine Kommu-
des Lig. ulnotriquetrum naleinschluss in sagittalen Schichten; tes Segment) nikation zum distalen Radioul-
evtl. palmare Translokation von Luna- nargelenk
tum bzw. Triquetrum
ID Diskusabriss an der Incisu- Diskus durch flüssigkeitsäquivalenten Keine Kontrastmittelanrei- Kontrastmitteldepot zwischen
ra ulnaris radii Signaleinschluss von der Incisura ulna- cherung am Diskus (avasku- Diskus und Incisura ulnaris radii
ris radii getrennt läres Segment) sowie Kommunikation zum dis-
talen Radioulnargelenk
perextensionstrauma angegeben, radiologische Veränderungen fin- ulnaris mitunter auch Schmerzen im muskulären Bereich angege-
den sich nicht. Die Diagnose wird im Ausschlussverfahren gestellt. ben. Bei Rotation des Unterarmes ist die Verlagerung derSehene
Die Therapie besteht in einer Dekompression des Os triquetrum meist als Schnappen zu tasten. Die Subluxation und eine reaktive
durch Exzision der komprimierenden Bandanteile. Synovialitis sind am besten im Ultraschall oder in der dynami-
schen MRT nachzuweisen.
Lunotriquetrale Bandläsionen
Lunotriquetrale Bandläsionen können posttraumatisch – LT-Diss- Caput-ulnae-Syndrom Abschn. 52.1.1
soziation ( Abschn. 29.1.6.2), Lunatumfraktur ( Abschn. 26.1.7.1.2),
entzündlich und/oder degenerativ bedingt sein. Während bei der
statischen Dissoziation eine VISI-Stellung des Os lunatum die 33.1.5 Klassifikation
Diagnose erhärten kann, lässt sich die dynamische Form bei ent-
sprechendem positivem klinischem LT-Ballotment-Test ( Ab- Klassifikation der Läsionen des TFCC nach Palmer
schn. 32.1.4) mit größter Sicherheit nur arthroskopisch stellen. Hier- Zur Einstufung einer Schädigung des Diskuskomplexes wird die
bei finden sich dann Zerreißungen oder Zottenbildungen des Klassifikation nach Palmer (1981) am häufigsten verwendet. Im
lunotriquetralen Bandapparates. Unterschied zur Mayo-Klassifikation, welche sich vorwiegend auf
die Lokalisation und Rissformen nahe der Incisura ulnaris radii –
Pisotriquetralarthrose zentral, ulnar, palmar – bezieht, berücksichtigt die Einteilung nach
Bei pisotriquetraler Arthrose werden die Beschwerden über dem Palmer auch die Pathogenese. Mit ihr können auch die funktionel-
gut tastbaren Os pisiforme durch Druck und Verschiebung mit len Störungen des Diskuskomplexes weitgehend erklärt werden. So
Druck ausgelöst. Radiologisch können auf der Pisiforme-Spezi- werden in der Klasse 1 nach Palmer traumatische Rissformen des
alaufnahme (HG lateral in 20° Supination) eine Minderung der Diskuskomplexes nach Lokalisation der geschädigten Struktur er-
Gelenkhöhe und eventuell Zeichen einer Osteoarthrose gefunden fasst und ein radialer und ulnarer Riss des Diskuskomplexes sowie
33 werden. Die Injektion eines Lokalanästhetikums in das Pisotrique- ein Riss der ulnokarpalen Bänder oder ein Abriss der radioulnaren
tralgelenk bewirkt sofortige Schmerzfreiheit und beweist zusam- Bandstrukturen vom Radius berücksichtigt. In der Klasse 2 nach
men mit einer seitlichen Röntgenaufnahme die Diagnose. Palmer werden degenerative Veränderungen des Diskuskomplexes
zusammengefasst, wobei gemäß dem Ausmaß des Druckschadens
Ansatztendopathie der Sehnen des M. flexor carpi ulnaris eine zentrale Degeneration des Dreieckknorpels, eine zentrale De-
Bei der Ansatztendopathie der Sehne des M. flexor carpi ulnaris generation des TFC mit Chondromalazie, eine Degeneration des
findet sich das Punctum maximum des Schmerzes im Bereich des TFC mit Rissbildung und ein Knorpelschaden am Mondbein und
Os pisiforme. Der Schmerz kann auch entlang des Sehnenverlaufs am Ellenkopf, ausgedehnte Rissbildung und lunotriquetrale Schä-
in den ulnopalmaren Unterarm austrahlen. Typisch ist eine Auslö- digung und Ruptur bis zur degenerativen Arthritis des ulnokarpa-
sung durch repetitive Bewegungen. len Gelenkkompartiments zu finden sein kann (⊡ Abb. 33.13).
Der ulnare Diskusschaden 1B kann in der MRT in einen dista-
Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris len, einen proximalen oder kombinierten Abriss unterteilt werden,
Erkrankungen der Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris ge- sie können in der Arthroskopie durch Fehlen des Trampolineffekts
hen in der Regel mit einer schmerzhaften Unterarmdrehbewegung oder durch einen positiven Push-Effekt (⊡ Abb. 33.12b) diagnosti-
und einem mehr oder weniger ausgeprägten Klick-Phänomen – bei ziert werden.
Instabilität – bzw. Schwellung – bei Synovialistis – einher.
Im Bereich des 6. Strecksehnenfachs können 3 Pathologien un- Klassifikation des ulnokarpalen Impingement nach
terschieden werden: Ansatztendopathie der Sehnen des M. exten- Rudisch
sor carpi ulnaris, Subluxation/Luxation der Sehne des M. extensor Nach Rudisch (2006) erfolgt die Klassifikation des ulnokarpalen
carpi ulnaris, Caput-ulnae-Syndrom bei chronischer Polyarthritis. Impingement im dynamischen MRT nach Lokalisation und Bewe-
gungsrichtung (⊡ Tab. 33.2).
Ansatztendopathie der Sehnen des M. extensor carpi ulnaris Der direkte funktionelle Nachweis eines radioulnaren Impinge-
Bei der Ansatztendopathie der Sehne des M. extensor carpi ulnaris ment gelingt bislang nur in der dynamischen Magnetresonanz-
findet sich das Punctum maximum des Schmerzes im Bereich der tomografie. Im »MR-Movie« kann auch bei Ulna-Null-Variante
Basis des 5. Mittelhandknochens. Der Schmerz kann auch entlang
des Sehnenverlaufs in den dorsoulnaren Unterarm ausstrahlen. Eine
Tendovaginitis des 6. Strecksehnenfachs zeigt das gleiche Beschwer- ⊡ Tab. 33.2 Klassifikation des ulnokarpalen Impingement im
debild. Typisch ist eine Auslösung durch repetitive Bewegungen. dynamischen MRT nach Lokalisation und Bewegungsrichtung nach
Rudisch
Subluxation/Luxation der Sehne des M. extensor carpi ulnaris
Die korrekte Führung der Sehne des M. extensor carpi ulnaris im 6. Typ Lokalisation des Impingement und Bewegungsrichtung
Strecksehnenfach ist schon wegen ihrer Nähe und stabilisierenden 1 Ulnakopf und Os triquetrum in Ulnarduktion
Funktion für das distale Radioulnargelenk in die Untersuchung
des Diskuskomplexes mit einzubeziehen. Nicht selten findet sich 2 Ulnakopf und Os lunatum in Radialduktion
bei kombinierter Instabilität des distalen Radioulnargelenks und
3 Incisura ulnaris radii und Os triquetrum/lunatum in
des Handgelenks eine Subluxation der Sehne des M. extensor carpi Ulnarduktion
ulnaris. Der ossäre Kanal des 6. Strecksehnenfaches kann flach
ausgebildet sein, dies begünstigt bei maximaler Supination eine Su- 4a Ulnastyloid und Os triquetrum in Ulnarduktion
bluxation der Sehne. Über die lokalen Beschwerden hinaus werden
4b Pseudarthrose Ulnastyloid und Os triquetrum in Ulnarduktion
bei einer chronischen Subluxation der Sehne des M. extensor carpi
33.1 · Allgemeines
849 33
ein Impingement des Dreieckknorpels zwischen Ellenkopf und relativ zum Ellenkopf disloziert. Die Instabilität wird als »Luxation
Mondbein und zwischen Ellenkopf und Os triquetrum in Ulnar- des Ellenkopfes« nach palmar oder dorsal beschrieben. So ist eine
duktion und Radialduktion des Handgelenks unterschieden wer- komplette Luxation von einer Subluxation, eine uni- von einer
den (⊡ Abb. 33.14). multidirektionalen, einer nach dorsal von einer nach palmar und
eine verhakte von einer reponiblen zu unterscheiden. Die Subluxa-
Klassifikation der Instabilität des DRUG tion oder Luxation nach distal ist im Beschwerdebild des Impakti-
Eine Einteilung der Instabilität des distalen Radioulnargelenks onssyndroms enthalten.
kann nach deren Richtung, dem Ausmaß und der Reponierbarkeit Entsprechend ihrer Ursache lassen sich die Instabilitäten des
der Dislokation erfolgen ( Übersicht). Entsprechend der Literatur distalen Radioulnargelenks auf intraartikuläre oder extraartikuläre
wird häufig fälschlicherweise die Richtung der Instabilität nach knöcherne Deformitäten, auf eine ligamentäre Insuffizienz oder
Prominenz des Ellenkopfes beschrieben, obwohl sich die Speiche auf eine Kombination beider zurückführen.
1a 1b knöchern 1b ligamentär 1c 1d
2a 2b 2c 2d 2e
⊡ Abb. 33.13 Klassifikation der Schädigung des Diskuskomplexes (TFCC) nach Palmer. a Typ 1: traumatischer Schaden, 1A horizontaler Riss nahe der Incisura
ulnaris radii, 1B Ausriss des Dreieckknorpels an der Ulna, 1C Riss der ulnokarpalen Bänder, 1D Abriss des Dreieckknorpels von der Incisura ulnaris radii. b Typ 2:
degenerativer Schaden, 2A Ausdünnung des Dreieckknorpels, 2B Ausdünnung des Dreieckknorpels, Chondromalazie (Ulnakopf oder Os Lunatum), 2C Perfora-
tion des Dreieckknorpels, Chondromalazie, 2D Perforation des Dreieckknorpels, Chondromalazie, partielle Ruptur der lunotriquetralen Bänder, 2E Perforation
des Dreieckknorpels, Chondromalazie, Ruptur der lunotriquetralen Bänder, Arthritis ulnokarpal
a b c
Ulna-Impakt-Syndrom
Zur operativen Behandlung des symptomatischen Impaktionssyn-
droms stehen intra- und extraartikuläre Verfahren zur Verfügung.
Berücksichtigt werden sollte dabei die Ulnavarianz, wobei sich bei
Patienten mit Ulna-plus-Stellung ein einfaches arthroskopisches
Debridement des Dreieckknorpels als nicht ausreichend erweisen
kann (⊡ Abb. 33.15), in diesen Fällen ist eine Druckentlastung
durch Niveauangleichung zu bevorzugen.
Bei Ulna-Null- und Ulna-minus-Varianten wurde ein Fort-
schreiten der Symptomatik nicht beobachtet, in einem Drittel der
c
Fälle klangen die Beschwerden ohne operative Therapie ab.
Häufig ist ein offener Zugang zum distalen Radioulnarge-
lenk notwendig, er kann über das 4. Strecksehnenfach erfolgen
(⊡ Abb. 33.16). Dabei wird nach bogenförmigem Hautschnitt zu-
nächst das Retinaculum extensorum mit einem ulnar gestielten
Lappen gehoben, und danach die darunter liegende Gelenkkapsel
gegenläufig radial gestielt eröffnet. Bei Instabilität kann der dorsale rotationsgesicherter Kompression kann der Operationsablauf weit-
Kapsellappen mit dem Retinakulumlappen verstärkt und gerafft gehend standardisiert und die Komplikationsrate gesenkt werden.
werden. Ein ähnlicher Zugang ist über das 5. Streckerkompartment In unserem retrospektiv untersuchten Kollektiv von 20 Patienten
mit Erweiterung des Kapsellappens nach distal beschrieben, wobei (durchschnittlicher Nachuntersuchungszeitraum 13 Monate, paral-
das dorsale radiokarpale Band erhalten bleibt. Dadurch wird so- lele Schrägosteotomie, palmare Implantatlage) wurde in einem Fall
wohl ein Zugang zum lunotriquetralen Bandapparat als auch eine eine verzögerte Heilung beobachtet, bei allen weiteren Patienten er-
ausreichende Einsicht in den ulnaren Abschnitt des Radiokarpalge- folgte die Konsolidierung der Elle bis zum Nachuntersuchungszeit-
lenks ermöglicht. Der alternative Zugang über das 6. Streckerfach raum von 6 Monaten, achsengerecht und ohne Rotationsfehlstellung.
schwächt die dorsale Anhaftung des Diskuskomplexes und wird Unsere Indikationen für dieses Verfahren sahen wir bei einer longi-
daher von uns nicht bevorzugt. tudinalen Fehlstellung im distalen Radioulnargelenk von 4–10 mm,
Die »Wafer Procedure« nach Feldon ( Abschn. 33.2.4) zählt zu die zum Impaktionssyndrom führt (meist Folge einer distalen Radi-
den intraartikulären Verfahren, wobei nach Resektion des Dreieck- usfraktur), nach Essex-Lopresti-Verletzungen in Kombination mit
knorpels und des radialen Anteils des Ellenkopfes bei Ulna-plus- einem Radiuskopfersatz oder bei habitueller Ulna-plus-Variante.
Varianten eine signifikante Druckentlastung erzielt werden kann Bei ungünstigen, irreparablen Knorpelverhältnissen wird eine
(⊡ Abb. 33.21a,b). Es werden über 80% gute Resultate nach 3–6 Mo- bestmögliche Wiederherstellung der Funktion des distalen Radio-
naten berichtet, wobei die Dauer bis zur Beschwerdefreiheit deutlich ulnargelenks durch eine Ersatzoperation angestrebt.
länger sein kann. Bei der arthroskopisch durchgeführten Wafer Bei irreparabler, kompletter Instabilität des Diskuskomple-
Procedure wird zunächst über die radiokarpalen Portale der Drei- xes und des distalen Radioulnargelenks kann – unter der Vor-
eckknorpel debridiert, um anschließend mit einer Fräse durch den aussetzung guter Knorpelverhältnisse im distalen Radioulnarge-
entstandenen Defekt die radialen zwei Drittel des Ellenkopfes ab- lenk – eine Bandersatzplastik in Betracht gezogen werden ( Ab-
zutragen. Zu berücksichtigen bleibt die anatomische Variation einer schn. 33.2.7). Bei den seltenen kombinierten Instabilitäten können
kleinen Gelenkfläche der Circumferentia articularis ulnae, die bei zu Bandplastiken, Korrekturosteotomien und Periostlappenplastiken
33 ausgiebiger Segmententfernung zur Inkongruenz des distalen Radio- hilfreich sein (⊡ Abb. 33.17).
ulnargelenks führen und eine Arthrosebildung begünstigen kann. Die Arthrodese des distalen Radioulnargelenks mit Segmen-
Ein alternatives Verfahren ist die intraartikuläre Ellenkopfver- tresektion der angrenzenden Elle nach Sauvé-Kapandji ( Ab-
kürzung durch Resektion einer Knochenscheibe aus dem Ellenkopf schn. 33.2.8) erlaubt eine stabile Führung des Karpus und eine
nach Pechlaner ( Abschn. 33.2.5). ausgewogene Kraftübertragung auf den Unterarm. Die Unterarm-
Die extraartikuläre Ellenschaftverkürzung ( Abschn. 33.2.6) wird drehung lässt sich meist zur Gänze wiederherstellen, die subjek-
in der Literatur zum Teil kritisch diskutiert. Bei kortikalem Knochen tiven Ergebnisse sind gut. Bei insuffizienter Stabilisierung des
ist eine schädigende Hitzeentwicklung während der Osteotomie proximalen Ellenstumpfes kann es bei Belastung zu einem sympto-
zu vermeiden, diese beeinträchtigt den Heilungsverlauf zum Teil matischen Impingement an der Speiche kommen, dem sollte durch
beträchtlich. Der dünne Knochen ist hohen Belastungen ausgesetzt, eine möglichst distale und kurze Resektion vorgebeugt werden.
die nach Osteotomie eines stabilen Implantates bedürfen. Weichteil- Als konkurrierendes Verfahren gilt die Hemiresektions-In-
situation und Formvielfalt der Elle begrenzen zudem eine dauerhafte terpositions-Arthroplastik (HIT) nach Bowers ( Abschn. 33.2.9).
Implantatlage. Zudem verbleiben nach der Schraubenentfernung Dabei wird über einen dorsalen Zugang der knorpelige Anteil
langzeitig Schwachstellen. Zu den Komplikationen zählen Pseudar- des Ellenkopfes entfernt und bei erhaltenem ulnarem Ansatz des
throse, Refraktur, Tenosynovialitis der Sehne des M. extensor carpi Diskuskomplexes ein Sehnenersatz an die Stelle des resezierten
ulnaris und die Rotationsfehlstellung. Mit neuen winkelstabilen Im- Ellenkopfes interponiert. Mit diesem Verfahren ist eine gute Un-
plantatsystemen zur variablen Schrägosteotomie mit kombinierter terarmdrehung und eine deutliche Schmerzreduktion zu erzielen.
a b
⊡ Abb. 33.17 Therapie der kombinierten Instabilität im distalen Radioulnargelenk. a Kombinierte komplette Instabilität im DRUG nach dorsal bei symptomati-
scher midkarpaler Instabilität (»carpal instability non dissociative«, CIND), b schließende Keilosteotomie der Elle, Refixation der proximalen tiefen radioulnaren
Bänder in der Fovea ulnaris, Verstärkung der dorsalen Kapselstruktur mit Retinakulum- bzw. Kapselplastik und radiokarpale Aufhängeplastik des Ellenkopfes mit
freiem Periostlappen (nach M. Lutz) zur Stabilisierung der CIND. fPL freier Periostlappen vom Beckenkamm; ECU M. extensor carpi ulnaris; Tq Triquetrum
33.1 · Allgemeines
853 33
Als Komplikation wurde ein Impaktionssyndrom zwischen Ellen- und eine zusätzliche Ellenkopfresektion nach Darrach bei beglei-
griffelspitze und proximaler Handwurzelreihe beschrieben. Die tender Rekonstruktion der rupturierten Sehnen als erfolgverspre-
Ursache dafür ist eine Medialisierung der Elle beim kraftvollen chend (⊡ Abb. 33.18). Eine Arthrodese oder eine Arthroplastik
Faustschluss. Die Arthrodese des distalen Radioulnargelenks und des distalen Radioulnargelenks ist bei Caput-ulnae-Syndrom mit
die Hemiresektions-Interpositions-Arthroplastik liefern annähernd ankylosierendem Karpus seltener indiziert ( Kap. 52).
gleichwertige Ergebnisse und sind beide der einfachen Resektion
des Ellenkopfes nach Darrach ( Abschn. 33.2.10) überlegen.
Alternativ steht der hemiprothetische Ersatz des Ellenkopfes zur 33.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Diskussion, der bislang nur in wenigen Zentren durchgeführt wurde.
Ein Nachteil aller Resektionsverfahren, wie auch des Sauve-Kapand- Diagnostik und Therapie von Verletzungen und Defekten im Be-
ji-Verfahrens ist die eingeschränkte Möglichkeit, eine hohe Stabilität reich des distalen Radioulnargelenks im Kindesalter sind durch die
des Unterames in der transversalen Ebene wiederherzustellen. Der selbstheilende Korrekturmöglichkeit der Wachstumsfugen geson-
Einsatz einer Hemiprothese bietet diese Möglichkeit und ermöglicht dert zu betrachten:
zudem eine günstige Kraftverteilung über das Handgelenk. Zurzeit Für Patienten im Adoleszentenalter mit nahezu geschlossenen
finden jedoch nur wenige Produkte Anwendung, längerfristige Re- Wachstumsfugen gelten hingegen im Wesentlichen die gleichen
sultate fehlen. Bei den sphärisch geformten Implantaten wird der Prinzipien wie beim Erwachsenen.
Ellenkopf einer stammgeführten Kragenprothese durch die Weich- Vom Pathomechanismus her stellen die Epiphysenfugen das
teilhaube des Diskuskomplexes stabilisiert. Bei einem weiteren Mo- schwächste Glied in der Verletzungskette dar und so sind reine
dell bleibt der ulnare Ansatz des Diskuskomplexes intakt, sodass ligamentäre Verletzungen kaum zu beobachten. Die Einteilung der
lediglich der knorpelige Anteil des Ellenkopfes durch das Implantat gelenknahen Frakturen im Kindesalter erfolgt nach Salter-Harris
ersetzt wird. Größere Kollektive und Langzeitresultate wurden noch oder Aitken. Lösungen der Epiphysen können im Kindesalter am
nicht ausgewertet. Für den Nachuntersuchungszeitraum von 2 Jah- Standardröntgen oft nur schwer zu sehen sein, das Schädigungs-
ren wird über eine Verbesserung der Schmerzsituation, der Kraft ausmaß der Wachstumsfugen oder eine Fehlstellung lassen sich
und eine verbesserte Funktion berichtet. bei Verdacht dann am besten im MRT oder in der CT beurteilen.
Beim Krankheitsbild der rheumatischen Arthritis ist das di- Als Folge einer Epiphysen- oder Fugenschädigung im Kindesalter
stale Radioulnargelenk frühzeitig betroffen. Kann mit einer me- kann ein vorzeitiger, meist partieller Schluss der Wachstumsfuge
dikamentösen Therapie keine Besserung erreicht werden, ist die mit daraus resultierender Fehlstellung eintreten. An der distalen
frühzeitige Synovektomie indiziert. Bei bereits fortgeschrittener Speiche führt dieser zur Kippung des Gelenkkörpers, welche zu In-
Destruktion des distalen Radioulnargelenks und instabilen karpa- stabilitätsbeschwerden oder zu einem Impaktionssyndrom führen
len Verhältnissen, dem »Caput-ulnae-Syndrom«, meist begleitet kann. Extraartikuläre Achsenabweichungen nach Schaftfrakturen
von einer Ruptur der Strecksehnen, gilt die Arthrodese des Karpus können ebenfalls zur Inkongruenz des distalen Radioulnargelenks
⊡ Abb. 33.18 Caput-ulnae-Syndrom bei chronischer Polyarthritis. a Betroffen ist die Umgebung
des Ellenköpfchens mit Beteiligung des DRUG und des TFCC. b Bei ausgedehnter Synovialitis sollte
primär eine frühe Synovialektomie durchgeführt werden, um eine weitere Instabilität im Bereich
des 6. Strecksehnenfaches zu vermeiden. c Bei Zerstörung des Ellenkopfes bzw. irreversibler und
symptomatischer Instabilität des DRUG kann eine Resektionsarthroplastik oder eine andere Ersatz-
operation durchgeführt werden. (Aus Berger u. Hierner 2008)
a b c
854 Kapitel 33 · Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC)
33
führen, korrigieren sich jedoch zumeist weitgehend selbst. Intraar-
tikuläre Frakturen hingegen sind kritisch zu verfolgen und sollten
bei ausgeprägter Fehlstellung auch im Kindesalter operativ behan-
T
delt werden (⊡ Abb. 33.19). In jedem Fall ist auf die erforderlichen
L
langfristigen Verlaufskontrollen hinzuweisen.
a b
c d
⊡ Abb. 33.21 Technik der intraartikulären Ulnakopfverkürzung nach Pechlaner. a Ulna-plus-Variante: Markierung der distalen radialen Kante des Ulnakopfes
und der parallel geführten Osteotomien. Absenken des Niveaus des Ellenkopfes, b Stabilisierung der Fragmente im Zugschraubenprinzip, c Rekonstruktion
des DRUG. (Aus Pechlaner 1995)
verstärkerkontrolle in dorsopalmarer Projektion die distale, radiale chenscheibe ein »Verschnittdefekt« durch das Sägeblatt entsteht.
Kante des Ellenkopfes markiert. Von hier aus nach proximal wird Die Breite dieses Defekts ist abhängig von der Dicke des Sägeblatts
die distale Osteotomielinie in einem Winkel von 45° auf die Ellen- (⊡ Abb. 33.21a). Entlang der markierten Schnittebenen wird von
längsachse eingezeichnet. Parallel dazu, nach proximal versetzt, proximal ein flacher, etwas breiterer Hohmann-Hebel zum Schutz
verläuft die zweite Schnittlinie, wobei die radioulnare Gelenkfor- der palmar des Ellenkopfes liegenden Strukturen (A. ulnaris,
mation erhalten bleibt. Allgemein wird eine Entlastung des ulnaren N. ulnaris) eingebracht. Distal schützt ein kantenfreier, schmaler
Handgelenkkompartiments von 2–3 mm angestrebt. Die Breite des Hohmann-Hebel oder eine gerundete Schlittensonde Bandstruk-
bei der Schrägosteotomie gesetzten Defekts entspricht etwa der turen und Diskus vor Läsionen durch die oszillierende Säge. Das
Absenkung des Ellenniveaus; rein rechnerisch ist die Absenkung distale Ellenkopfsegment wird daraufhin proximalisiert und mit
geringfügig größer. Bei der Planung der Niveauabsenkung muss dem Hauptfragment verschraubt (⊡ Abb. 33.21c). Nach Überprü-
bedacht werden, dass zusätzlich zur Breite der entnommenen Kno- fung der Unterarmdrehung und Kontrolle der Osteosynthese im
856 Kapitel 33 · Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC)
Röntgenbild werden das Kapsel-Band-Gewebe anatomisch rekons- und der distale, mittlere Schaftbereich der Ulna freigelegt. Eine
truiert (⊡ Abb. 33.21) und die Sehnenfächer 5 und 6 refixiert. Nach durchblutungsstörende zirkuläre Freilegung der Ulna ist zu ver-
Öffnen der Blutleere und subtiler Blutstillung erfolgt die Einlage meiden und erfolgt nur im Bereich der Osteotomie. Die Schrägos-
einer Saugdrainage und ein schichtweiser Wundverschluss. teotomie wird planparallel über eine Schnittlehre, unter minimaler
Wärmeentwicklung durchgeführt um Hitzenekrosen zu vermeiden.
Nach Entfernen des Knochensegments erfolgt die longitudinale,
33.2.6 Technik der extraartikulären rotationsgesicherte Verkürzung über die Gleitlöcher des Implan-
Ulnaverkürzungsosteotomie tats. Die Osteotomieflächen werden unter Kompression gebracht
und über das Implantatsystem stabilisiert (⊡ Abb. 33.22).
Bei beabsichtigter palmarer Plattenlage wird nach ulnarer Hautin-
zision zwischen dem M. extensor carpi ulnaris und dem M. flexor
carpi ulnaris die anhaftende palmare Muskulatur zurückgedrängt 33.2.7 Bandplastik nach Adams zur Stabilisierung
des instabilen distalen Radioulnargelenks
a b c
⊡ Abb. 33.24 Arthrodese des distalen Radioulnargelenks mit Segmentresektion aus der Ulna, Technik der OP nach Sauvé-Kapandji. a Nach Darstellung der
distalen Ulna, Rotationsmarkierung, parallele Resektion eines ersten Segments im Ausmaß des relevanten Ulnavorschubs. b Um die korrekte Rotationsein-
stellung zu erreichen, muss der periphere Ellenanteil um etwa 90° zur Rotationsmarkierung »nachgedreht« werden, da die Speiche in maximaler Pronation
gelagert ist. Das resezierte Ellenfragement wird zurechtgeformt und zwischen Radius und distalem Ellenstumpf eingefalzt. c Die Schraube wird durch das
eingepasste Ellensegment hindurchgeführt und verhindert so ein Abgleiten des lnterponats. Der M. pronator quadratus wird samt anheftendem Periost ein-
gekerbt und umgeschlagen und die abgerundeten Ellenenden damit ummantelt. (Aus Pechlaner u. Sailer 1993)
858 Kapitel 33 · Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC)
Ulna
Schnitt 2
Schnitt 1
Proc. styloideus
ulnae
Radius
a
b c
TFCC
Osteotomie
Radialer Rand
des Lappens
33 mit palmarer
Kapsel
e f
M. extensor
d Radialer Anteil dig. minim. Retinaculum
des Lappens extensorum
⊡ Abb. 33.25 Technik der Hemiresektions-Interpositions-Arthroplastik nach Bowers. a Planung und Schnittebene der 1. Resektion, b Planung und Schnit-
tebene der 2. Resektion, c Refixierung der distalen Ulna: Bei diesem Schritt der Operation kann der Ellbogen so gebeugt werden, dass der Unterarm auf dem
Armtisch senkrecht steht und in 40° Supination gehalten wird. Diese Position minimiert die Zugspannung im Lappen und am ulnokarpalen Bandkomplex
während des Verschlusses. Das Lig. radioulnare dorsale und der Discus triangularis werden an der Unterseite des Lappens refixiert. Dies geschieht durch ver-
senkte Einzelknopfnähte mit resorbierbarem Nahtmaterial. d Rekonstruktion des DRUG: Der dorsoradiale Teil des eingeschlagenen Lappens wird nun zusätz-
lich unter angemessener Spannung – evtl. mit transossären Nähten – an der dorsalen Lippe der Incisura ulnaris des Radius fixiert. Dazu benutzt man kräftiges,
nicht resorbierbares Nahtmaterial der Stärke 0. Diese Nahtreihe rafft den Lappen, verstärkt die Führung des Ulnaendes gegenüber dem Radius und verlagert
die Sehne des M. extensor carpi ulnaris weiter nach dorsal. Dies verstärkt die dorsalen Anteile des Lappens und erzeugt eine dynamische Zügelung des Ulna-
endes, die eine Dislokationstendenz nach dorsal reduziert. e Rekonstruktion des Retinaculum extensorium: Das 5 Strecksehnenfach ist damit aufgelöst, die
Sehne des M. extensor digiti minimi verbleibt subkutan. (Aus Pillukat u. Schoonhoven 2009)
bestehender Instabilität des distalen Radioulnargelenks unsicher. tial vorbeigeführt. Das Sägeblatt bildet dabei mit der Horizontalen
Nach Hierner erfolgt die Operation in Rückenlage und Blutleere. einen Winkel von 45–60°. Durch diesen Schnitt entsteht eine an-
Der Arm wird auf einem Handtisch ausgelagert und proniert. nähernd dreieckige Resektionsfläche radial an der Elle. Dadurch
Der offene Zugang zum DRUG erfolgt zwischen dem 5. und wird ungefähr die Hälfte des Ellenkopfes abgetragen, wobei der
6. Strecksehnenfach nach Garcia-Ellias (⊡ Abb. 33.16). Anschlie- Proc. styloideus ulnae erhalten bleibt (⊡ Abb. 33.25a). Der zweite
ßend wird der distale Ellenkopf mithilfe zweier Hohmann-Hebel Sägeschnitt verläuft auf der gleichen Linie in einem Winkel von
unterfahren und herausgehebelt. Für die Osteotomie der Ulna 80–100° zum ersten Sägeschnitt und wird ebenfalls tangential am
wird der Arm auf dem Armtisch so ausgerichtet, dass die Linie Proc. styloideus ulnae vorbeigeführt. Dieser Schnitt reseziert den
Proc. styloideus ulnae/Olekranon, zum Operationstisch gewandt, Rest des Ellenkopfes mit Ausnahme der Basis des Proc. styloideus
den tiefsten Punkt bildet. Durch gleichzeitige maximale Pronation ulnae (⊡ Abb. 33.25b). Sofern gelenktragende Anteile des Ellen-
des Handgelenks bei fixiertem Ellenbogen ergibt sich die korrekte kopfes verblieben sind, wird nachreseziert, danach Abrunden der
Position für die Resektion. Die distale Elle hat nun die Form ei- Schnittflächen mit der Luer-Zange. Diese Abrundung ist wichtig,
nes Prismas, dessen Spitze der Proc. styloideus ulnae bildet. Die damit der Radius bei der Umwendbewegung die Ulna nicht tan-
Resektionslinie der distalen Elle sollte dabei parallel zur Kontur giert und stört. Sofern erforderlich, transossäre Refixation des
des distalen Radius verlaufen, um ein punktuelles Impingement ulnokarpalen Bandkomplexes mittels nicht resorbierbarer Fäden
zu verhindern. Der erste Schnitt beginnt etwa 4 cm proximal des der Stärke 0 durch 2 Bohrungen von 1 mm Durchmesser, schräg
Ulnakopfes auf der dem Proc. styloideus ulnae abgewandten Seite von der Basis des Proc. styloideus ulnae zur Streckseite verlau-
der Ulna und wird distal knapp am Proc. styloideus ulnae unter fend, an der distalen Ulna. Soll in gleicher Sitzung eine Verkür-
Schonung des Ansatzes des ulnokarpalen Bandkomplexes tangen- zung bei Ulna-plus-Variante durchgeführt werden, können der
Weiterführende Literatur
859 33
M. pronator quadratus resorbierbarem Nahtmaterial fortlaufend vernäht. Das 5. Streck-
Vagina tendinis ECU sehnenfach ist damit aufgelöst, die Sehne des M. extensor digiti
minimi verbleibt subkutan (⊡ Abb. 33.25e). Postoperativ ist die
vollständige Blockierung der Pronosupination notwendig, wes-
halb auch trotz stabiler Osteosynthese ein Oberarmgipsverband
Ulna
angelegt werden muss.
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33.3 · Weiterführende Literatur
887 VIII
33
36 Hochdruckeinspritzverletzungen – 985
Berthold Bickert
Morbus Dupuytren
Peter Brenner
34.1 Allgemeines kommuniziert somit auch mit den Digitalfaszien (Fascia digitalis)
(⊡ Abb. 34.2).
Der Morbus Dupuytren ist Teil einer systemischen Bindegewebser- An der Unterfläche der Fascia palmaris befinden sich die acht
krankung. Zell- und Bindegewebsproliferationen (Wucherungen) kielartigen Vertikal- oder Intermediärsepten. Sie unterteilen die
des präexistenten Bindegewebskontinuums bedingen manuelle Dys- Hohlhand. Getrennt werden jeweils die Beugesehnenpaare von
ästhesien, evozieren schmerzlose Knotenbildungen der Hohlhand den Mm. lumbricales mit daraufliegenden Gefäß-Nerven-Bündeln.
und verursachen im Spätstadium schließlich die auffällige, digito- In Metarkarpaliahöhe sind die Vertikalsepten vorhanden. Distal
palmare Beugekontraktur (⊡ Abb. 34.1). Dass es sich bei der Dupu- der »Kaplan-Zentrallinie« (ungefähr in Höhe des Lig. transversum
ytren-Erkrankung nicht nur um ein extremitätenchirurgisches Pro- profundum) sind sie nicht mehr nachweisbar (⊡ Abb. 34.3).
blem handelt, bezeugen neben den ektopen Fingerknöchelpolstern Kennzeichen der digitopalmare Übergangszone (Fascia digito-
auch die Induratio penis plastica (Morbus Peyronie), der simultan palmaris) sind die Fasciculi transversales:
auftretende, plantare Morbus Ledderhose, ebenso wie die dystope 1. das Lig. metacarpeum superficiale, synonym auch Lig. natato-
Extremform als ubiquitär vorkommende Polyfibromatose. rium oder transversales Subkutanband des Schwimmbandes
Obendrein führt die aggressive Dupuytren-Diathese zu grotes- (distales Kommissurenband) genannt;
ken sowie rapiden Beugefehlstellungen oftmals an beiden Händen. 2. das tiefer liegende transversale, intermetakarpale Band
Sie ist vergesellschaftet mit auffällig positiver Familienanamnese, (Lig. transversum profundum), das sich zwischen den palma-
eindeutiger Ethnologie, frühzeitigem Erkrankungsgipfel schon in ren Platten der Metakarpophalangelangealgelenke und der
jungen Jahren (deutlich vor der 5. Lebensdekade) mit Ausbreitung Beugesehnenscheide ausspannt.
von zahlreichen, histologischen identischen Bindegewebsdepots
jenseits der Hand sowie Androtropie. Letzteres wird in den Nomina anatomica als Fasciculi transversi
aponeurosis palmaris bezeichnet (⊡ Abb. 34.4).
Das scherengitterartige Geflecht des Schwimmbandes, an dem
34.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie u. a. auch die aus der Tiefe kommenden Vertikalsepten inserieren,
und Physiologie verursacht bei fibrösem Befall eine Adduktionskontraktur der Zwi-
34 schenfingerfalte. Die ursprünglich u-förmige Kommissur wird v-
Ausgangspunkt der Erkrankung sind vorbestehende, dreidimen- förmig verformt, was zu einer Abspreizhemmung der Finger führt.
sionale Palmar- und Digitalfaszien, die man insgesamt als di- Bedeckt werden die tiefer liegenden Fasciculi transversales apo-
gitopalmaren Bindegewebskörper oder -kontinuum bezeichnet. neurosis palmaris durch die oberflächlicheren Fasciculi longitudi-
Interponiert ist zwischen beiden Fasziensystemen die sog. digito- nales zu den Fingern und dem minder ausgeprägten Längsband
palmare Übergangszone. Vereinfachend könnte man sie auch als zum Daumenstrahl: Die vor der Beugesehne längs verlaufenden
eine Art »Knautschzone« beschreiben. Adhäsionen oder »Verlö- (prätendinösen) Palmarfaszienkondensate, welche fächerförmig
tungen« der dreidimensionalen Bindegewebsarchitektur implizie- aus der proximalen Anheftungszone der Aponeurose zu den fünf
ren je nach Blickpunkt eine Beugekontraktur oder vice versa eine Fingerstrahlen bis zur digitopalmaren Übergangszone ziehen, hei-
Streckhemmung. ßen bei pathologischem Dupuytren-Befall Längsstränge.
Die zentrale Hohlhandfaszie (Fascia palmaris) ist eine drei- Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass weder die Longitudi-
eckförmige Bindegewebsplatte, die zwischen der Hypothenar- und nalbänder noch ihre fibrosebefallenen Strangkorrelate als Ver-
Thenarmuskelfaszie (ulnare und radiale Aponeurose) jeweils seit- längerung der Sehne des Palmaris longus anzusehen sind, da sie
wärts angeheftet ist und proximale Zuschüsse von der Tendo auch bei deren Abwesenheit (Aplasie) vorkommen. Vereinfachend
m. palmaris longus oder der Fascia antebrachii erhält. Nach di- dargestellt entsprechen die peripheren Zentralstränge einer Fort-
stal ist sie an den Anteilen des Schwimmbandes aufgehängt und setzung der prätendinösen Stränge.
34
Zur Fascia digitalis zählen: neurovaskuläre Bündel durch den unterkreuzenden Spiralstrang
1. der Zentralstrang, von einer distalen Dislokation, zur Oberfläche, zur Grundgliedmit-
2. der Spiralstrang, te und schließlich zur Grundgliedbasis verlagert (⊡ Abb. 34.6).
3. der Lateralstrang, Mittseitliche Stauchungszonen der längsgerichteten, tubulä-
4. die Halteligamente des Streckapparates und ren Fingerfaszien werden als Lateralstrang angesehen. Sie führen
5. die Grayson- und Cleland-Ligamente. ebenso wie die Spiralstränge zu einer Beugefehlstellung der Mit-
telgelenke. Dabei können ausgeprägte PIP-Flexionskontrakturen
Der Zentralstrang ist das pathologische Korrelat der von der Hohl- – ähnlich wie bei einer Knopflochdeformität am Mittelgelenk – zu
hand kommenden Fasciculi longitudinales in der Fingermitte. For- einer kompensatorischen Überstreckstellung des Fingerendgelenks
malpathogenetisch unterscheidet man eine kurze und lange Ver- führen. Eine Grundgliedkontraktur verursacht dieser Strang nicht.
laufsform. Beide bedingen eine Grundgelenkbeugung mit Streck- Grundsätzlich unterscheidet man am bindegewebigen Chassis der
hemmung. Im Regelfall verändert der Zentralstrang nicht die Finger 1. die Halteligamente der Haut (Verankerungssystem) und
Lage der neurovaskulären Bündel, die bilateral neben ihm liegen 2. die Halteligamente des Streckapparates. Zu Letzteren zählen
(⊡ Abb. 34.5). die Lamina triangularis, das sagittale Band, das Lig. reticulare
Der Spiralstrang ist eine zusammengesetzte Struktur, die aus transversum und schließlich das Lig. reticulare obliquum nach
dem prätendinösen Band der Palmaraponeurse entstammt. Er Landsmeer (1949, 1976). Das Landsmeer-Band verläuft längsseits
zieht von der mittseitlichen Linie des Metakarpophalangealgelenks der Kapsel vom Interphalangealgelenk und ist selten durch den
und inseriert zumeist mit seinem oberflächlichen Anteil sowohl Morbus Dupuytren befallen. Besteht aber eine retrovaskuläre Fib-
im filiformen Hautverankerungssystem des Retinaculum cutis und rose, kann es sowohl eine Flexionskontraktur des Mittelgelenks als
mit dem tiefen Anteil entweder in der Bindgewebescheide des auch eine Hyperextension im Endgelenk induzieren. Ein kombi-
Fingergrundgelenks oder aber in den Grayson-Ligamenten des nierter Befall mit dem Grayson-Ligament kommt vor. Übersehene
lateralen Fingerfaszienkondensates distal des Mittelgelenks; verein- retrovaskuläre Stränge sind teils die Ursache von repetitiven Klein-
zelt auch proximal davon. Bereits die Namensgebung verdeutlicht, gelenkkontrakturen.
dass wesentliche Faseranteile dieses Strangs um die Gefäß-Nerven- Anteile der Fingerfaszienkondensate sind die palmar des Ge-
Bündel spiralförmig umschlingen und zwingt dieses mit sukzessi- fäß-Nerven-Bündels liegenden Grayson-Ligamente sowie die ret-
ver Kontraktion eine schraubenförmige Verwindung. Rein prag- rovaskulär befindlichen Cleland-Ligamente. In Höhe jedes Inter-
matisch und aus Sicht der chirurgischen Dissektion unterscheidet phalangealgelenks spannt sich v-förmig und bilateral ein Cleland-
McFarlane (1984) drei Typen: Mit zunehmender Flexion wird das Band aus. Diese längsgerichteten Fasersysteme verhindern u. a.
894 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
34.1.2 Epidemiologie
sich die Betroffenen frühzeitiger an ihrer funktionell gestörten, sein, welche die Fibroblastenproliferation einerseits zur Leberzirrhose
dominanten Hand häufiger operieren, was das statistische Überge- und andererseits zur digitopalmaren Fibromatose anregen kann. Mit
wicht in operativ orientierten Statistiken erklärt. 28% respektive 22% hatten sowohl Alkoholiker wie auch Abstinente
mit gleicher Lebererkrankung eine höher Dupuytren-Prävalenz im
Vergleich zur Kontrollegruppe, die sich aus altersgleichen Traumapa-
34.1.3 Ätiologie tienten eines Manchester Krankenhauses rekrutierten.
Ähnlich sieht man die Assoziation von Diabetes mellitus und
Der verständliche Wunsch diese systemische Allgemeinerkran- Morbus Dupuytren, wo es aufgrund der diabetischen Mikroangiopa-
kung des Bindegewebes monokausal zu erklären, muss als geschei- thie zur lokalen Ischämie mit Freisetzung von freien Sauerstoffradi-
tert gelten. Unzählige Hypothesen zur Ätiologie der Dupuytren- kalen kommt, welche wiederum die Fibromatose stimulieren.
Erkrankung sind veröffentlicht worden. Wir beschränken uns auf Vor allem die Kombination aus Epilepsie und Dupuytren-
die meist kontrovers diskutierten Anschauungen, die einerseits Flexionskontraktur ist häufig anzutreffen. Epileptiker haben eine
Relevanz für die chirurgische Methodenwahl und andererseits eine 5-fach höhere Inzidenz der Beugekontraktur, während bei Epilepti-
Bedeutung für eine systemische Therapie besitzen. kerinnen das Risiko sogar um das 11-fache gesteigert ist.
Das konkordante Vorkommen der Dupuytren-Kontraktur, das Hinsichtlich der Koinzidenz zwischen Epilepsie und der palma-
Jentsch (1937) bei eineiigen Zwillingen beobachtete, wertete er ren Fibromatose bestehen zwei wesentliche Hypothesen:
als eindeutigen Beweis für die Erblichkeit des Krankheitsbildes: 1. Sowohl die Epilepsie als auch die Dupuytren-Kontraktur besit-
Heute gehen wir von einem autosomal-dominanten Erbgang der zen eine genetische und damit vererbliche Grundlage.
digitopalmaren Fibromatose mit variabler Penetranz aus. Die volle 2. Die Zunahme der digitopalmaren Fibromatose wird als Se-
Genexpression tritt bei Männern erst jenseits des 75. Lebensjahrs kundäreffekt infolge Medikation (z. B. Antikonvulsiva oder
auf. Dagegen besteht für Frauen eine geringere Penetranz. Eine Phenobarbital) verstanden.
Ausnahme gilt allerdings für das weibliche Geschlecht mit Homo-
zytogie durch beide Elternteile. Die Homozygotie bedingt zugleich Der Morbus Dupuytren entsteht keinesfalls als eine de Novo-Pro-
einen aggressiveren Krankheitsverlauf. liferation (externe Hypothese), sondern entwickelt sich aus entlang
34 Wie Einzelfälle unter reinrassigen ethnischen Gruppen von Af- des chassisartigen, digitopalmaren Bindegewebskörpers (interne
rikanern, Afroamerikanern, Asiaten und sonst nicht prädisponier- Theorie).
ten Personenkreisen zeigen, aber auch das Auftreten des Morbus Der primäre Induktor des Morbus Dupuytren, der insbesondere
Dupuytren bei Kleinkindern belegt, gibt es offensichtlich ein spora- die Freisetzung von FGF (»fibroblast growth factor«) aus endotheli-
disches und spontanes Auftreten der Erkrankung ( Abschn. 34.1.8). alen oder perivaskulären Zellen ermöglicht und als angiogenetische
Weiterhin gilt als gesichert, dass die oben genannte Ge- Antwort zur Proliferation von Fibroblasten und den pathognomi-
nexpression insbesondere von Matrix-Metallpreinase (MMP2, sche Myofibroblasten führt, schien bislang unbekannt. Ein mög-
MMP13, MMP14, MMP16, MMP19), ebenso wie »Thrombopon- licher Kausalfaktor sind Sauerstoffradikale. Letztere sind Atome
tif motifs« (ADAMTS2, ADAMTS4, ADAMTS5, ADAMTS14 oder Moleküle mit einem unpaaren Elektron auf ihrem äußeren
und ADAMTS16) parallel zur Rezidivrate der Flexionskontrak- Orbit (univalent reduziertes Sauerstoffatom oder -molekül). Der
tur verläuft. Drang ein weiteres Elektron einzufangen, macht Sauerstoffradikale
Gleichalt wie die Medizingeschichte der digitopalmaren Fibro- zu chemisch hochreaktiven Substanzen im Gewebe. Vermehrte Sau-
matose ist der Versuch einen Zusammenhang zwischen Handtrauma erstoffradikale bilden sich bei Hyperoxämie (»respiratory distress
und dem Morbus Dupuytren zu schaffen. Der Beweis von Hämo- syndrome«), ferner bei andauernder Gewebehypoxie (mikrovasku-
siderinablagerungen in histologischen Schnitten schien diese An- läre Okklusion), bei Entzündungsvorgängen (Autoimmunerkran-
nahme zu bestätigen, ebenso der klinisch höhere Ausprägungsgrad kungen), als Folge von Strahlentherapie (antineoplastischer Effekt
bei repetitiver »Erschütterung«. Doch wie verhält es sich bei nicht der Radiolyse) und unter Einwirkung spezifische Toxine (Äthyl-
händisch Tätigen, die gleichwohl einen mechanischen Hohlhand- alkohol, medikamenteninduzierte Lebertoxizität). Aufgrund einer
stress durch stundenlanges Golfen oder enthusiastisches Tennisspiels überschießenden Radikalenbildung und/oder einer Schwächung
vorzuweisen haben? In Mitteleuropa und Nordamerika negiert man der antioxidativer Schutzsysteme resultiert »oxidativer Stress«.
daher die Traumagenese mehrheitlich, während der Morbus Dupu- Antioxidanzien – sog. Scavenger – wie etwa Vitamin A, C, E
ytren in einzelnen europäischen Ländern (Bulgarien, Dänemark, (Retinol, Ascorbinsäure und Tocopherol) vermögen ebenso wie
ehemalige Sowjetunion) gar als Berufserkrankung anerkannt wird. Gutathion, Cystein, Lycopin (in Tomaten) und Zeaxanthin (im
So kommt es, dass u. a. auch Khan et al. (2004) sogar einen Mais) das zur Vervollständigung der Sauerstoffreduktion benötigte
inversen Einfluss der manuellen Arbeit mit der Ausbreitung des zusätzliche Elektron bereitzustellen und somit die Sauerstoffradi-
Morbus Dupuytren postulieren (n=502.493 Probanden, ungefähr kale zu eliminieren.
1% der Population von England und Wales). Kommt es zu keiner »Pufferung« der Sauerstoffradikale, resul-
Etliche, überwiegend internistische Erkrankungen sind mit der tiert infolge einer Störung der andenosintriphosphatabhängigen
Dupuytren-Erkrankung assoziiert, ätiologische Gemeinsamkeiten Zellmembranfunktion der programmierte Zelltod (Apoptose).
aber nicht schlüssig bewiesen worden. Exzessiver Alkoholkonsum ist Unter Hypoxiebedingungen wandelt sich die Energiegewin-
unter Dupuytren-Kranken signifikant häufiger als unter nicht befal- nung von der ökonomischen oxydativen Phosphorrylierung zur
len Probanden (7,3 »units« versus 5,4 »units« wöchentlich). Alkohol unwirtschafltichen anaeroben Glykolyse. Lokale Ischämie verur-
verursacht dabei eine unvollständige Oxidation einzelner Fettsäuren. sacht einen ATP-Abbau bis zu den Purinbasen Hypoxanthin und
Akkumulierende kurzkettige Fettsäuren und der Anstieg des Oc- Xanthin; zugleich wird Hypoxanthindehydrogenase zu Xanthinoxi-
tanoats sind für die konsekutive Leberhypoxie verantwortlich. Im datse verstoffwechselt. Schließlich werden die resultierenden freien
Dupuytren-Gewebe findet man pathologische Konzentrationen von Radikale freigesetzt. Neben der Ischämie ist es insbesondere der
Methylesthern und freiem Cholesterol. Diese Marker der lipogene- Alkohol, der diese Transformation begünstigt; ein Umstand, der für
tischen Aktivität scheinen somit Ausdruck einer milden Hypoxie zu die Koinzidenz von Alkoholabusus und Morbus Dupuytren spricht.
34.1 · Allgemeines
897 34
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Hy- der Hypoxanthinoxidase, entstehen erneut freie Sauerstoffradikale.
poxanthindehydrogenase in der menschlichen Skelettmuskulatur Den Effekt der durch die Blutleere bedingten Ischämie bei Gesun-
und ebenfalls in den kapillären Endothelzellen in mehrfach höhe- den veranschlagen sie mit unter 10% gegenüber einem globalen
rer Konzentration als in allen Körperzellen vorliegt. Kommt freies Anstieg um 600% beim Morbus Dupuytren.
Hypoxanthin mit molekularem Sauerstoff zusammen, so bilden In den von Morbus Dupuytren befallenen Palmarfaszie nimmt
sich einerseits Urat und andererseits freie Sauerstoffradikale. die Konzentration an Hypoxanthin entsprechend der Zelldichte
Entweder die entstehenden freien Radikale, deren Halbwertzeit an Fibroblasten zu und ist zweimal größer in dem als »Knoten«
nur einige Millisekunden beträgt, oder aber deren Zerfallspro- klassifizierten Gewebe im Vergleich zum »Strang«. Das Verhältnis
dukte schädigen die Mikrogefäßlumina und vermögen zumindest beträgt 0,32 μmol Hypoxanthin pro Gramm Nassgewicht versus
theoretisch Perizyten oder Fibroblasten zur Umwandlung in die 0,14 μmol Hypoxanthin/g Nassgewicht (p<0,005).
pathognomischen Myofibroblasten zu beeinflussen. Dieser Vor- Es waren Wilutzky et al (1998), die für den Morbus Dupuytren
gang beschleunigt eine Verengung der Mikrogefäßlumina und zeigen konnten, dass endogen freigesetzte Radikale eine Apoptose
perpetuiert daher die lokale Ischämie sowie die Generation von (programmierter Zelltod) der Myofibroblasten induzieren, verge-
weiteren Radikalen. Auch Nikotinabusus fördert diese uniforme sellschaftet mit konsekutiver DNS-Fragmentation, die zur lokalen
Pathologie. Proliferation von Fibroblasten oder fibroblastenähnlichen Zellfor-
Überzeugend zeigten Murrel et al. (1987, 1990), dass das pa- mationen führt.
thologische Fasziengewebe von Dupuytren-Kranken eine 6-fach Diese Ergebnisse erhärten Vorbefunde von Murrell et al. (1992,
höhere Konzentration an Hypoxanthin im Vergleich zum ver- 1994), wonach endogen freigesetzte Radikale die Fibroblastenproli-
meintlich normalen Fasziengewebe enthält. Reagiert Letzteres mit feration simulieren (⊡ Abb. 34.9)
⊡ Abb. 34.9 Vereinfachender Erklärungsversuch zur Ätiopathogenese des Morbus Dupuytren anhand der Sauerstoffradikalentheorie. Kapilläre Lumenein-
engung gepaart mit den Kofaktoren Alter, Vererbung, Umwelt, Geschlecht, Diabetes mellitus, Epilepsie und möglicherweise Zugbelastung begünstigen die
fortschreitende Ischämie. Diese wird durch die Sauerstoffradikale, die beispielsweise durch Alkohol, Nikotin und eventuell auch durch die HIV-Erkrankung
freigesetzt werden, perpetuiert. Die ökonomische Energiegewinnung durch aerobe Phosphorylierung weicht im Beisein von Sauerstoffradikalen der unwirt-
schaftlichen anaeroben Glykolyse, an deren Endpunkt Harnsäure gebildet wird. Dieses unwirtliche Milieu stimuliert die Fibroblastenproliferation. Während-
dessen nimmt die Typ-I-Kollagen-Synthese ab. Gleichzeitig steigt die Bildung von Typ-III-Kollagen, was zur deutlichen Verschiebung der Verhältniszahl führt.
(Aus Brenner u. Rayan 2003)
898 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
Angemerkt sei, dass Fibroblasten selbst in Zellkulturen ihre FGF(»fibroblast growth factor«), PDGF (»platlet derived growth
eigenen Radikale generieren und freisetzen. Trelstad (1981) de- factor«) und TGF β (»transforming growth factor subunit β«) sti-
monstrierte, dass Sauerstoffradikale auf nicht enzymatischem muliert die Proliferation von Fibroblasten ebenso wie die Angioge-
Wege Residuen von Prolin und Lysin hydroxylieren und somit nese. Fibroblasten produzieren Kollagen und Glykosaminoglykane
einen Anstieg der Kollagenproduktion sowie der Angiogenese (GAG) und beeinflussen die extrazelluläre Matrix (ECM), in der
verursachen. sie existieren (Auto- oder Parakrinie). Die Zellen beeindrucken
Grundsätzlich besteht Bindegewebe zu 10% aus zellulären und durch ein Intermediärstadium zwischen erwachsenen und virust-
zu 90% aus extrazellulären Bestandteilen. Um die Zusammen- ransformierten Fibroblasten.
hänge innerhalb der extrazellulären Matrix – die sowohl Kollagene Grundsätzlich unterscheidet man bei den fibrösen Proteinen
aus auch Glykosaminoglykane enthält – zu verdeutlichen, sei ein einerseits nach Strukturproteinen und andererseits nach adhäsiven
bildhafter Vergleich mit dem Stahlbetonbau erlaubt. Stahlbeton Proteinen. Kollagen ist das bekannteste Strukturprotein.
besteht üblicher Weise aus Stahlgeflecht und einem Sand-Zement- Eine Auffälligkeit bei der digitopalmaren Fibromatose ist die
Gemisch, dem zusätzlich Kieselsteine beigemengt sind. In Analo- signifikante Zunahme der Kollagenkonzentration, besonders des
gie zu den Verhältnissen in der extrazellulären Matrix entsprechen Kollagens Typ III in der extrazellulären Matrix. Die extrazellu-
die Kieselsteine den Bindegewebszellen, das Stahlgeflecht den Kol- läre Matrix stabilisiert nicht nur die Kollagenfibrillen, sondern
lagenfibrillen und das Sand-Zement-Gemisch den Glykosamino- spielt eine aktive Rolle beim Zellkontakt und der Migration von
glykanen. Zellen.
Prinzipiell unterscheidet man die Zellen der extrazellulä- Werden Sauerstoffradikale in den Extrazelluarraum freigesetzt,
ren Matrix hinsichtlich ihres Migrationsverhaltens. Zu den orts- bewirken sie u. a. eine Gewebeschädigung aufgrund der Peroxida-
ständigen (fixen) Zellen zählen die juvenilen Fibroblasten und tion von Fett, es kommt zu Membranzerreißungen von Organellen
die adulten Fibrozyten, während u. a. Histiozyten, Plasmazellen, und zur Degradation von Glykosaminoglykanen, insbesondere der
Mono- und Lymphozyten zur wandernden (mobilen) Zellreihe Hyaluronsäure.
gehört. Die Glykosaminoglykan-Disaccharide im Blut sind wertvolle
Die bedeutendste fixe Bindegewebszelle ist der Fibroblast, der Kenngrößen, um einen verstärkten Umbau von Bindegewebe beim
34 mit seinen Ausläufern ein Gitter- oder Maschenwerk bildet, in dem Morbus Dupuytren nachzuweisen. Die Konzentration von Hyalu-
sich die mobilen Bindegewebszellen bewegen. Als Vorläufer des ronsäure ist bei den Dupuytren-befallenen Patienten signifikant
Fibrozyten gilt der spindelförmige Fibroblast. Er ist eine der facet- erhöht. Chondroitin und Chondroitin-4-sulfat werden ebenfalls
tenreichsten Zellarten, die wir kennen. Plakativ betrachtet ist der erhöht im Plasma vorgefunden. Dermatan und Dermatansulfat
Fibroblast die betriebsame, syntheseaktive Zellform, während die werden nicht oder nur in geringer Konzentration im Blutplasma
Fibrozyten als ruhende, synthesearme Bindegewebszellen gelten der Erkrankten nachgewiesen. Spezielle Glykosaminoglykane wie
(⊡ Abb. 34.10). Hyaluronsäure sind potenziell geeignet, um die Progression der
Seit Gabbiani u. Majno (1972) werden Myofibroblasten als Erkrankung und die Rezidivwahrscheinlichkeit einschätzen zu
morphologisches Charakteristikum des Morbus Dupuytren ange- können.
sehen. Dabei impliziert die Namensgebung dieses spezialisierten Folglich handelt es sich beim Morbus Dupuytren um eine sys-
Fibroblasten, d. h. dieses Myofibroblast, zahlreiche morphologi- temische Bindegewebserkrankung mit einem erhöhten »Turnover«
sche Kennzeichen glatter Muskelzellen (längs orientierte Mikrofila- der plasmatischen und fazialen Glykosaminoglykane.
mente, »dense bodies«, auffällige Einbuchtungen und Fältelungen
des Zellkern) besitzen.
Typisierungsversuche von Skalli et al. (1989) und Schürch et 34.1.4 Diagnostik
al. (1990) nach vier zytoskeletalen Formen zeigen folgende Merk-
male: Der Morbus Dupuytren ist eine Blickdiagnose, wobei die ulnare
1. Phänotyp V: Ausschließlich Vimetin-postive Zellen scheinen Beugefehlstellung der Finger als Geigerhand im Spätstadium im-
vom Fibroblasten zu stammen. Vimetin ist dabei der Grund- poniert. Die Flexionskontraktur beginnt aber mit trichterförmigen
baustein der Intermediärfilamente. Reliefstörungen der distalen Palma manus. Gesetzmäßig sind diese
2. Phänotyp VAD: Bei dieser Klasse besitzen die Myofibroblas- u-förmigen Stauchungszonen nach distal offen. Man nennt dies
ten positive Rezeptoren für Vimetin, α-Aktin und Desmin. das Hugh-Johnson-Zeichen (Johnson 1980). Anfänglich sind digi-
α-Smooth-Muscle-Aktin und faktultativ Desmin sind Indi- topalmar lediglich derbe Knoten tastbar, die man fälschlicherweise
katoren glattmuskulärer Eigenschaften. Die Expression des einer Bagatellverletzung beimisst. Es folgen longitudinale, sicht-
α-Smooth-Muscle-Aktins korreliert mit der kontraktilen Kraft oder tastbare Stränge mit flächenhafter Induration. Strangbildun-
und ist somit je nach Erkrankungsstadium des Morbus Du- gen der Schwimmbänder in den Zwischenfingerräumen bedingen
puytren verschieden. Vermehrt findet man Desmin in nicht einerseits eine v-förmige Deformierung der Kommissur, anderer-
muskulären, mesenchymalen Zellen , beispielsweise in Endo- seits schränken sie die Handspanne ein. Im Spätstadium imponie-
thelzellen. ren die betenden Hände (»prayer sign«).
3. Phänotyp VA: Mit Nachweis von Vimetin, α-Aktin von glatter Klassischerweise erkranken in abnehmender Häufigkeit der
Muskulatur. Ring-, Mittel- und Kleinfinger. Sie stellen den häufigen Ulnartyp
4. Phänotyp VD: Bei diesem sind die Myofibroblasten positiv für des Morbus Dupuytren dar.
Vimetin und Desmin. Aufgrund des unterschiedlichen Krankheitsverlauf, der ande-
ren Rezidivquote und dem zu erzielenden Operationsergebnis gilt
Hinsichtlich der Herkunft des Fibroblasten gehen wir gegenwärtig es, davon den selteneren radialen Typ des Morbus Dupuytren zu
davon aus, dass die Zelle einen nichtepithelialen Ursprung hat, unterscheiden. Charakteristisch ist hierbei der zusätzliche Befall
nachdem sie gegenüber dem von-Willebrandt-Faktor negativ ist. von Daumen und Zeigefinger und deren gemeinsamer Kommissur.
Fibroblasten besitzen die Mimikrie von Makrophagen. Basisches Angaben zur Inzidenz des Radialtyps vom Morbus Dupuytren
34.1 · Allgemeines
899 34
b c
⊡ Abb. 34.10 Zustände der Palmaraponeurose. a Bindegewebe. Normalbefund: Die facettenreichste Bindegewebszelle ist der längsovale bis spindelförmige
Fibroblast (links). Er besitzt zahlreiche, verplumpte Fortsätze. Kennzeichen seiner hohen Syntheserate sind das reichliche, endoplasmatische Reticulum, Mito-
chondrien und pinozytotische Bläschen. Die für die Kontraktion wichtigen Mikrofilamente verlaufen von intra- nach extrazellulär. Diese stehen in Beziehung
einerseits zu den Kollagenfibrillen, andererseits verlaufen sie innerhalb der Kollagenfasern weiter. Wegen der geringen Syntheseleistung des maturen Fibrozy-
ten ist dessen endoplasmatisches Reticulum nur spärlich ausgebildet. Als baumwurzelartige Strukturen sind die elastischen Fasern dargestellt. Die Zwischen-
räume diese Geflechtes werden durch Glykosaminoglykane ausgefüllt, welche aufgrund ihres Wasserbindungsvermögens einen gallertigen Zustand schaffen.
b Palmarfaszie: hyperzellulärer Knoten. c Palmarfaszie: Strangstadium. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
900 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
variieren in der zugänglichen Literatur zwischen 3,3–39%. Gründe 34.1.6 Indikation und Differenzialtherapie
der bisherigen Unterbewertung des spezifischen Krankheitsbildes
sind dem flüchtigen Übersehen oder der Unkenntnis hinsichtlich Die Operationsindikation berücksichtigt folgende Überlegungen:
des Detailwissens zuzuordnen. 1. Obwohl der Morbus Dupuytren eine tumorähnliche Läsion
(Bindegewebswucherung) darstellt, ist seine Dignität gutartig.
2. Die digitopalmare Beugekontraktur kann unabhängig vom
34.1.5 Klassifikation dem Krankheitsstadium temporär oder dauerhaft spontan und
ohne jegliche chirurgische Intervention zum Stillstand kom-
Eine Klassifikation ist zur Standardisierung der Indikationsstel- men.
lung, wie auch zur vereinfachten Bewertung der erzielten Ope- 3. Beeinträchtigungen des Alltagslebens bestehend überwiegend
rationsergebnisse zwingend notwendig. Im klinischen Alltag hat erst ab dem Tubiana-Stadium III. Eine Operationsindikation
sich Tubianas Stadieneinteilung bewährt. Der Inaugurator teilt resultiert mehrheitliche erst bei einem positiven Table-Top-
die Hand längs in 5 digitopalmare Segmente ein. Jedes Segment Test.
besteht aus einem Finger und seiner zugehörigen digitopalma- 4. Sofern ein Frühstadium der Dupuytren-Kontraktur besteht,
ren Zone. Der 1. Zwischenfingerraum gehört kalkulatorisch dem ergeben erst subjektive Beeinträchtigungen, wie etwa Griffun-
Daumensegment an. Für jedes Segment werden die Läsionen der sicherheit oder nervale Irritationen, eine Relativindikation zur
Hohlhand und der Finger einem bestimmten Stadium zugeordnet, Operation.
das auch die Punktezahl des jeweiligen Längssegmentes widerspie- 5. Ernste, eingriffsimmanente Komplikationen sind dem künf-
gelt. Jedes Stadium entspricht der stufenweise einer Änderung oder tigen, funkionellen Rückgewinn einer erfolgreichen Faszi-
einem Streckdefizit von 45° eines Fingers oder eines Segmentes. ektomie bereits vor der Indikationsstellung zur Operation
Die totale Deformität oder Gesamtkontraktur eines Fingers ist die eines Morbus Dupuytren gegenüberzustellen. Auch sollte das
Summe der Streckdefizite aller drei Fingergelenke (Grund-, Mit- kalkulierte Operationsergebnis gegen den zu erwartenden
tel-, und Endgelenk). Besteht zudem eine Überstreckstellung des spontanen Krankheitsverlauf jeweils gedanklich abgewogen
Endgliedes ist ihr Ausmaß zur Gesamtsumme der Kontraktur zu werden.
34 addieren. Die Bewegungsbreite des einzelnen Fingers kann sowohl 6. Bekanntermaßen deuten die nachweisbaren Glykosamino-
von 0° bis zu 200° bei schwerer Kontraktur mit bis zur Hohlhand glykankonzentrationen im Blutplasma darauf hin, dass der
reichenden Fehlstellung variieren. Für den Daumen mit nur zwei Morbus Dupuytren nicht nur eine digitopalmare Flexions-
Gelenken (Grund- und Interphalangealgelenk) sind Deformitäten kontraktur darstellt, sondern eine systemische Bindegewebs-
zwischen 0–160° möglich. Die Schweregrade oder Stadien der Beu- erkrankung. Folglich kann diese nicht ortsständig und mittels
gekontraktur an den Fingern und ihrer Hohlhandsegemente teilt Skalpell therapiert werden. In Anerkennung dieser faktischen
man in 6 Stadien, wie folgt ein: Lage erscheint es geboten, antatt von der Dupuytren-Kon-
traktur von einer »maladie de Dupuytren«, also von einer
Dupuytren-Erkrankung oder dem Morbus Dupuytren, zu
▬ Stadium 0: Keine Streckhemmung; keine Läsion (keine sprechen.
Punkte). 7. Phänotypisierungen, der Nachweis von genetischen Moasizis-
▬ Stadium N: Der Suffix N (Nodus) steht für einen Knoten, al- men ebenso wie die diversen positiven Familienanamnesen,
lerdings ohne Kontraktur (lediglich 0,5 Punkte erzielbar). die Ergebnisse der Zwillingsforschung und die DNS-Analysen
▬ Stadium 1: Die Summe der Streckdefizite an sämtlichen Fin- bei migrierten Volksstämmen, legen den Schluss nahe, dass
gergelenken beträgt insgesamt bis zu 45°. der Morbus Dupuytren eine idiopathische, genetische Er-
▬ Stadium 2: Mit der Gesamtkontraktur von 46–90°. krankung ist. Ihre Ätiopathogenese kann nicht anhand eines
▬ Stadium 3: Die Streckhemmung reicht von 91–135°. monokausalen Ursachen-Wirkungs-Prinzips erklärt werden.
▬ Stadium 4: Mit einer Gesamtkontraktur über 135°. Somit ist diese fibromatöse Erkrankung auch nicht ausschließ-
lich chirurgisch therapierbar.
Goetze et al. 1955 14 Jahre Männl. Partielle Fasziektomie rechter Ring- u. Kleinfin- Keine ?
ger (+ Exzision der Palmarfaszie)
Berger et al. 1985 2 Jahre Männl. Partielle Fasziektomie linker Zeige- u. Mittel- Keine ?
finger
Urban et al. 1996 9 Jahre Männl. Partielle Fasziektomie rechter Kleinfinger Keine Nach 20
Monaten
Brenner et al. 2001 7 Jahre Weibl. Partielle Fasziektomie rechte Hohlhand u. Ring- Keine Kein
finger
34 Brenner u.
Benatar
2006 6 Monate Weibl. Partielle Fasziektomie u. »check rein release«
Mittelfinger u. linke Hohlhand.
Keine Nach 9
Monaten
Zweiteingriff:Dermatofasziektomie u. Vollhaut-
transplantat
Mandia et al. 2003 10 Jahre Männl. Nodulektomie Hohlhand 4. Strahl Keine Kein
Bebbington 2005 6 Monate Männl. Segmentale Aponeurektomie Palma manus u. Keine Kein
et al. D4
Marsh et al. 2008 8 Jahre Männl. Partielle Fasziektomie D4 rechts Keine Kein
34.1.9 Ergebnisse Semantisch verstehen wir unter einem Rezidiv, die Dupuytren-
Manifestation in einer voroperierten Zone. Hinsichtlich der Dis-
Während das postoperative Ergebnis der Grundgelenkbeweglich- kussion um den Zeitpunkt, wann mit größtmöglicher Verlässlich-
keit weniger von irgendwelchen Variablen wie beispielsweise Fami- keit die tatsächliche Rezidivrate zu bestimmen sei, existieren diver-
lienanamnese, dem Alter bei Krankheitsbeginn, vom präoperativen gierende Angaben: Beispielsweise gab Hueston (1963) an, dass 87%
Gelenkstatus, der Operationsart, der Eingriffsdauer sowie von der aller Rezidive nach Dupuytren-Operationen unter seinen Patienten
Erfahrung des Operateurs abhängen, wiesen Legge et al. (1980) während der ersten 2 Jahre nach dem Eingriff auftraten. Dagegen
überzeugend nach, dass das postoperative Bewegungsausmaß der schrieb Millesi (1965, 1981) unter Bezug auf sein umfangreiches
Interphalangealgelenke vorwiegend durch präexisistente anatomi- Krankenmaterial, dass immerhin 48% der von ihm gesehenen Du-
sche Gegebenheiten, wie beispielsweise die Anzahl der beteiligten puytren-Rezidive noch 3 Jahre nach der Erstoperation auftraten.
Gelenke, oder den präoperativen Kontraktionszustand bestimmt Auch Tubiana u. Leclerq (1986) bestätigen, dass lediglich 34% der
wird. Krankheitsrückfälle innerhalb der ersten beiden postoperativen
Das postoperative Bewegungsausmaß des Kleinfingers wird Jahre auftraten. Bei einer Nachbeobachtungszeit von ca. 5 Jahren
allerdings und ausnahmsweise auch durch den primären Kon- notierten sie 50% Rezidive, nach insgesamt 10 Jahren sogar 65%.
trakturzustand der Articulatio metacarpophalangea V – wegen Doch verliefen 16% der Dupuytren-Rezidive klinisch asymptoma-
des hier lokalisierten Vereinigungskerns nach Zancolli ( Kap. 23) tisch, weshalb sie nur selten einer weiteren Operation bedurften.
– mitbestimmt. Das wiedererlangte Bewegungsausmaß des Klein- Forgon et al. (1988) dokumentierten, dass durch die partielle
fingers ist zugleich der Gradmesser einer »erfolgreichen« Dupu- Fasziektomie (n=95 Eingriffe) das präoperativ bestimmte Bewe-
ytren-Operation. Zudem bewiesen Adam u. Loynes (1992), dass gungsausmaß zunächst um 41% gebessert werden konnte. Hin-
das Bewegungsausmaß der Metakarpophalangealgelenke sowohl terher käme es jedoch aufgrund der mit 18% bezifferten Rezidive
prognostisch als auch statisch postoperativ eindeutig im Vergleich innerhalb der 5 postoperativen Jahre zu einer merklichen Ein-
zur Beweglichkeit der Interphalangealgelenke gebessert ist. Dies schränkung der Handfunktion. Im 2. und 3. Jahr beobachteten die
trifft sowohl für die primäre als auch die sekundäre Fasziektomie Verfasser eine relative Stagnation dieser Rezidivneigung. Ingesamt
zu. Einen zusammenhängenden Eindruck über die Handfunktion, zeigten die funktionellen Spätergebnisse einen noch bestehenden
abhängig von den diversen Fasziektomieformen und durch ver- Zugewinn an Beweglichkeit von 22,6%, gegenüber dem Anfangs-
schiendene Graduierungsmethoden erfasst, vermittelt ⊡ Tab. 34.2. zustand. Über ähnliche Erfahrungen mit dem Berliner Krankengut
34.1 · Allgemeines
903 34
berichte u. a. auch Huber (1987). Narotte et al. (1988, 1989) konn- Honner et al. (1971) berichten über ein Rezidivaufkommen von
ten lediglich 20% (n=58) ihrer fasziektomierten und sonst stan- 41% bei einer australischen Population mit drei Viertel vollstän-
dardisiert behandelten Patienten 10 Jahre postoperativ hinsichtlich diger und einem Viertel limitierter Fasziektomie. Die Dupuytren-
der Rezidivrate untersuchen. Die Rückfallqute betrug global 71%. Expansion beziffern sie mit 20%. Millesi (1981) dokumentierte
Ein »Wieder-in-Erscheinung-Treten« manifestierte sich dabei in- weiterhin, dass der Krankheitsverlauf nach einer totalen Fasziek-
nerhalb der ersten 2 Jahre in 63%. Zwischen dem 2. und 5. Jahr tomie bei 5-jähriger Nachbeobachtungszeit minder aggressiv ver-
nach dem Eingriff rezidivierten 32%. Nur weitere 5% der Krank- läuft, weshalb er diese eingeschränkt befürwortet. Die vermeintlich
heitsrückfälle diagnostizierte man nach Ablauf dieser Zeitspanne. vermehrten Komplikationen infolge der ausgedehnten Präparation
Retrospektiv nennen die Autoren summarisch die nach ihrer An- lassen sich bei routinierten Operateuren auf Quoten, die der parti-
sicht gefürchtetsten Rezidivfaktoren. In abnehmender Häufigkeit ellen Fasziektomie vergleichbar sind, senken. Besonders häufig sind
sind dies: Rezidive, sowie vereinzelt eine Dupuytren-Progression, im 1. Zwi-
1. Lebensalter unterhalb von 50 Jahren. schenfingerraum anzutreffen. Ursache hierfür sind die insgesamt
2. Klinisch fortgeschrittenes Kontrakturstadium entsprechend 3 fibrinösen Stränge – nämlich die prätendinöse und transversale
Stadien III und IV. Formation der Palmaraponeurose sowie der Schwimmbandstrang
3. Der Anteil von Diabetikern, nachweislicher Epilepsie, Alkoho- –, die häufig nicht wahrgenommen werden.
labusus, ektopen Fibromatosen und familiäre Belastung vari- Alliieu u. Tessier (1987) geben nach der Open-Palm-Technik
iert in der Rezidivgruppe zwischen 75 und 92%. und einer Nachbeobachtungszeit von mindestens 1 Jahr (Durch-
4. Die Rezidivrate scheint nach Einschätzung der Autoren von schnitt 36 Monate, Maximum 7 Jahre) bei 77 von 164 in Open-
der Operationstechnik unabhängig zu sein. Palm-Technik operierten Händen eine Rezidivrate von 23/77
904 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
(29,7%) und eine Dupuytren-Progression in 15/77 (19,4%) inner- Hohlhandfurchen platziert werden. Als einzeitige Modifikation,
halb der nicht operierten Zone an. bei der auch die betroffenen Finger fasziektomiert werden, kann
Aus einer Gesamtsumme von 868 Operationen mit Offenlas- man zusätzlich serpentinenartige oder modifizierte Bruner-Zu-
sen der Hohlhandwunde konnten Foucher et al. (1992) 107 Pati- gänge wählen, damit der geforderte Primärverschluss der Längsin-
enten mit 140 solchen Eingriffen an Fingern und einer Nachbe- zisionen auch bei der Open-Palm-Technik gelingt.
obachtungszeit von mindestens 5 Jahren nachuntersuchen: Ihre Nach der originären McCash-Methode (1964) wird eine parti-
Rezidivrate betug 40,6%, wovon 23% einen Zweiteingriff benötig- elle Fasziektomie ausgeführt. Sie beschränkt sich allerdings nur auf
ten, während die Expansion des Morbus Dupuytren im gleichen die Wegnahme des die Kontraktur verursachenden Fasziengewebes
Krankengut 39% aller Fälle betraf. ohne einen zusätzlichen Sicherheitssaum einzuhalten. Die Finger-
Bei Tonkin et al. (1984) beträgt die Rezidivrate nach Dermato- dissektion endet prinzipiell an den Mittelgelenken. Ein Release
fasziektomie bei 41/100 Operierten und einer durchschnittlichen der Fingerendgelenke erfordert nach McCash (1964, 1986) und
Nachbeobachtungszeit von 36 Monaten, 4% innerhalb der Voll- Lubahn (1966) einen Zweiteingriff. Man verschließt die Längsinzi-
hauttransplantate, während sie bei den gleichen Patienten außer- sionen von Fingern und teils sogar die palmaren Zweitinzisionen.
halb der Transplantate bei 33–42% liegt. Hingegen bleiben die Querfurchen in der Hand offen, sodass sich
Brotherson et al. (1994), die 34 einheitlich mittels Derma- die gestauchte Hohlhandhaut während Wochen in der sekundär
tofasziektomie durch den Senior-Chirurgen operierte britische heilenden Wunde ausbreiten kann (⊡ Abb. 34.12).
Patienten als Gesamtgruppe komplett durchschnittlich 100 Mo-
nate (Bandbreite 80–120 Monate) postoperativ nachuntersuchten,
fanden in keinem Fall einen Hinweis auf Rezidive unterhalb der 34.2.3 Partielle Fasziektomie
Vollhauttransplantate. In keinem Fall betrug die digitopalmare
Kontraktur mehr als 15°. Die Resektionsgrenzen bei der tradierten partiellen Fasziektomie
Hingegen gibt Moermans (1996) nach der minimalinva- umfassen den fibrös veränderten Strang einschließlich des makros-
siven segmentalen Aponeurektomie bei 59% (n=141/240) mit kopisch scheinbar unbeteiligten Fasziengewebes mit einem kleinen
173/292 Händen, die er 2,9 Jahre später nachuntersuchte, eine Ex- Sicherheitssaum. Während die Dissektionszeit bei der inkomplet-
34 tensionsrate von 16% (n=27) bei 23% (n=39) Rezidive sowie einer ten Fasziektomie deutlich geringer als bei der kompletten Form
Kombination aus beiden in weiteren 15% (n=26) an.
Foucher et al. (1998) modifizierten geringfügig die übliche
perkuntane Fasziektomie. Auf diese Weise behandelten sie insges-
mat 171 Patienten, bei denen in 52 Fällen Komplikationen auf-
traten. Dies ist umso bemerkenswerter, da sich die »Operateure«
bei der Nadelfasziektomie mehrheitlich auf die Hohlhand be-
schränkten. Die kurzfristige Befundbesserung betrug durchschnitt-
lich 72,1% (präoperative Streckhemmung 46,7%, postoperativ 13%
median).
a b c
d e f
⊡ Abb. 34.12 Open-Palm-Technik nach McCash. a Open-Palm-Technik: Ursprünglich als zweizeitiges Verfahren eingeführt, benutzt die Offene-Hand-Technik
grundsätzlich Querinzisionen sowohl der Hohlhand wie auch an den Fingern, die man jeweils in die Beuge- oder Hohlhandfurchen platziert. b Als einzeitige Mo-
difikation, bei der auch die betroffenen Finger fasziektomiert werden, kann man zusätzlich serpentinenartige oder modifizierte Bruner-Inzisionen wählen, damit
der geforderte Primärverschluss der Längsinzisionen auch bei der Open-Palm-Technik gelingt. c Nach der Original-McCash-Methode wird eine partielle Fasziekto-
mie ausgeführt. Sie beschränkt sich auf die Wegnahme des die Kontraktur verursachenden Fasziengewebes, ohne einen zusätzlichen Sicherheitssaum einzuhal-
ten. Die Fingerdissektion endet prinzipiell an den Mittelgelenken. Ein Release der proximalen Interphalangealgelenke erfordert nach McCash und Lubahn stets
einen Zweiteingriff. Man verschließt jeweils die Längsinzisionen von Fingern und teilweise sogar die palmaren Zweitinzisionen. Gelingt kein spannungsfreier Ver-
schluss der digitalen Querinzisionen sind Vollhauttransplantate bei ersatzstarkem Wundgrund obligat. Hingegen bleibt die Querfurche in der Hand offen, sodass
sich die »gestauchte« Hohlhandhaut während Wochen in der sekundär heilenden Wunde ausbreiten kann. d Spenderareale für Vollhauttransplante. Prinzipiell
wird die Entnahmestelle primär verschlossen. e Entscheidend für den funktionellen Erfolg bleibt die konsequent durchgeführte Rehabilitation mit nächtlicher La-
gerungsschiene oder einer dynamischen Streckschiene. Dargestellt ist eine rahmenförmiger Streckapparat (z. B. aus Metall) mit einem distalen Elastikband sowie
einem proximalen Trageriemen. Angepasster Streckapparat mit Abstützung des Rahmens über der Rascetta und den Metakarpophalangealgelenken mit quer
verlaufendem, straffen Elastikband. f Nachts wird eine statische Lagerungsschiene in Extension der Finger getragen. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
906 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
a b c
34
d e
⊡ Abb. 34.13 Partielle Fasziektomie. a Dupuytren-Kontraktur von Ring- und Kleinfinger, die an die Handstellung eines Geigenspielers erinnert (Stadium IV).
b Beugeseitiger Mittelschnitt am Kleinfinger. Obwohl die Z-Plastiken erst nach der Fasziektomie geplant werden, sind sie hier bereits angedeutet. Dabei müssen
auch eventuelle »Knopflöcher« der Haut und Interferenzen mit der Lappendurchblutung bedacht werden. Nachdem die Streckfähigkeit überprüft ist, werden
die gebeugten Finger intraoperativ mittels Traktionsfäden (Fingerkuppe oder Margo liber unguis) gehalten. Am Ringfinger ist das Prinzip der zickzackförmigen,
rechtwinkeligen Bruner-Inzisionen erkennbar, welche nur bei moderaten Kontrakturformen berechtigt sind. c Mittels der Handplatte mit Löchern – durch die
Gummizügel durchgezogen sind, welche rückwärtig durch die Kocher-Klemmen gehalten werden – erzielt man eine maximale Fingerstreckung. Einen noch
längeren Zugang bis in die Hohlhand hinein erreicht man entweder durch eine axiale Schnittverlängerung oder durch eine bajonettartige Inzision, die jeweils die
Furchenbildung berücksichtigt. d Digitaler Längsschnitt durch Haut und Subkutis bis zum fibromatösen Gewebe. Beachtenswert ist die Verlagerung des Gefäß-
Nerven-Bündels IX nach proximal-ulnar Es wird stets mit dem Skalpell präpariert. e Sorgsames bilaterales Unterminieren der Haut-Subkutis-Lappen jenseits der
fibromatosebefallenen Palmaraponeurose oder der Fingerstränge. Erkennbare Subkutanvenen oder aufsteigende Perforatoren koaguliert man mit der bipolaren
Pinzette. f Fibromatöser Zentral- und Spiralstrang, die eine ausgeprägte Beugefehlstellung des proximalen Interphalangealgelenks verursachen. g Faszienver-
hältnise im subkapitalen Querschnitt. h Spezielle Anatomie der Faszien- und Sehnenverhältnisse am subkapitalen Querschnitt der Kleinfingerseite. i Zusätzlich
tenotomieren wir nahe des metakarpophalangealen Vereinigungskerns (»carrefour fibrieux«; »metcarpophalangeal assemblage nucleus«) nach Zancolli, damit
eine günstige Streckfähigkeit des Kleinfingermittelgelenks entsteht. Die erreichte PIP-Streckfähigkeit ist stets das Beurteilungskriterium einer erfolgreichen Fas-
ziotomie an der ulnaren Hand. j Modellhafte Auswirkung des Tenotomieeffektes des M. abductor digiti minimi auf die palmare Platte, das Grundglied sowie das
PIP-Gelenk. Links Kontraktionszustand vor der Tenotomie, rechts nahezu vollständige Streckung nach der ulnaren, partiellen Sehnendurchtrennung. k Planen und
Zeichnen der 60-Grad-Z-Plastiken mit gerundeten Lappenspitzen zur Prävention der Spitzennekrose. Die Z-Plastik wird bei uns in die Fingerbeugefurche platziert.
Abwarten der reaktiven Hyperämie nach Eröffnung der Blutleere und peinlich genaue Blutstillung mittels bipolarer Diathermie. Überprüfen der Lappenvitalität
und ggf. Resektion und Ersatz durch Vollhauttransplantate oder lokale Lappenplastiken. Ausleiten einer Redon-Drainage (10 Charrière). Fixieren derselben. Ver-
zicht auf Subkutannaht. l Einzelknopfnaht mit 5/0 monofilem Nylon. An den Ecken intradermale Gillies-Technik (Dreipunktnaht), um Spitzennekrosen zu vermei-
den. m Zustand nach beendeter Hautnaht. Der Ringfinger zeigt den Hautverschluss nach Bruner-Inzision. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
34.2 · Spezielle Techniken
907 34
h i j
k l m
908 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
Nachdem die Finger durch die Handplatte, Gummizügel oder Sind über die Hohlhanddissektion noch zusätzliche digitale
Traktionsfäden maximal gestreckt wurden, inzidieren wir längs Fasziendissektionen notwendig, verbleiben optionale und kleine,
den Finger bis zum fibrösen Gewebe. Es wird stets mit dem die Monticuli verbindende Hautbrücken zwischen Fingern und der
Skalpell präpariert. Sorgsames und bilaterales Unterminieren der Palma manus. Auch hierzu werden möglich Längsinzisionen durch
Haut-Subkutis-Lappen jenseits der fibromatosebefallenen Palma- Z-Plastiken, wie gezeigt, unterbrochen.
raponeurose oder der Fingerstränge. Platzieren von Haltefäden Nach Eröffnen der Blutsperre installiert man temporär warme
oder Häkchen. Erkennbare Subkutanvenen oder aufsteigende Per- Kochsalzkompressen in das Wundgebiet und unter manueller
foratoren koaguliert man mit der bipolaren Pinzette. Kompression des Operateurs warten wir bis zum Ende der reak-
Durch sachten Druck auf das 15er Skalpell eröffnet man, mit tiven Hyperämie. Nachdem die Gazekompressen entfernt sind,
einem »Sicherheitsabstand« von 5 mm, die gesunde Palmarapo- folgt die subtile Hämostase mit bipolarer Koagulationspinzette.
neurose. Soll der Hohlhandbogen oder das gemeinsame Gefäß- Ausleiten einer 10 Charrière starken Redon-Drainage. Hautnaht
Nerven-Bündel unter einer lobulären Fettschicht eingescheidet in der Hohlhand mit 4/0er und an den Fingern mit 5/0er Nylon,
und verborgen liegen, spalten wir der Länge nach mit der Präpa- Fettgazeverband, Kompressionsverband mit Stahlwolle – alternativ
rierschere, zunächst vom Gesunden kommend. Der distale zumeist Krüllverband – und Gipslonguette (⊡ Abb. 34.14d-f).
dreieckförmige Faszienabschnitt wird mit einer Adson-Pinzette ge-
griffen und angespannt, damit die »hackende« Skalpellpräparation
prograd mühelos voranschreitet. 34.2.5 Kontinuierliche Distraktionstechnik nach
In der Hohlhand präpariert man beim Ulnartyp des Morbus Messina
Dupuytren jeweils von daumen- nach kleinfingerseitig. Das darge-
stellte kommune Gefäß-Nerven-Bündel halten wir zusammen mit Bei der kontinuierlichen Elongations- oder Distraktionstechnik
dem M. lumbricalis durch eine stumpfen Doppelzinkerhaken nach nach Messina (1994) werden zwei Steinmann-Nägel mit selbst-
radial. Sodann überblickt man das Verikalseptum zwischen Mittel- schneidendem Gewinde und einem Durchmesser von 2–3,5 mm
und Ringfinger. Dieses wird am tiefsten Punkt mit dem Messer ulnarseitig in die Ossa metacarpalia 4 und 5 mit Fassen aller vier
unter wohl dosiertem Druck durchtrennt. Strikt am Muskelbauch Kortikalisflächen eingedreht und gleichzeitig ein transversaler
34 des auf der gegenüberliegenden Seite befindlichen M. lumbricalis Kirschner-Draht, der zu einem Extensionsbügel umgeformt wird,
präparierend kommt das kontralaterale Gefäß-Nerven-Bündel zur in das Mittelglied von Mittel-, Ring- oder Kleinfinger eingebohrt.
Darstellung. Das fibromatöse Gewebe oberhalb der Flexoren rese- An diese Stahlteile wird der T.E.C.-Rahmen (»Tecnica di Esten-
ziert man, ohne die Beugesehnenscheide zu eröffnen. Auf der ulna- sione Continua«); der gegenwärtig 190 g wiegt, angepasst. Diese
ren Mittelfingerseite geht es entsprechend weiter. Am Kleinfinger Maßnahmen sollte man grundsätzlich – so der Autor – stationär
kommt das 10. Gefäß-Nerven-Bündel separat zur Darstellung. ausführen. Es schließt sich ab dem 3. postoperativen Tag die
Nach Planen und Schneiden der Z-Plastiken werden diese – ambulante Nachbetreuung an. Während der ersten 3–4 postope-
subtile Hämostase vorausgesetzt – transponiert und eingenäht. rativen Tage kann ein Extensionsgewinn von täglich 3–4 mm
Einzelheiten des Wundverschlusses sowohl mit Z- als auch V-Y- schmerzfrei erzielt werden. Im Verlauf der nachfolgenden 3 Wo-
Plastiken sind weiter hinten detailliert zusammengefasst. chen steigert man das Extensionsausmaß durch Erhöhung der
Dehnungsfrequenz, sodass ein günstiger Flexionsgrad an den
Grund- und Mittelgelenken als vorbereitende Maßnahme auf
34.2.4 Komplette Fasziektomie eine konventionelle Fasziektomie erreicht wird. Der Einsatz dieser
Technik kann günstigstenfalls im Verzicht auf weichteilplastische
Die komplette Fasziektomie beginnt mit der triradiären oder mer- Maßnahmen enden.
cedessternartigen Hautinzision der Hohlhand unter Ausnutzung Laut Inauguratoren der Methode konnten somit bei bislang
der beugeseitigen Hautlinien. Der proximale Hautschnitt verläuft 30 behandelten Patienten »gute Ergebnisse« erzielt werden. Be-
in der Linea stomatica und trifft sich in der Mitte mit der »iatro- handlungsabbrüche sind nicht bekannt. Aufgelistete Infektionen
genen« Querfurche. Letztere verbindet Anteile der proximalen mit oder Negativaspekte findet man nicht. Trotz der vermeintliche
der distalen Hohlhandfurche. Ein 120-Grad-Winkel ist anzustre- überragenden Eigenschafen führte bereits 1994 Hodgkinson ein
ben. Dieser stellt die beste Prävention einer zentralen Nekose dar minituriarisiertes Nachfolgemodell (Pipster) ein. Citron u. Messina
(⊡ Abb. 34.14a–c). (1998) reagierten mit der artähnlichen, respektive baugleichen
Abpräparieren der dreiecksförmigen Lappen mit dem Skalpell, Entwicklung des »Verona-Apparates«, der im Übrigen auch die
das nicht gezogen, sondern drückend geführt wird. Erhalt der Lap- identische Anwendung wie der Pipster besitzt. Die Autoren plä-
pendurchblutung durch Bilden von breitbasigen Lappen, die von dieren für die Primäranwendung bei Flexionskontrakturen der
den Perforaten der Monticuli, der Thenar- und Hypothenarregion Fingermittelgelenke ihres ebenfalls miniaturisierten Verona-Exten-
versorgt werden (⊡ Abb. 34.14b). sionsapparates. Aufgrund der offensichtlichen Nachteile des Mes-
Darstellen der gesamten – gesunden und fibromatösen – sina-Verfahrens, wie Fehlbohrungen mit Nerven- oder Sehnenver-
Palmaraponeurose. »Hackendes« Absetzen der Hohlhandfaszie letzungen, Pin-Infekt, Inakzeptanz der Fixateur-externe-Montage
vom Hypothenar, der dreiecksförmigen Fixation am Retinaculum seitens der Patienten, und zur Kostenreduktion führen Piza-Katzer
flexorum (Palmarisinsertion) und dem Daumenballen. Besonders et al. (2000) ein nichtinvasives, intermittierendes und pneumati-
verletzungsgefährdet sind immer der Hohlhandbogen – der abhän- sches Dehnungsverfahren der kontrakten Finger durch einen spe-
gig vom Geschlecht etwa 3,0–3,5 cm distal der Rascetta zu erwar- ziellen Ballon ein. Dazu wird eine Metallplatte der Hohlhandfläche
ten ist – sowie der motorische Medianusast in seinen anatomischen entsprechend einem individuellen Abdruck angepasst. Diese reicht
Variationen. Prograde Präparation oberhalb eine identifizierten distal bis an die Fingergrundgelenke. Die Platte dient einerseits
Gefäß-Nerven-Bündels von proximal nach distal und von radial als stabiles Widerlager und anderseits zur sicheren Befestigung
nach ulnar unter prophylaktischer Resektion der Vertikalsepten, des Ballons. Eine der Mittelhandorthese ähnliche Vorrichtung fi-
wie bei der partiellen Fasziektomie beschrieben (⊡ Abb. 34.14c). xiert den pneumatischen Dehnungsquengel durch einen Klettver-
34.2 · Spezielle Techniken
909 34
a b c
d e f
⊡ Abb. 34.14 Komplette Fasziektomie. a Komplette Fasziektomie: Y-förmige Hautinzision in der Palma manus unter Ausnutzung der natürlichen Furchenbil-
dung. Die Dissektion überschreitet nicht die Ausdehnung der dreiecksförmigen Aponeurosis palmaris und endet aus Perfusisionsgründen an der Thenar- und
Hypothenarmuskulatur sowie den Monticuli. Die 120-Grad-Stellung der gebildeten Haut-Subkutis-Lappen soll einer möglichen, zentralen Nekrosebildung
entgegenwirken. b Scharfe Präparation der dreieckförmigen Lappen mit dem Skalpell. Auf den Erhalt einer breiten Lappenbasis und eines intakten subder-
malen Plexus ist zu achten. c Darstellen der gesamten – gesunden und fibromatösen – Palmaraponeurose. »Hackendes« Absetzen der Hohlhandfaszie vom
Hypothenar, der dreieckförmigen Fixaiton am Lig. flexorum (Palmarisinsertion) und dem Daumenballen. Besonders verletzungsgefährdet sind immer der
Hohlhandbogen sowie der subfaszial gelegene, motorische Medianusast. Prograde Präparation oberhalb eines indentifizierten Gefäß-Nerven-Bündels von
proximal nach distal und von radial nach ulnar unter Resektion der Vertikalsepten, wie vorher bei der partiellen Fasziektomie beschrieben. d Ausgeführte
totale Fasziektomie der Hohlhand. Sind zusätzliche Fingerdissektionen notwendig, verbleiben auf jeden Fall kleine Haut-Subkutis-Brücken in Höhe der digi-
topalmaren Übergangszone. Die digitalen Längsinzisionen werden, wie bereits bei der partiellen Fasziektomie gezeigt, durch Z-Plastiken unterbrochen. Nach
Abwarten der reaktiven Hyperämie und peniblen Hämostase wird noch das Wundgebiet drainiert. Hautnaht. e Fettgazeverband, Kompressionsverband mit
Stahlwolle und Gipslonguette. Aufgrund der nur kurzfristigen Immobilisationszeit kann ausnahmsweise auf die Intrinsic-plus-Stellung zugunsten einer funk-
tionellen Ruhigstellung ohne Nachteil für die Kollateralbänder und den Kapsel-Band-Apparat verzichtet werden. Sind keine Transplantate notwendig, werden
Verband und Gips am 5. postoperativen Tag entfernt und die operierte Hand intensiv krankengymnastisch aktiv beübt. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
910 Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
34
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⊡ Abb. 34.16 Restkontrakturen. a Schema der persistierenden Sekundärkontraktur eines PIP-Gelenks. b Die Zügelbänder sind schwalbenschwanzförmige,
bindegewebige »Ligamente«, die zwischen der palmaren Platte und deren Insertionsflächen an den ulnaren und radialen Knochenleisten (»assembly lines«)
des Fingergrundgliedschaftes verlaufen. Nach Darstellen der bilateralen Aa. digitales palmares propriae wie auch der transversalen, unterhalb der Zügelbän-
der verlaufenden Arcus digitopalmaris (zur Versorgung des Vincula-Systems der Beugesehnen) desinseriert man basisnah an der palmaren Platte die »check
reins« oder reseziert sie vollständig. c Im ersten Schritt wird diese Sekundärkontraktur durch die Resektion der Zügelbänder (»check reins«) und bei fortbeste-
hender Retraktion durch das Ablösen der akzessorischen Seitenbänder beiderseits behandelt. d Durch passive Aufdehnung des proximalen Interphalangeal-
gelenks, bei gebeugtem Metakarpophangealgelenk, löst sich die Sekundärkontraktur normalerweise auf. Bei fortdauernder, elastischer Resistenz oder even-
tuellem Schnappeffekt ist auch eine komplette Kerbung der geschrumpften Ligamenta collateralia accessoria sinnvoll. Gegebenenfalls können auch beide
Bänder vollständig reseziert werden. Der transversal verlaufende digitalpalmare Arcus (»digitopalmarer Bogen«) darf weder unachtsamerweise durchtrennt
noch zerrissen werden. Unmittelbar nach dem Eingriff beginnt die aktive Übungsbehandlung. Zusätzlich wird eine dynamische Streckschiene getragen. (Aus
Brenner u. Rayan 2003)
34.2 · Spezielle Techniken
913 34
a b c
⊡ Abb. 34.17 Umstellungsosteotomie. a Korrekturmöglichkeiten einer 90-Grad-Flexionskontraktur des proximalen Interphalangealgelenks modifiziert nach
Moberg und Tonkin: Subkapitale, keilförmige Resektion und Osteosynthese in Überstreckstellung des Grundgliedköpfchens. Der dorsale Winkel verdeutlicht
das Ausmaß der Keilresektion. Reduktion der ursprünglichen Flexionskontraktur auf 30° postoperativ. b Zur Fixation dient eine diagonaler Kirschner-Stift und
eine Drahtnaht als Zuggurtung. Im Osteotomiespalt entwickelt sich eine zunehmende Kompression durch aktive, frühfunktionelle Beübung. Der ROM (»rang
of motion«) bleibt mit annähernd 60° gleich. c Fertiggestellte Umstellungsosteotomie modifiziert nach Moberg. Reduktion der Flexionskontontraktur von 90
auf etwa 30°. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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34.3 · Weiterführende Literatur
919 35
a b c
⊡ Abb. 35.2 Spannungslinien der Haut im Bereich der Hand. a Palmare Ansicht, b dorsale Ansicht. c Das Ausmaß der Wundranddehiszenz einer Schnitt-
wunde hängt von der Richtung des Wundverlaufs zu den Hautspaltlinien ab. Die in Richtung 1 und 2 parallel oder fast parallel zu den Spaltlinien gesetzten
Schnittwunden sind einem geringeren Seitenzug ausgesetzt als die der Wunde 3 und 4. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
922 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
35 Palmare Kommissurenplatte
Finger Dorsaler MP-Gelenk-Bereich
Grundglied (P1) Palmare Untereinheit
Dorsale Untereinheit
Dorsaler PIP-Gelenk-Bereich
Mittelglied (P2) Palmare Untereinheit
Dorsale Untereinheit
Dorsaler DIP-Gelenk-Bereich
Endglied (P3) Palmare Untereinheit
Dorsale Untereinheit
a b c d
⊡ Abb. 35.3 »Rekonstruktive bzw. funktionelle Einheiten« im Bereich der Hand. a Ventrale Ansicht, b dorsale Ansicht, c 1. Zwischenfingerfalte, d 2.–4. Zwischen-
fingerfalte
35.1 · Allgemeines
923 35
Spina scapulae
Radix spinae Extremitas acromialis
Clavicula claviculae
Acromion Acromion
Processus coracoideus
Tuberculum maius Tuberculum maius
Tuberculum minus
Caput humeri
Margo
vertebralis Margo ulnaris
Corpus humeri
Margo ulnaris Angulus caudalis Margo radialis
Corpus humeri
Margo radialis
Crista dorsalis
ulnae
Eminentia carpi
radialis Capitulum ulnae
⊡ Abb. 35.4 Niederresistenzzonen im Bereich der Hand. a Ventrale Ansicht, b dorsale Ansicht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
jener der dorsalen Seite durch eine hohe mechanische Beanspru- reich) genügend Abpolsterung zu bieten. An den Fingerkuppen
chungsfähigkeit und eine ausgezeichnete Sensibilität. wiederum sollten möglichst sensible Lappenplastiken eingesetzt
werden, um deren Sinnesfunktion, das Tasten, aufrechtzuerhalten.
> Im palmaren Bereich liegt die sog. Leistenhaut, im dorsalen
Am Handrücken sind vor allem Zugspannungen vorhanden. Für
Bereich die sog. Felderhaut (⊡ Abb. 35.5).
eine normale Handfunktion (vollständige Fingerbewegung und
Lappenplastiken für die Deckung auf der Palmarseite müssen kraftvoller Faustschluss) ist ein relativer Hautüberschuss am Hand-
ausreichend Fettgewebe besitzen, um einerseits ein Gleiten der rücken und im Bereich der Zwischenfingerfalten notwendig. Die
Beugesehen zu ermöglichen und andererseits in den Greifarea- Handrückenseite, die soziale Seite der Hand, ist viel mehr expo-
len (Thenar-, Hypothenar-, Metakarpophalangeal- und Fingerbe- niert und verlangt daher eher eine ästhetische Deckung.
924 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Hautleisten ekkriner
Haarschaft Schweißdrüsengang
Hautfurchen papillärer
Gefäßplexus
ekkriner
Schweißdrüsengang
Talgdrüse
Epidermis
Epidermis
Dermis
Dermis
subdermaler
Gefäßplexus b
dermaler
Gefäßplexus Pacinikörperchen
Pacinikörperchen dermaler
subcutanes Fettgewebe Gefäßplexus
subdermaler
Gefäßplexus
⊡ Abb. 35.5 Hauttypen im Handbereich. a Palmare Leistenhaut, b dorsale
Felderhaut. (Aus Berger u. Hierner 2009) Arector Pili subkutanes Fettgewebe
Haarfollikel
35
35.1.2 Epidemiologie momenten und bei jedem Kind unter 2 Jahren die Verletzung
durch ein Äquivalent des Kinder- und Jugendamtes abklären lassen
Defekte im Handbereich sind häufige Defekte. Sog. kleine Hand- müssen, hat man festgestellt, dass bis zu 20% aller kindlichen Ver-
verletzungen können großen volkswirtschaftlichen Schaden an- brennungen auf Kindesmisshandlungen beruhen.
richten, wenn sie nicht primär optimal versorgt werden. Die folgenden Punkte werden in der Literatur als Hinweise
Hautdefekte, die nicht primär verschlossen werden können, auf das Vorliegen einer Misshandlung genannt; findet man 2 oder
isoliert oder in Kombination mit Knochen-, und/oder Sehnen- mehr diese Indizien, so soll dies in 60% der Fälle auf eine Miss-
und/oder Nervendefekten, stellen wegen ihrer unterschiedlichen handlung hinweisen (nach Blakeney und Herndon).
Ätiologie und Ausprägungen ein komplexes diagnostisches und
therapeutisches Problem dar.
Hinweise auf das Vorliegen einer Misshandlung
▬ Das verletzte Kind wird nicht von Verwandten zur Behand-
35.1.3 Ätiologie lung gebracht.
▬ Bei verletzten Erwachsenen besteht ein Abhängigkeitsver-
Nach der Ätiologie unterscheiden wir akute und chronische Weich- hältnis zwischen Patient und Versorger.
teildefekte: ▬ Die Behandlung wird verzögert (>12 h) aufgesucht.
Akute Weichteilverletzungen sind zumeist Folge von Rasanz- ▬ Die Schuld an der Verletzung wird dem Verletztem zuge-
traumen (z. B. Motorradunfälle, Sturz aus großer Höhe), Decol- wiesen.
lement-Verletzungen, Verbrennungen und Schussverletzungen. ▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus passt nicht
Bezüglich der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zum Verletzungsmuster.
stellen die kombinierte Weichteil-Knochen-Schädigung und Weich- ▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus passt nicht
teilschädigung im Rahmen eines Polytraumas eine Sonderform dar. zum Verhalten des Patienten.
Die häufigste Ursache für chronische Weichteildefekte sind ▬ Ähnliche Verletzungen sind anamnestisch bekannt.
chronische Entzündungen (z. B. Osteomyelitiden), die meist als ▬ Zeichen von Unterernährung, Vernachlässigung, Alkohol-
Spätkomplikationen auftreten, Strahlenschäden nach Radiothe- oder Drogeneinfluss.
rapie, Endzustände nach postthrombotischem Syndrom, Narben ▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus verändert
nach multiplen Operationen sowie neurogene Erkrankungen. sich mit jeder Erzählung.
▬ Es bestehen Zeichen vorausgehender anderer Verletzungen.
Handverletzung als Kindesmisshandlung ▬ Bei Verbrühungen sind die Verbrennungen glatt abgegrenzt,
Verbrennungen als Misshandlung im Allgemeinen und speziell an Beugefalten sind ausgespart (als Zeichen des Eingetaucht-
der Hand sind seit etwa 25 Jahren in das Blickfeld der Öffentlich- werdens in Abwehrstellung).
keit geraten. Meist sind Kinder und ältere Menschen betroffen. In ▬ Verbrennungen sind an dorsalen Körperarealen.
den USA, wo behandelnde Ärzte bereits bei geringsten Verdachts-
35.1 · Allgemeines
925 35
35.1.4 Diagnostik
⊡ Tab. 35.2 Klassifikation des Gewebeschadens an der Hand
Bei der Untersuchung von Patienten mit Defektverletzungen im Scheinbarer Defekt (Wundrandretraktion durch Gewebeelastizität
Bereich der Hand müssen zwei Situationen unterschieden werden: und/oder Schwellung)
1. die isolierte Defektverletzung und
Realer Defekt (echter Gewebeverlust)
2. die Defektverletzung im Rahmen eines Polytraumas.
Typ A Isolierter Hautdefekt (Defekte, die bis auf die Faszie
Für eine möglichst exakte Schadenserfassung dient uns ein »stan- reichen können)
dardisiertes diagnostisches Vorgehen« ( Übersicht). Im Rahmen
Typ B Kombinierter Weichteildefekt (Haut, Muskel, Sehnen,
eines Polytraumas muss dieses »standardisierte disganostische Vor-
Nerven, Blutgefäße)
gehen« in ein umfassendes »Diagnostik- und Therapieschama bei
Polytrauma integriert werden. Typ C Isolierter Knochendefekt
▬ dorsale Handgelenkregion,
▬ palmare Handgelenkregion, Polyregionale Defekte
▬ radiale Handgelenkregion, ▬ Freie mikrovaskuläre Lappenplastiken
▬ ulnare Handgelenkregion. – Lateraler Oberarmlappen
– Paraskalpula-/Skapulalappen
> Da die distale Unterarmregion zu den Niederresistenzzonen
– Anterolateraler Oberschenkellappen
zählt, ist die einfache Hauttransplantation meist nur zur
– Myokutaner (funktioneller) Latissimus-dorsi-Lappen
temporären Deckung oder als Therapie der letzten Wahl
▬ Gestielte Fernlappenplastiken
einzusetzen.
– Leistenlappen
Zur Deckung kleiner bis mittelgroßer Defekte können Rotations- – Abominallappen
lappen aus dem Unterarmbereich verwendet werden. Für grö-
ßere Defekte sind vor allem der A.-interossea-posterior-Lappen
( Abschn. 35.2.8), der ulnodorsale Perfoatorlappen nach Becker Dorsale Handgelenkregion
u. Gilbert ( Abschn. 35.2.9), der ulnare neurokutan gestielte Lap- Ursachen für einen Gewebedefekt im Bereich der dorsalen Hand-
pen nach Bertelli, der radiale neurokutan gestielte Lappen nach gelenkregion sind Trauma, Defektzustände nach Kontrakturauf-
Bertelli, der radiale distale Perforatorlappen nach Goffin und lösung und postoperativen Gewebeuntergang nach ausgedehnten
die distal gestielte A. radialis-Lappenplastik nach Stock ( Ab- Synovialektomien und Defektzustände nach Paravasaten. Eine wei-
schn. 35.2.10) indiziert ( Differenzialtherapie im Bereich des Hand- tere wichtige Indikation stellt die Lagerverbesserung vor Streckseh-
gelenks). Die distale gestielte A.-ulnaris-Lappenplastik findet bei nenrekonstruktion dar.
uns aufgrund der möglichen Schädigung des N. ulnaris keine Für kleine bis mittelgroße (Breite <3 cm) Defekte stellt die ul-
Verwendung. nodorsale Lappenplastik nach Becker u. Gilbert ( Abschn. 35.2.9)
die Therapie der Wahl dar.
Größere Defekte werden bevorzugt mit der A.-interossea-poste-
Differenzialtherapie im Bereich des Handgelenks rior-Lappenplastik nach Pendeado bzw. Zancolli ( Abschn. 35.2.8)
(distales Unterarmdrittel) gedeckt. Bei Defekten im dorsalen Handgelenkbereich muss aber
Handgelenk (distales Unterarmdrittel) darauf geachtet werden, dass der R. communicans der A. interos-
Dorsale Handgelenkregion sea posterior mit der A. interossea anterior erhalten ist. Deshalb ist
35 ▬ Kleine bis mittelgroße (Breite <3 cm) Defekte präoperativ eine Doppleruntersuchung notwendig. Bei Kontrain-
– Ulnodorsaler Perforatorlappenplastik nach Becker dikationen für den A.-interossea-posterior-Lappen oder größeren
▬ Größere Defekte Defekten sollte als Nächstes an die Möglichkeit eines distalen
– Interossea-posterior-Lappenplastik radialen Perforatorlappens nach Goffin gedacht werden. Aufgrund
– Ulnare neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli des Spenderdefektes stellen die ulnare bzw. radiale neurokutan
– Radiale neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli gestielten Lappen nach Bertelli nur die Therapie der 2. Wahl dar.
– Radiale distale Perforatorlappen nach Goffin Bei ausgedehnten (polyregionalen) Defekten ist die distal gestielte
– Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik A.-radialis-Lappenplastik nach Stock ( Abschn. 35.2.10) die einzig
– Freie mikrovaskuläre Lappenplastiken lokal verbleibende Deckungsmöglichkeit. Alternativ können für
– Leistenlappen derartige Defekte freie mikrovaskuläre Lappenplastiken (lateraler
Oberarmlappen nach Song, Skapulalappen nach Dos Santos, Pa-
Palmare Handgelenkregion rascapulalappen nach Nassif, anterolateraler Obersschenkellappen
▬ Kleine bis mittelgroße Defekte nach Song) und gestielte Fernlappenplastiken (Leistenlappen) ein-
–
(Synoviallappen nach Wulle) gesetzt werden ( Differenzialtherapie im Bereich des Handgelenks).
–
(Hypothenar-Fett-Faszien-Lappen nach Cremer) Da im Handrückenbereich eine sehr dünne Weichteilbede-
–
(M.-abductor-pollicis-brevis-Lappen) ckung benötig wird, können bei Patienten mit dicker Subku-
–
Distale ulnodorsale Perforatolappenplastik nach tanschicht dünne Faszienlappen gehoben werden, die dann mit
Becker einem mitteldicken Spalthauttransplantat bedeckt werden. Dieses
– M.-pronator-quadratus-Lappenplastik Vorgehen erbringt sehr gute ästhetische Ergebnisse. Es ist jedoch
– A.-interossea-posterior-Lappenplastik problematisch, wenn Sekundäreingriffe (Reoperationen, zweizei-
▬ Große Defekte tige Strecksehnenrekonstruktion) notwendig sind.
– Ulnare neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli
– Radiale neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli Palmare Handgelenkregion
– Radiale distale Perforatorlappen nach Goffin Defektzustände im Bereich der palmaren Handgelenkregion sind
– Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik meist bedingt durch Auflösung von Kontrakturen und Trauma.
– Freie mikrovaskuläre Lappenplastiken Eine weitere immer häufigere Indikation besteht bei Rezidiven
– Leistenlappen eines Karpaltunnelsyndroms, wenn gleichzeitig eine Deckung und
eine gefäßversorgte Abpolsterung für den N. medianus nötig ist.
Radiale/ulnare Handgelenkregion Zur Abpolsterung und Revaskularisierung des N. medianus im
▬ A.-interossea-posterior-Lappenplastik distalen Unterarm und Handgelenkbereich sind vor allem die
▬ Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik Synoviallappenplastik nach Wulle (⊡ Abb. 35.6), die Hypothenar-
▬ Freie mikrovaskuläre Lappenplastiken Fettlappen-Plastik nach Cremer, die M.-abductor-pollicis-brevis-
▬ Leistenlappen Lappenplastik, die M.-pronator-quadratus-Lappenplastik und die
▼ ulnodorsale Perforatorlappenplastik nach Becker bzw. Gilbert ge-
eignet ( Kap. 8).
35.1 · Allgemeines
927 35
a b c
Für kleine bis mittelgroße Defekte stellt die A.-interossea-poste- Für größere Defekte ist wiederum die A.-radialis-Lappenplas-
rior-Lappenplastik die Therapie der 1. Wahl dar, da hierdurch keine tik indiziert. Wiederum ist an die Spendergebietmorbidität durch
Hauptgefäßachse geopfert werden muss (⊡ Abb. 35.7). Aufgrund des Entnahme der A. radialis zu denken. Alternativ können der Leis-
Spenderdefektes stellen die ulnare bzw. radiale neurokutan gestiel- tenlappen oder freie mikrovaskuläre Lappenplastiken eingesetzt
ten Lappen nach Bertelli nur die Therapie der 2. Wahl dar. werden ( Differenzialtherapie im Bereich des Handgelenks).
928 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
e f
35
b
g h
C E
E’
A
B
b c d e
a
⊡ Abb. 35.9 Deckung eines kleinen Defektes im zentralen Handrückenbereich nach Wundheilungsstörung bei jahrelanger Kortisonmedikation mithilfe einer
Translationslappenplastik nach Iselin. a Schema der Planung der Lappenplastik: Der häufigste Fehler besteht darin, den Drehpunkt der Lappenplastik an der
Schnittstelle zwischen Lappen, gesunder Haut und Defekt festzusetzen. Tatsächlich muss der Abstand AB genauso groß wie die Breite des Defektes sein (EE‘).
Wenn nun die Lappenspitze (D) nach E geschwenkt wird, muss der Abstand (Spannungslinie) von B zu D genauso groß sein wie BE. Durch die Transposition
kommt es zu einer »Verkürzung der Lappenplastik« um etwa ein Drittel der Länge. b Klinischer Aspekt nach Débridement und Lappenumschneidung, c klini-
scher Aspekt nach Transposition des Lappens und Deckung des sekundären Spenderdefektes mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der Leiste, d Fixierung
des Vollhauttransplantats mithilfe eines Überknüpfverbandes, e klinischer Aspekt 6 Monate nach Lappenplastik
35
-IV-Lappenplastik nach Earley und Milner als hautgestielte oder Bei den genannten Ausnahmen sowie bei Defekten, die größer
Insellappenplastiken zuverlässig verschlossen werden. Lineare oder als 6×15 cm sind, kann nur auf die distal gestielte A.-radialis-Lap-
elliptoide Defekte, die nicht größer sind als ein Drittel der Hand- penplastik nach Stock zurückgegriffen werden ( Abschn. 35.2.11).
rückenbreite, können am einfachsten mithilfe einer bipedikulären Sind lokale Lappenplastiken vom Unterarm nicht möglich, so
Translationslappenplastik (Visier- bzw. Brücken-Lappenplastik) in müssen freie mikrovaskuläre oder gestielte Fernlappenplastiken
Kombination mit einer mitteldicken Spalthautdeckung des Spen- angewandt werden. Wegen der Notwendigkeit einer frühzeitigen
dergebietes versorgt werden. Bei exzentrisch gelegenen Defekten, Mobilisierung, der leichteren Pflege und einer geringeren psy-
die die Hälfte der Handrückenbreite nicht überschreiten, stellt die chischen Belastung des Patienten sind mikrovaskuläre Lappen-
Translations-Lappenplastik nach Iselin in Kombination mit einer plastiken den gestielten Fernlappenplastiken vorzuziehen. Wegen
Spalthauttransplantation zur Deckung des Entnahmedefektes die der ähnlichen Hautqualität und -farbe und der Tatsache, dass
Therapie der 1. Wahl dar. kein Hauptgefäßstamm geopfert werden muss, stellt der laterale
Ist eine Defektdeckung mit einer lokalen Lappenplastik aus Oberarmlappen nach Song die Therapie der 1. Wahl dar. Bei di-
dem Handbereich nicht möglich, so sollte als Nächstes an die cker Subkutanschicht und bei sehr kleinem Oberarmumfang bei
Möglichkeit einer gestielten Lappenplastik aus dem Unterarm- zierlichen Patienten sollte sie jedoch erst als Therapie der 2. Wahl
bereich gedacht werden, wobei es sich immer um fasziokutane eingesetzt werden. Hier ist die A.-radialis-Lappenplastik nach
Transplantate handelt. Bei dicker subkutaner Schicht sollte zur Yang die Therapie der 1. Wahl. Dem Vorteil des langen großlu-
Verbesserung des ästhetischen Ergebnisses und zur Minimierung migen Gefäßstieles des Radialislappens steht der Nachteil der
des Entnahmedefektes (u. a. A.-radialis-Lappenplastik nach Yang) Opferung einer Hauptgefäßstraße zur Hand – mit Notwendigkeit
eine gestielte Fett-Faszien-Lappenplastik gehoben werden. Dem einer mikrovaskulären Rekonstruktion – sowie der große ästhe-
Vorteil des geringeren Spenderdefektes steht der Nachteil einer tische Defekt im Unterarmbereich gegenüber. Bei ausgeprägter
möglichen zweiten Operation zur Nachdeckung bei unvollständi- subkutaner Fettschicht an Stamm und Extremitäten sollte aus
gem Anwachsen der Spalthaut und der schlechteren postoperati- ästhetischer Indikation eine freie A.-radialis-Faszienlappenplastik
ven Beurteilbarkeit der Lappendurchblutung gegenüber. Bei pro- mit mitteldicker Spalthautdeckung durchgeführt werden. Ist eine
ximalen handgelenknahen Defekten sollte die ulnodorsale Lap- Radialis-Faszienlappenplastik nicht möglich, so sollte als Nächs-
penplastik nach Becker und Gilbert ( Abschn. 35.2.9) bevorzugt tes die Möglichkeit einer freien mikrovaskulären A.-temporalis-
werden. Für Defekte, die sich vom Handrücken bis zu den MP- Faszienlappenplastik nach Smith geprüft werden. Ist auch diese
Gelenken erstrecken, stellt die distal gestielte A.-interossea-poste- nicht möglich oder erwünscht, so kann die freie mikrovaskuläre
rior-Lappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli ( Abschn. 35.2.8) thorakodorsale Faszienlappenplastik nach Wintsch und Helaly,
bis auf wenige Ausnahmen bei Defekten bis zu 6×15 cm Größe kombiniert mit einer mitteldicken Spalthauttransplantation, in
die Therapie der 1. Wahl dar. Wegen der Gefahr einer Schädigung Erwägung gezogen werden.
des R. communicans zwischen den Aa. interosseae anterior und Ist eine freie mikrovaskuläre Lappenplastik nicht möglich,
posterior sollte bei Verletzungen im distalen Unterarmbereich die so müssen gestielte Fernlappenplastiken eingesetzt werden. Als
distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappenplastik nicht ange- Spenderstellen stehen die kontralaterale Außenseite des Oberarms
wandt werden (⊡ Abb. 35.10). sowie die ipsilaterale Leistenregion und Bauchhaut zur Verfügung.
35.1 · Allgemeines
931 35
a c
b
d e f
⊡ Abb. 35.10 Deckung eines posttraumatischen Handrückendefektes bei komplexer Knochen-Weichteil-Schädigung mithilfe eines A.-interossea-posterior-
Lappens. a Klinischer Aspekt präoperativ, b Röntgenbild präoperativ, c klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ, d Funktion 1 Jahr postoperativ: Handgelenk-
streckung, e Funktion 1 Jahr postoperativ: Faustschluss, f Funktion 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung
a b c d
e f g h
distalen Radiusfraktur nicht möglich oder wegen des ästhetischen einen Metakarpalknochen betreffen, stellt die freie mikrovasku-
Spenderdefektes nicht erwünscht, so kommt nur noch die distal läre, laterale osteokutane Oberarmlappenplastik nach Song die
gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock ( Abschn. 35.2.11) in Therapie der 1. Wahl dar. Aufgrund des geringen ästhetischen
Frage, da bei Knochenentnahme im Rahmen einer distal gestielten Spenderdefektes sollte bei Patienten mit dünner Subkutanschicht
A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli die freie mikrovaskuläre, osteomyokutane Skapula-/Paraskapula-
der Spenderdefekt wegen der Schädigung der M.-extensor-pollicis- Lappenplastik als Therapie der 1. Wahl eingesetzt werden. Wegen
longus-Funktion als zu groß angesehen werden muss und darüber des großen Spenderdefektes kommt das freie mikrovaskuläre Os-
hinaus die Qualität des kortikalen Ulnaknochentransplantats und metatarsale-II-Knochentransplantat nur als Therapie der 3. Wahl
dessen Vaskularisation als nicht sehr hochwertig angesehen werden in Frage. Bei Hautdefekten mit zusätzlichen Defekten mehrerer
können. . Metakarpal- oder Karpalknochen empfiehlt sich bei ersatzschwa-
Ist eine distal gestielte osteokutane Lappenplastik aus dem chem und ersatzunfähigem Lager in erster Linie das segmentierte
Unterarmbereich nicht möglich, muss als Nächstes die Möglichkeit freie mikrovaskuläre Fibula-Diaphysen-Trasnsplantat nach Ueba
einer freien mikrovaskulären osteokutanen Lappenplastik geprüft ( Kap. 9.2.12) oder das freie mikrovaskuläre vordere Beckenkamm-
werden. Bei Knochendefekten, die neben dem Hautdefekt nur Knochentransplantat nach Taylor ( Übersicht).
934 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
a b c
d e f g
⊡ Abb. 35.12 Deckung eines Defektes nach Resektion eines malignen Melanoms im radialen Hohlhandbereich mithilfe eines Vollhauttransplantats. a Klinischer
Aspekt nach Tumorresektion: Es besteht ein »ersatzstarkes Lager« mit Muskulatur im Defektgrund. b Klinischer Befund nach einnähen des Vollhauttransplantats.
Durch die pfeilförmige Ausziehung des Vollhauttransplantats im Bereich der 1. Zwischenfingerfalte,wird zuverlässig eine postoperative narbenbedingte Be-
wegungseinschränkung im Bereich der 1. Kommissur vermieden. c Klinischer Befund nach Fixierung des Hauttransplantats mithilfe eines Überknüpfverbands,
d klinischer Befund der Nachbehandlung mithilfe einer C-förmigen Nachtschiene für etwa 6 Monate, e ästhetisches und funktionelles Ergebnis 1 Jahr nach
Operation: Ansicht von palmar, f ästhetisches und funktionelles Ergebnis 1 Jahr nach Operation: »Kommissurenblick«, g ästhetisches und funktionelles Ergebnis
1 Jahr nach Operation: Ansicht von radial
Neben den konventionellen Z-Plastiken haben die Esser-Emmet- fektes ist diese Lappenplastik bevorzugt auch bei Frauen einzuset-
Lappen mit Subkutisstiel die speziellen Erfordernisse am besten zen ( Abschn. 35.2.9).
erfüllt. In der zentralen Region sind jedoch auch diese nicht an- Bei Defekten im Bereich des zentralen Hohlhanddreiecks mit
wendbar. Kleinere Defekte in der zentralen Region können durch Exposition von Gefäßen und Nerven sowie Beugesehnen sollte
konventionelle Transpositionslappen mit Verschluss der Spender- primär an die Transposition einer vollhautgedeckten M.-abductor-
stelle mithilfe eines Vollhautttransplantats (»Prinzip der Kombina- digiti-minimi-Lappenplastik nach Huber bzw. Nicolaysen oder an
tion von mehreren Techniken«) gedeckt werden. die M.-abductor-pollicis-brevis-Lappenplastik nach Mathes und
Nahai ( Abschn. 8.2.1) gedacht werden.
Defekte >1 cm Durchmesser Bei ausgeprägtem Narbengewebe, z. B. bei Zuständen nach
z Defekte von der Rascetta bis zur proximalen Hohlhand- mehrmaliger Revision des Karpalkanales, Exposition des N. medi-
furche anus oder synovektomierten Beugesehnen muss der Hautdefekt im
Die Wahl der Lappenplastik ist hauptsächlich abhängig von der Karpaltunnelbereich mit einer vaskularisierten Lappenplastik gedeckt
Lokalisation und Größe des Hautdefektes. werden. Zur Abpolsterung und Revaskularisierung des N. medianus
Bei Defekten im Bereich der Hypothenareminenz bietet die ul- im Handgelenkbereich stellt die Synoviallappenplastik nach Wulle
nodorsale sensible Handrücken-Transpositionslappenplastik nach (⊡ Abb. 35.6) die Therapie der 1. Wahl dar. Ist diese Lappenplastik
Pieper eine einfache Möglichkeit der sensiblen Defektdeckung. nach Mehrfacheingriffen nicht mehr zuverlässig möglich, dann sollte
Aufgrund der hohen mechanischen Beanspruchbarkeit und der als Nächstes die Hypothenar-Fettlappenplastik nach Cremer ( Ab-
guten Sensibilität erscheinen der große Spenderdefekt am Handrü- schn. 8.2.1) gewählt werden. Wegen des funktionellen Spenderdefek-
cken und der Sensibilitätsverlust der ulnaren dorsalen Fingerseite, tes kann die M.-abductor-pollicis-brevis-Lappenplastik nach Mathes
vor allem bei Handarbeitern, gerechtfertigt. Wegen des großen und Nahai ( Abschn. 8.2.1) kombiniert mit einer Vollhauttransplan-
ästhetischen Spenderdefektes sollte diese Lappenplastik bei Frauen tation, nur als letzte Therapiemöglichkeit angesehen werden. Bei De-
nicht eingesetzt werden. Da keine sensible Deckung möglich ist, fekten, die auch die palmare Handgelenkregion mitbetreffen ist die
stellt die ulnodorsale Lappenplastik nach Becker und Gilbert bei ulnodorsale Perforatorlappenplastik nach Becker bzw. Gilbert ( Ab-
ulnar begrenzten Hohlhanddefekten die Therapie der 2. Wahl bei schn. 8.2.1) die Therapie der 1. Wahl. Als Therapie der 2. Wahl kann
Handarbeitern dar. Wegen des geringeren ästhetischen Spenderde- die M.-pronator-quadratus-Lappenplastik nach Dellon u. Mackinnon
936 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
a b c d
⊡ Abb. 35.13 Deckung eines ulnaren Defektes im Bereich der Hohlhand mithilfe eines radialen neurokutan gestielten Unterarmlappens nach Bertelli. a Klinischer
Aspekt präoperativ, b Präparation des N. cutaneus antebrachii lateralis als Gefäßachse, c klinischer Aspekt nach Lappenhebung und Öffnen der Blutsperre, d klini-
scher Aspekt postoperativ
M. interosseus dors. 1
Defekte im palmaren Metakarpophalangealbereich
▬ Cheiroplastik
▬ Laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell
▬ Dorsale Fähnchenlappenplastik nach Vilain
▬ »Seagull-flap«
▬ Laterale Insellappenplastik nach Rose
▬ Distal gestielte Lappenplastik nach Koshima
– Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Kom- – Palmar gefäßgestielte Transpositionslappenplastik nach
missurenrandes und der palmaren Kommissurenplatte Vasconez
– Defekte beider Kommissurenplatten der Interdigitalfalte – Distal gestielte A.-interossea-posterior-Faszienlappenplas-
(Syndaktylie) tik nach Penteado bzw. Zancolli
▬ Über die Kommissur hinausgehende Defekte – Distal gestielte A.-radialis-Faszienlappenplastik nach Stock
– Mehrdimensionale Defekte des distalen Kommissurenran- – Laterale Oberarm-Faszienlappenplastik nach Song
des und der dorsalen Kommissurenplatte in Kombination – Freie mikrovaskuläre A.-radialis-lappenplastik nach Yang
mit ausgedehnten Handrücken- und proximalen Daumen- – Doppelte Dreieckslappenplastik nach Bonola u. Fiocchi
grundglieddefekten (Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier)
– mehrdimensionale Defekte des distalen Kommissurenran- – Leistenlappenplastik nach McGregor (Lambeau-greffe-
des und der palmaren Kommissurenplatte in Kombination Technik nach Colson u. Janvier)
mit ausgedehnten Hohlhand- und proximalen Daumen- – Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Lambeau-greffe-
grundglieddefekten Technik nach Colson u. Janvier)
▬ Komplette Syndaktylie
– Cheiroplastik
– Kontinuierliche Hautexpansion nach Radovan
Auf die Kommissur beschränkte Defekte
– Kontinuierliche Weichteildistraktion nach Messina bzw.
Ilizarov
Differenzialtherapie bei auf die Kommissur beschränkten – Dorsale Lappenplastik nach Bauer (+ Vollhauttransplantation)
Defekten im Bereich der 1. Kommissur – Palmare Lappenplastik nach Blauth und Schneider-Sickert
Linearer Narbenzug im Bereich des distalen Randes der (+ Vollhauttransplantation)
1. Kommissur – Kombinierte palmare und dorsale Lappenplastik nach Cro-
▬ Zwei-Lappen-Z-Plastik nach Horner nin (+ Vollhauttransplantation)
▬ Vier-Lappen-Z-Plastik nach Woolf u. Broadbent – Distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach
Penteado bzw. Zancolli
Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes – Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock
und der dorsalen Kommissurenplatte der 1. Kommissur – Laterale Oberarm-Faszienlappenplastik nach Song
▬ Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz – Freie mikrovaskuläre A.-radialis-lappenplastik nach Yang
▬ Vollhauttransplantation (mitteldicke Spalthauttransplanta- – Freier M.-gracilis-Lappen, kombiniert mit einem Hauttrans-
tion) plantat
▬ A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt – Freier (funktioneller) M.-serratus-anterior-Lappenplastik
▬ Rotationslappenplastik nach Riordan nach Takayanagi und Tsukie, kombiniert mit einem Haut-
transplantat
Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes – Freie (funktionelle) M.-pectoralis-minor-Lappenplastik ,
und der palmaren Kommissurenplatte der 1. Kommissur kombiniert mit einem Hauttransplantat
▬ Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz – Doppelte Dreieckslappenplastik nach Bonola und Fiocchi
▬ Vollhaut-Transplantation (mitteldicke Spalthaut-Transplanta- (Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier)
tion) – Leistenlappenplastik nach McGregor (Lambeau-greffe-
▬ palmar gefäßgestielte Transpositionslappenplastik nach Technik nach Colson u. Janvier)
Vasconez – Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Lambeau-greffe-
Technik nach Colson u. Janvier)
Defekte beider Platten der 1. Kommissur
▬ Partielle Syndaktylie
– Cheiroplastik Linearer Narbenzug im Bereich des distalen Randes der
– (Kontinuierliche Hautexpansion nach Radovan) 1. Kommissur
– (Kontinuierliche Weichteilextension) Besteht nur ein linearer Narbenzug im Bereich des distalen Randes
– Vollhauttransplantation (mitteldicke Spalthauttransplanta- der 1. Kommissur, so wird kein Hautersatz, sondern nur eine
tion) Hautverlängerung benötigt und die Z-Plastik stellt das Verfahren
– Drei-Lappen-Transpositionsplastik nach Schneider der Wahl dar. Da bei der Zwei-Lappen-Z-Plastik meist nur eine V-
(+ Vollhauttransplantat) förmige Zwischenfingerfalte wiederhergestellt werden kann, sollte
– Schmetterlingslappenplastik nach Shaw (+ Vollhauttrans- die Vier-Lappen-Z-Plastik nach Woolf und Broadbent bevorzugt
plantat) eingesetzt werden. Nur bei ausgeprägten Vernarbungen der tiefe-
– Dorsopalmare Transpositionslappenplastik nach Flatt ren Strukturen sollte wegen des erhöhten Risikos einer Lappen-
(+ Vollhauttransplantat) nekrose der vier kleinen Hautlappen die Zwei-Lappen-Z-Plastik
– A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt vorgezogen werden ( Abschn. 35.2.2, Differenzialtherapie bei auf
– Rotationslappenplastik nach Riordan die Kommissur beschränkte Defekte im Bereich der 1. Kommissur).
– Dorsale Daumen-Transpositionslappenplastik nach
Spinner Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes
– Radiolaterale Zeigefinger-Transpositionslappenplastik und der dorsalen Kommissurenplatte der 1. Kommissur
▼ nach Spinner Ist zusätzlich zum distalen Kommissurenrand auch die dorsale
Kommissurenplatte narbig verändert, besteht also ein mehrdi-
940 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
mensionaler Defekt, so ist ein Hautersatz notwendig. Bei isolier- ierenden Zeigefingers (Cheiroplastik) nach dem Gewebebankkon-
ten Defektzuständen der Interdigitalfalte ohne Notwendigkeit des zept nach Chase zu denken.
Hautersatzes im Handrückenbereich sollte primär an die Möglich- Die kontinuierliche Hautexpansion nach Radovan oder die
keit einer lokalen Lappenplastik aus der unmittelbaren Umgebung kontinuierliche Weichteilextension der 1. Kommissur nach Wen-
gedacht werden, eventuell kombiniert mit einem Hauttransplantat. ner u. Shalvoy oder nach Epping stellen Therapieverfahren dar, die
Bei einem kleinen Hautdefekt stellt die Trident-Lappenplastik nach nur in ausgesuchten, gut planbaren Fällen bei Patienten mit hoher
Glicenstein bzw. Hirshowitz ( Abschn. 35.2.3) die Therapie der Compliance eingesetzt werden sollten. In der Notfallsituation sind
1. Wahl dar. Zeigt sich nach Auflösung der Kontraktur ein deutli- sie kontraindiziert. Aufgrund der langen Therapiedauer und der
cher Hautdefekt, so muss zunächst geprüft werden, ob dieser mit noch hohen Komplikationsrate werden diese Verfahren zurzeit nur
einem freien Hauttransplantat gedeckt werden kann. Wegen der zurückhaltend eingesetzt.
Schrumpfungsneigung des Transplantats und der damit verbun- Wie bei allen Hautdefekten an der Hand sollte primär untersucht
denen Funktionseinbuße sollte die Indikation zur vaskularisierten werden, ob der Defekt nicht mit einem freien Hauttransplantat ge-
Lappenplastik großzügig gestellt werden. Bei auf die 1. Kommissur deckt werden kann. Wegen der Gefahr der sekundären Retraktion
begrenzten, dorsalen Hautdefekten kann in vielen Fällen durch sollte eine einfache Hauttransplantation im Kommissurenbereich
Kombination einer lokalen Lappenplastik mit einem mitteldicken nur in Ausnahmefällen, wie z. B. bei ausgezeichneter Vaskularisa-
Spalthauttransplantat ein funktionell und ästhetisch gutes Ergebnis tion oder bei kritischem Patientenzustand, und dann mit einem
erzielt werden. Bei Erwachsenen stellt die A.-metacarpalis-dorsa- möglichst dicken ovalen Hauttransplantat durchgeführt werden,
lis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt die Therapie der 1. Wahl dar wobei sowohl ein Vollhaut- als auch ein dickes Spalthauttransplan-
( Abschn. 35.2.4) tat in Frage kommt. In der Praxis führt dies zu einigen Nachteilen.
Da bei Kleinkindern oft kein zusätzliches Hauttransplantat Der Defektgrund ist häufig unregelmäßig ausgebildet, besonders
zum Verschluss des Spenderdefektes benötigt wird, sollte bei dieser wenn der M. adductor pollicis und der M. interosseus palmaris I
Patientengruppe die Rotationslappenplastik nach Riordan bevor- reseziert wurden. Auch eine Schienenversorgung ist nicht risikolos,
zugt werden, während sie bei Erwachsenen wegen der ausgedehn- da Druck auf ein desensibilisiertes Gebiet zu Nekrosen führen kann.
teren Präparation die Therapie der 2. Wahl darstellt. Der Einsatz von Kirschner-Drähten zwischen den Metakarpalia
oder als externe Fixation verzögert den Beginn der Physiotherapie
Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes und kann zur Einsteifung in der neuen Position führen.
und der palmaren Kommissurenplatte der 1. Kommissur Ist eine freie Hauttransplantation nicht möglich, so bestimmt
35 Bei mehrdimensionalen Defekten im Bereich des distalen Randes bei Vorliegen einer partiellen kutanen Syndaktylie die Qualität
der 1. Kommissur und der palmaren Kommissurenplatte ohne der dorsalen Haut im Kommissurenbereich die Wahl der vaskula-
Notwendigkeit des Hautersatzes im Handrückenbereich sollte risierten Lappenplastik. Bei intakter Haut stellt die Drei-Lappen-
primär an die Möglichkeit einer lokalen Lappenplastik aus der Transpositionsplastik nach Schneider und Vaubel die Therapie der
unmittelbaren Umgebung, eventuell kombiniert mit einem Haut- Wahl dar. Als Therapie der 2. Wahl hat sich die Schmetterlingslap-
transplantat, gedacht werden. Bei nur kleinem Hautdefekt stellt penplastik nach Shaw, als Therapie der 3.WAHL die dorsopalmare
die Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz ( Ab- Transpositionslappenplastik nach Flatt bewährt. Zur Vermeidung
schn. 35.2.3) die Therapie der 1. Wahl dar. eines Syndaktylierezidivs durch sekundären Narbenzug (»web
Zeigt sich nach Auflösung der Kontraktur ein deutlicher Haut- creeping«) sollte bei allen drei Lappenplastiken die Indikation zur
defekt, so muss zunächst geprüft werden, ob dieser mit einem zusätzlichen Vollhauttransplantation großzügig gestellt werden.
freien Hauttransplantat gedeckt werden kann. Dies ist der Fall, Ist die Haut im Syndaktyliebereich pathologisch verändert, so
wenn keine wichtigen Strukturen, wie Gefäße, Nerven, Sehnen sollte der Hautersatz durch lokale Lappenplastiken erfolgen. Die
oder Knochen, exponiert sind. In der Akutsituation kann zur De- A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt ( Ab-
fektdeckung ein mitteldickes Spalthauttransplantat verwendet wer- schn. 35.2.4) stellt bei Erwachsenen die Therapie der 1. Wahl dar.
den. Bei sekundären Hautdefektrekonstruktionen sollte wegen der Da bei Kleinkindern oft kein zusätzliches Hauttransplantat zum
geringeren Schrumpfungsneigung unbedingt ein Vollhauttrans- Verschluss des Spenderdefektes benötigt wird, empfiehlt es sich,
plantat benützt werden. Ist eine Defektdeckung mit einem freien die Rotationslappenplastik nach Riordan als Therapie der 1. Wahl
Hauttransplantat nicht möglich, so kommt eine vaskularisierte einzusetzen. Bei Erwachsenen dagegen kommt diese Lappenplastik
Lappenplastik alleine oder in Kombination mit einem freien Haut- wegen der ausgedehnteren Präparation nur sekundär in Frage.
transplantat in Frage. Zur Deckung von ausschließlich palmaren Wegen des großen ästhetischen Spenderdefektes stellt die dorsale
Defekten hat sich die palmar gefäßgestielte Transpositionslappen- Daumen-Transpositionslappenplastik nach Spinner die Therapie
plastik nach Vasconez bewährt. der 3. Wahl dar. Aufgrund der großen Bedeutung der lateralen
Zeigefingerfläche für den Schlüsselgriff sollte die radiolaterale
Defekte beider Platten der 1. Kommissur Zeigefinger-Transpositionslappenplastik nach Spinner nur dann
Bei gleichzeitigen Defekten an beiden Platten der 1. Kommissur erwogen werden, wenn keine anderen lokalen Lappenplastiken zur
besteht meist das Bild einer einfachen kutanen Syndaktylie. Reicht Verfügung stehen.
der distale Rand der 1. Kommissur bis in Höhe des IP-Gelenks, Ist auch die Haut im gesamten Handrückenbereich pathologisch
spricht man von einer partiellen kutanen Syndaktylie. Erstreckt verändert, so kann eine lokale Defektdeckung im Kommissurenbe-
sich die Syndaktylie nach distal über das IP-Gelenk hinaus, so be- reich nur noch durch die palmar gefäßgestielte Transpositionslap-
steht eine komplette kutane Syndaktylie. penplastik nach Vasconez erfolgen. Wegen des großen funktionellen
Spenderdefektes sollte in dieser Situation vor allem bei Handarbei-
Partielle Syndaktylie im Bereich der 1. Kommissur tern auf andere lokale Lappenplastiken aus dem Unterarmbereich
Bei angeborenen Fehlbildungen und polydigitalen Handverletzun- eingesetzt werden. Therapie der 1. Wahl für komplette Defekte im
gen im Kommissurenbereich ist immer an die Möglichkeit der Bereich der 1. Kommissur ist die distal gestielte A.-interossea poste-
Defektdeckung durch Hautgewebe eines nicht mehr zu rekonstru- rior-Lappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli (⊡ Abb. 35.16).
35.1 · Allgemeines
941 35
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⊡ Abb. 35.16 Deckung eines Hautdefektes im Bereich der 1. Kommissur nach Auflösung einer posttraumatischen Adduktionskontraktur mithilfe einer distal
gestielten A.-interossea-Lappenplastik. a Präoperativer Röntgenbefund, b postoperativer Röntgenbefund nach Kommissurolyse und temporärer Fixierung
mithilfe von 2 parallelen Kirschner-Drähten, c postoperativer klinischer Aspekt: Spendergebiet, d postoperativer klinischer Aspekt: Empfängergebiet, e Funk-
tion 3 Monate postoperativ: Fingerstreckung, f Funktion 3 Monate postoperativ: Faustschluss
Bestehen Kontraindikationen zur A.-interossea-posterior-Lap- Wenn möglich, sollten alle genannten Fernlappenplastiken in der
penplastik stellt die distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier gehoben werden.
Stock ( Abschn. 35.2.10) die Therapie der nächsten Wahl dar.
Bei Zuständen nach ausgedehnten Verbrennungen und be- Komplette Syndaktylie im Bereich der 1. Kommissur
stimmten posttraumatischen Situationen, besonders wenn sowohl Für die Behandlung der seltenen kompletten Syndaktylieformen
lokale als auch distal gestielte Lappen vom Unterarm nicht in Frage im Bereich der 1. Kommissur gelten mit geringen Ausnahmen die
kommen, müssen Hautlappenplastiken von entfernteren Körper- gleichen Richtlinien wie für die Therapie der kompletten Syndak-
regionen eingesetzt werden. Wegen der geringeren postoperativen tylien im Fingerbereich ( Differenzialtherapie bei Defekten beider
Belastung für den Patienten sollte zunächst an freie mikrovaskuläre Platten der 2.–4. Kommissur).
Lappenplastiken gedacht werden, da diese keine Immobilisierung
der operierten Extremität erfordern und eine frühzeitige Übungs- Über die Kommissur hinausgehende Defekte
therapie erlauben. Wegen des geringeren Spenderdefektes sollte die Mehrdimensionale Defekte des distalen Randes der
laterale Oberarmlappenplastik nach Song der freien mikrovaskulä- 1. Kommissur und der dorsalen Kommissurenplatte in
ren A.-radialis-Lappenplastik nach Yang vorgezogen werden. Bei Kombination mit ausgedehnten Handrücken- und
sehr adipösen Patienten kann wiederum eine freie mikrovaskuläre proximalen Grundglieddefekten des Daumens
Faszienlappenplastik eingebracht und mit einem Voll- oder zumin- Setzt sich der komplexe Kommissurendefekt auch auf den Handrü-
dest einem dicken Spalthauttransplantat gedeckt werden. cken und auf das dorsale Daumengrundglied fort, so sollte primär
Bestehen Kontraindikationen für eine freie mikrovaskuläre geprüft werden, ob eine freie Vollhauttransplantation durchgeführt
Lappenplastik, so müssen bei sehr großen Defekten Fernlap- werden kann. Wenn dies nicht möglich ist, so muss die Defektde-
penplastiken eingesetzt werden. Wegen der weiten Öffnung der ckung mit einer vaskularisierten Lappenplastik erfolgen. Bei Hand-
1. Kommissur während der Immobilisierungszeit hat sich als Va- rückendefekten mit Beteiligung der 1. Kommissur sollte zuerst
riante der Cross-arm-Lappenplastik die doppelte Dreieckslappen- geprüft werden, ob gefäßgestielte Lappenplastiken aus dem Un-
plastik nach Bonola und Fiocchi als Therapie der 1. Wahl erwie- terarmbereich möglich sind. Bei Defekten, die kleiner als 6×15 cm
sen. Weitere therapeutische Optionen sind die Leistenlappenplas- sind, hat sich die distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappen-
tik nach McGregor und die Bauchhautlappenplastik nach Zoltan. plastik nach Penteado bzw. Zancolli als erfolgreich erwiesen. Ist die
942 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Differenzialtherapie bei dorsalen oder palmaren Kombinierte palmare und dorsale Grundglieddefekte
Grundglieddefekten des Daumens Bei komplexen Handverletzungen sollte immer an die Möglichkeit
▬ Heterotoper Gewebetransfer aus dem Handbereich der Defektdeckung mithilfe des Hautmantels eines oder mehrerer
▬ Freie Hauttransplantation nicht mehr zu rekonstruierender Finger im Sinne des Gewebe-
▬ A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt bankkonzeptes nach Chase gedacht werden.
▬ Dorsale Mittelphalanx-Insellappenplastik nach Büchler u. Frey Bei diesen partiellen Ringfingertypverletzungen mit erhalte-
▬ Distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach ner Hautdeckung im Endgliedbereich ist zunächst zu prüfen, ob
Penteado bzw. Zancolli zumindest eine Seite mit einem mitteldicken Spalthauttransplan-
▬ Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock tat gedeckt werden kann. Lässt sich nur eine Seite decken, muss
▬ Freie venöse Lappenplastik nach Yoshimura die Gegenseite nach den oben beschriebenen Richtlinien für die
▬ Cross-arm-Lappenplastik nach McCash (Lambeau-greffe- palmare bzw. dorsale Grundgliedhautdeckung (s. oben) behandelt
Technik nach Colson u. Janvier) werden.
▬ Leistenlappenplastik nach McGregor (Lambeau-greffe-Tech- Ist keine freie Hauttransplantation möglich, so muss eine vas-
nik nach Colson u. Janvier) kularisierte Lappenplastik angewandt werden. Als erstes ist hier
▬ Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Lambeau-greffe-Tech- an die Möglichkeit einer Kombination aus einer A.-metacarpalis-
nik nach Colson u. Janvier) dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt und einer dorsalen Mit-
telphalanx-Insellappenplastik nach Büchler u. Frey zu denken. Die
Kombination aus distal gestielter A.-radialis-Faszienlappenplastik
Dorsale Grundglieddefekte nach Stock und einer mitteldicken Spalthautdeckung kann eine
Wie bei den palmaren Hautdefekten im Grundgliedbereich ist komplette Defektdeckung mit einer lokalen Lappenplastik ermög-
auch bei den dorsalen Defekten am Grundglied primär zu prüfen, lichen.
ob der Defekt mit einem freien mitteldicken Spalthauttransplantat Bestehen Kontraindikationen für diesen Weg, so muss auf eine
gedeckt werden kann. Dies ist der Fall, wenn das Peritendineum im Fernlappenplastik zurückgegriffen werden. Um die Mobilität im
Bereich der Strecksehne(n) intakt ist. Bereich des 1. Strahles möglichst wenig zu beeinträchtigen, sollte
Bei zusätzlicher Strecksehnenverletzung oder bei einer Fraktur eine freie mikrovaskuläre Gewebetransplantation bevorzugt wer-
muss der Defekt mit einer vaskularisierten Lappenplastik gedeckt den. Die freie mikrovaskuläre A.-temporalis-Faszienlappenplastik
werden. Als Therapie der 1. Wahl haben sich die Lappenplas- nach Smith – kombiniert mit einem mitteldicken Spalthauttrans-
tiken aus dem Versorgungsgebiet der A. metacarpalis dorsalis I plantat – stellt dabei die Therapie der 1. Wahl dar. Bei dünnem
nach Hilgenfeldt bewährt. Bei rein auf das Grundglied begrenzten subkutanem Fettgewebe können auch die freie mikrovaskuläre
Defekten sollte die A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach laterale Oberarmlappenplastik nach Song oder die freie mikrovas-
Hilgenfeldt in der Cerf-volant-Variante nach Foucher u. Braun kuläre A.-radialis-Lappenplastik nach Yang angewandt werden.
944 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
M. interosseus
dorsalis I
A. metacarpalis
dorsalis I
a c
b
35
d e f g
⊡ Abb. 35.18 Deckung eines dorsalen Grundglieddefektes mithilfe einer neurovaskulär gestielten Metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik (»cerf volant«) nach
Foucher. a Klinischer Befund präoperativ, b Schema: Anatomie und Lappenplanung (aus Berger u. Hierner 2008), c klinischer Befund nach Débridement und
MP-I-Arthrodese sowie Lappenplanung, d klinischer Befund nach Lappenhebung, e klinischer Befund nach Lappentransposition und Deckung des Spen-
derdefektes mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der Leiste, f funktionelles Ergebnis 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung, g funktionelles Ergebnis 1 Jahr
postoperativ: Kapandji 6/10 (kontralateral 8/10)
a b c
d e f g
⊡ Abb. 35.19 Deckung eines kombinierten palmaren Grundglied- und Endglieddefektes nach Infekt mithilfe einer A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik
(»cerf volant«) nach Hilgenfeldt. a Klinischer Befund präoperativ, b klinischer Befund nach Débridement und Lappenplanung, c klinischer Befund nach Lap-
penhebung, d klinischer Befund 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung (Ansicht von dorsal), e klinischer Befund 1 Jahr postoperativ: kompletter Faustschluss
(Ansicht von frontal), f klinischer Befund 1 Jahr postoperativ: palmare Weichteildeckung im Grund- und Endgliedbereich (Ansicht von palmar), g klinischer
Befund 1 Jahr postoperativ: palmare Weichteildeckung im Grund- und Endgliedbereich (Ansicht von radial)
Abhängig von Defekttiefe und Patientenalter können verschie- kann. Nach Michon können im dorsalen Daumenbereich 5 funktio-
dene Therapieverfahren zum Einsatz kommen. Bei oberflächlichen nelle Einheiten der Hand unterschieden werden. Wegen der besonde-
Defekten ohne Exposition von Sehnen, Gefäßen, Nerven oder Kno- ren Beanspruchung bei Beugung sollte die Hautoberfläche oberhalb
chen kann eine freie Hauttransplantation durchgeführt werden. des MP- und IP-Gelenks bevorzugt mit einem Vollhauttransplantat
In der Akutsituation empfiehlt sich der Einsatz eines mitteldicken ersetzt werden. Ist eine einfache Hauttransplantation nicht möglich
Spalthauttransplantates, bei sekundärer Rekonstruktion – wenn oder wurde Letztere nur ungenügend aus dem Defektlager rein-
möglich – ein Vollhauttransplantat, womit sich vor allem bei Kin- nerviert, so muss eine vaskularisierte Lappenplastik durchgeführt
dern gute ästhetische und funktionelle Ergebnisse erzielen lassen. werden. Bezüglich der Rekonstruktionsmöglichkeiten des Nagelkom-
Ist eine einfache Hauttransplantation nicht möglich, so muss für plexes im dorsalen Endgliedbereich gelten die in Kap. 38 beschrie-
den Fingerkuppenanteil eine sensible Ersatzoperation ( Kap. 38) benen Richtlinien. Der Grundgliedbereich wird dabei nach den für
und für den restlichen Defekt eine vaskularisierte Lappenplastik diesen Bereich beschriebenen Richtlinien versorgt (s. oben).
durchgeführt werden. Der Grundgliedbereich wird dabei nach den Ist eine freie Hauttransplantation wegen Fehlens des Peritendi-
für diesen Bereich beschriebenen Richtlinien versorgt (s. oben). neums oder wegen zusätzlicher Sehnen- und/oder Knochenverletzun-
Die Therapie der 1. Wahl stellt die A.-metacarpalis-dorsalis-I- gen nicht durchzuführen, so stellt die proximal hautgestielte A.-meta-
Lappenplastik nach Hilgenfeldt dar, da mit dieser Lappenplastik carpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt ( Abschn. 35.2.4)
sowohl der Grundglieddefekt bedeckt, als auch der Endglieddefekt die Therapie der 1. Wahl dar. Ist ihr Einsatz nicht möglich, so sollte
funktionell rekonstruiert werden kann (⊡ Abb. 35.20). als Nächstes an die distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach
Stock gedacht werden. Bei dicker Subkutanschicht im Unterarmbe-
z Kombinierte dorsale Grundglied- und Endglieddefekte reich kann eine Faszienlappenplastik in Kombination mit einer mit
Bei komplexen Handverletzungen sollte immer an die Möglichkeit einem mitteldicken Spalthauttransplantat eingesetzt werden.
der Defektdeckung mithilfe des Hautmantels eines oder mehrerer Bestehen Kontraindikationen für die A.-radialis-Lappenplastik,
nicht mehr zu rekonstruierender Finger im Sinne des Gewebe- so muss als Nächstes an eine Fernlappenplastik gedacht werden.
bankkonzeptes nach Chase gedacht werden. Um die Beweglichkeit des Daumenstrahles möglichst wenig zu
Auch bei dorsalen Hautdefekten, die Grund- und Endglied ge- beeinträchtigen, sollte zunächst eine freie mikrovaskuläre Lap-
meinsam betreffen, ist als Erstes zu prüfen, ob eine Deckung mit penplastik in Erwägung gezogen werden. Bei der Auswahl der
einem freien mitteldicken Spalthauttransplantat durchgeführt werden Lappenplastik ist dabei vor allem auf die Lappendicke zu achten,
946 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
um neben einem guten funktionellen auch ein möglichst gutes Ist eine distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nicht einsetzbar,
ästhetisches Ergebnis erzielen zu können. Bei dünner subkutaner so muss eine Fernlappenplastik durchgeführt werden. Wegen des gut
Fettschicht im Oberarmbereich sollte die freie mikrovaskuläre la- versteckten Spenderdefektes an der medialen Oberarmseite sollte als
terale Oberarmlappenplastik nach Song gewählt werden. Ist diese Nächstes an eine Cross-arm-Lappenplastik nach McCash gedacht
Entnahmestelle nicht geeignet, so stellt die A.-temporalis-Faszi- werden. Ist auch diese nicht möglich, so stellt die laterale Oberarm-
enlappenplastik nach Smith – kombiniert mit einem mitteldicken lappenplastik nach Song in der uni- oder bipedikulär hautgestielten
Spalthauttransplantat – die nächstbeste Therapiemöglichkeit dar. Variante die nächste Therapiemöglichkeit dar. Wegen des großen
Schließlich kann auch die freie mikrovaskuläre kontralaterale A.- ästhetischen Spenderdefektes sollte letztere Technik bei Frauen nicht
radialis-Faszienlappenplastik nach Yang – kombiniert mit einem eingesetzt werden. Hier steht als weitere Therapiemöglichkeit die
mitteldicken Spalthauttransplantat – eingesetzt werden. Leistenlappenplastik nach McGregor zur Auswahl. Neben der Mög-
Ist eine freie mikrovaskuläre Lappenplastik nicht möglich oder lichkeit der frühzeitigen krankengymnastischen Übungsbehandlung
gewünscht, so stellt die gestielte Cross-arm-Lappenplastik nach erleichtert dieses Verfahren aufgrund eines gewissen Gewebeüberschus-
McCash in der Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier die ses jede sekundäre sensible Ersatzoperation. Bei dicker subkuta-
Therapie der Wahl dar. Reicht der Hautdefekt proximal über das ner Fettschicht im Leistenbereich sollte wegen des zu erwartenden
MP-I-Gelenk hinaus, so kann mit der Cross-arm-Lappenplastik schlechten funktionellen und ästhetischen Ergebnisses ein anderes
keine ausreichende Weichteildeckung erreicht werden. In diesen Fäl- Verfahren herangezogen werden. Bei mäßig dicker Fettschicht emp-
len ist die Bauchhautlappenplastik nach Zoltan oder die Leisten- fiehlt sich auch im Leistenbereich das Lambeau-greffe-Prinzip. Ist
lappenplastik nach McGregor ( Abschn. 35.2.11) indiziert. Beide eine Leistenlappenplastik z. B. wegen vorhergegangener Operationen
letztgenannten Lappenplastiken sollten in der Lambeau-greffe- nicht möglich oder nicht erwünscht, so steht als Nächstes die Bauch-
Technik nach Colson u. Janvier angewandt werden. hautlappenplastik nach Zoltan zur Diskussion. Wegen des großen
Spenderdefektes ist dieses Verfahren nur ausnahmsweise einzusetzen.
z Kombinierte palmare und dorsale Grundglied- und In der Akutsituation kann bei personellen und/oder materiellen Eng-
Endglieddefekte (»Ringfingertypverletzung«) pässen nach Versorgung der geschädigten Strukturen im Sinne eines
Partielle oder komplette palmare und dorsale Grund- und End- physiologischen Verbandes temporär eine Vakuumversiegelung nach
glieddefekte sind meist entweder Folge einer Avulsionsverletzung Fleischmann durchgeführt werden. Die definitive Weichteildeckung
vom Ringfingertyp oder eines Verbrennungs- bzw. Verbrühungs- sollte aber so bald wie möglich angeschlossen werden. Die sekundäre
traumas. Neben der einfachen Defektdeckung sollte auch bei die- sensible Ersatzoperation erfolgt nach den Richtlinien der schräg nach
35 sen Defekten vor allem die Wiederherstellung der Sensibilität im palmar verlaufenden Defekte der Zone 4 ( Kap. 38).
Kuppenbereich im Vordergrund stehen. Ist die Endphalanx nicht mehr durchblutet, so sollte zur Erhal-
In jedem Fall muss bei einer Avulsionsverletzung eine Replan- tung der maximalen Länge des Daumens sofort eine Weichteilde-
tation erwogen werden. Wegen der meist bestehenden lokalen ckung mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik zur Re- bzw.
Gefäßschädigung hat sich der Einsatz von Veneninterponaten be- Neovaskularisierung des Knochens durchgeführt werden. Die De-
währt. Bei Nervendefekten sollte sekundär nach 3–6 Monaten eine fektdeckung erfolgt nach den obengenannten Richtlinien. Bei Verlust
Nerventransplantation erfolgen. der Endphalanx sollte darauf geachtet werden, dass die Beuge- und
Ist eine Replantation nicht möglich, so müssen in einem nächs- Strecksehnenansätze im Bereich des Grundgliedes erhalten bleiben,
ten Schritt die distalen Durchblutungsverhältnisse der Skelettanteile um eine möglichst große Restbeweglichkeit zu erhalten. Wird nur
überprüft werden. Eine ausreichende Durchblutung des Endgliedes eine Weichteildeckung durchgeführt, so können neben den oben be-
ist sichergestellt, wenn der Nachweis kapillär periostaler Blutun- schriebenen noch weitere Rekonstruktionstechniken eingesetzt wer-
gen geführt werden kann. Liegen gute Durchblutungsverhältnisse den. So kann etwa bei einer Akutversorgung des Daumenstumpfes
(ersatzstarkes Lager) vor, muss als Nächstes geprüft werden, ob zu- mit einer Vakuumversiegelung nach Fleischmann als Nächstes die
mindest dorsal ein freies mitteldickes Spalthauttransplantat benützt Crane-flap-Technik nach Millard angewandt werden, da in diesem
werden kann. Dies erscheint zielführend, wenn dorsal das Periten- Fall auf die IP-Gelenk-Funktion nicht mehr Rücksicht genommen
dineum intakt ist und palmar Gefäße, Nerven sowie die Beugesehne werden muss. Alternativ kann auch noch auf die Reverse-dermis-
noch ausreichend bedeckt sind. In günstigen Fällen, vor allem bei flap-Technik nach Hynes aus dem Bauchhautbereich zurückgegrif-
Kindern, kann eine ausreichende Sensibilität durch Resensibili- fen werden. Zur Herstellung der Sensibilität im Fingerendbereich ist
sierung des Hauttransplantates aus dem Empfängergebiet erreicht wiederum eine sensible Ersatzoperation wie bei schräg nach palmar
werden. Bei ungenügender Resensibilisierung im palmaren End- verlaufenden Endglieddefekten der Zone 4 ( Kap. 38).
gliedbereich ist eine sensible Ersatzoperation ( Kap. 38) indiziert.
Bei mitbestehenden Gefäß-, Nerven-, Sehnen- und/oder Kno-
chenverletzungen (ersatzschwaches oder ersatzunfähiges Lager) Differenzialtherapie bei kombinierten palmaren und
muss der Defekt mit einer vaskularisierten Lappenplastik gedeckt dorsalen Grund- und Endglieddefekten des Daumens
werden. Wegen der Größe des Defektes hat sich ein zweizeitiges (»Ringfingertypverletzungen«)
Verfahren bewährt. Vor der sensiblen Ersatzoperation sollte primär ▬ Mikrochirurgische Rekonstruktion
eine überdimensionierte Weichteildeckung erfolgen. Zu diesem – Orthotop
Zweck bietet sich eine distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik – Heterotop (»Gewebebankprinzip«)
nach Stock an. Bei der Planung dieses Lappens muss unbedingt die
Dicke der subkutanen Fettschicht am Unterarm mit eingerechnet Ersatzstarkes Lager
werden. Je dicker die subkutane Fettschicht ist, umso größer muss ▬ Freie Hauttransplantation
die zu entnehmende Hautfläche sein und ein umso schlechteres – Palmar oder dorsal
ästhetisches Ergebnis ist zu erwarten. Bei ausgeprägter subkutaner – Palmar und dorsal (evtl. mit sekundärer sensibler Ersatz-
Fettschicht empfiehlt sich eine Faszienlappenvariante, kombiniert ▼ operation)
mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat.
35.1 · Allgemeines
947 35
2.–4. Zwischenfingerfalte (Kommissur)
Ersatzschwaches oder ersatzunfähiges Lager Anforderungen an die Hautdeckung im Bereich der Zwischenfin-
▬ Akutversorgung gerräume der Finger, der 2.–4. Kommissur, sind Defektdeckung
– Vakuumversiegelung nach Fleischmann und Wiederherstellung einer in Form und Funktion normalen
▬ Primäre Defektdeckung Kommissur.
– A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt Die freie Beweglichkeit im Bereich der Zwischenfingerfalten
– Dorsale Mittelphalanx-Insellappenplastik nach Büchler u. bildet die Voraussetzung für die volle Grob- oder Kraftgrifffunk-
Frey tion. Eine Abduktionsbewegung der Finger ist aktiv um etwa 36°
– Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock und passiv um 45–65° möglich. Eine Bewegungseinschränkung im
– Freier mikrovaskulärer lateraler Oberarmlappen nach song Kommissurenbereich kann durch Störungen im Bereich von Haut,
– Cross-arm-Lappenplastik nach McCash Faszienzügen, intrinsischer und/oder extrinsischer Muskeln und
– Laterale Oberarmlappenplastik nach Song Sehnen sowie der Gelenke alleine oder in Kombination bedingt
– Leistenlappenplastik nach McGregor sein. Eine sukzessive Entlastung der genannten Strukturen (sog.
– Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Lambeau-greffe- Crescendo der Kommissurolyse) kann für die Wiederherstellung
Technik nach Colson u. Janvier, Reverse-dermis-flap-Tech- der Bewegungsamplitude notwendig werden (⊡ Abb. 35.20).
nik nach Hynes, Crane-flap-Prinzip nach Millard) Bei ausgeprägter Kontraktur sowie bei Syndaktylietrennungen
▬ Sekundärrekonstruktion können die neurovaskulären Strukturen die Korrektur limitieren.
– Symmetrische, transversal verlaufende (komplette) End- Um postoperative neurovaskuläre Störungen zu verhindern, muss
glieddefekte jede größere Spannung dieser Strukturen vermieden werden.
– Modifizierter »wrap-around flap« nach Morrison bzw. Die Zwischenfingerfalten der Finger beginnen distal der Grund-
Steichen gelenke und markieren die Grenzen der Finger gegen die Hohlhand
– Neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke und den Handrücken. Nach Upton zeigt die Fingerkommissur in
u. Rose der Ansicht von oben charakteristischerweise eine U- oder Recht-
– Heterodigitale Insellappenplastik nach Littler eckform. In der seitlichen Ansicht hat die Zwischenfingerfalte eine
– Cerf-volant-Insellappenplastik nach Foucher u. Braun Keilform, deren dorsale Fläche eine Inklination von etwa 45° auf-
– Dorsale Mittelphalanx-Insellappenplastik nach Büchler weist und deren palmare Fläche normalerweise bis etwa zur Mitte
u. Frey des Grundgliedes reicht. Aufgrund dieser Inklination erscheint die
– Dorsale sensible Cross-finger-Lappenplastik nach Gaul Streckseite der Finger um etwa 2–3 cm länger als deren Beugeseite.
– Palmare Cross-finger-Lappenplastik nach Iselin In der Ansicht von den Fingerenden aus (sog. Kommissurenblick)
– Homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retro- zeigt die dorsale Oberfläche eine leichte Eindellung, während die
gradem Fluss nach Brunelli palmare Fläche eben ist. An den meisten Händen reichen die in
– Asymmetrische, schräg verlaufende Endglieddefekte etwa auf gleicher Höhe liegenden Ränder des 2. und 3. Zwischenfin-
– Dominante Pulpa gerraumes weiter nach distal als die der angrenzenden Räume. Die
– Fingerkuppen-Austauschlappenplastik nach Foucher distale Kommissurenfalte des 4. Interdigitalraumes liegt weiter pro-
– Nichtdominante Pulpa ximal, jene der 1. Kommissur projiziert sich auf die Hohlhandmitte.
– Homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Nach Zoltan besteht die Fingerkommissur aus zwei auf die Spitze
Joshi bzw. Pho gestellten und mit der Basis aneinander gelehnten, fünfeckigen Plat-
– Homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retro- ten, die am Faltenrand zusammentreffen (⊡ Abb. 35.3d).
gradem Fluss nach Brunelli Die palmare Hautbedeckung der interdigitalen Zwischenräume
stellt eine Fortsetzung der Leistenhaut der Palma manus dar. Dor-
palmare Platte
sal ist sie wesentlich dünner, man sieht die Vereinigung der dorsa-
len Fingervenen mit den Vv. capitulares hindurchschimmern. Im
Ganzen ist die Haut hier auch heller als an den anderen Regionen
der Hand, weil die Falten bei entspannter Fingerhaltung bedeckt
und damit einer geringeren Lichteinwirkung ausgesetzt sind.
Zur Prävention der postoperativen Bewegungseinschränkung
und Minimierung von Narbenbildungen mit sekundären Kon-
trakturen sind einige wichtige Gesichtspunkte zu beachten. Wenn
möglich, sollten die Grenzen der funktionellen Einheiten der Hand
(⊡ Abb. 35.3a–d) respektiert werden. Im Bereich der Kommissur
müssen die Schnittlinien eines Hauttransplantates oder eines sons-
tigen Lappens entlang den anatomischen Grenzen der Falte oder
parallel zu ihnen geführt werden. Eine dem distalen Kommissu-
renrand parallele Schnittführung ist zu vermeiden, da hierdurch
eine spannungsbedingte hypertrophe Narbenbildung provoziert
wird. Nah- oder Fernlappentransplantate müssen bei maxima-
ler Kommissurenspreizung eingenäht werden. Da in den meisten
a b
Fällen der Hautdefekt im Fingerkommissurenbereich unterschätzt
wird, sollte primär eine Überkorrektur angestrebt werden. Wegen ⊡ Abb. 35.21 V-M-Lappenplastik nach Alexander zur Unterbrechung eines
der sekundären Narbenretraktion ist eine sekundäre Wundheilung linearen Narbenzugs im distalen Rander der 2. Kommissur. a Präoperativer
im Bereich der Fingerkommissuren ungünstig. Zustand und Lappenplanung, b postoperatives Ergebnis. (Aus Schmit-Neuer-
Die Wahl des Verfahrens zur Kommissurenrekonstruktion ist burg et al. 2001)
abhängig von Lokalisation und Ausdehnung des Hautdefektes. Bei
allen Defektzuständen muss geprüft werden, welche Anteile der
Kommissur betroffen sind. Dabei ist zu klären, ob die Kontraktur erhöhten Risikos von Lappennekrosen der vier kleinen Hautlappen
der Interdigitalfalte nur den Faltenrand (eindimensional) betrifft die Zwei-Lappen-Z-Plastik verwendet werden. Die V-M- Lappen-
oder ob sie über diesen hinaus auf die palmare und/oder dorsale plastik nach Alexander stellt eine weitere Therapiemöglichkeit dar
35 Platte (mehrdimensional) reicht. (⊡ Abb. 35.21).
Aufgrund klinischer Erfahrung hat sich für die 2.–4. Zwischen-
fingerfalte eine Klassifikation in folgende Untergruppen bewährt: Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes
und der dorsalen Kommissurenplatte der 2.–4. Kommissur
Ist neben dem distalen Kommissurenrand auch die dorsale Haut
Klassifikation der Defekte im Bereich der 2.-4. Zwischen- der Falte narbig verändert, so besteht ein mehrdimensionaler De-
fingerfalte fekt, bei dem ein Hautersatz notwendig ist. Im Rahmen von isolier-
▬ Auf die Kommissur beschränkte Defekte ten Defektzuständen der Interdigitalfalte ohne Notwendigkeit des
– Lineare Narbenzüge im Bereich des distalen Randes der Hautersatzes im Handrückenbereich sollte primär die Möglichkeit
2.–4. Kommissur einer gestielten Hautlappenplastik aus der unmittelbaren Umge-
– Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes bung, eventuell kombiniert mit Hauttransplantaten, zur Deckung
der 2.–4. Kommissur und der dorsalen Platte des Spenderdefektes erwogen werden.
– Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes Bei kleinen Hautdefekten stellt die Trident-Lappenplastik nach
der 2.–4. Kommissur und der palmaren Platte Glicenstein bzw. Hirshowitz ( Abschn. 35.2.3) die Therapie der Wahl
– Defekte beider Platten der 2.–4. Kommissur, dar. Zeigt sich nach Auflösung der Kontraktur ein deutlicher Haut-
▬ Über die Kommissur hinausgehende Defekte defekt, so muss zunächst geprüft werden, ob dieser mit einem freien
– Mehrdimensionale Defekte des distalen Randes der Hauttransplantat gedeckt werden kann. Wegen der Schrumpfungs-
2.–4. Kommissur und der dorsalen Platte in Kombination neigung des Transplantates und der damit verbundenen Funkti-
mit ausgedehnten Handrücken- und proximalen dorsalen onseinbuße sollte die Indikation zur vaskularisierten Lappenplastik
Fingerdefekten großzügig gestellt werden. Bei auf die Kommissur begrenzten Haut-
– Mehrdimensionale Defekte des distalen Randes der defekten kann die dorsokommissurale Lappenplastik nach Dautel
2.–4. Kommissur und der palmaren Platte in Kombination oder alternativ die neurovaskuläre Insellappenplastik von der dor-
mit ausgedehnten Hohlhand- und proximalen palmaren salen Seite des Grundgliedes des benachbarten Fingers eingesetzt
Fingerdefekten werden. Wegen der schwierigeren Lappenpräparation sollten die
distal gestielten Varianten der Aa.-metacarpales-dorsales-II- bis -IV-
Lappenplastiken nach Maruyama sowie die distal gestielten Aa.-
Auf die Kommissur beschränkte Defekte metacarpales-dorsales-II- bis -IV-Perforatorlappenplastiken nach
Linearer Narbenzug im Bereich des distalen Randes der Quaba u. Davison ( Abschn. 35.2.7) sehr spät eingesetzt werden.
2.-4. Kommissur Gesellt sich – was im Allgemeinen nach Verbrennungen ge-
Besteht nur eine lineare Narbe, so wird kein Hautersatz benötigt, schieht – zur ausgedehnten Vernarbung des Handrückens eine
die Z-Plastik stellt das Verfahren der Wahl dar. Da bei der Zwei- Schrumpfung der Interdigitalfalten hinzu, müssen die Falten
Lappen-Z-Plastik meist nur eine V-Form der Zwischenfingerfalte gleichzeitig mit dem Ersatz der Handrückenhaut wiederhergestellt
erreicht werden kann, wird die Vier-Lappen-Z-Plastik nach Woolf werden. In diesem Fall stellt die laterodigitale Transpositionslap-
u. Broadbent ( Abschn. 35.2.2) bevorzugt eingesetzt. Nur bei aus- penplastik nach Bunnell (⊡ Abb. 35.22) die Therapie der 1. Wahl
geprägten Vernarbungen der tieferen Strukturen sollte wegen des dar (s. unten).
35.1 · Allgemeines
949 35
Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes Defektdeckung im Kommissurenbereich durch Hautgewebe (Chei-
und der palmaren Kommissurenplatte der 2.-4. Kommissur roplastik) eines nicht mehr zu rekonstruierenden Fingers nach dem
Zur Rekonstruktion von mehrdimensionalen Defekten im Bereich Gewebebankkonzept nach Chase gedacht werden. Die freie Haut-
des distalen Randes der 2.–4. Kommissur und der palmaren Kom- transplantation muss als Verfahren der 2. Wahl betrachtet werden.
missurenplatte stellt die laterodigitale Transpositionslappenplastik Bei intakter Haut stellt die Drei-Lappen-Transpositionsplastik
nach Bunnell ( Abschn. 35.2.6) die Therapie der 1. Wahl dar. Wei- nach Schneider u. Vaubel die Therapie der Wahl dar. Als Therapie
tere therapeutische Möglichkeiten sind die laterale Insellappenplas- der 2. Wahl hat sich die Schmetterlingslappenplastik nach Shaw
tik nach Rose, die dorsale Fähnchenlappenplastik nach Vilain oder bewährt. Zur Vermeidung eines Syndaktylierezidivs durch sekun-
deren Seagull-flap-Variante. dären Narbenzug (»web creeping«) sollte bei beiden Lappenplasti-
ken die Indikation zur zusätzlichen Vollhauttransplantation an den
lateralen Fingerseiten großzügig gestellt werden.
Differenzialtherapie bei mehrdimensionalen Defekten Ist die Haut im Syndaktyliebereich pathologisch verändert,
im Bereich des distalen Randes der 2.–4. Kommissur und so sollte der Hautersatz durch lokale Lappenplastiken erfolgen.
der palmaren oder der dorsalen Kommissurenplatte Vor allem bei Verbrennungen stellt die laterodigitale Transpositi-
▬ Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes onslappenplastik nach Bunnell u. Colson die Therapie der Wahl
der 2.–4. Kommissur und der dorsalen Kommissurenplatte dar (⊡ Abb. 35.22). Bei intakter Haut im Bereich des Handrückens
– Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz und/oder der MP-Gelenke sowie der dorsalen Fingergrundglieder
– Dorsokommissurale Lappenplastik nach Dautel können die dorsokommissurale Lappenplastik nach Dautel, die
– Neurovaskuläre Insellappenplastik von der dorsalen Seite Seagull-flap-Variante der Fähnchenlappenplastik nach Vilain und
des Grundgliedes die distal gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis -IV-Lappenreihe
– Distal gestielte Aa.-metacarpales-dorsales-II- bis -IV-Lappen- als Therapie der 2. Wahl eingesetzt werden.
plastiken nach Maruyama Der Einsatz von distal gefäßgestielten Lappenplastiken aus
– Distal gestielte Aa.-metacarpales-dorsales-II- bis -IV-Lappen- dem Unterarmbereich, von freien mikrovaskulären Lappenplasti-
plastiken nach Quaba u. Davison ken oder direkten Fernlappenplastiken stellt wegen der vielfältigen
– Laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell Möglichkeiten lokaler Lappenplastiken zur Kommissurenrekonst-
▬ Mehrdimensionale Defekte im Bereich des distalen Randes ruktion und der geringen Funktionseinbuße der Hand bei mono-
der 2.–4. Kommissur und der palmaren Kommissurenplatte fokaler partieller Syndaktylie im Fingerbereich im Gegensatz zum
– Laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell 1. Interdigitalraum eine absolute Ausnahmeindikation dar.
– Laterale Insellappenplastik nach Rose Wegen der langen Immobilisationszeit und der hohen Komplika-
– Dorsale Fähnchenlappenplastik nach Vilain tionsrate sollte die kontinuierliche Hautexpansion nach Radovan und
– Seagull-flap die kontinuierliche Weichteilextension zur Wiederherstellung einer
Zwischenfingerfalte als letzte Therapiemöglichkeit angesehen werden
( Differenzialtherapie bei Defekten beider Platten der 2.–4. Kommissur).
Defekte beider Platten der 2.–4. Kommissur (Syndaktylie)
Bei gleichzeitigem Defekt an beiden Platten der Interdigitalfalte z Komplette Syndaktylie im Bereich der 2.–4. Kommissur
und des distalen Kommissurenrandes besteht das klinische Bild Erstreckt sich die Syndaktylie über das PIP-Gelenk hinaus, so
einer einfachen kutanen Syndaktylie. Reicht die distale Kommis- besteht eine komplette kutane Syndaktylie ( Kap. 21). Zur Ver-
surenfalte bis in Höhe des PIP-Gelenks, so spricht man von einer meidung von Narbenzügen im Bereich der Kommissur sowie zur
partiellen kutanen Syndaktylie. Wiederherstellung der physiologischen dorsopalmaren Inklination
empfiehlt es sich, wenn möglich, die Kommissur mit einer groß di-
z Partielle Syndaktylie im Bereich der 2.–4. Kommissur mensionierten dorsalen Hautlappenplastik nach Bauer zu decken.
Bei Vorliegen einer partiellen kutanen Syndaktylie bestimmt die Qua- Die Lappengrenzen sollten dabei distal die dorsalen proximalen
lität der dorsalen Haut im Syndaktyliebereich die Wahl der vaskulari- Hautfalten im Bereich des PIP-Gelenks erreichen und nach late-
sierten Lappenplastik. Vor allem bei angeborenen Fehlbildungen und ral das mediale Drittel des dorsalen Fingerumfanges nicht über-
polydigitalen Handverletzungen sollte immer an die Möglichkeit der schreiten. Um der Zwischenfingerfalte ihr natürliches Aussehen
950 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Ist dies nicht möglich, muss als Nächstes geprüft werden, ob der die Möglichkeit einer palmaren Translationslappenplastik nach
Defekt mit einer freien Hauttransplantation verschlossen werden Hueston ( Abschn. 35.2.5) erwogen werden.
kann. Dies ist der Fall, wenn die palmaren Gefäß-Nerven-Struk- Bei partiellen Defekten bis etwa 50% der gesamten funktionel-
turen nicht verletzt sind und die Beugesehnenscheide intakt ist. len Einheit sollte bei proximal gelegenen partiellen Defekten die
Für die Defektdeckung in der Akutsituation wird ein mitteldickes laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell eingesetzt
Spalthauttransplantat gewählt. Wenn möglich, sollte bei Sekundär- werden.
rekonstruktionen ein Vollhauttransplantat eingesetzt werden. Bei ausgedehnten, auf die funktionelle Einheit der dorsalen
Liegt neben dem Hautdefekt auch ein Gefäß-Nerven-Defekt Haut des Grundgliedes beschränkten Defekten sollte primär an
und/oder eine Beugesehnenverletzung und/oder eine Fraktur vor, die Möglichkeit einer neurovaskulären Insellappenplastik von der
so muss der Hautdefekt mit einer vaskularisierten Lappenplastik dorsalen Seite des Grundgliedes des benachbarten Fingers im
gedeckt werden. Sinne eines Fähnchenlappens nach Vilain oder an eine dorsokom-
Bei partiellen Defekten, die etwa ein Drittel der gesamten funk- missurale Lappenplastik nach Dautel gedacht werden. Wegen der
tionelle Einheit des palmaren Grundgliedes betreffen, sollte primär zusätzlichen Immobilisierung eines Nachbarfingers sollte die des-
die Möglichkeit einer palmaren Translationslappenplastik nach epidermialisierte reverse Cross-finger-Lappenplastik nach Pakiam
Hueston ( Abschn. 35.2.5) erwogen werden. Bei partiellen De- nur als Therapie der 3. Wahl eingesetzt werden.
fekten bis etwa 50% der gesamten funktionellen Einheit sollte bei Bei ausgedehnten, über die funktionelle Einheit der dorsalen
proximal gelegenen partiellen Defekten die laterodigitale Transpo- Haut des Grundgliedes hinausgehenden Defekten stellt die distal
sitionslappenplastik nach Bunnell eingesetzt werden, bei distal ge- gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis -V-Lappenreihe ( Ab-
legenen Defekten sollte bevorzugt an die laterale Insellappenplastik schn. 35.2.7) die Therapie der 1. Wahl dar. Wegen des geringen
nach Rose gedacht werden ( Abschn. 35.2.6). Spenderdefektes kann die freie mikrovaskuläre venöse Lappenplas-
Ausgedehnte, auf die funktionelle Einheit des palmaren tik nach Yoshimura in mikrochirurgischen Spezialzentren noch
Grundgliedes begrenzte Defekte sollten primär mithilfe der dor- vor der distal gestielten Lappenplastik aus dem Handbereich ein-
salen Cross-finger-Lappenplastik nach Cronin ( Kap. 38) versorgt gesetzt werden.
werden. Vor allem bei mitbestehendem palmarem Arteriendefekt
kommt bevorzugt die freie mikrovaskuläre venöse Lappenplastik
nach Yoshimura in ihrer arteriovenösen Variante mit zusätzlicher Differenzialtherapie bei dorsalen Grundglieddefekten
dorsaler venöser Abflussmöglichkeit in Betracht. der Finger
35 Alle dorsalen Grundglieddefekte
▬ Heterotoper Gewebetransfer aus dem Handbereich
Differenzialtherapie bei palmaren Grundglieddefekten ▬ Spalthauttransplantation
der Finger
▬ Alle palmaren Grundglieddefekte Partielle dorsale Grundglieddefekte
– Heterotoper Gewebetransfer aus dem Handbereich ▬ Dorsale Translationslappenplastik nach Hueston
– Freie Hauttransplantation ▬ Laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell
– Akutsituation: Spalthauttransplantation ▬ Desepidermialisierte reverse Cross-finger-Lappenplastik nach
– Sekundärrekonstruktion: Vollhauttransplantation Pakiam
▬ Partielle palmare Grundglieddefekte
– Palmare Translationslappenplastik nach Hueston Ausgedehnte dorsale Grundglieddefekte
– Laterodigitale Transpositionslappenplastik nach Bunnell ▬ Neurovaskuläre Insellappenplastik von der dorsalen Seite des
– Laterale Insellappenplastik nach Rose Grundgliedes des benachbarten Fingers
▬ Ausgedehnte palmare Grundglieddefekte ▬ Dorsokommissurale Lappenplastik nach Dautel
– Dorsale Cross-finger-Lappenplastik nach Cronin ▬ Distal gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach
– Venöse Lappenplastik nach Yoshimura Hilgenfeldt
▬ Distal gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis -IV-Lappen-
reihe
Wegen der aufwendigen Präparation sollten die dorsale Mittelpha- ▬ Venöse Lappenplastik nach Yoshimura
lanx-Insellappenplastik nach Büchler und Frey nur als Therapie
der letzten Wahl erwogen werden.
Die Therapie von Hautdefekten, die das palmare Grundglied Mittelglied-(P2-)Defekte
und die Hohlhand betreffen, erfolgt nach den im Abschnitt »Hohl- Palmare Mittelglieddefekte
hand« aufgeführten Richtlinien. Bei den palmaren Mittelglieddefekten ist primär zu prüfen, ob die
Defektdeckung mit einer freien Hauttransplantation durchgeführt
Dorsale Grundglieddefekte werden kann. Dies ist der Fall, wenn die palmaren Gefäß-Nerven-
Wie bei den palmaren, so ist auch bei allen dorsalen Hautdefekten Strukturen nicht verletzt oder mit gut vaskularisiertem Gewebe
im Grundgliedbereich primär zu prüfen, ob der Defekt mit einem bedeckt sind und die Beugesehnenscheide intakt ist.
mitteldicken Spalthauttransplantat versorgt werden kann. Dies ist Liegt neben dem Hautdefekt auch eine Gefäß-, Nerven- und/
der Fall, wenn das Peritendineum im Bereich der Strecksehnen oder Beugesehnenverletzung und/oder eine Fraktur vor, muss der
intakt ist. Hautdefekt mit einer vaskularisierten Hautlappenplastik gedeckt
Bei zusätzlicher Strecksehnenverletzung oder Fraktur muss der werden. Bei partiellen Defekten, die etwa ein Drittel der gesamten
Defekt mit einer vaskularisierten Lappenplastik gedeckt werden. funktionelle Einheit des palmaren Mittelgliedes betreffen, sollte
Bei partiellen Defekten, die etwa ein Drittel der gesamten funk- primär die Möglichkeit einer palmaren Translationslappenplastik
tionelle Einheit des dorsalen Grundgliedes betreffen, sollte primär nach Hueston ( Abschn. 35.2.5) erwogen werden.
35.1 · Allgemeines
953 35
Für größere partielle Defekte stellt die dorsale Cross-finger- läre venöse Lappenplastik nach Yoshimura bedacht werden. Wegen
Lappenplastik nach Cronin die Therapie der Wahl dar. Wegen des durch die Präparation bedingten großen Spenderdefektes des
des geringen Spenderdefektes und der fehlenden heterodigitalen Gefäß-Nerven-Bündels in der Hohlhand sollte die dorsale Mittel-
Immobilisierung sollte in Spezialzentren die freie mikrovaskuläre phalanx-Insellappenplastik nach Büchler u- Frey nur als Therapie
venöse Lappenplastik nach Yoshimura bevorzugt eingesetzt wer- der letzten Wahl eingesetzt werden.
den. Sind beide palmaren Fingerarterien intakt, kann als Therapie Direkte Fernlappenplastiken und freie mikrovaskuläre Lap-
der 4. Wahl die homodigitale Insellappenplastik mit retrogradem penplastiken – ausgenommen freie mikrovaskuläre venöse Lap-
Fluss nach Oberlin durchgeführt werden. Wegen der aufwendigen penplastiken – stellen für den isolierten Mittelglieddefekt eines
Präparation sollten die laterale Insellappenplastik nach Rose und einzelnen Fingers die Ausnahme dar.
die dorsale Mittelphalanx-Insellappenplastik nach Büchler u. Frey
nur als Therapie der letzten Wahl erwogen werden.
Direkte Fernlappenplastiken und freie mikrovaskuläre Lap- Differenzialtherapie bei dorsalen Mittelglieddefekten
penplastiken – ausgenommen venöse Lappenplastiken – stellen für der Finger
den isolierten palmaren Mittelglieddefekt eines einzelnen Fingers Alle dorsalen Mittelglieddefekte
die Ausnahme dar. ▬ Heterotoper Gewebetransfer aus dem Handbereich
▬ Spalthauttransplantation
35
a b c d
⊡ Abb. 35.26 Deckung eines kombinierten palmeren Grund-, Mittel- und Endglieddefektes im Zeigefingerbereich mithilfe einer distal gestielten A.-radialis-
Lappenplastik nach Stock. a Klinischer Aspekt vor der 1. Lappenausdünnung, b klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ (Ansicht von palmar): Neben einer
intensiven krankengymnastischen Begleittherapie wird auch eine standardisierte Narbentherapie mit Kompression und Silikonfolie durchgeführt; komplette
Fingerstreckung. c Klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ (Ansicht von lateral): kompletter Faustschluss, d klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ (Ansicht
von radiopalmar): Nur die sehr gute Mobilität der beiden ulnaren Fingerstrahlen rechtfertigt das aufwendige Vorgehen
gedeckt werden. Da die Rekonstruktion derartiger Hautdefekte um neben einem guten funktionellen Ergebnis ein möglichst gutes
einen großen therapeutischen Einsatz benötigt, sollte sicherge- ästhetisches Ergebnis zu erzielen, bei der Auswahl der Lappenplas-
stellt sein, dass das funktionelle und das ästhetische Ergebnis den tik vor allem auf die Lappendicke zu achten. Bei dünner subkutaner
Aufwand rechtfertigen. Bei zusätzlicher Schädigung, wie Gelenk- Fettschicht im Oberarmbereich sollte die freie mikrovaskuläre late-
steifigkeit, Sehnendefekten oder Sensibilitätsstörungen, sollte im- rale Oberarm-Faszienlappenplastik nach Song ( Abschn. 35.2.12)
mer an die Möglichkeit der Fingerstrahlresektion mit eventueller gewählt werden. Bei dicker subkutaner Oberarmfettschicht stellt
Strahltransposition gedacht werden. die A.-temporalis-Faszienlappenplastik nach Smith, kombiniert
Liegen keine zusätzlichen Schädigungen im Bereich des betrof- mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat, die nächste in Frage
fenen Fingers vor, so stellt die distal gestielte A.-radialis-Lappen- kommende Therapiemöglichkeit dar. Schließlich kann auch die
plastik nach Stock die Therapie der Wahl dar (⊡ Abb. 35.26). freie mikrovaskuläre kontralaterale A.-radialis-Faszienlappenplas-
Bestehen Kontraindikationen für die A.-radialis-Lappenplas- tik nach Yang kombiniert mit einem mitteldicken Spalthauttrans-
tik, muss als nächste Therapiemöglichkeit eine Fernlappenplastik plantat, eingesetzt werden.
gewählt werden. Um die Beweglichkeit im Handbereich möglichst Ist eine freie mikrovaskuläre Lappenplastik nicht möglich oder
wenig zu beeinträchtigen, sollte zunächst die Möglichkeit einer erwünscht, so stellt die gestielte laterale Cross-arm-Lappenplastik
freien mikrovaskulären Lappenplastik bedacht werden. Dabei ist, nach McCash in der Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Jan-
35.1 · Allgemeines
955 35
vier die Therapie der Wahl dar. Reicht der Defekt proximal über chen Richtlinien wie die palmare Defektdeckung in diesem Bereich
die MP-Gelenke hinaus, so kann mit der lateralen Cross-arm-Lap- ( Differenzialtherapie bei kombinierten Grund-, Mittel- und Endglied-
penplastik keine ausreichende Weichteildeckung erreicht werden. defekten der Finger).
In diesen Fällen ist die Bauchhautlappenplastik nach Zoltan oder
die Leistenlappenplastik nach McGregor indiziert. Beide letztge- z Kombinierte palmare und dorsale Grund-, Mittel- und End-
nannten Lappenplastiken sollten in der Lambeau-greffe-Technik glieddefekte
nach Colson u. Janvier angewandt werden. Partielle oder komplette, kombinierte palmare und dorsale Grund-,
Die Rekonstruktion im Bereich der Fingerkuppe erfolgt nach Mittel- und Endglieddefekte im Fingerbereich sind meist Folge
den gleichen Richtlinien wie für die Deckung der schräg nach einer Avulsionsverletzung vom Ringfingertyp oder eines Verbren-
palmar verlaufenden Endglieddefekte der Zone 4 ( Kap. 38), wo- nungs- bzw. Verbrühungstraumas. Neben der einfachen Defekt-
bei wegen der bestehenden palmaren Schädigung die homodigi- deckung sollte in dieser Gruppe wiederum die Sensibilität im
tale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Oberlin und Kuppenbereich hergestellt werden.
wegen der Gefahr der Gelenkeinsteifung sowie der schlechten Im Gegensatz zum Daumen sollte im Fingerbereich nur dann
Sensibilität die Thenar-Lappenplastik nach Gatewood nicht einge- eine Rekonstruktion erwogen werden, wenn Aussicht auf eine be-
setzt werden sollten. friedigende funktionelle und ästhetische Wiederherstellung besteht
oder wenn der geschädigte Finger für die globale Handfunktion
wichtig ist, wie z. B. bei polydigitaler Schädigung.
Differenzialtherapie bei kombinierten Grund-, Mittel- In jedem Fall muss bei einer Avulsionsverletzung eine Re-
und Endglieddefekten der Finger plantation erwogen werden. Wegen der lokalen Gefäßschädigung
Zusätzliche Schädigung im Fingerbereich hat sich der Einsatz von langen Veneninterponaten bewährt
▬ Strahlamputation (mit anschließender Strahltransposition) ( Kap. 39).
Ist eine Replantation nicht möglich, so sollte die Strahlresek-
Keine zusätzliche Schädigung im Fingerbereich tion mit eventueller Transposition des 2. oder 5. Strahles erfol-
▬ Primäre Grund-, Mittel- und Endgliedrekonstruktion gen. Nur in Ausnahmesituationen erfolgt die Rekonstruktion des
– Mikrochirurgische Rekonstruktion (orthotop, heterotop) Hautmantels. Diese wird nach den Richtlinien zur Rekonstruktion
– Freie Hauttransplantation palmarer und dorsaler Defekte im Grund-, Mittel- und Endglied-
– Distal gestielte A.-radialis-(Faszien-)Lappenplastik nach bereich ( Differenzialtherapie bei kombinierten Grund-, Mittel- und
Stock (+ Spalthaut) Endglieddefekten der Finger) durchgeführt.
– Freie mikrovaskuläre laterale Oberarm-(Faszien-)Lappen-
plastik nach Song (+ Spalthaut) Polyregionale Defekte
– A.-temporalis-Faszienlappenplastik nach Smith + Spalt- Als polydigitale Hautdefekte werden alle Defekte bezeichnet, die
haut mindestens 2 Finger und ggf. Anteile der palmaren und/oder der
– Freie mikrovaskuläre kontralaterale A. radialis-Faszien- dorsalen Handflächen betreffen.
lappenplastik nach Yang + Spalthaut Bei der Therapie werden Defekte im Daumenbereich und De-
– Laterale Cross-arm-Lappenplastik nach McCash (Lambeau- fekte im Fingerbereich getrennt betrachtet und behandelt.
greffe-Technik nach Colson u. Janvier) Hautdefekte im Daumenbereich werden nach den Richtlinien
– Bauchhautlappenplastik nach Zoltan-(Lambeau-greffe- der Differenzialtherapie bei kombinierten Grundglied- und End-
Technik nach Colson u. Janvier) glieddefekten des Daumens (s. oben) behandelt.
– Leistenlappenplastik nach McGregor-(Lambeau-greffe- Aufgrund klinischer Erfahrung hat sich für die polyreginalen
Technik nach Colson u. Janvier) Hautdefekte im Handbereich eine Klassifikation in folgende Unter-
▬ Sekundäre Pulparekonstruktion gruppen bewährt:
– Neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke u.Rose
– Heterodigitale Insellappenplastik nach Littler
– Mikrochirurgisch resensibilisierte Cross-finger-Lappen- Klassifikation der polyregionalen Defekte im Hand-
plastik nach Berger u. Meissl bereich
– Dorsale Cross-finger-Lappenplastik nach Cronin ▬ Einfache palmare oder dorsale polydigitale Fingerdefekte
▬ Kombinierte palmare oder dorsale Hand- und Fingerdefekte
▬ Komplexe palmare und dorsale Hand- und Fingerdefekte
z Kombinierte dorsale Grund-, Mittel- und Endglieddefekte
Bei dorsalen Hautdefekten, die Grund-, Mittel- und Endglied
gleichzeitig betreffen, ist wiederum als Erstes zu entscheiden, ob Einfache palmare oder dorsale polydigitale Fingerdefekte
eine Deckung in der Akutsituation mithilfe einer orthotopen Re- Bei komplexen Handverletzungen sollte immer an die Möglichkeit
plantation oder einer heterotopen Gewebetransplantation nach der Defektdeckung mithilfe des Hautmantels eines oder mehrerer
dem Gewebebankkonzept nach Chase erfolgen kann. nicht mehr zu rekonstruierender Finger im Sinne des Gewebe-
Ist dies nicht möglich, so muss als Nächstes geprüft werden, bankkonzeptes nach Chase gedacht werden. Die mikrochirurgi-
ob der Defekt mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat ver- sche Rekonstruktion ist nur in Ausnahmefällen möglich.
schlossen werden kann. Dies ist der Fall, wenn das Peritendineum Bei Weichteildefekten, die Palmar- oder Dorsalflächen mehre-
im Bereich des Strecksehnenansatzes intakt ist. Bei zusätzlicher rer Finger betreffen, muss zuerst geprüft werden, ob der Defekt mit
Strecksehnenverletzung oder Fraktur muss der Defekt mit einer einem Voll- oder Spalthauttransplantat funktionell befriedigend
vaskularisierten Lappenplastik gedeckt werden. gedeckt werden kann. Sind keine besonders wichtigen Strukturen,
Eine Nagelkomplexrekonstruktion im Fingerbereich stellt eine wie Gefäße, Nerven und Sehnen, exponiert und besteht ein ersatz-
Ausnahme dar. Die dorsale Defektdeckung erfolgt nach den glei- starkes Lager, so reicht in der Akutsituation eine Spalthauttrans-
956 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
plantation sowohl für die Palmar- als auch für die Dorsalseite aus. chen Wert, da die Züchtung eines spalthautfähigen Wundgrundes
Bei sekundären Defektdeckungen, z. B. nach Narbenexzision, sollte bzw. eine wundbettverbessernde Eigenschaft durch die negative
auf der mechanisch höher beanspruchten Palmarseite der Finger topische Drucktherapie in gleicher Weise, aber ohne zusätzlichen
ein Vollhauttransplantat eingesetzt werden. Spenderdefekt, erreicht wird.
Ist eine freie Hauttransplantation nicht möglich, so ist eine
Defektdeckung mithilfe von Nah- oder Fernlappenplastiken er-
forderlich. Dazu muss geprüft werden, ob eine Deckung ohne Bil- Differenzialtherapie bei einfachen palmaren oder
dung einer iatrogenen Syndaktylie möglich ist. Vor allem dorsale dorsalen polydigitalen Hautdefekten und kombinierte
polydigitale Defekte im Grundgliedbereich können individuell für palmare oder dorsale Handflächen- und Fingerdefekte
jeden Finger nach denselben Therapierichtlinien wie monodigitale ▬ (Cheiroplastik)
Defekte ( Differenzialtherapie bei kombinierten Grund-, Mittel- und ▬ (Mikrochirurgische Rekonstruktion [orthotop, heterotop])
Endglieddefekten der Finger) versorgt werden. ▬ Vakuumversiegelung
Ist die polydigitale Defektdeckung an den Fingern nur mit ▬ Freie Hauttransplantation (Spalthaut, Vollhaut)
Bildung einer iatrogenen Syndaktylie zu erreichen, so sollte als ▬ Multiple Cross-finger-Lappenplastiken
Nächstes geprüft werden, ob dazu eine oder mehrere Lappenplas- ▬ Distal gestielte A.-radialis-Faszienlappenplastik nach
tiken notwendig sind. Polydigitale palmare Defekte von Grund- Stock
oder Mittelglied sind häufig durch mehrere dorsale Cross-fin- ▬ Freie mikrovaskuläre A.-temporalis-Faszienlappenplastik
ger-Lappenplastiken vom Nachbarfinger zu decken. Ist aber die nach Smith (+ Hauttransplantation)
polydigitale Defektdeckung nur durch eine größere Lappenplastik ▬ Thorakodorsale Faszienlappenplastik nach Wintsch u. Helaly
unter Bildung einer iatrogenen Syndaktylie möglich, so können (+ Hauttransplantation)
nicht defektangrenzende Lappenplastiken aus dem Unterarmbe- ▬ Freie mikrovaskuläre A.-radialis-Faszienlappenplastik nach
reich bzw. freie mikrovaskuläre oder gestielte Fernlappenplastiken Yang (+ Hauttransplantation)
eingesetzt werden. Um eine Immobilisation nicht betroffener Ext- ▬ Laterale fasziokutane Oberarmlappenplastik nach Song
remitätenabschnitte zu vermeiden, sollte als Erstes die Möglichkeit ▬ Freie mikrovaskuläre kontralaterale A.-radialis-Lappenplastik
einer distal gestielten A.-radialis-Lappenplastik nach Stock geprüft nach Yang
werden. Zur Verbesserung des ästhetischen Ergebnisses hat sich ▬ Freie mikrovaskuläre Lappenplastik aus dem Subscapularis-
insbesondere für die dorsalen Fingerflächen die distal gestielte A.- Gebiet (»Mega-flap« nach Hayden)
35 radialis-Faszienlappenplastik in Kombination mit einer Spalthaut- ▬ Cross-arm-Lappenplastik nach McCash (Lambeau-greffe-
transplantation bewährt. Technik nach Colson u. Janvier)
Für die mechanisch stärker beanspruchten palmaren Fingerbe- ▬ Leistenlappenplastik nach McGregor (Lambeau-greffe-Tech-
reiche sollte ein fasziokutaner Lappentyp, eventuell mit sekundärer nik nach Colson u. Janvier)
Lappenausdünnung, gewählt werden (⊡ Abb. 35.27). ▬ Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Lambeau-greffe-Tech-
Wegen der Gefahr der Beeinträchtigung des N. ulnaris sollte nik nach Colson u. Janvier)
die distal gestielte A. ulnaris-Lappenplastik nach Guimberteau
nicht mehr angewandt werden. Ist die distal gestielte A.-radia-
lis-Lappenplastik nicht einsetzbar, so kann eine Defektdeckung Kombinierte palmare oder dorsale Handflächen- und
nur durch gestielte Fernlappenplastiken oder freie mikrovaskuläre Fingerdefekte
Lappenplastiken erfolgen. Zur Vermeidung einer längeren post- Für kombinierte palmare oder dorsale Handflächen- und Fingerde-
operativen Immobilisation mit sekundärer Gelenkeinsteifung und fekte gelten weitgehend die gleichen Richtlinien wie für die einfa-
Notwendigkeit einer zweiten Operation ist einer freien mikrovas- chen palmaren oder dorsalen polydigitalen Hautdefekte (s. oben).
kulären Lappenplastik der Vorzug zu geben. Für die Dorsalseite hat Da die versorgenden Gefäße der distal gestielten Metakar-
sich eine freie mikrovaskuläre Faszienlappenplastik, kombiniert mit pallappenplastiken meist im Defektbereich liegen, sollten diese
einem mitteldicken Spalthauttransplantat, bewährt. Dazu bieten Lappenplastiken gemieden werden. Für die Rekonstruktion der
sich die A.-temporalis-Faszienlappenplastik nach Smith, die tho- Zwischenfingerfalten ist besondere Sorgfalt aufzuwenden. Der
rakodorsale Faszienlappenplastik nach Wintsch u. Helaly und die häufigste Fehler liegt dabei in der Fehleinschätzung der Größe
freie mikrovaskuläre A.-radialis-Faszienlappenplastik nach Yang der zu bedeckenden Hautfläche im Kommissurenbereich. Die Be-
an. Auf der Palmarseite sind fasziokutane Lappenplastiken, wie die stimmung der Lappenbreite muss bei gestreckten MP-Gelenken
laterale Oberarmlappenplastik nach Song ( Abschn. 35.2.12) und erfolgen, die Festlegung der ausreichenden Lappenlänge bei kom-
die freie mikrovaskuläre kontralaterale A.-radialis-Lappenplastik plettem Faustschluss.
nach Yang, zu empfehlen. Um eine Immobilisation nicht betroffener Extremitätenab-
Ist eine freie mikrovaskuläre Lappenplastik nicht möglich oder schnitte zu vermeiden, sollte als Erstes die Möglichkeit einer distal
sinnvoll, stellt die Cross-arm-Lappenplastik nach McCash in der gestielten A.-radialis-Lappenplastik nach Stock geprüft werden. Zur
Lambeau-greffe-Modifikation nach Colson u. Janvier die Therapie Verbesserung des ästhetischen Ergebnisses hat sich insbesondere
der Wahl dar. Um einer besonderen Exposition der Spenderstelle für die dorsalen Fingerflächen die distal gestielte A.-radialis-Faszi-
auszuweichen, hat sich die Bauchhautlappenplastik nach Zoltan enlappenplastik in Kombination mit einer Spalthauttransplantation
bewährt. Hierzu sind zwei unterschiedliche Vorgehensweisen mög- bewährt. Für die mechanisch stärker beanspruchten palmaren
lich: Im palmaren Fingerbereich vermeidet die Bauchhautlappen- Fingerbereiche sollte ein fasziokutaner Lappentyp, eventuell mit
plastik in der Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier eine sekundärer Lappenausdünnung, gewählt werden (⊡ Abb. 35.27).
voluminöse Weichteildeckung. Wegen der Größe des zu deckenden Defektes kann auch an
Aufgrund der positiven Erfahrungen mit der Vakuumversie- eine Leistenlappenplastik nach McGregor, an eine mikrovaskuläre
gelung nach Fleischmann haben die Muff-Plastik nach Marino Mehrkomponenten-Lappenplastik aus dem A.-subscapularis-Ge-
und das Crane-flap-Prinzip nach Millard nur noch geschichtli- biet (⊡ Abb. 35.11) gedacht werden.
35.1 · Allgemeines
957 35
a b c d
e f h
i j k l
⊡ Abb. 35.27 Deckung eines ausgedehnten palmaren Defektes im Bereich der Hohlhand und des 2.–4. Fingers nach Decollement-Verletzung mithilfe einer
distal gestielten A.-radialis-Lappenplastik nach Stock in Kombination mit einer Spalthauttransplantation im Bereich der dorsalen Fingerdefekte. a Postoperativer
Befund: Ansicht von dorsal, b postoperativer Befund: Ansicht von palmar, c Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen Zeigefinger und Mittelfinger: intraope-
rativer Aspekt, d Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen Zeigefinger und Mittelfinger: klinischer Aspekt nach 6 Monaten, Ansicht von palmar, e Trennung
der iatrogenen Syndaktylie zwischen Mittelfinger und Ringfinger, Ansicht von palmar: Planung der Hautinzision, f Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen
Mittelfinger und Ringfinger, Ansicht von dorsal: Planung der Hautinzision, g Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen Mittelfinger und Ringfinger, Ansicht
von frontal: Planung der Hautinzision nach Buck-Gramcko, h Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen Mittelfinger und Ringfinger, Ansicht von fronal: Zu-
stand nach Fingertrennung und Einnähung der Hautlappen, i Trennung der iatrogenen Syndaktylie zwischen Mittelfinger und Ringfinger, Ansicht des Ringfingers
von lateral: Zustand nach Fingertrennung und Einnähung der Hautlappen. Die Restdefekte werden mit Vollhauttransplantaten gedeckt. j Postoperatives Ergeb-
nis 1 Jahr nach Syndaktylietrennung, Ansicht von dorsal: komplette Fingerstreckung, k postoperatives Ergebnis 1 Jahr nach Syndaktylietrennung, Ansicht von
palmar: komplette Fingerstreckung, l postoperatives Ergebnis 1 Jahr nach Syndaktylietrennung, Ansicht von palmar: komplette Fingerbeugung
958 Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Kombinierte palmare und dorsale Handflächen- und trakturen im Bereich der verletzten Extremität durch
Fingerdefekte postoperative Immobilisation zu erwarten sind, oder
Weitgehender oder kompletter Verlust der Haut im Handbereich eine direkte Fernlappenplastik angewandt werden.
ist meist durch Verbrennungen, Verbrühungen oder Avulsions- Als Therapie der 2. Wahl kann eine freie mirko-
verletzungen verursacht, wobei das Skelettsystem und die Sehnen vaskuläre Transplantation des Omentum majus als
häufig erhalten bleiben. Dementsprechend sind die Möglichkeiten Carrier für ein Spalthauttransplantat erfolgen. Der
der Weichteildeckung stark limitiert, funktionelle und ästhetische Spenderdefekt durch die notwendige Laparotomie
Ergebnisse unbefriedigend. Da jedoch auch bei diesen Handver- muss beachtet werden. Alternativ kann bereits in
letzungen immer noch mehr Funktion erhalten werden kann, als der Akutsituation die Hautdefektdeckung mit einer
jede heute erwerbbare Prothese bietet, ist eine Rekonstruktion auf paarigen Bauchhautlappenplastik nach Miura u. Na-
jeden Fall anzustreben. Folgende Grundprinzipien haben sich bei kamura oder einer kombinierten Lappenplastik aus
der Versorgung der kompletten Degloving-Verletzung der Hand dem lateralen Oberschenkelbereich – für die Finger
bewährt: – und aus dem Leistenbereich – für den Daumen
1. Adäquates Débridement am Unfalltag: Im Fingerbereich – erfolgen. Nach 10–14 Tagen kann mit dem Lap-
werden die denudierten Endglieder amputiert. Die Ge- pentraining begonnen werden, die Durchtrennung
lenkkapseln (v. a. MP-Gelenkkapsel der Finger) müssen kann nach 4–5 Wochen erfolgen. Wird die Hand mit
als »sensible Ersatzorgane« erhalten bleiben. Temporärer einer Bauchhautlappenplastik nach Zoltan gedeckt,
Verband mithilfe künstlicher Hautersatzstoffe (z. B. Epigard, so kann nach 10–14 Tagen die Lappenumschneidung
⊡ Abb. 35.28b) oder besser einer Vakuumversiegelung nach beginnen. Nach den notwendigen lappenvorberei-
Fleischmann. tenden Operationen kann etwa 6 Wochen später ein
2. Bestmögliche Versorgung des 1. Strahls ( Differenzialtherapie »random pattern flap« gehoben und der Handdefekt
bei kombinierten palmaren und dorsalen Grund- und Endgliedde- gedeckt werden. Bei dieser Vorgehensweise besteht
fekten des Daumens »Ringfingertypverletzung«), wenn immer allerdings die Gefahr von Einsteifungen aller Ge-
möglich unter Verwendung eines freien mikrochirurgischen lenke der betroffenen Extremität. Durch keine der
Transplantats aus dem Großzehenbereich (⊡ Abb. 35.28). genannten Vorgehensweisen wird die Sensibilität im
3. Geplanter »second look« nach 24–48 h: Die Durchblutung im Handbereich wiederhergestellt.
Fingerbereich bestimmt dabei das weitere rekonstruktive Vor- 4. Zur Verbesserung der Weichteilsituation im palmaren und/
35 gehen (s. unten): oder dorsalen Handbereich können weitere rekonstruktive
a) Liegt eine ausreichende Durchblutung der distalen Fin- Operationen entsprechend den Bedürfnissen des Patienten
geranteile sowohl der Endphalangen als auch der Sehnen nach den oben beschriebenen Prinzipien geplant werden.
vor, so kann eine möglichst einfache Form des Hautersat- 5. Um das ästhetische Ergebnis zu verbessern, kann eine äs-
zes gewählt werden. Besteht ein intaktes Peritendineum, so thetische oder passive Handprothese rezeptiert werden
reicht in der Akutsituation sowohl für die Palmar- als auch (⊡ Abb. 35.28l).
für die Dorsalseite ein mitteldickes Spalthauttransplantat
aus.
b) Liegt keine ausreichende Durchblutung vor, bestehen zwei Differenzialtherapie bei kombinierten palmaren
Möglichkeiten: und dorsalen Handflächen- und Fingerdefekten im
1. Erneutes Débridement »bis auf blutendes Gewebe« Fingerbereich
und erneut eine Vakuumversiegelung anbringen. Es ▬ Ausreichende Durchblutung
kann 2–3 Wochen dauern, bis genügend spalthautfä- – Vakuumversiegelung nach Fleischmann → Spalthaut-
higes Granulationsgewebe gezüchtet wurde, um eine transplantation
mitteldickes Spalthauttransplantat erfolgreich zur – (→ Sekundärrekonstruktion entsprechend den Bedürfnis-
Einheilung zu bringen. Bis zur kompletten Deckung sen des Patienten)
können mehrere Nachoperationen notwendig sein. ▬ Ungenügende Durchblutung
2. Durchführung einer freien mikrovaskulären Lap- – Freie mikrovaskuläre Mega-flap-Lappenplastik aus dem
penplastik oder gestielten Fernlappenplastik zur Subskapularisgebiet nach Hayden
Deckung des Defektes im Fingerbereich. Zur Er- – Freie mikrovaskuläre Omentum-majus-Lappenplastik nach
haltung der Fingerlänge sind mehrere gleichwertige Kiricuta
Vorgehensweisen möglich. Da zur Lappenausdün- – Paarige Bauchhautlappenplastik nach Miura und Naka-
nung mehrere Eingriffe unvermeidlich sind, müssen mura
Aufwand und Risiko mit dem Patienten genau be- – Kombinierte Lappenplastik aus dem lateralen Oberschen-
sprochen werden, vor allem auch im Hinblick auf das kel- und Leistenbereich
nicht selten funktionell und ästhetisch bescheidene – Bauchhautlappenplastik nach Zoltan (Crane-flap-Technik
Ergebnis. Bei komplettem Weichteilverlust im Hand- nach Millard)
bereich ist die A.-subscapularis-Mega-Lappenplastik – (→ Sekundärrekonstruktion entsprechend den Bedürfnis-
nach Hayden die Methode der Wahl. Damit können sen des Patienten)
Hand- und Fingerrücken durch einen Faszienlap-
penanteil, die Hohlhand durch einen fasziokutanen
Lappenanteil gedeckt werden. Bei palmaren Finger- Kombinierter Weichteil-Knochen-Defekt (Typ D)
defekten kann nach den oben beschriebenen Richt- Eine optimale Knochendefektedeckung kann nur dann erzielt wer-
linien entweder eine zweite freie mikrovaskuläre den, wenn sowohl Rekonstruktionszeitpunkt als auch Rekonstruk-
Lappenplastik, bei der keine sekundären Gelen