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Friedrich Balck (Hrsg.

Anwendungsfelder der medizinischen Psychologie


Friedrich Balck (Hrsg.)

Anwendungsfelder der
medizinischen Psychologie

Mit 24 Abbildungen und 13 Tabellen

123
Professor Dr. Friedrich Balck
Medizinische Psychologie und Med. Soziologie
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Fetscherstr. 74
01307 Dresden

ISBN-10 3-540-24845-5
ISBN-13 978-3-540-24845-3
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V

Vorwort
Die medizinische Psychologie hat mittlerweile eine über 150-jährige Geschichte und wird
dennoch häufig als junges Fach in der Medizin wahrgenommen. Dies mag zum einen an der
erst 1973 stattgefundenen Aufnahme in den verbindlichen Fächerkanon der medizinischen
Ausbildung, zum anderen mit der langsam voranschreitenden Identitätsfindung im Rahmen
einer naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Medizin liegen.
Die Inhalte des Faches wurden durch den Gegenstandskatalog festgelegt und spiegeln sich
in den Themen des ersten Kongresses »Psychologie in der Medizin« in Ulm wieder. Eine erste
Bilanz der Anwendungs- und Forschungsfelder des Faches wurde 1982 auf dem IV. Kongress
in Hannover gezogen. Als Themen der Symposien und der Arbeitsgruppen werden die Modi-
fikation des Gesundheitsverhaltens, die Compliance, die Analyse ärztlicher Gespräche, die
Situation der Patienten in der Intensivmedizin, die Psychoonkologie, OP-Ängste, die Psycho-
logie in der Gynäkologie und die Funktionsdiagnostik genannt.
Diese Tagung wollte nicht nur das in der Zwischenzeit erarbeitete aufzeigen, sondern
darüber hinaus neue Forschungsfelder benennen.
In den folgenden Jahren kam es zu einer weiteren Konsolidierung der Anwendungs- und
Forschungsfelder. Daneben richtete sich das Interesse der Medizinpsychologen auf neue
Forschungsfragen. Dies ist am Kongress in Mainz 1992 gut erkennbar, auf dem sich ständige
Arbeitskreise vorstellten und für die neuen Bereiche ad hoc Arbeitskreise gebildet wurden. Zu
den etablierten Fragenbereichen waren die Psychoneuroimmunologie,die Psychodermatologie,
die Neuropsychobiologie und der Schmerz hinzugetreten. Die neuen Fragen bezogen sich
außerdem auf die Didaktik des Faches, die Geschichte der medizinischen Psychologie, den
Umgang mit qualitativen Verfahren, den Einsatz von Computern in der Medizin und die
medizinisch-psychologischen Aspekte des Sterbens.
Ziehen wir 20 Jahre nach dem Kongress in Hannover erneut eine Bilanz der Anwendungs-
und Forschungsfelder der medizinischen Psychologie, zeigt sich, dass die Fragenfelder relativ
konstant weiterbearbeitet wurden. Die oben angeführten Themenbereiche werden auch in
dem vorliegenden Buch wieder aufgegriffen und weitergeführt.
Die medizinische Psychologie als Psychologie in der Medizin kann sich als Vermittler von
psychologischem Wissen an die Medizin verstehen. Unter dieser Perspektive hat sie neue
Erkenntnisse der Psychologie in ihren verschiedenen Untergliederungen, wie z. B. der
Sozialpsychologie, der Biopsychologie, der klinischen Psychologie oder der Gesundheits-
psychologie, um nur einige Fachgebiete zu nennen, aufzunehmen und auf die Medizin anzu-
wenden. Umgekehrt entstehen Fragen in der Medizin, die psychologische Konstrukte und
Prozessmodelle berühren. Hier sei an die Diskussion über eine Persönlichkeitsdisposition
(Typ-A-Verhalten) in Bezug auf eine erhöhte Vulnerabilität für Koronarerkrankungen erinnert
oder an die Frage, wie Präventionsprogramme zu gestalten sind, wenn man zum Beispiel die
»Theorie des geplanten Verhaltens« heranzieht.
Das vorliegende Buch gibt nun einen Überblick zu Themen, die in der medizinischen
Psychologie beforscht werden und zudem Gegenstand der neuen Approbationsordnung für
Mediziner seit 2003 sind.Dabei sind zu den »alten« Themen,wie u. a.Fragen der Psychoonkologie
oder der Psychodermatologie, neue Aspekte hinzugetreten, die sich aus der Entwicklung der
Medizin ergeben haben.
Zu den »alten« Themen zählt die ärztliche Gesprächsführung. Dieses Themengebiet ist ein
Kernbereich des Gegenstandskataloges der medizinischen Psychologie und wird von den
Medizinstudenten häufig als das zentrale Thema der medizinpsychologischen Kurse und
VI Vorwort

Seminare angesehen, da sie sich auf dem Gebiet der ärztlichen Gesprächsführung unsicher
fühlen und sich einen Kompetenzzuwachs erhoffen. Frau Brucks hat diesen Bereich kompetent
in diesem Buch dargestellt. Mein Dank gilt ihr in besonderem Maße, da sie diese Arbeit trotz
einer schweren Krankheit verrichtete. Leider kann sie die Veröffentlichung ihres Beitrags nicht
mehr erleben, da sie 2003 verstarb.
Seit den 70-er Jahren werden in zunehmendem Maße als eine Behandlung einer Organ-
schädigung oder eines Organversagens Transplantationen durchgeführt. Damit eröffnete sich
ein neues Forschungsfeld, in dem gefragt wurde, welche psychologischen Begleit- und
Folgeerscheinungen mit einer Transplantation (z. B. eines Herzens oder einer Niere) bei diesen
Patienten einhergehen. Eng verwandt damit ist die Frage der Psychotraumatologie – nämlich,
ob z. B. schwere operative Eingriffe, wie sie eine Transplantation darstellt, zu posttraumatischen
Belastungsstörungen bei den Patienten führen.
Im Kanon der letzten 30 Jahre sind außerdem zwei Themen nur am Rande aufgeführt, die
nun in diesem Buch ausführlich dargestellt werden. Dies sind zum einen Fragen, die sich auf
chronisch erkrankte Kinder und Jugendliche richten und zum anderen Fragen, die innovative
Behandlungsmöglichkeiten bei neurologischen Erkrankungen vorstellen.
Das vorgelegte Buch, in dem Beiträge des Kongresses »Medizinische Psychologie – state of
the art« in Dresden 2002 vereint sind, gibt somit den Stand des Faches in einigen Kernbereichen
nach seiner kurzen, 30-jährigen Etablierung im Fach der Medizin wieder und führt in neue
Forschungs- und Anwendungsgebiete ein.

Dresden, Januar 2005 Friedrich Balck


VII

Inhaltsverzeichnis
1 Frühe medizinische Psychologie: 2.2 Interozeptionsforschung . . . . . . . . . . . 20
Friedrich Gustav Bräunlich 2.2.1 Zugangsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . 20
(1800–1875) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2.2.2 Beispiel kardiovaskuläre Parameter . . . . 21
G. Huppmann 2.3 Klinische Relevanz der Interozeptions-
1.1 Friedrich Gustav Bräunlich (1800–1875) . . 2 forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.1.1 Ergobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.1.2 Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.3 Bräunlichs Gründungsleistungen 3 Medizinische Psychologie
im Spiegel des psychiatriegeschichtlichen in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . 29
Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 H. J. Hannich
1.1.4 Bräunlichs psychische Heilmittellehre 3.1 Die Einführung der Psychologie
im Spiegel psychiatrischen Schrifttums . . 5 in die Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . 30
1.2 Bräunlichs Psychologie . . . . . . . . . . . . 5 3.2 Inhaltliche Schwerpunkte . . . . . . . . . . 31
1.2.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3.2.1 Situation der Patienten . . . . . . . . . . . . 31
1.2.2 Leib-Seele-Zusammenhang . . . . . . . . . 6 3.2.2 Situation der Angehörigen . . . . . . . . . . 32
1.2.3 Bewusstes und Unbewusstes . . . . . . . . 6 3.2.3 Situation des Behandlungspersonals . . . 32
1.2.4 Psychische Funktionsbereiche . . . . . . . . 6 3.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . 33
1.2.5 Gemüt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
1.2.6 Temperamente . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.7 Gemütsbewegung und Affekt . . . . . . . . 7 4 Psychosomatische Dermatologie . . . . 35
1.2.8 Unangenehme und angenehme J. Kupfer, U. Gieler
Gemütsbewegungen . . . . . . . . . . . . . 7 4.1 Systematik psychischer Aspekte
1.2.9 Physiologie der Gemütsbewegungen . . . 7 in der Dermatologie . . . . . . . . . . . . . . 36
1.2.10 Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 4.2 Epidemiologie psychischer Erkrankungen
1.2.11 Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 bei Hautpatienten . . . . . . . . . . . . . . . 38
1.3 Bräunlichs »Psychische Heilmittellehre« 9 4.3 Lebensqualität bei Hautpatienten . . . . . 40
1.3.1 Prolegomena (1833) . . . . . . . . . . . . . . 9 4.4 Affektive Störungen bei Hautkrankheiten 40
1.3.2 Systematik (1839) . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4.5 Stress und Hautkrankheiten . . . . . . . . . 41
1.3.3 Gemütsbewegungen als Heilmittel 4.6 Psychotherapeutische Ansätze
bei somatisch Kranken . . . . . . . . . . . . 10 und Schulungsprogramme in der
1.3.4 »Tätigkeiten des Verstandes« als Heilmittel Dermatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
bei körperlichen Krankheiten . . . . . . . . 12 4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.3.5 »Tätigkeiten der Vernunft« als Heilmittel Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
bei körperlichen Krankheiten . . . . . . . . 12
1.3.6 Bräunlichs Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 5 Psychoophthalmologie . . . . . . . . . . . 47
1.4 Bräunlich ein Vorläufer Freuds? . . . . . . . 13 G. H. Franke
1.5 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 5.1 Übersicht über bisherige Schwerpunkte 48
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 5.1.1 Psychoophthalmologische Untersuchun-
gen spezifischer Augenerkrankungen . . . 49
2 Einblicke in die Innensicht: Zum Stand 5.1.2 Psychoophthalmologische Auswirkungen
der Interozeptionsforschung . . . . . . . 17 ophthalmologischer Interventionen . . . . 50
V. E. Kollenbaum 5.2 Ein rehabilitationspsychologischer
2.1 Dimensionen des Körpererlebens . . . . . 18 Zugang zur Psychoopthalmologie . . . . . 51
2.1.1 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 5.2.1 Rehabilitationspsychologisch relevante
2.1.2 Interpersonalität . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
VIII Inhaltsverzeichnis

5.2.2 Rehabilitationspsychologische Diagnostik 52 8 Psychoonkologie – auf dem Weg


5.2.3 Rehabilitationspsychologische zu einem neuen Common Sense? . . . . 91
Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 F. Schulz-Kindermann
5.3 Der psychoophthalmologische Einzelfall 53 8.1 Frühere Ansätze eines Common Sense
5.3.1 Diagnosestellung . . . . . . . . . . . . . . . . 55 in der Psychoonkologie . . . . . . . . . . . . 92
5.3.2 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 8.2 Ein neuer Common Sense in der
5.3.3 Behandlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . 55 Psychoonkologie: Die Orientierung an
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 systematischer Bedarfsanalyse und
deren kontrollierte Umsetzung in die
6 Biopsychosoziale Mechanismen klinische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
der Chronifizierung von Rücken- 8.2.1 Identifikation des Bedarfs in der Vorberei-
schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 tungs- und der Akutphase einer Knochen-
M. Hasenbring, B. Klasen, D. Hallner markstransplantation (KMT) . . . . . . . . . 96
6.1 Inhaltliche Schwerpunkte 8.2.2 Entwicklung von Behandlungsleitlinien
und Forschungsmethodik . . . . . . . . . . 60 für die Vorbereitungs- und Akutphase . . 96
6.2 Chronifizierung auf somatischer Ebene . . 61 8.2.3 Identifikation des Bedarfs in der
6.3 Chronifizierung auf der Basis zentral- Nachsorgephase . . . . . . . . . . . . . . . . 97
nervöser Neuroplastizität . . . . . . . . . . . 64 8.2.4 Entwicklung von Behandlungsleitlinien
6.4 Chronifizierung auf psychischer Ebene . . 65 für die Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.4.1 Der Einfluss der emotionalen Stimmung 65 8.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.4.2 Der Einfluss chronisch anhaltender Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Alltagsbelastungen . . . . . . . . . . . . . . 66
6.4.3 Der Einfluss der individuellen 9 Transplantationspsychologie . . . . . . . 101
Schmerzbewältigung . . . . . . . . . . . . . 67 K.-H. Schulz, U. Koch
6.5 Chronifizierung auf der sozialen Ebene . . 69 9.1 Der Spender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
6.6 Risikofaktorenmodell im Zusammenhang 70 9.1.1 Organspendebereitschaft . . . . . . . . . . 103
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 9.1.2 Lebendspende . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
9.2 Der Empfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
7 Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept 9.2.1 Prä-, peri- und postoperative
zur Depressionsbehandlung nach psychosoziale Probleme . . . . . . . . . . . 108
Herzinfarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 9.2.2 Lebensqualitätsstudien . . . . . . . . . . . . 108
U. Dörner, F. A. Muthny 9.2.3 Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.1 Epidemiologie und Pathogenese 9.2.4 Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
der koronaren Herzkrankheit (KHK) . . . . 74 9.2.5 Berufliche Reintegration. . . . . . . . . . . . 113
7.2 Psychosoziale Faktoren im Rahmen 9.3 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
des Risikofaktorenmodells der KHK . . . . 75 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.3 Belastungen durch die Erkrankung
und Coping-Prozesse . . . . . . . . . . . . . 77 10 Entwicklungen der medizinischen
7.4 Belastungen durch diagnostische Psychologie: Neuroprothesen
und therapeutische Maßnahmen . . . . . . 79 für neurologische Erkrankungen . . . . 117
7.5 Kardiologische Erkrankungen und die U. Strehl, T. Hinterberger, R. Veit
Bedeutung der sozialen Unterstützung . . 81 und N. Birbaumer
7.6 Bedeutung von Depressionen und Angst 10.1 Die Methode: Training zur Selbstregulation
für Entstehung und Verlauf der KHK . . . . 81 von Hirnpotentialen . . . . . . . . . . . . . . 118
7.7 Psychosoziale Interventionen und ihre 10.2 Warum langsame Potentiale? . . . . . . . . 119
Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 10.2.1 Hard- und Software . . . . . . . . . . . . . . 119
7.8 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . 84 10.2.2 Anwendungsbeispiel:
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Therapie fokaler Epilepsien . . . . . . . . . 120
IX
Inhaltsverzeichnis

10.2.3 Anwendungsbeispiel: 13.3 Medizinpsychologische Aspekte


Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen 121 der Telemedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
10.2.4 Anwendungsbeispiel: Kommunikation . . 123 13.4 Ausgewählte psychosoziale Anwendungs-
10.3 Quo vadis – medizinische Psychologie? . . 124 felder der Telemedizin . . . . . . . . . . . . . 158
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 13.4.1 Veränderte Formen der Informations-
verarbeitung und Bedeutung für den
11 Psychotraumatologie – Grundlagen diagnostischen Prozess und die Arzt-
und Anwendungen in medizinischen Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . 158
Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 13.4.2 Distanzkommunikation in der Telemedizin
T. Zöllner, A. Maercker und Einfluss auf die Arzt-Patient-
11.1 Die Psychotraumatologie – ein neues Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Stressfolgenparadigma und neu definierte 13.4.3 Telemedizin in der psychotherapeutischen
Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
11.2 Erweiterungen des PTB-Konzepts 13.4.4 Telemedizin und Überwachung/
auf lebensbedrohliche Erkrankungen . . . 130 Monitoring von Patienten . . . . . . . . . . 162
11.3 Sekundär oder berufsbedingt 13.4.5 Telemedizin bei invasiven Eingriffen:
Traumatisierte als weitere Risikogruppen 133 Telechirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
11.4 Prävention und Interventionen 13.4.6 Psychosoziale Aspekte der Nutzung
für Hochrisikogruppen . . . . . . . . . . . . 134 des Internets in der medizinischen
11.5 Potenzen und Grenzen der Psycho- Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
traumatologie in medizinischen Kontexten 135 13.4.7 Neue elektronische Techniken
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 im Verwaltungsmanagement . . . . . . . . 164
13.5 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
12 Chronisch kranke Kinder und Jugend- Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
liche: Die (Neu)Entdeckung des
Struwwelpeters durch die verhaltens- 14 Psychologie in der Zahnmedizin . . . . . 167
pädiatrische Forschung? . . . . . . . . . . 141 J. Margraf-Stiksrud
W.-D. Gerber, G. Gerber-von Müller 14.1 Psychologische und verhaltensmedi-
12.1 Epidemiologische und psychosoziale zinische Aspekte von Erkrankungen
Aspekte chronischer Erkrankungen in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde 168
bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . 142 14.1.1 Entstehung von Erkrankungen:
12.2 Ein verhaltenspädiatrisches Modell Parafunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
der Migräne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 14.1.2 Verlauf von Erkrankungen:
12.2.1 Kindliche Migräne: Parodontitis und Stress . . . . . . . . . . . . 171
vererbt und/oder gelernt? . . . . . . . . . . 144 14.1.3 Therapie von Erkrankungen:
12.2.2 Migräne als cerebrale Reizverarbeitungs- Gesichtstumore . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 14.1.4 Psychosomatische Reaktionen . . . . . . . 173
12.3 Vom Modell zur verhaltenspädiatrische 14.2 Die zahnärztliche Behandlungssituation 175
Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 14.2.1 Zahnbehandlungsangst . . . . . . . . . . . 176
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 14.2.2 Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
14.2.3 Zahnärztliche Gesprächsführung . . . . . . 179
13 Medizinpsychologische Implikationen 14.2.4 Stressbewältigung: die berufliche
der Telemedizin . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Situation des Zahnarztes . . . . . . . . . . . 181
S. Schmidt, U. Koch 14.3 Prävention und Gesundheitsförderung . . 183
13.1 Telemedizin als innovatives Feld 14.3.1 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
in der medizinischen Versorgung . . . . . . 154 14.3.2 Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . 184
13.2 Hemmende Einflüsse auf die 14.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
telemedizinischen Entwicklungen . . . . . 155 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
X Inhaltsverzeichnis

15 Ärztliche Gesprächsführung . . . . . . . 191


U. Brucks-Wahl
15.1 Definition des ärztlichen Gesprächs . . . . 192
15.2 Die Analyse des ärztlichen Gesprächs –
Ergebnisse und Perspektiven
der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
15.3 Die Lehre ärztlicher Gesprächsführung –
aktueller Stand und Perspektiven . . . . . . 199
15.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

16 Sterben, Tod und Trauern


aus medizinpsychologischer Sicht . . . 203
J. Wittkowski
16.1 Dimensionen der Einstellung gegenüber
Sterben und Tod und Verfahren zu ihrer
Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
16.2 Verlauf des Sterbeprozesses . . . . . . . . . 205
16.3 Betreuung und Begleitung sterbender
Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
16.4 Umgang mit unheilbar kranken Kindern 208
16.5 Psychische Belastungen von Ärzten und
Pflegekräften im Umgang mit unheilbar
Kranken und Sterbenden . . . . . . . . . . . 208
16.6 Trauer(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
16.7 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . 210
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
XI

Autorenverzeichnis
Balck, F., Prof. Dr. Gerber-von Müller, G., Klasen, B., Dipl.-Psych.
Medizinische Psychologie Dipl.-Soz.-Päd. Abteilung für Medizinische
und Med. Soziologie Hardenbergstr. 18, 24105 Kiel Psychologie und Medizinische
Universitätsklinikum Carl-Gustav- Soziologie, Ruhr-Universität
Carus, Technische Universität Gieler, U., Prof. Dr. Bochum, Universitätsstr. 150,
Dresden, Fetscherstr. 74, Klinik für Psychosomatik 44801 Bochum
01307 Dresden und Psychotherapie,
Justus-Liebig-Universität Gießen, Koch, U., Prof. Dr. Dr.
Birbaumer, N., Prof. Dr. Ludwigstr. 76, 35392 Gießen Institut und Poliklinik für
Institut für Medizinische Medizinische Psychologie,
Psychologie und Verhaltens- Hannich, H.-J., Prof. Dr. Zentrum für Psychosoziale Medizin,
neurobiologie, Eberhard- Institut für Medizinische Universitätsklinikum Hamburg-
Karls-Universität Tübingen, Psychologie, Ernst-Morizt-Arndt- Eppendorf, Martinistr. 52,
Gartenstr. 29, 72074 Tübingen, Universität Greifswald, 20246 Hamburg
Zentrum für Kognitive Walther-Rathenau-Str. 48,
Neurowissenschaften, 17487 Greifswald Kollenbaum, V.-E., PD Dr. Dr.
Universität Trient/Italien, Fachklinik Heiligenfeld GmbH,
Via Inama 5, Hallner, D., Dr. Dipl.-Psych. Postfach 1260, 97662 Bad Kissingen
83100 Trient/Italien Abteilung für Medizinische
Psychologie und Medizinische Kupfer, J., PD Dr.
Brucks-Wahl, U., Soziologie, Ruhr-Universität Abteilung für Medizinische
PD Dr. Dipl.-Psych., † Bochum, Universitätsstr. 150, Psychologie, Justus-Liebig-
44801 Bochum Universität Gießen, Friedrichstr. 36,
Dörner, U., Dr. Dipl.-Psych. 35392 Gießen
Institut für Medizinische Hasenbring, M., Prof. Dr.
Psychologie, Universitätsklinikum Abteilung für Medizinische Maercker, A., Prof. Dr. Dr.
Münster, Westfälische Wilhelms- Psychologie und Medizinische Abteilung für Klinische
Universität Münster, Soziologie, Ruhr-Universität Psychologie, Psychosomatik und
Von-Esmarch-Str. 52, Bochum, Universitätsstr. 150, Psychotherapie, Fachbereich I –
48149 Münster 44801 Bochum Psychologie, Universität Trier,
54286 Trier
Franke, G. H., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Hinterberger, T., Dr. Dipl.-Psych.
Studiengang Rehabilitations- Institut für Medizinische Margraf-Stiksrud, J.,
psychologie, Hochschule Psychologie und Verhaltens- Dr. Dipl.-Psych.
Magdeburg-Stendal, neurobiologie, Eberhard-Karls- Fachbereich Psychologie,
Osterburger Str. 25, Universität Tübingen, Philipps-Universität Marburg,
39576 Stendal Gartenstr. 29, 72074 Tübingen Gutenbergstr. 18, 35032 Marburg

Gerber, W.-D., Prof. Dr. Huppmann, G., Prof. Dr. Muthny, F. A., Prof. Dr. Dr.
Institut für Medizinische Abteilung für Medizinische Institut für Medizinische
Psychologie und Medizinische Psychologie und Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum
Soziologie, Universitätsklinikum Soziologie, Fachbereich Medizin, Münster, Westfälische Wilhelms-
Schleswig-Holstein, Johannes-Gutenberg- Universität Münster,
Diesterwegstr. 10–12, Universität Mainz, Saarstr. 21, Von-Esmarch-Str. 52,
24113 Kiel 55099 Mainz 48149 Münster
XII Autorenverzeichnis

Schmidt, S., Dr.


Institut und Poliklinik für
Medizinische Psychologie,
Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Hamburg-
Eppendorf, Martinistr. 52,
20246 Hamburg

Schulz, K.-H., PD Dr. Dr.


Institut und Poliklinik für
Medizinische Psychologie,
Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Hamburg-
Eppendorf, Martinistr. 52,
20246 Hamburg

Schulz-Kindermann, F., Dr.


Zentrum für Knochenmarkstrans-
plantation, Augenklinik,
Universitätsklinikum Hamburg-
Eppendorf, Martinistr. 52,
20246 Hamburg

Strehl, U., Dr.


Institut für Medizinische
Psychologie und Verhaltens-
neurobiologie, Eberhard-
Karls-Universität Tübingen,
Gartenstr. 29, 72074 Tübingen

Veit, R., Dr. Dipl.-Psych.


Institut für Medizinische
Psychologie und Verhaltens-
neurobiologie, Eberhard-
Karls-Universität Tübingen,
Gartenstr. 29, 72074 Tübingen

Wittkowski, J.,
Prof. Dr. Dipl.-Psych.
Praxis für Psychologische
Diagnostik und Beratung,
Bremenweg 30, 97084 Würzburg

Zöllner, T., Dipl.-Psych.


Medizinisch-Psychosomatische
Klinik Roseneck, Am Roseneck 6,
83209 Prien am Chiemsee
1

Frühe medizinische Psychologie:


Friedrich Gustav Bräunlich (1800–1875)
G. Huppmann

1.1 Friedrich Gustav Bräunlich (1800–1875) –2


1.1.1 Ergobiographie – 2
1.1.2 Emigration – 5
1.1.3 Bräunlichs Gründungsleistungen im Spiegel des psychiatriegeschicht-
lichen Schrifttums – 5
1.1.4 Bräunlichs psychische Heilmittellehre im Spiegel psychiatrischen
Schrifttums – 5

1.2 Bräunlichs Psychologie –5


1.2.1 Allgemeines – 5
1.2.2 Leib-Seele-Zusammenhang – 6
1.2.3 Bewusstes und Unbewusstes – 6
1.2.4 Psychische Funktionsbereiche – 6
1.2.5 Gemüt – 6
1.2.6 Temperamente – 6
1.2.7 Gemütsbewegung und Affekt – 7
1.2.8 Unangenehme und angenehme Gemütsbewegungen –7
1.2.9 Physiologie der Gemütsbewegungen – 7
1.2.10 Verstand – 8
1.2.11 Vernunft – 8

1.3 Bräunlichs »Psychische Heilmittellehre« –9


1.3.1 Prolegomena (1833) – 9
1.3.2 Systematik (1839) – 10
1.3.3 Gemütsbewegungen als Heilmittel bei somatisch Kranken – 10
1.3.4 »Tätigkeiten des Verstandes« als Heilmittel bei körperlichen
Krankheiten – 12
1.3.5 »Tätigkeiten der Vernunft« als Heilmittel bei körperlichen
Krankheiten – 12
1.3.6 Bräunlichs Fazit – 13

1.4 Bräunlich ein Vorläufer Freuds? – 13


1.5 Schluss – 14
Literatur – 14
2 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

 Sein wissenschaftliches Interesse galt damals ne-


1 ben der »Konzentrativen Selbstentspannung« der
»Die Geschichte einer Wissenschaft ist die Wissen- Traumpsychologie (Schultz 1924), der Psychoana-
schaft selbst«, heißt es in Ernst v. Feuchterslebens lysekritik (Schultz 1921a) und der Anwendung ver-
(1806–1849) Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde schiedener Psychotherapieverfahren in der ärzt-
aus dem Jahre 1845 (v. Feuchtersleben 1845, S. 5). – lichen Allgemeinpraxis (Schultz 1921b).
Wissenschaftsgeschichte mag als Ideen-, Problem- »Die Geschichte einer Wissenschaft ist die Wis-
oder Methodengeschichte begriffen werden, im- senschaft selbst.« – So zutreffend dieser Satz auch
mer wird sie auch auf die Namen derer rekurrieren sein mag, in ihrem kollektiven Gedächtnis bleiben
müssen, die sich in Forschung, Lehre und/oder meist nur jene ihrer Vertreter präsent, denen man
Praxis um das betreffende Fachgebiet verdient ge- bahnbrechende Erkenntnisse, spezifische Beiträge
macht haben. Dies als Ikonographie zu diskreditie- zur Institutionalisierung des jeweiligen Faches und/
ren, greift mit Sicherheit fehl. oder hervorragende praxisbezogene Leistungen
Wer aus einer solchen Perspektive nach Wur- zuschreibt. Obzwar ebenfalls durch respektable
zeln der medizinischen Psychologie im Raume Dres- Schriften bzw. anderweitige berufsbezogene Akti-
den sucht, stößt bekanntlich auf die Werke zweier vitäten ausgewiesen, gerät mancher ihrer Kollegen
hochreputierter Gelehrter, nämlich Carl Gustav dagegen mit der Zeit völlig in Vergessenheit.
Carus (1789–1869) und Johannes Heinrich Schultz
(1884–1970). Verweise auf andere Autoren finden
sich im einschlägigen Schrifttum bislang nicht
(Huppmann u. Hoffmann 1977; Huppmann 2003). 1.1 Friedrich Gustav Bräunlich
Carus’ Schriften, wie etwa »Vorlesungen über (1800–1875)
Psychologie« (Carus 1831), »Psyche« (Carus 1846),
»Symbolik der menschlichen Gestalt« (Carus 1852) 1.1.1 Ergobiographie
oder »Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien
und ärztlichem Wirken…« (Carus 1859), wieder zu Ein Vorreiter der medizinischen Psychologie, dem
lesen, verspricht reichen Gewinn, beispielsweise be- bislang ein solches Schicksal widerfuhr, ist Fried-
zogen auf die Lehre vom Unbewussten, die Physio- rich Gustav Bräunlich, ehemals »praktischer Arzt
gnomik, das sog. Leib-Seele-Problem oder die Arzt- und Director der Privat-Heilanstalt zu Wacker-
Patient-Beziehung. Hervorzuheben ist nicht zuletzt barthsruhe bei Dresden« (Bräunlich 1839, Titel-
der Beitrag dieses Arztes, Wissenschaftlers und blatt). Er wurde 1800 zu Rauslitz nahe Nossen
Künstlers zur Etablierung der Psychologie im Be- (Sachsen) geboren und starb 1875 – an einem uns
reich der Medizin (Ficker 1995, 1996; Grosche 1996). nicht bekannten Ort – in den Vereinigten Staaten
Mit Schultz, einem Nervenarzt, verbinden wir von Amerika.
die Inauguration des autogenen Trainings (Schultz Bräunlich war der Sohn des evangelischen Pas-
1987, S. 5 ff.) sowie u. a. richtungweisende Abhand- tors Christian David Bräunlich (1754–1827) und
lungen zur Konzeptualisierung einer medizinischen dessen Ehefrau Friderica Concordia, geb. Müller
Psychologie (Schultz 1944, 1955). Von 1920 bis 1924 (Lebensdaten unbekannt). Schulisch durch die El-
war er Chefarzt und wissenschaftlicher Leiter der tern, einen Privatlehrer wie auch seinen älteren
»Gesundheitserziehungsanstalt Weißer Hirsch« in Bruder (einen Kandidaten der Theologie) bestens
Dresden, jenes bekannten Sanatoriums, das der vorbereitet, bezog er 1820 die Universität Leipzig,
Ingenieur und Mediziner Johann Heinrich Lahmann um Medizin zu studieren (Bräunlich 1825a). Dort
(1860–1905) im Jahre 1888 gegründet hatte (Shor- zählten der Psychiater Christian August Heinroth
ter 1990). Dass Schultz kurz nach Übernahme der (1773–1843) und der Frauenheilkundler Christian
o. g. Ämter zeitweise auch medizinische Psycholo- Gottlieb Joerg (1779–1856) zu seinen Lehrern. Eben
gie an der Dresdener Technischen Hochschule lehr- Bakkalaureus geworden, ging Bräunlich 1823 nach-
te, ist kaum mehr bekannt (Schultz 1964, S. 90 ff.). Waldheim, wo er unter Anleitung von Christian
▼ August Fürchtegott Hayner (1775–1837), dem »Haus-
1.1 · Friedrich Gustav Bräunlich (1800–1875)
3 1

arzt« der dortigen Irrenheilanstalt, erste Erfahrun- Strafen aufwachsen können sowie individualisiert
gen in der Krankenbehandlung sammeln konnte. erzogen werden; andererseits warnt er vor dem
Diesem, einem der Reformatoren des deutschen »Laster der Onanie«, das sich bei ihnen aufgrund
»Irrenwesens« (Hayner 1817, 1822, 1829; Huppmann vorzeitiger sexueller Aufklärung einzustellen dro-
1980), sollte er stets verbunden bleiben. he (Rutschky 1977, S. 40 bzw. 89 ff.).
Schon im Jahre 1824 kehrte Bräunlich an seinen Schon 1831 brachte Bräunlich seine nächste
Studienort zurück. Als »Candidat« der Medizin wissenschaftliche Arbeit heraus (Bräunlich 1831);
hörte er nun u. a. den Kliniker Johann Christian sie hat die Cholera asiatica zum Thema, jene ge-
August Clarus (1774–1854), Gutachter übrigens im fährliche Seuche, die damals in Dresden gras-
Kriminalfall Johann Christian Woyzeck (1780– sierte.
1824) (Clarus 1825, 1826), welcher Georg Büchner Spätestens 1833 muss Bräunlich sich unweit da-
(1813–1837) zur Vorlage seines Schauspiels »Woy- von als praktischer Arzt niedergelassen haben. In
zeck« dienen sollte (Pörnbacher et al. 1988). dieser Eigenschaft begründete er im gleichen Jahr
1825 wurde Bräunlich mit einer »pathologisch- die bereits genannte private Heilanstalt Wacker-
therapeutischen« Inauguraldissertation des Titels barthsruhe, benannt nach dem ehemaligen Anwe-
»De Hysteria« zum Doktor der Medizin promoviert sen des Grafen Christoph August v. Wackerbarth
(Bräunlich 1825b). Präses des Verfahrens war Wil- (1662–1736), der unter August dem Starken (1670–
helm Andreas Haase (1784–1837), ein Kliniker, der 1733) als Feldmarschall gedient hatte (Bräunlich
an der Universität Leipzig »Materia medica« las 1837, S. V, 1839, S. VI; Kleine-Natrop 1964, S. 107). Die
(Haase 1817). – Die Promotionsschrift dokumen- Einrichtung beherbergte – seinerzeit wohl eher die
tiert das frühe Interesse unseres Autors an der Ausnahme – psychisch und körperlich Kranke.
auch psychischen Behandlung körperlich Kranker: Möglicherweise unter dem Einfluss von v. Nostitz
Die Hysterie hielt man damals ja weithin für eine und Jänkendorf gegründet, war sie klinisch-
somatische Störung. Bräunlich schlug vor, jener psychiatrisch ganz offensichtlich auf der Höhe
ihrer Formen, die auf Onanie zurückzuführen sei, ihrer Zeit. Beim Umgang mit Patienten wurde
gleichzeitig medikamentös und mit seelischen Mit- Bräunlich, seinen eigenen Aussagen zufolge, immer
teln (etwa Ermahnungen) zu begegnen (Bräunlich mehr bewusst, dass man bei ihrer Behandlung zu
1825b, S. 24). wenig Wert auf psychische Heilmittel legte (Bräun-
Wo und womit er danach beschäftigt war, ist lich 1839, S. VI), ein Mangel, dem er begegnen woll-
nicht mehr zu ermitteln. 1829 finden wir ihn jeden- te. Sein Interesse an einer »moralischen« Therapie
falls in Freiberg (Sachsen) als niedergelassenen könnte schon durch Hayner geweckt worden sein,
praktischen Arzt tätig. Noch im selben Jahr er- der ja im Zusammenhang mit der Betreuung Geis-
schien seine erste Publikation: »Ueber körperliche teskranker mehrfach darüber publiziert hatte
Erziehung des Menschen von der Geburt bis zu der (Hayner 1822, 1829).
Geschlechtsreife« (Bräunlich 1829). Sie ist Gottlob 1844 hat Michael Viszánik (1792–1872) – damals
Adolf Ernst v. Nostitz und Jänckendorf (1795–1836), Leiter der Wiener Irrenanstalt – Bräunlichs Privat-
einem der Reorganisatoren des sächsischen An- klinik besucht. Sein Bericht darüber gibt die At-
staltswesens, gewidmet (v. Nostitz und Jänckendorf mosphäre wieder, welche in dieser auf 24 Kranke
1829a–c; Ihlberg 1926). Ganz offensichtlich aus gro- ausgelegten (seinerzeit aber nur 12 »Verpflegte«
ßer Liebe zu Kindern heraus verfasst, spiegelt das beherbergenden) Institution herrschte (Viszánik
Erstlingswerk Bräunlichs den Geist wahrer Aufklä- 1845, S. 64):
rung im Sinne Jean-Jaques Rousseaus (1712–1788)
wider (Rousseau 1762). Durchaus zeittypisch ent- Ihre Lage ist sehr freundlich … Jedem Kranken
hält es freilich Passagen, welche der »Schwarzen ist ein eigenes Zimmer … und ein Wärter zur
Pädagogik« (Rutschky 1977) zuzurechnen sind: Wartung angewiesen, welch’ letzterer Umstand
Bräunlich spricht sich einerseits dafür aus, dass gegitterte Fenster entbehrlich macht. Das ge-
Mütter ihre Kinder selbst stillen, also nicht Ammen meinschaftliche Speisen an der Tafel des Doc-
überlassen; auch sollten sie natürlich und ohne ▼
4 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

tors, und die durch schöne Gartenanlagen sich dern, von früh an jedem dogmatischen Denken
1 darbietende Gelegenheit zu … Spaziergängen, abhold (Bräunlich 1829, S. 30), als echter Eklektiker
werden einen Theil in der Summe der übrigen zu gelten hat. Gleich seinen beiden Lehrern plädiert
wohlthuenden Einflüsse auf das Gemüth des er allerdings für eine humane und zugleich indivi-
Kranken ausüben. dualisierende (medizinische) Behandlung Geistes-
kranker. – Das Erscheinen der Monographie recht-
Ebenfalls aufgrund eigener Anschauung, lobt auch fertigt unser Autor damit, dass es »noch keine …
Oscar Mahir (1831–?), ein Münchner Psychiater, populäre Behandlung« der »Seelen=Heilkunde«
die Privatanstalt Wackerbarthsruhe als sehr schön gebe (Bräunlich 1837, S. III). Wohl wegen ihres wei-
(Mahir 1846, S. 156 ff). ten Adressatenkreises, Beleg seines Interesses an
Bemerkenswert erscheint, dass Bräunlich ne- einer familialen Betreuung Geisteskranker, findet
ben der gewiss anforderungsreichen Betreuung man darin kaum Verweise auf Schriften anderer
seiner Patienten Zeit zu wissenschaftlichen Ver- Autoren; namentlich werden lediglich einige Medi-
öffentlichungen fand. Noch 1833 kam nämlich sein ziner, wie z. B. Johann Christian Reil (1759–1813)
Buch »Die wiedererwachten Menschenblattern« und Vering, genannt, seinerzeit gewiss die wirk-
(Bräunlich 1833a) heraus. mächtigsten Anhänger der »psychischen Cur« see-
Auf das gleiche Jahr datiert die Publikation der lisch Kranker (Reil 1803; Vering 1817, 1818). Bräun-
ersten medizinisch-psychologisch relevanten Ab- lich selbst spricht sich gegen jede Art der Bestrafung
handlung Bräunlichs. Sie trägt den Titel »Das Ge- Geisteskranker, auch zu therapeutischen Zwecken,
müth rücksichtlich seines wichtigen Einflusses auf aus. In Heilanstalten möchte er ihnen möglichst
das körperliche Befinden des Menschen« (Bräun- Gelegenheit geboten wissen, produktiv zu arbeiten
lich 1833b) und ist dem von ihm hoch verehrten und sich »heiter« zu beschäftigen. An Zwangsmit-
Clarus gewidmet. Der Leser findet darin Bräunlichs teln erschien ihm einzig das Kamisol (die Zwangs-
Sicht des Leib-Seele-Verhältnisses, seine Einteilung jacke) akzeptabel. Nicht ohne Stolz berichtet er,
der Temperamente und eine differenzierte Pathe- dass von den 24 Geisteskranken, die er bis dato be-
matologie vorgestellt; ins Auge fällt, was er zum handelt habe, zwölf vollkommen geheilt und vier
Einsatz von Gemütsbewegungen bei der Behand- gebessert hätten entlassen werden können (Bräun-
lung somatisch Kranker schreibt (und mit zahl- lich 1837, S. 166, 167). Seine Klassifikation der Ar-
reichen zum Teil aus seiner eigenen Praxis stam- ten psychischer Störungen umfasst Gemütskrank-
menden Kasuistiken illustriert). – Genau 60 Jahre heiten (u. a. »Irreseyn«, Melancholie), Verstandes-
zuvor hatte Marcus Herz (1747–1803) der medizini- krankheiten (Verwirrtheit, Wahnsinn, Narrheit)
schen Psychologie den Namen gegeben und das und Vernunftkrankheiten (u. a. Verrücktheit, Toll-
Leib-Seele-Problem sowie die Leidenschaften und heit, Tobsucht). Er beschreibt auch ausführlich die
deren Induktion zu Heilzwecken im Falle körper- »specielle psychische Behandlung« der betreffen-
licher Leiden zu den Inhalten dieser wissenschaft- den Kranken.
lichen Disziplin erklärt (Herz 1773). Dass sich Bräunlichs medizinisch-psychologisches Haupt-
Bräunlich mit genau diesen Themen befasst hat, werk »Psychische Heilmittellehre für Aerzte und
erweist ihn neben Albert Mathias Vering (1773– Psychologen« (Bräunlich 1839) kam 1839 heraus.
1829) (Vering 1817, 1818) als einen der ersten Reprä- Es belegt seine umfassende Kenntnis des pa-
sentanten der von Herz inaugurierten ärztlichen thematologischen Schrifttums (Bräunlich 1839,
Wissenschaft. S. 78 ff.). So verweist er u. a. auf die Schriften von
»Ueber die Irren und deren psychische Be- Georg Ernst Stahl (1659–1734) (Stahl 1708), Johann
handlung für Aerzte und Gebildete aus allen Stän- Friedrich Zückert (1737–1778) (Zückert 1774),
den« ist Bräunlichs nächste Veröffentlichung beti- Friedrich Christian Gottlieb Scheidemantel (1735–
telt (Bräunlich 1837). Sie wurde 1837 publiziert und 1796) (Scheidemantel 1787), Michael v. Lenhos-
zeigt, dass er unter den damaligen Psychiatern we- sek (1773–1840) (v. Lenhossek 1824) und des von
der zu den »Somatikern«, wie etwa Hayner, noch zu ihm außerordentlich geschätzten Vering (1817,
den »Psychikern«, wie etwa Heinroth, zählte, son- 1818).
1.2 · Bräunlichs Psychologie
5 1

Zwar hatte es ihm fern gelegen, seine psychische 1.1.3 Bräunlichs Gründungsleistungen
Heilmittellehre mit einer ebenso ausführlichen wie im Spiegel des psychiatriegeschicht-
»erschöpfenden« Psychologie zu fundieren (Bräun- lichen Schrifttums
lich 1839, S. 105); gleichwohl vermittelt seine Mono-
graphie dem Leser einen differenzierten (wesentlich Dass Bräunlich zwei Privatanstalten für psychisch
psychiatrisch fundierten) Ansatz praxisrelevanter (und somatisch) Kranke gegründet hat, ist im
medizinischer Psychologie. Aus den psychischen neueren psychiatriegeschichtlichen Schrifttum
Funktionsbereichen »Gemüth«, »Verstand« und kaum mehr beachtet worden. Ackerknecht (1986,
»Vernunft« leitet er eine Fülle psychotherapeutischer S. 394) z. B. verliert kein Wort darüber, ja er meint
Interventionsmöglichkeiten bei der ärztlichen Be- sogar fälschlich, der Psychiater Heinrich Neumann
handlung physisch Kranker ab. (1814–1884) habe 1858 in Poppelwitz die erste der-
In der Folgezeit kam Bräunlichs schriftstelleri- artige Institution in Ostdeutschland eröffnet. Bei
sche Produktion völlig zum Erliegen (Gesamtver- Kreuter (1996, S. 173, 926) werden Wackerbarths-
zeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1980, ruhe und Lindenhof wenigstens wieder erwähnt.
S. 453). Seine ärztliche Allgemeinpraxis und die
Tätigkeit als Direktor einer privaten Heilanstalt
ließen ihm offenbar keine Zeit mehr dazu. Dass er 1.1.4 Bräunlichs psychische Heilmittel-
1846 in Coswig bei Dresden zusammen mit seinem lehre im Spiegel psychiatrischen
Kollegen Lichtenberger (Lebensdaten nicht zu er- Schrifttums
mitteln) eine weitere psychiatrische Klinik, den
Lindenhof, eröffnete, hat sicher ebenfalls dazu bei- Bräunlichs »Psychische Heilmittellehre« wurde
getragen (Mahir 1846, S. 157). schon zu seinen Lebzeiten kaum rezipiert. Ledig-
lich seine psychiatrischen Kollegen Georg Fried-
rich Most (1794–1845) (Most 1842) und Christian
1.1.2 Emigration Conrad Weiß (1800–1859) (Weiß 1842; Voppel 1859),
mit dem er (wohl seit seiner Freiberger Zeit) gut
Nachdem er diese Einrichtung seinem Kollegen befreundet war, nehmen kurz darauf Bezug; bis in
Karl Heinrich Matthiae (Lebensdaten unbekannt) die jüngste Zeit hinein geriet sie vollständig in Ver-
übergeben hatte, wanderte Bräunlich 1851 mit sei- gessenheit (Kreuter 1996).
ner Familie nach Amerika aus. Eine Passagierliste
der Linie Bremen – New York legt davon Zeugnis ab
(Fischbeck, persönliche Mitteilung). Bekannt ist 1.2 Bräunlichs Psychologie
ansonsten nur, dass er 1875 sein Leben in den Ver-
einigten Staaten von Amerika beschloss (Kreuter 1.2.1 Allgemeines
1996, S. 926). – Inwieweit die politischen Verhält-
nisse ihn zur Emigration veranlasst hatten, bleibt Bräunlich war, dies zeigen sein großes praktisch-
zu ermitteln. Denkbar ist, dass er 1848 an der Revo- therapeutisches Engagement und sein wissen-
lution oder 1849 dem Dresdener Maiaufstand teil- schaftliches Oeuvre, mit Leib und Seele Arzt; er
genommen hatte und nach der Revolution hierzu- verfügte über ein ungewöhnlich breites medizin-
lande keine Zukunft mehr für sich und seine Ange- historisches Wissen (Bräunlich 1833b, 1837, 1839).
hörigen sah. Was bis 1861 mit Wackerbarthsruhe Einen guten Arzt kennzeichnet seiner Ansicht nach
geschah, liegt im Dunkeln; in diesem Jahr verlegte die »verständige Beobachtung der Natur« (Bräun-
Matthiae allerdings seine Privatanstalt eben dort- lich 1829, S. 31), ein Merkmal, das sich gewiss auch
hin (Kreuter 1996, S. 926; Schubert 1865; Lehmann bei ihm selbst fand. Handlungsleitend war für ihn
1910). die Ansicht, dass sich nächst der Philosophie die
Medizin das »erhabenste Forschungsziel« gesteckt
habe (Bräunlich 1833b, S. VI). Deren Aufgabe sah er
darin, den Menschen bis ins höchste Alter gesund
6 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

zu erhalten und jedem Kranken möglichst die ver- agiere sie überwiegend »unwillkürlich« (Bräunlich
1 lorene Gesundheit wiederzugeben. Was ihn aus- 1839, S. 11). Absichtsvoll herbeigeführte Muskel-
zeichnete, war die – damals keineswegs selbstver- kontraktionen bzw. nicht-willentliche Reaktionen
ständliche – Überzeugung, dass der ärztliche Be- innerer Organe, wie etwa des Herzens, zeigten die
handler bei körperlich wie psychisch Kranken Herrschaft der Seele über den Körper (Bräunlich
neben somatischen stets auch psychische Heilmit- 1839, S. 85 ff.).
tel anwenden sollte.

1.2.4 Psychische Funktionsbereiche


1.2.2 Leib-Seele-Zusammenhang
Dem Bild der fühlenden, denkenden und wollen-
Diese Sichtweise beruhte nicht zuletzt auf seiner den Seele entsprechend, postuliert Bräunlich drei
Auffassung vom Leib-Seele-Verhältnis. Anders als Stufen ihres gesamten »Wirkungsvermögens«: Ge-
Carus (1851; Graf-Häring 1990) vertrat Bräunlich müt, Verstand und Vernunft, eine Differenzierung,
bezogen darauf keine monistische, sondern eine die möglicherweise auf Vering zurückgeht. In bei-
dualistische Position. Körper und Geist seien, meint der Modellvorstellungen spielt das Triebleben so
er, miteinander »innig verkettet« und wirkten gut wie keine Rolle; aus ihrer Sicht ist ja der Mensch
wechselseitig aufeinander ein (Bräunlich 1839, primär und vor allem ein Vernunftwesen. Das Ge-
S. 110). Das Nervensystem vermittle zwischen der müt und dessen Bewegungen interessierte sie da-
Seele und dem übrigen Organismus. Sei der Leib gegen sehr; aus ihrer Sicht waren wohl die Gefühle
krank, werde sie möglicherweise ebenfalls erkran- die entscheidenden seelischen Antriebe.
ken; ein gestörter Geist wiederum ziehe häufig
auch die physische »Organisation« des betreffen-
den Individuums in Mitleidenschaft (Bräunlich 1.2.5 Gemüt
1833b, S. 2 ff., 1839, S. 10 ff.).
Im Gegensatz zu den Somatikern ist Bräunlich Auch Gefühlsvermögen genannt, umfasst das Ge-
der Auffassung, dass Soma und Psyche je für sich müt, nach Bräunlich die »unterste Potenz« des Wir-
allein krank werden könnten. Heinroths Stand- kungsvermögens der Seele, neben den Gemütsbe-
punkt, »Seelenkrankheiten« seien die Folge von wegungen das Gedächtnis und die Phantasie. Es sei
Sünde, erschien ihm inakzeptabel, das Vorkommen ihre »empfindende Kraft« (Bräunlich 1839, S. 112)
körperlich begründeter Geistesstörungen unzwei- und »Durchgangspunkt von der somatischen
felhaft (Bräunlich 1833b, S. 3 ff.). hinüber in die rein psychische Sphäre« zugleich
(Bräunlich 1839, S. 98, 1833b, S. 4). Dem Gemüt attes-
tiert er ganz allgemein die Fähigkeit, »die … von
1.2.3 Bewusstes und Unbewusstes außen oder innen veranlassten Veränderungen
unseres … Seins, sei es in der Vergangenheit, Ge-
Bräunlich nennt die Seele ein empfindendes, den- genwart oder Zukunft, mehr oder weniger lebhaft
kendes und begehrendes oder wollendes Wesen zu empfinden« (Bräunlich 1833b, S. 4).
immaterieller Natur (Bräunlich 1839, S. 81, 1833b,
S. 1). Um ihre Kräfte wirksam werden zu lassen,
bedürfe sie des Körpers als Instrument. Er unter- 1.2.6 Temperamente
schied zwei Modalitäten des psychischen Lebens
der Person: Über das »Cerebralsystem« empfinde Das – im Nervensystem wurzelnde – Temperament
die Seele bewusst; vermittels dessen werde sie auch des Individuums legt s. E. dessen gefühlsmäßige
willentlich aktiv. Von ihr via »Gangliensystem«, Affizierbarkeit fest: Gingen die Schwingungen in
dem anderen Teil des Nervensystems, aufgenom- den Nerven frei und leicht vonstatten, werde das
mene Empfindungen gelangten dagegen nur aus- Gemüt ohne großen Widerstand in Bewegung ge-
nahmsweise ins Bewusstsein; in dieser »Sphäre« setzt; daraus resultiere das sanguinische Tempera-
1.2 · Bräunlichs Psychologie
7 1

ment. Das cholerische wie auch das melancholische Schreck beispielsweise grenzt er folgendermaßen
Temperament basierten darauf, dass die Nerven- voneinander ab: Furcht sei das Vorgefühl einer ver-
schwingungen langsam und träge erfolgten. Da sie meintlichen oder realen Gefahr, die unsere »Per-
sich nur graduell voneinander unterschieden, sei sönlichkeit« zu beeinträchtigen oder gar zu zer-
ihre Abgrenzung ohne Belang. Dem phlegma- stören drohe. Angst träte auf, wenn eine derartige
tischen Temperament entsprächen sehr schwache Bedrohung unmittelbar gegeben sei. Werde das Ge-
und langsame Schwingungen des Nervensystems müt eines Menschen davon auch noch überrascht,
(Bräunlich 1839, S. 110, 112). – Insgesamt wisse man reagiere es mit Schreck (Bräunlich 1839, S. 95).
freilich noch nicht, woher »… jene eigenthümliche, Zu den angenehmen Gemütsbewegungen zählt
das Temperament bedingende Stimmung des Ner- Bräunlich im Wesentlichen Freude, Hoffnung und
vensystems komme« (Bräunlich 1839, S. 114). freudigen Glauben, die beiden letzteren verstanden
als unterschiedlich intensive Erwartung von Freu-
de, sowie Lust und freudigen Schreck, jeweils
1.2.7 Gemütsbewegung und Affekt höhergradige Ausprägungen der Freude, ggf. ge-
paart mit Überraschung. Überwiegend die Folge
Das Gemüt befinde sich, führt Bräunlich weiter aus, eines Aufhörens unangenehmer Gemütsbewegun-
meist in einem Zustand der Bewegung. Die ent- gen könnten sie im Gegensatz zu angenehmen
sprechende Empfindung könne entweder ange- Empfindungen meist nicht direkt herbeigeführt
nehmer oder unangenehmer Natur, plötzlich oder werden (Bräunlich 1839, S. 94).
langsam entstanden sein, vorübergehend oder an- Gemischte Gemütsbewegungen, d. h. das gleich-
dauernd bestehen. Das Gedächtnis sei die Fähigkeit zeitige Bestehen zweier Gefühle, gibt es nach
des Gemüts, sich frühere Empfindungen in Erinne- Bräunlich nicht; deren rascher Wechsel könne al-
rung zu rufen; die Phantasie repräsentiere das lerdings ein solches Mischungsverhältnis suggerie-
Vermögen, einstmals erlebte Gefühle – in Abwe- ren (Bräunlich 1833b, S. 8, 1839, S. 97).
senheit der sie erzeugenden Objekte – mehr oder
weniger modifiziert im Gemüt wieder hervorzu-
rufen (Bräunlich 1839, S. 3, 9). Im Regelfalle schränk- 1.2.9 Physiologie der Gemütsbewegungen
ten Verstand und Vernunft die Wirkung des jewei-
ligen Gemütszustandes auf sie unterschiedlich stark In welchem Bewegungszustand sich das Gemüt
ein. Verlören beide die Macht darüber, wandelten auch immer befinde, ob von Eindrücken aus der
sich Gemütsbewegungen zu Affekten; dies vor- Außenwelt, Veränderungen des physischen oder
zugsweise dann, wenn das Gemüt von unangeneh- des psychischen Lebens herrührend, stets wirke es
men Eindrücken affiziert werde. Bei starken Affek- vermittels der Nerven auf das »irritable System«,
ten sei das Gleichgewicht der Seelenkräfte aufge- ihre Zielorgane, ein (Bräunlich 1833 b, S. 10, 1839,
hoben, ein Zustand, der als »Seelenkrankheit« S. 116 ff.). Unangenehme Gemütsbewegungen wirk-
angesehen werden müsse (Bräunlich 1833b, S. 5). ten kontrahierend auf Respirations- und Kreislauf-
system, Stimmwerkzeuge, Darmkanal, Harnwege,
Uterus und Haut; eine Erhöhung der Herzfrequenz,
1.2.8 Unangenehme und angenehme beengte Atmung etc. seien der Beleg dafür (Bräun-
Gemütsbewegungen lich 1833b, S. 17 ff.). Gemütsbewegungen angeneh-
mer Qualität übten einen expandierenden Einfluss
An unangenehmen Gemütsbewegungen unter- auf die genannten Organsysteme aus, was aber nur
scheidet Bräunlich Furcht (samt deren Steigerungs- bei Affekten unmittelbar fassbar werde; im Allge-
formen Angst und Schreck), Sorge (einschließlich meinen verringerten sie lediglich bestehende Kon-
ihrer stärkeren Ausprägungen Kummer und Gram), traktionen, weswegen beispielsweise Herzaktion,
Ärger (mit den Potenzierungen Zorn und Wut) so- Respiration und Darmtätigkeit leichter vonstatten
wie Wehmut (die sich über Traurigkeit bis zu Ver- gingen (Bräunlich 1833b, S. 24, 1839, S. 116 ff.). Die
zweiflung entwickeln könne). Furcht, Angst und physischen Implikationen negativer Gemütsbewe-
8 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

gungen stellt sich Bräunlich so vor: Furcht und formen. Befände sich das Gemüt im Zustand mas-
1 Angst seien von erhöhter Herzfrequenz und er- siver Bewegung, stürmten die Empfindungen von
schwerter Atmung begleitet; der Betreffende be- dort aus derart heftig auf den Verstand ein, dass er
ginne zu zittern und entwickle klebrigen Schweiß; sie nicht mehr angemessen ordnen könne. Das Ge-
seine Darmperistaltik verstärke sich. Ärger affizie- müt wirke auf den Verstand, indem es ihm sämtli-
re zusätzlich die Gallenwege, was in einer Gelbfär- che seiner Veränderungen zur Beurteilung vorlege.
bung der Haut zum Ausdruck komme. Über jene Dessen Leistung bestehe darin, das, was ihm zuge-
die Furcht begleitenden Effekte hinaus, habe Trauer leitet wurde, zu läutern und dann an das Gemüt
Ernährungsstörungen im Gefolge, die möglicher- zurückzugeben. Dadurch werde dieses entweder
weise zu Abmagerung, wenn nicht Marasmus führ- beruhigt oder zu neuen, womöglich stärkeren, Be-
ten (Bräunlich 1833b, S. 17 ff., 1839, S. 118 ff.). wegungen veranlasst. Sei der Verstand außerstan-
Zwischen der »Contraction« im »irritablen Sys- de, den ihm zugeführten Empfindungen »den
tem« infolge unangenehmer und der »Expansion« Stempel der Klarheit« aufzudrücken, retourniere er
dort durch angenehme Empfindungen unterschie- sie dem Gemüt entweder unverändert, was sie dort
den zu haben, schreibt sich Bräunlich (1833b, S. 16) um so tiefer einwurzeln lasse, oder tilge sie völlig
als originäre eigene wissenschaftliche Leistung zu; als unbrauchbar – Zeichen der Stärke bzw. Schwä-
damit nimmt er eine Gegenposition zu John Brown che des Verstandes (Bräunlich 1839, S. 98 ff.). Je leb-
(1735–1788) ein, dessen Sthenie-/Asthenie-Lehre in hafter und differenzierter dieser sei, desto mehr
der damaligen romantischen Medizin eine große reduziere sich der Einfluss des Gemüts auf das
Rolle spielte (Pfaff 1796). Die körperlichen Begleit- Individuum und umso seltener träten Affekte auf
erscheinungen jeder Gemütsbewegung, so Bräun- (Bräunlich 1839, S. 102).
lich, könnten im physiologischen Rahmen bleiben,
massiv ausgeprägt aber den Organismus krankma-
chen. Eventuelle Folge großen Schrecks sei z. B. ein 1.2.11 Vernunft
tödlicher Schlaganfall.
Die Psychophysiologie der Gemütsbewegun- Die oberste Stufe des seelischen Wirkens, die Ver-
gen bzw. Affekte interessierten ihn weit mehr als nunft, macht nach Bräunlich den Menschen erst
deren Psychologie. Anstatt ihre psychischen Kenn- zum Menschen. Als »diejenige Kraft oder Fähigkeit,
zeichen differenziert darzustellen, beschränkt er zweckmäßig zu begehren und zu wollen« (Bräun-
sich daher oft darauf, global von freudigen und lich 1839, S. 102), verfüge sie über Selbstbewusstsein
schmerzhaften Empfindungen zu sprechen. und freien Willen. Die Vernunft, schreibt Bräunlich
(1839, S. 103), sei höchster Richter und »letzte
Instanz« der psychischen Sphäre der Person zu-
1.2.10 Verstand gleich.

Im Gemüt verbleibend, erschienen diese »durchaus Alle … Vorstellungen, Begriffe und Urtheile, die
als dunkel und unbestimmt« und würden erst dann sich der Verstand aus den Empfindungen des
klarer, »wenn sich eine höher stehende Kraft … Gemüths herangebildet hat, werden von ihr be-
gleichsam ihrer Prüfung und Aufklärung ange- nutzt, um darnach ihr Wollen und Begehren,
nommen habe« (Bräunlich 1839, S. 98). Diese Stufe ihr gesammtes Handeln einzurichten. Sagen
des Wirkungsvermögens der Seele, den Verstand, dieselben ihrem eigenthümlichen Sein … nicht
nennt Bräunlich »Lenker und Regierer« des Ge- zu,… werden sie von ihr … verworfen und er-
müts, aber auch Quelle der Vorstellungen und da- scheinen dann … unvernünftig.
raus entwickelter Begriffe. Die Seele könne qua Ge-
müt nur empfinden und fühlen, als Verstand bloß Als »höchste Potenz der Psyche« verfüge die Ver-
denken und urteilen. Diesem übermittle jenes alle nunft über die Fähigkeit, den Zweck ihres Daseins,
Empfindungen, um es ihm zu überlassen, sie mög- »die Vervollkommnung ihrer selbst«, zu erkennen
lichst zu deutlichen Vorstellungen und Begriffen zu und, wenn sie diesen verfehle, sich Vorwürfe zu ma-
1.3 · Bräunlichs »Psychische Heilmittellehre«
9 1

chen, also zum Gewissen zu werden. Sie regle und bald mittelbar, bald unmittelbar … keinen Einfluss
berichtige die »Tätigkeiten« von Verstand wie Ge- äußern könnte und … wirklich äußerte« (Bräun-
müt, ja könne beide gleichsam didaktorisch be- lich 1833b, S. 28).
herrschen (Bräunlich, 1839, S. 102, 104). Sagten ihr Außer Zweifel steht für ihn, dass insbesondere
Vorstellungen oder Begriffe nicht zu, befehle die viele chronisch Kranke durch ärztliches Einwirken
Vernunft dem Verstand sofort, sie durch andere zu auf ihr Gemüt zu heilen seien. Beleg dessen sind
ersetzen, – ein Akt, der natürlich auf das Gemüt ihm die oft überraschenden Therapieerfolge der
zurückwirke. Beeinflusse die Vernunft den Ver- »Afterärzte«. Gelinge es diesen, das Vertrauen
stand unmittelbar, so entspreche, das absichtsvoll ihrer Patienten zu gewinnen und in ihnen die
erfolgend, einem Willensakt. Gleiches gelte für je- Hoffnung zu wecken, bald zu genesen, würden die-
de Gemütstätigkeit, die einer willkürlichen Akti- se sogar von Leiden befreit, die zuvor allen ärzt-
vität des Verstandes entspringe. »Das Willkürliche lichen Bemühungen widerstanden hätten. Auf
schreitet demnach«, folgert Bräunlich (1839, S. 104), Vertrauen und Hoffnung sei nicht zuletzt die
»von oben herab, das Unwillkürliche dagegen von Wirksamkeit eigentlich inerter Arzneimittel zu-
unten herauf«. rückzuführen. Ein gewichtiger Teil der Erfolge, die
der Arzt mit Medikamenten erziele, beruhe darauf,
dass er beruhigend auf den jeweiligen Kranken
1.3 Bräunlichs »Psychische einwirke.
Heilmittellehre« Sei ein Leiden durch eine Gemütsbewegung
herbeigeführt worden und werde es durch ihr
1.3.1 Prolegomena (1833) Einwirken aufrechterhalten, müsse der Behandler
darauf aus sein, diese »nachtheilige Gemüthsstim-
In der Monographie über das Gemüt hatte Bräun- mung« zu beseitigen (Bräunlich 1833b, S. 31). Vor-
lich (1833b), wie erwähnt, bereits umrisshaft all jene ausgesetzt, der betreffende Kranke habe zu ihm
Themen angesprochen, die nach Herz (1773) für hinsichtlich seines Könnens wie auch seines mora-
eine medizinische Psychologie konstitutiv sind. lischen Wertes Vertrauen gefasst, werde es dem
Sein Interesse galt damals allerdings bevorzugt den Arzt gelingen, ihn dazu zu bewegen, die Art der je-
Gemütsbewegungen und ihren körperlichen Be- weils ursächlichen Gemütsbewegung und die Be-
gleiterscheinungen beim Gesunden. Die Frage, was dingungen ihres Entstehens zu schildern; das allein
derartige Empfindungen für den Kranken bedeu- sei oft schon hilfreich. Um seine Aussagen zu unter-
teten, erst recht aber die, wie man sie ärztlicherseits mauern, berichtet Bräunlich von einer an Hysterie
zu Heilzwecken einsetzen könne, beschäftigten ihn erkrankten jungen Frau, die ihm unter vier Augen
nur am Rande. Seine »Gemütslehre« enthielt also folgendes erzählt habe: Durch Zufall und ohne zu
lediglich Prolegomena einer auf körperliche Lei- wissen, was sie tue, sei sie im Alter von 18 Jahren ein
den bezogenen »Psychischen Heilmittellehre«. – halbes Jahr lang dem Laster der Onanie verfallen.
Um seinen gedanklichen Weg zu deren Endform Durch eine Schrift über »Selbstbefleckung« sei ihr
nachzuzeichnen, sollen hier die relevanten Kern- dann unversehens klar geworden, welcher Verfeh-
aussagen seiner Schrift über das Gemüt wiederge- lung sie sich schuldig mache. »Schrecken und Angst
geben werden: Unangenehme Gemütsbewegungen ob der begangenen Sünde, und Furcht vor den
disponieren nach Bräunlichs Auffassung das be- schrecklichen Folgen derselben, die ihre lebhafte…
treffende Individuum dazu, sich eine ansteckende Phantasie tausendfach vergrößerte« (Bräunlich
Krankheit, beispielsweise die Cholera asiatica, zu- 1833b, S. 35), hätten nun ihr Gemüt erfasst und sie
zuziehen. Wie Scharlach, Masern oder Lungenent- glauben lassen, an den Folgen ihres Fehltritts zu
zündungen würde auch sie durch derartige Emp- sterben. – Schon das »Geständnis« ihm gegenüber
findungen verschlimmert (Bräunlich 1833b, S. 44, habe die Patientin entlastet. Nachdem er »durch
42). »Nicht leicht dürfte ein … Uebel aufgefunden zweckmäßige Trostgründe« ihr Gemüt dann gänz-
werden«, resümiert er, »auf dessen Entstehen, lich habe beruhigen können, sei sie rasch völlig
Wachsen, Abnehmen und Vergehen das Gemüth genesen.
10 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

Bräunlich ist davon überzeugt, dass der Arzt zuführen seien. Da nicht exakt dosierbar, gestalte
1 auch durch die Induktion (heftiger) unangeneh- sich ihre Anwendung allerdings schwierig. Die
mer Gemütsaffekte Therapieerfolge zu erzielen häufige Feststellung, dass sie stärker wirkten als
vermag. Bei einem jungen Mann beispielsweise, materielle Mittel, dürfe freilich nicht dazu führen,
der aufgrund eines Schreckerlebnisses an massiver auf letztere völlig zu verzichten.
»Epilepsie« gelitten habe, seien sämtliche Arznei- Bräunlich attestiert Vering, die erste umfassen-
mittel unwirksam geblieben. Als man einmal kurz de »Psychische Heilmittellehre« vorgelegt zu ha-
nach Beginn eines seiner Anfälle an seinem Wohn- ben. Von dessen Konzeption (Vering 1817, 1818) ist
ort Feueralarm ausgelöst habe, sei er sehr erschro- daher sein eigener Ansatz auch diesbezüglich we-
cken. Bedingt dadurch habe sich der Zustand des sentlich geprägt. Scheidemantels Buch über die
Patienten zu einem allgemeinen Starrkrampf ge- Leidenschaften (Scheidemantel 1787) hatte er eben-
steigert, der in andauernde Krämpfe mündete. Eine falls genau rezipiert. Inwieweit seine Überlegungen
halbe Stunde später sei er von seinem Leiden be- zur »Pharmazeutik der Gemütsbewegungen« we-
freit gewesen. – Die Wahrscheinlichkeit, dass zu sentlich auf Johann August Unzer (1727–1799) (Un-
Heilzwecken herbeigeführte unangenehme Ge- zer 1746) und Herz (1773, 1791) basieren, ist nicht
mütsbewegungen schadeten, hält Bräunlich für mehr zu eruieren, deren Einfluss auf ihn aber wahr-
relativ gering. Außerdem könne man Kranke leich- scheinlich (Bräunlich 1839, S. 27). Einschlägige Ar-
ter in eine negative als eine angenehme Gemüts- beiten von Christian Bolten (Lebensdaten unbe-
stimmung bringen. kannt) (Bolten 1751), Heinrich Tabor (1751–1785)
(Tabor 1786) und Peter Joseph Schneider (1791–
1871) (Schneider 1824) dürften ihm dagegen un-
1.3.2 Systematik (1839) bekannt gewesen sein. All die Genannten, jeweils
philosophisch interessierte Ärzte, haben den Ein-
Zunehmende Therapieerfahrung und die Beschäf- satz psychischer Mittel zur Behandlung körperlich
tigung mit dem einschlägigen Schrifttum haben Kranker beschrieben und empfohlen. Bräunlichs
Bräunlich, seinen eigenen Angaben zufolge, dann eigene Aussagen zu diesem Thema folgen seiner
in die Lage versetzt, 1839 eine umfassende »Psychi- Einteilung der psychischen Aktivitäten in solche
sche Heilmittellehre« vorzulegen. Ein Werk, das des Gemüts, des Verstandes und der Vernunft; sie
auch eine Systematik entsprechender Interventio- sind weithin nur insofern originell.
nen bei körperlich Kranken enthält. Als »psychi-
sche Heilmittel«, geistig-seelische Tätigkeiten also,
die ärztlicherseits zu Therapiezwecken induziert 1.3.3 Gemütsbewegungen als Heilmittel
werden, könnten s. E. neben Gefühlen auch Vorstel- bei somatisch Kranken
lungen, Gedanken und Willensakte dienen. Unter
bestimmten Prämissen eigne sich aber jede psychi- Das Linderungs- bzw. Heilungspotential der Ge-
sche Aktivität dazu (Bräunlich 1839, S. 1). mütstätigkeit sieht er vorzugsweise in einem uner-
Bislang habe man das Thema »psychische Heil- schütterlichen Glauben des jeweiligen Kranken
mittel« seitens der Ärzteschaft ziemlich stiefmüt- gegeben, d. h. seinem »sicheren und festen Ver-
terlich behandelt. Die »psychischen Ärzte« würden trauen«, teils auf das Geschick des behandelnden
sich dazu lediglich im Hinblick auf seelische Krank- Arztes, teils in die Wirkkraft der von diesem in
heiten äußern; außerdem blieben sie Informa- seinem Fall verabreichten Mittel (Bräunlich 1839,
tionen dazu schuldig, wie man beispielsweise Ge- S. 131 ff.). Durch die expandierende Kraft des Glau-
mütsruhe oder heitere Stimmung erzeugen könne. bens würden alle widernatürlichen Kontraktionen
Um diesem Defizit abzuhelfen, gelte es, auf empiri- im irritablen System des Organismus beseitigt.
schem (!) Wege genau zu erforschen, welche kör- Zeitgleich und untrennbar mit ihm verbunden er-
perlichen oder psychischen Leiden welchen seeli- fasse die sicherste, zuverlässigste Hoffnung das Ge-
schen Einflüssen zugänglich und auf welche Weise müt des Patienten (Bräunlich 1839, S. 133). Homöo-
die passenden »psychischen Tätigkeiten« herbei- pathie und tierischer Mechanismus bezögen ihre
1.3 · Bräunlichs »Psychische Heilmittellehre«
11 1

Heilwirksamkeit ebenfalls aus dem »festen Ver- gänglich oder reagierten auf ärztliche Einwirkun-
trauen« des Individuums, auf das sich ihre Bemü- gen, die in ihnen einen solchen Zustand erzeugen
hungen jeweils richteten. sollen, eher mit Verdruss und Trauer (Bräunlich
Nach Bräunlichs Überzeugung (Bräunlich 1839, 1839, S. 138). Allerdings versäumten Ärzte oft aus
S. 131) versetzt jede somatische Krankheit die be- Unaufmerksamkeit die Gelegenheit, die in einem
treffende Person in einen unangenehmen Gemüts- Kranken aufkeimende Hoffnung zu stärken. Auch
zustand, sei es z. B. Furcht oder Ängstlichkeit. Die beachteten sie regelmäßig die Gefühlslage ihrer
mit ihm einhergehenden organismischen Kontrak- Patienten zu wenig und ließen die Chance ver-
tionen verzögerten bei akuten Leiden das Auftre- streichen, ihren Gemütszustand günstig zu beein-
ten der sog. Krise, d. h. einer plötzlichen Wendung flussen.
des Geschehens zum Besseren. Auch bei vielen Nur ein erfahrener Behandler, der die mensch-
chronischen Krankheiten (Beispiele dafür nennt liche Psyche kenne, meint Bräunlich (1839, S. 139)
Bräunlich nicht) lasse, bedingt durch begleitende unter Bezugnahme auf Simon-André Tissot (1728–
negative Gemütsempfindungen, ein entsprechen- 1797), sei imstande,
der positiver Umschlag auf sich warten. Erst eine
Krise aber würde die jeweils notwendige heilsame in einem von Verzweiflung erfüllten Gemüthe
Ausscheidung von Krankheitsstoffen mit sich brin- die Hoffnung aufgehen zu lassen, den Kum-
gen. Der mit Hoffnung gepaarte Glaube führe durch mer … zu verscheuchen, hier zu schmeicheln,
seine expansive Wirkung dazu, dass die widerna- dort mit Festigkeit zu sprechen, bald zu trösten,
türlichen Kontraktionen verschwänden und die bald zu zerstreuen und aufzuheitern, kurz,
verschiedensten Krankheitsstoffe aus dem Orga- die moralischen Hülfsmittel … anzuwenden,
nismus entfernt würden (Bräunlich, 1839, S. 132), die dem Zustande des Kranken gemäß sind.
sein Effekt sei hier mittelbarer Art. Gegen »einge-
wurzelte« Körperkrankheiten wie alle Arten von Feste Regeln, nach denen man Glauben, Hoffnung
Krämpfen (mit abnormen Kontraktionen als Haupt- oder Freude im Kranken stiften könne, gebe es
symptomen) sowie Lähmungen wirke der Glaube nicht; ihr Einsatz müsse vielmehr unbedingt indi-
unmittelbar (Bräunlich 1839, S. 135). Das Erschei- vidualisierend erfolgen. Nur dem, der über Men-
nen des Arztes allein schon reduziere ihr Ausmaß schenkenntnis verfüge, die auf sorgfältiger Beo-
oft beträchtlich, was die Gabe von Arzneimitteln bachtung beruht, gelinge es, Patienten in positive
zweitrangig werden lasse, ja es oft erlaube, keine im Gemütsbewegungen zu versetzen. Basis seiner
eigentlichen Sinne wirksamen Mittel zu verordnen. Wirksamkeit seien dabei ruhiges und zuversicht-
Glaube und Hoffnung unterschieden sich hinsicht- liches Betragen, Festigkeit und Bestimmtheit des
lich ihrer körperlich-expandierenden Effekte nur Handelns, beherrschtes Auftreten, insbesondere
graduell. Allein induziert, reiche letztere oft zum dann, wenn Gefahr zu bestehen scheine, sowie
Bekämpfen leichterer Übel schon aus; lägen schwe- Ernst, Heiterkeit und Anteilnahme (Bräunlich 1839,
rere somatische Störungen vor, bedürfe es des un- S. 140 ff.). Auf jeden Fall müsse sich der Arzt davor
bedingten Glaubens, d. h. zur Gewissheit geworde- hüten, jedem Leiden möglichst einen Namen zu
ner Hoffnung des einzelnen Kranken, um sie zum geben; sonst würden der Patient und dessen Ange-
Weichen zu bringen. hörige seine Bedrohlichkeit möglicherweise über-
Die Freude, die Gemütsbewegung mit dem schätzen. Zweckwidriges Verhalten, etwa insofern,
größten Expansionspotential, wirke geringgradig als er sich zu ausführlich vor einem Patienten über
ausgeprägt ähnlich wie der Glaube; beider Indika- dessen Krankheit äußere, nehme diesem nicht
tionsgebiete glichen einander daher. Stärker ausge- selten allen Mut, völlig die Hoffnung und den
prägte Freude könne allerdings gefährlich sein, also Glauben.
beispielsweise einen Schlaganfall herbeiführen. Unangenehme Gemütsbewegungen sind nach
Glaube/Hoffnung bzw. Freude zu induzieren, Bräunlich nur gelegentlich als Heilmittel geeignet.
hält Bräunlich allerdings für ziemlich schwierig. Weitaus häufiger stelle sich dem Arzt die Aufgabe,
Manche Patienten seien entweder dafür nicht zu- negative Gefühle eines Patienten zu mindern oder
12 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

zu beseitigen. Zu diesem Zwecke könne er bei ihm lichen bloß mittelbar wirken. Einem Patienten, der
1 entweder eine der vorliegenden Gemütsbewegung sich in einem unangenehmen Gemütszustand be-
entgegengesetzte angenehme oder eine andere ne- finde, zu raten, darüber möglichst nicht nachzu-
gative Empfindung induzieren. Glücke es, die be- denken, sei daher falsch. »Das Dunkle und Unklare
treffende Person in Freude, Hoffnung oder Glauben ist es vorzüglich«, schreibt Bräunlich (1839, S. 153),
zu versetzen, verschwinde ihr negatives Gefühl von »was uns bewegt, weniger und nur selten das Ge-
selbst; scheitere er damit, bleibe ihm immer noch wisse und Bestimmte«. Ziel müsse sein, das jeweils
die Möglichkeit, gegen Furcht und Angst z. B. Ärger bestehende Gefühl in eine klare Vorstellung umzu-
einzusetzen und dann das Objekt des Ärgers zu wandeln. Er empfiehlt dem Arzt, zunächst das Ver-
entfernen, was eine angenehme Gemütsstimmung trauen des Kranken zu gewinnen und anschließend
zur Folge habe. Leider bleibt Bräunlich hier sehr mit ihm die bestehende Gemütsbewegung genau
abstrakt; konkreter werden seine Aussagen, wenn »durchzudenken«; dies insbesondere dann, wenn
es um ärztliche Hilfe bei Trauer geht. sie unangenehmer Natur sei und sich auf Zukünf-
Zur deren Neutralisierung sei die Induktion tiges beziehe. Oft werde der Verstand eines Patien-
von Sorge zu empfehlen: Sorge sich jemand, ver- ten schon durch den Bericht über sein Gefühl so
schwinde seine Traurigkeit. Eine derartige »Um- gestärkt, dass er ohne weitere Hilfe dessen Herr
stimmung« befähige ihn nun dazu, durch andere werden könne. Beweis dafür sei jene junge hysteri-
Eindrücke angenehm affiziert zu werden (Bräun- sche Patientin, der er durch ein Gespräch habe hel-
lich, 1839, S. 149). – Er berichtet von einer Frau, die fen können. Davon überzeugt, dass im Gemüt eines
nach dem Tod ihres Mannes tief betrübt gewesen Menschen nie mehrere Empfindungen gleichzeitig
sei. Als eines ihrer Kinder schwer erkrankte, hätten existierten, empfiehlt Bräunlich auch, über Vorstel-
sich in ihr die Sorge um das Kind und ihr Kummer lungen (als Verstandesoperationen) in dem Betref-
ganz in den Vordergrund geschoben und die Trauer fenden eine dem gerade vorherrschenden Gefühl
»vertrieben«. Bräunlich scheut sich nicht, dem entgegengesetzte Emotion zu induzieren; dies etwa
ärztlichen Leser sogar nahe zu legen, einer trauern- durch Zerstreuungen, Spiele und wissenschaftliche
den Mutter, deren Kind keineswegs ernsthaft er- Beschäftigungen. – Insgesamt gesehen hält er je-
krankt ist, die sich aber um es sorge, im Glauben zu doch den Einfluss des Verstandes auf das somati-
lassen, seine Lage sei bedenklich. Ein bestehender sche Befinden eines Kranken für ziemlich gering
(seelischer) Schmerz, so seine Argumentation, (Bräunlich 1839, S. 152–164).
könne durch einen zusätzlichen nicht vermehrt,
geschweige denn verdoppelt werden. Jede neue Ge-
mütsbewegung verdränge (sic!) die jeweils beste- 1.3.5 »Tätigkeiten der Vernunft«
hende Empfindung. Der heftige Schmerz ihrer als Heilmittel bei körperlichen
Traurigkeit werde bei dieser Frau, so sein Schluss, Krankheiten
durch die Sorge um ihr Kind und den Kummer
angesichts seiner Lage völlig in den Hintergrund Der Vernunft, der obersten psychischen Instanz,
gedrängt. spricht Bräunlich ebenfalls Heilwirksamkeit im
Falle somatischer Krankheiten zu. Speziell mit ih-
rer Hauptkomponente, dem Willen, verdränge und
1.3.4 »Tätigkeiten des Verstandes« beseitige sie schädliche Vorstellungen wie auch
als Heilmittel bei körperlichen nachteilige Empfindungen, was sie mittelbar hilf-
Krankheiten reich werden lasse (Bräunlich 1839, S. 165). Mache
ein Kranker nicht von seinem Willen Gebrauch,
Angesichts der Macht über das Gemüt, die Bräun- müsse man seine Aufmerksamkeit auf ihn und des-
lich dem Verstand zuschreibt, erstaunt es nicht, sen Macht lenken. Gegen Furcht oder Gram bei-
dass er sich auch zum Einsatz von »Verstandestä- spielsweise eingesetzt, übersteige die Wirkung des
tigkeiten« zu Heilzwecken äußert. Im Falle somati- Willens den Effekt verabfolgter Arzneimittel oft
scher Krankheiten könne der Verstand im Wesent- beträchtlich (Bräunlich 1839, S. 166). Ein weite-
1.4 · Bräunlich ein Vorläufer Freuds?
13 1

res Indikationsgebiet der »Willenstätigkeit« sieht 1.4 Bräunlich ein Vorläufer Freuds?
Bräunlich bei Krampfkrankheiten und Lähmun-
gen gegeben, Zuständen also, die ein Einwirken auf Obwohl Bräunlich den Begriff »medizinische Psy-
die Motorik erforderten. Zur Illustration seiner chologie« nicht gebrauchte, hat er zweifellos als ein
Aussage berichtet er von einer hysterischen Patien- früher Vertreter eines so benannten Faches zu gel-
tin, die stets dann in Krämpfe verfallen sei, wenn ten. Mit Stahl, Bolten, Herz, Zückert, Scheidemantel
etwas negativ auf ihr Gemüt gewirkt habe. Durch und Vering verbindet ihn die Überzeugung, dass
Selbstbeobachtung sei sie darauf gekommen, diese die Ärzteschaft, um ihren Aufgaben gerecht zu wer-
Erscheinungen willentlich verringern, ja beseitigen den, über bestimmte praktisch-psychologische
zu können. Wann immer ihr etwas Interessantes zu Kenntnisse verfügen müsse und bei der Behand-
tun vorgeschwebt habe, woran Krämpfe sie ggf. ge- lung körperlich Kranker auch psychische Heilmit-
hindert hätten, seien diese ausgeblieben. Wäre es ihr tel erfolgreich einsetzen könne (Huppmann 2000,
gelungen, meint Bräunlich, dem Willen »eine anhal- 1997, 2002, 1992, 1999, 1998). Was Herz (1773, 1791)
tend zweckmäßige und feste Richtung zu geben« im Wesentlichen nur propagiert hatte, setzte Bräun-
(Bräunlich 1839, S. 174), also ernsthaft die Genesung lich als Allgemeinarzt und Leiter einer Privatheil-
zu wollen, wäre sie mit Sicherheit gesund geworden. anstalt (offensichtlich mit Erfolg) in die Tat um.
Erziehungsbedingt sei ihr das jedoch nicht gelun- Dass er sich dabei eingestandenermaßen vor allem
gen. Auch Patienten, die Vorzeichen eines epilepti- an Vering orientierte, schmälert seine Leistung
schen Anfalls, z. B. das Einschlafen eines Fingers, bei nicht. Bräunlich empfahl zwar den Einsatz »psy-
sich bemerkten, hätten die Fähigkeit, mittels ihres chischer Tätigkeiten« zu Heilzwecken, wusste aber
Willens des Krampfes Herr zu werden. Sie müssten durchaus um die Schwierigkeit, sie adäquat zu in-
ihre Aufmerksamkeit nur auf das jeweilige Symp- duzieren und zu dosieren (Bräunlich 1839, S. 77).
tom richten. – Beide Beispiele betrachtet Bräunlich Sein praktisches Handeln und seine theoretischen
als Beleg einer unmittelbaren therapeutischen Wir- Überlegungen waren von ärztlich-psychologischen
kung der Vernunft. Furcht und Ärger ließen, fügt er Ansätzen geprägt; auf philosophisch-psychologi-
hinzu, jeweils vom Arzt absichtsvoll induziert, eben- sche Konzeptionen rekurrierte er, wenn überhaupt,
falls Willensanstrengungen erstaunlicher Stärke nur marginal. Manche seiner Aussagen zum psy-
entstehen; mit ihrer Hilfe ließen sich u. a. (hysteri- chischen Leben des Menschen scheinen Positionen
sche) Krämpfe direkt beseitigen. Der Einsatz von Freuds vorwegzunehmen. Es fragt sich daher, ob er
Gemütsbewegungen, um den Willen eines Kranken als einer seiner Vorläufer zu betrachten sei. Hierzu
zu aktivieren, verspreche im übrigen weit eher Er- abschließend einige Bemerkungen:
folg als die Induktion vernünftiger Vorstellungen in Bräunlich und Freud haben jeweils ein hierar-
ihm (Bräunlich 1839, S. 176). chisch organisiertes Instanzenmodell der mensch-
lichen Psyche entwickelt. Was Bräunlich unter Ge-
müt, Verstand bzw. Vernunft fasst, überschneidet
1.3.6 Bräunlichs Fazit sich zum Teil mit den Inhalten der Konzepte »Es«,
»Ich« und »Über-Ich«, die auf Freud zurückgehen.
Die meisten akuten Krankheiten, resümiert Bräun- Bräunlich sieht das Gemüt unmittelbar mit dem
lich, verschwänden »ohne alle ärztliche Kunsthül- Nervensystem verbunden, Freud fundiert das Es
fe«. Bei chronischen Leiden bedürfe die Psyche, da direkt körperlich. Für Bräunlich ist das Gemüt Ort
sie im Kampf dagegen zu ermatten drohe, oft be- der Gefühle, der Phantasie und des Gedächtnisses;
stimmter »Anreizungen«, um ihn desto stärker Freud dagegen subsumiert dem Ich u. a. das Ge-
wieder aufnehmen zu können. Trotz ihrer Mühe bei dächtnis und die Emotionen. Der Verstand und das
der Anwendung materieller Heilmittel scheiterten Ich gelten jeweils als die psychische »Sphäre«, in
Ärzte nicht selten, weil es ihnen nicht gelinge, in der die Vorstellungen gebildet werden. Bräunlich
den jeweiligen Patienten eine adäquate psychische weist dem Verstand u. a. die Aufgabe zu, die Aktivi-
Tätigkeit, also beispielsweise Hoffnung und Glau- täten des Gemütes zu kontrollieren; Freud attestiert
ben, ausreichender Stärke zu erzeugen. dem Ich gegenüber dem Es eine vergleichbare
14 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

Funktion. Zu den von Freud postulierten (unbe- Jahre 1851 beigetragen haben. Gleichwohl sollte
1 wussten) Abwehrleistungen des Ichs findet sich bei Bräunlichs Beitrag zur Entwicklung der medizi-
Bräunlich kein Äquivalent. Einflussmöglichkeiten nischen Psychologie nicht weiterhin unbeachtet
der Vernunft, wie Bräunlich sie sieht, gleichen an- bleiben: Aus der Sicht des Historiographen dieses
teilig den Potentialen, die Freud dem Über-Ich Faches vermittelt sein Oeuvre zeitlich und inhalt-
zuspricht; beide Ansätze sehen in der jeweils höchs- lich zwischen den Leistungen Verings einerseits
ten psychischen Instanz auch das Gewissen re- und denen v. Feuchterslebens andererseits. Leider
präsentiert. Nach Freud beeinflusst das Über-Ich hat Letzterer von ihm – ganz ungerechtfertigt –
vermittels des Ichs das Es; Bräunlich zufolge be- ebensowenig Notiz genommen wie hernach sein
herrscht die Vernunft über den Verstand das Ge- Kollege Leopold Löwenfeld (1847–1924) (Löwenfeld
müt. 1897). So gesehen ist es verständlich, dass auch spä-
Freuds Modellvorstellung übertrifft freilich die tere Repräsentanten der medizinischen Psycholo-
Bräunlichs an Differenziertheit bei weitem. Dieser gie sich Bräunlichs nicht mehr erinnerten. Für den
blendet Triebhaftes (die Leidenschaften) nahezu Raum Dresden von lokalem Interesse ist sicher,
völlig aus und misst dem Willen besondere Bedeu- dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dort
tung bei; jener stellt das Triebleben, also das Es, in nicht nur mit Carus, sondern auch mit Bräunlich
den Vordergrund und weist dem Willen eine bloß ein früher Vertreter der ärztlichen Psychologie
marginale Rolle zu. Beide hypostasieren bewusste wirkte. Ihm kommt nach unserer Auffassung für
und unbewusste psychische Phänomene; ein dyna- diese Disziplin zumindest die gleiche Bedeutung
misches Unbewusstes kennt jedoch nur Freud zu wie jenem. – All das ist Grund genug, Bräunlich
(1968, 1972a). Bräunlich hebt wesentlich auf ratio- in das kollektive Gedächtnis der medizinischen
nale Aspekte des Seelenlebens ab; Freud legt den Psychologie ehrend aufzunehmen.
Schwerpunkt der Betrachtung auf irrationale As-
pekte der Psyche (Freud 1940, 1972a).
Bräunlichs Schriften dürften Freud unbekannt Literatur
gewesen sein; die aufscheinenden Gemeinsamkei-
ten ihrer Theorien beruhen daher wohl auf Zufall. Ackerknecht, E. H. (1986). Private Institutions in the Genesis of
Diese Annahme wird durch zwei Tatbestände ge- Psychiatry. Bulletin of the History of Medicine, 60, 387–395.
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Craz u. Gerlach.
Freud entwickelten Systems befasst, nennen Bräunlich, F. G. (1831). Choleria asiatica. Deren Wesen und Be-
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Ilmenau: Voigt.
1.5 Schluss Bräunlich, F. G. (1833b). Das Gemüth rücksichtlich seines wichti-
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Ilmenau: Voigt.
Freud ist durch sein Werk sowie als Begründer ei- Bräunlich, F. G. (1837). Ueber die Irren und deren psychische Be-
ner Denk- und Therapieschule bekannt geworden, handlung. Meissen: Goedsche.
ja höchst wirkmächtig geblieben. Bräunlich stieß Bräunlich, F. G. (1839). Psychische Heilmittellehre für Aerzte und
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mit seinen Schriften letztlich auf keinerlei Reso-
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16 Kapitel 1 · Frühe medizinische Psychologie: Friedrich Gustav Bräunlich

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2

Einblicke in die Innensicht:


Zum Stand der Interozeptionsforschung
V. E. Kollenbaum

2.1 Dimensionen des Körpererlebens – 18


2.1.1 Identität – 18
2.1.2 Interpersonalität – 19

2.2 Interozeptionsforschung – 20
2.2.1 Zugangsebenen – 20
2.2.2 Beispiel kardiovaskuläre Parameter – 21

2.3 Klinische Relevanz der Interozeptionsforschung – 26

Literatur – 27
18 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

 das Nervensystem. Es scheint mehrere Wege zu


geben, über die eine solche Aufgabe erledigt wer-
Menschen gehen meist zum Arzt, weil sie Beschwer- den kann. Immunkompetente Zellen geben bei
2 den, beispielsweise Herzrasen, Herzstolpern, Ma- Kontakt mit Antigenen beispielsweise Mediatoren
gendrücken oder Darmgrimmen, wahrnehmen. ab (z. B. Zytokine), die ihrerseits neuronale Struktu-
Deren Ursache vermuten sie meist in einer Störung ren aktivieren. Dazu gehören auch Afferenzen, die
im Körper. Solche Wahrnehmungen von Beschwer- häufig vagale Nervenfasern begleiten (oft als vaga-
den gehören, ebenso wie die als normal angese- le Afferenzen bezeichnet). Durch diese Afferenzen
henen Signale aus dem Körper, zum Bereich der können Reflexe ausgelöst werden, die andere Ab-
Interozeption. wehrprozesse unterstützen sollen (Goehler et al.
Dieser Überbegriff umfasst einerseits die Pro- 2000).
priozeption, worunter Wahrnehmungen aus dem Die Sprache, in der die Organe zu uns sprechen,
Bewegungsapparat, besonders aus den Muskeln ähnelt weniger einer klaren, lauten und uns vertrau-
und Gelenken, verstanden werden: Die Ruhespan- ten Sprache, sondern eher einem undeutlichen
nung oder der Kraftaufwand, der von Muskeln er- Flüstern, das Missverständnisse auslösen kann.
folgt, die Gelenkstellung und eventuelle Zug- oder Dennoch sind interozeptive Prozesse von erheb-
Druckbelastungen im Bereich der Gelenke können licher Bedeutung für das Identitätsgefühl des Men-
hier signalisiert werden. Alsweiterer Bereich wird schen, für seine Beziehungsgestaltung und für
andererseits die Interozeption im engeren Sinne seine soziale Einbettung. Man kann sogar soweit
oder auch Viszerozeption abgegrenzt; sie be- gehen, Interozeption als das wesentliche Gesche-
zeichnet die Wahrnehmung der Signale aus dem hen für psychosomatische Störungen generell an-
Herz-Kreislaufsystem, dem gastrointestinalen Sys- zusehen (Cameron 2001). Jeweils an einigen Bei-
tem oder anderen Eingeweiden des Körpers (Kollen- spielen soll erläutert werden, welchen Zugang
baum 1994). die Forschung bislang zu diesem Bereich gefun-
Diese Signale werden über neuronale Struktu- den hat und welche Bedeutung interozeptive Pro-
ren an das Zentralnervensystem gemeldet (Jänig zesse für Gesundheit und Krankheitsgeschehen
1995; Berthoud u. Neuhuber 2000). Für Meldesyste- haben.
me, die sich metabolischer oder humoraler Vorgän-
ge bedienen, hat sich bislang kein eigener Begriff
eingebürgert, obwohl auch diese Prozesse einen
wichtigen Bereich der Körperwahrnehmung dar- 2.1 Dimensionen des Körpererlebens
stellen. Besonders für die Regulation des Essver-
haltens oder stoffgebundener Süchte spielt die 2.1.1 Identität
Entdeckungsleistung des Organismus für Substan-
zen eine große Rolle (z. B. Holzer 2001; Holtzman Körpergefühl als Grundlage
2003; White u. Holtzman 2003). Für die Vorgänge einer Selbstvorstellung
im Rahmen der Schmerzwahrnehmung hat sich Körperprozesse sind elementare Begleiter emo-
eine eigene Forschungsrichtung, die Nozizeption, tionalen Erlebens. Die Kontaktaufnahme zu sich
etabliert. selbst, das Gefühl von Identität, ist kaum vorstell-
Das Immunsystem kann als ein über den ge- bar ohne Wahrnehmungen aus dem Körperinne-
samten Körper ausgebreitetes Wahrnehmungs- ren. Im Alltag sind diese Wahrnehmungen häufig
organ angesehen werden, dessen Aufgabe es ist, so selbstverständlich, dass wir uns keine Rechen-
bestimmte chemische Substanzen zu entdecken. schaft darüber ablegen. Erst der Ausfall dieser
Insbesondere solche Substanzen, die Bestandteil Wahrnehmungen würde uns das Ausmaß ihrer
von Mikroorganismen sind und eine Bedrohung Bedeutung klarmachen. Glücklicherweise sind sol-
für den Organismus darstellen, sollen entdeckt che Verluste selten. Sie können entstehen durch
und gemeldet werden – unter anderem auch an Deafferenzierungen, wie sie im Rahmen schwerer
▼ Verletzungen oder von Tumorerkrankungen auf-
2.1 · Dimensionen des Körpererlebens
19 2

treten. Ein unklares Gefühl im Bauch beispiels- leistungen im Vergleich zu gesunden Kontroll-
weise kann dann zwar von der Intensität her deut- personen. Häufig hat sich jedoch keine bessere in-
lich wahrnehmbar sein, die Einschätzung darüber, terozeptive Wahrnehmung bei Patientengruppen
was dieser Hinweisreiz bedeuten soll, bleibt un- nachweisen lassen.
klar. Ein Gefühl, das zunächst vielleicht zu signa-
lisieren scheint, dass die Blase entleert werden
müsste, ruft Unruhe hervor. Diese Unruhe steigert 2.1.2 Interpersonalität
sich zur Irritation, wenn dieses Gefühl nicht sicher
zugeordnet werden kann und erst der weitere Ver- Dyadische Beziehung
lauf der Handlung dem Betroffenen zeigt, dass Auch in von Uexkülls Geleitwort zu dem Buch
sich hier der Defäkationsreiz bemerkbar machen »Krebs und Angst« von Verres (1986) wird auf die
wollte. Weniger dramatisch, jedoch häufiger und Bedeutung der Wahrnehmung von Körperpro-
ebenfalls von erheblicher Bedeutung für den ärzt- zessen hingewiesen. Begegnungen zwischen Men-
lichen Alltag, sind Störungen der Afferenzen im schen werden durch Körperwahrnehmungen zu
Rahmen der diabetischen Neuropathie. Verletzun- einem besonderen Ereignis. Eine Begegnung, die
gen beispielsweise am Fuß werden nicht gespürt, ohne Körperwahrnehmung und ohne Emotion
Pflegemaßnahmen nur unzureichend getroffen stattfindet, bleibt nüchtern und ohne nachhaltigen
usw. Eindruck. Erst eine Körperwahrnehmung, viel-
leicht Herzklopfen, vielleicht ein Kribbeln im
Emotionstheorien Bauch, vielleicht auch sehr viel weniger spektaku-
Viele Emotionstheorien (Expressionstheorien mit läre Signale, machen aus einer Begegnung zwi-
Bezug auf Darwin, Aktivationstheorien in der schen zwei Menschen ein Beziehungsereignis, in
James-Lange-Tradition, Kognitions-Aktivations- dem das gesprochene Wort um eine Wahrneh-
Theorien in der Folge von Schachter und Singer, mungsdimension erweitert wird, die sich der
neurobiologische Theorien in der Canon-Bard- üblichen sprachlichen Kodierung mitunter ent-
Tradition) beruhen zu einem ganz erheblichen Teil zieht.
auf der Wahrnehmung und Verarbeitung von Kör-
persignalen (Traue 1998). Ein wohliges Gefühl im Gruppenbeziehung
Bauch kann den Tag entscheidend prägen. Das Ge- In einer Untersuchung, in der neben den psychi-
fühl, sich in seinem Körper wohl oder unwohl zu schen Vorgängen während einer analytischen
fühlen, geht einher mit weitreichenden Folgen für Gruppenpsychotherapie auch physiologische Para-
das Selbstverständnis, für die Beziehung zu sich meter untersucht wurden (Költzow 1985), zeigten
selbst (Craig 2002). Eine schon ältere empirische sich eine Niveauangleichung in der Herzfrequenz
Untersuchung (Mechanic 1972; Mechanic 1979) be- und eine Gleichrichtung von Herzfrequenzände-
legt, dass mit einer intensivierten Körperwahrneh- rungen bei denjenigen Teilnehmern, die auch unter
mung auch ein vermehrtes Interesse für die eigene psychologischem Aspekt einen Zusammenschluss
Person einhergeht. Allerdings ist in diesen Fällen bildeten. Der Autor spricht daher auch von »Herz-
auch die Zahl der Körperbeschwerden erhöht. frequenzkoalitionen«. Offenbar kann die leibliche
Dabei sind solche Beschwerden oft ohne ein ob- Dimension der Beziehung auch dann von Bedeu-
jektivierbares Korrelat. In extremer Ausprägung tung sein, wenn – wie in diesem Fall – eine bewusste
kennen wir dies als somatoforme Störungen. Unter Repräsentation der Körpersignale nicht vorhan-
diesen nehmen Schmerzen im Bauchbereich den den ist.
ersten Rang ein, vor gynäkologischen Störungen,
zentralnervösen Störungen und Beschwerden im Soziale Dimension
Bereich des Bewegungsapparates. Scholz und Mit- Somatoforme Störungen beeinträchtigen nicht nur
arbeiter (Scholz et al. 2001) fanden in einer EMG- das Wohlbefinden des Patienten, sondern sie ber-
Untersuchung an 20 Probanden mit somatoformen gen auch Probleme, die in den Beziehungen nach
Störungen tatsächlich präzisere Wahrnehmungs- außen sichtbar werden. So können einerseits iatro-
20 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

gene Schäden als Folgen von Somatisierungs- körperliche Funktionen, durch besondere Weisen
störungen auftreten. Jeder Kliniker kennt diese der Atmung tatsächlich neue Empfindungen und
Patienten, die durch invasive diagnostische Maß- Allgemeingefühle in sich erwecken kann.« Es ist
2 nahmen, durch Operationen oder immobilisie- sogar diskutiert worden, ob nicht Wahrnehmungs-
rende therapeutische Maßnahmen irreversibel phänomene, die sich herkömmlich nicht erklä-
geschädigt worden sind. Die geschilderten Be- ren lassen, durch die Kombination interozeptiver
schwerden bekommen dadurch eine tragische Le- Stimuli mit bestimmten Umgebungsbedingungen
gitimierung. hervorgerufen werden (Zagon 2001).
Ein weiterer Bereich sind die gesellschaftlichen
Kosten, die durch eine inadäquate Nutzung des
Gesundheitssystems entstehen. Diese Nutzung ist 2.2 Interozeptionsforschung
ganz wesentlich von der Wahrnehmung von Symp-
tomen abhängig. Dabei ist jedoch nicht nur eine Für die wissenschaftliche Untersuchung intero-
vermehrte Wahrnehmung von Bedeutung, wie sie zeptiver Prozesse ist zunächst der Vergleich mit
im ICD 10 unter F45 als Somatisierungsstörung be- Wahrnehmungen aus der Umgebung, also extero-
schrieben ist. Auch eine verringerte Wahrnehmung zeptiven Prozessen, naheliegend. Da die Infor-
von Körpersymptomen kann zu vermehrten Kos- mationsverarbeitungskapazität begrenzt ist, er-
ten führen, indem Krankheitssignale nicht oder scheint es plausibel, dass interozeptive und extero-
nicht rechtzeitig wahrgenommen werden und eine zeptive Reize in Konkurrenz treten, wenn es darum
rechtzeitige und damit kostengünstige Therapie geht, Zugang zum Bewusstsein zu erhalten. Da-
versäumt wird. In einer Untersuchung von Frasure- bei scheint es so zu sein, dass beim Vorliegen
Smith (1987) lag bei einem Viertel der durchge- starker und eindrucksvoller exterozeptiver Reize
führten Koronarangiographien ein objektiv un- die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass auch Wahr-
auffälliger Befund vor; die Koronarangiographie nehmungen aus dem Körperinneren bemerkt wer-
wurde demnach offenbar aufgrund von Beschwer- den. Dieses Phänomen haben Pennebaker und
den durchgeführt, die falsch wahrgenommen oder Skelton (1978) als Competition-of-cues-Modell
interpretiert wurden (Chambers & Bass 1990). Ein bezeichnet.
weiteres Viertel der durchgeführten Koronarangio-
graphien zeigt jedoch einen außerordentlich gra-
vierenden Befund. Es ist kaum verständlich, wie die 2.2.1 Zugangsebenen
betroffenen Patienten die notwendige Diagnostik
über eine so lange Zeit aufgeschoben haben, die für Die Untersuchung interozeptiver Wahrnehmungen
die Ausbildung eines solchen Befundes erforder- sollte berücksichtigen, dass interozeptive Prozesse
lich war. auf drei Ebenen ablaufen:
1. Zunächst ist die Untersuchung der vorhande-
Transpersonalität nen physiologischen Signale von Bedeutung.
Doch nicht nur die Beziehung innerhalb und zwi- Hier geht es darum zu untersuchen, ob und
schen Individuen ist geprägt von Körperprozessen, welche Prozesse im Körper stattfinden, die
auch die Erfahrung transpersonaler Dimensionen als Indikatoren für eine Wahrnehmung dienen
des Erlebens hängt häufig mit besonderen Kör- könnten.
perwahrnehmungen zusammen. Zumindest als 2. Damit ist aber keinesfalls gesagt, dass diese
Zwischenstufe werden Körperwahrnehmungen oft Signale auch in einer abrufbaren Weise zentral
bewusst eingesetzt, während in der Erfahrung be- repräsentiert sind, mit anderen Worten, ob sie
sonderer Bewusstseinszustände Körperwahrneh- bewusstseinsfähig sind. In einem zweiten Be-
mung in ihrer Alltagsform keine Rolle mehr spielt. reich geht es demnach um die Frage, ob und
So hat schon Freud (1929) bemerkt, »dass man in in welchem Maße Wahrnehmungen aus dem
den Yogapraktiken durch Abwendung von der Au- Körperinneren der betroffenen Person selbst
ßenwelt, durch Bindung der Aufmerksamkeit an zugänglich sind.
2.2 · Interozeptionsforschung
21 2

3. Im dritten Bereich geht es um die Art, die wahr- für Blutdruck, Wandspannungen von Hohlorganen
genommenen Signale zu schildern, um das Be- oder ähnliche Vorgänge realisieren.
richtsverhalten. Für den Bereich der Signalpräsenz ist die
Durchführung von Diskriminanzaufgaben zur
Das Berichtsverhalten ist dasjenige, das in der Arzt- Standarduntersuchungsmethode geworden. Dabei
Patient-Beziehung zunächst im Vordergrund steht. handelt es sich um die Aufgabe, ein gegebenes
Vielleicht ist es daher erklärbar, dass es auch im Signal daraufhin zu beurteilen, ob es mit einem
Rahmen der Interozeptionsforschung über viele physiologischen Signal, also beispielsweise einer
Jahre im Vordergrund gestanden hat. Ein weiterer Herzaktion, in einem zeitlichen Zusammenhang
Grund für diese Bevorzugung wird aber auch sein, steht oder nicht. Bei einer großen Zahl zutreffender
dass das Berichtsverhalten durch einfache Inter- Urteile würde man von einem überzufällig zutref-
views oder Fragebögen methodisch leicht erfass- fenden Urteil und damit von einer Präsenz von
bar ist. vorhandenen Signalen ausgehen müssen.
Die weitere Forschung hat im Wesentlichen In letzter Zeit haben jedoch weiterentwickelte
gezeigt, dass das Berichtsverhalten von den objek- psychophysiologische Methoden (Fallen et al. 2001)
tivierbaren Daten weitgehend unabhängig ist, mit und moderne bildgebende Verfahren neue Ein-
anderen Worten, es besteht kaum ein objektivier- blicke in die Signalverarbeitung des Organismus
barer und vor allem quantifizierbarer Zusammen- gegeben. Dies ist auch für die Interozeptionsfor-
hang zwischen den Selbstdarstellungen der Patien- schung genutzt worden (Giraux et al. 2001).
ten in entsprechenden Fragebögen und den durch
Apparate messbaren Signalen.
Wegen der enormen klinischen Bedeutung, die 2.2.2 Beispiel kardiovaskuläre Parameter
dem Berichtsverhalten zukommt, wird gegenwär-
tig weiter versucht, aus diesem Verhalten auf zu- Es gibt jedoch auch weitere Beispiele dafür, wie
grunde liegende somatische Prozesse zu schließen. solch eine Signalpräsenz untersucht werden kann.
So legten Aronson und Mitarbeiter (Aronson et al. Die Hypothese von Dworkin (1988), nach der es
2001) eine Studie zur Validierung eines Fragebo- sich bei der essentiellen Hypertonie um eine er-
geninstruments, der Somatosensory Amplification lernte Reaktion des Organismus handelt, kann
Scale (SSAS), vor. An einer Stichprobe von Uni- hierfür als Beispiel gesehen werden. Diese Hypo-
versitätsstudenten wurde die Übereinstimmung these beruht auf der Beobachtung, dass mit stei-
der Angaben in dem Fragebogen mit der Herz- gendem Blutdruck auch die Schwelle für Schmerz-
schlagwahrnehmung verglichen, ohne dass ein wahrnehmungen ansteigt. Ein erhöhter Blutdruck
Hinweis auf eine Übereinstimmung gefunden wäre danach mit einer verminderten Schmerz-
wurde. wahrnehmung gekoppelt. Diese Verminderung der
Die Frage, ob eine Körperwahrnehmung kogni- Schmerzwahrnehmung könnte im Sinne einer
tiv repräsentiert ist, ist also nicht unbedingt durch operanten Konditionierung dafür sorgen, dass der
Befragung zu ermitteln, obwohl Einschätzungen Blutdruck gehäuft ansteigt und schließlich dauer-
über Art und Intensität vorhandener Körperwahr- haft erhöht ist.
nehmungen mitunter berichtet werden. Es ist ver- Interessant ist in diesem Zusammenhang auch,
mutet worden, dass erst eine motorische, analoge dass weitere Wahrnehmungsphänomene mit Blut-
Wiedergabe darüber Auskunft gibt. Zum Beispiel druckvariationen einhergehen. So ist in einer Un-
können Personen die Aufgabe bekommen, in der tersuchung von Sapira et al. (1971) ein Phänomen
Frequenz ihres Herzschlages mit einem Stift auf der sozialen Wahrnehmung beobachtet worden. In
den Tisch zu klopfen. Durch Messung der Über- dieser Untersuchung wurde eine Arzt-Patient-In-
einstimmung von Herzschlägen und Klopfbewe- teraktion gefilmt. Während in einer ersten Version
gungen ließe sich dann die prinzipiell bewusst- des Films eine normal-freundliche Handlungswei-
seinsfähige Repräsentation der Herzrate bestim- se des Arztes gegenüber dem Patienten realisiert
men. Ähnliche Analogskalierungen lassen sich auch wurde, war eine zweite Version der thematisch glei-
22 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

chen Interaktionssequenz dadurch gekennzeich- denen Werte für Blutdruck und Herzarbeit galten
net, dass sich der Arzt dem Patienten gegenüber entsprechend als obere Ankerpunkte der indivi-
besonders schroff und distanziert verhalten hat. duellen Skala. Die individuellen Messwerte für die
2 Während es für normotone Versuchspersonen kein kardiovaskulären Parameter wurden nun für jede
Problem darstellte, die beiden Versionen des Filmes Person als Prozentwerte zwischen den beiden phy-
auseinander zu halten und auch den Unterschied siologischen Ankerpunkten ausgedrückt und wur-
genau zu beschreiben, war dies für unbehandelte den damit zwischen den Personen vergleichbar.
Hypertoniker offensichtlich unmöglich. Sie konn- Diese technischen Fragen stehen jedoch hier nicht
ten keinen Unterschied zwischen den beiden Ver- im Vordergrund; sie können bei Interesse nachge-
sionen benennen. lesen werden bei Kollenbaum et al. (1996).
Das Herz ist in Bezug auf interozeptive Prozes- Betrachtet man lediglich Mittelwerte, vor allem
se wohl das am besten untersuchte Organ. Dies wenn sie ohne Angabe der Steuerungswerte aufge-
hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass das führt sind, so kann es leicht zu Fehlinterpretationen
Herz in unserer Vorstellung mit einer Vielzahl see- kommen. Eine andere Betrachtungsweise lässt da-
lischer Prozesse verknüpft zu sein scheint, sondern gegen deutlicher werden, welche Zusammenhänge
vor allem auch mit der nüchternen Tatsache, dass tatsächlich zwischen demonstrierter und von den
kardiovaskuläre Parameter aufgrund einer langen Probanden wieder hergestellter Belastungsintensi-
Messtradition gut zugänglich sind. Im Folgenden tät zu beobachten waren.
sollen daher einige Beispiele für die Wahrnehmung
kardiovaskulärer Phänomene gezeigt werden. Herzfrequenz
In einer Untersuchung an jungen, gesunden In ⊡ Abb. 2.1 sind die Ergebnisse für die Herzra-
Probanden wurde daher das folgende Vorgehen tenwahrnehmung wiedergegeben. Jede Linie ent-
gewählt (Kollenbaum et al. 1996): Die Probanden spricht dabei einer Versuchsperson. Die ⊡ Abb. 2.1
wurden nach einer anfänglichen Kalibrierungs- verdeutlicht beispielsweise, dass die meisten Ver-
phase mit unterschiedlichen Intensitäten der kar- suchspersonen bei einer gemessenen Herzfrequenz
diovaskulären Parameter Herzfrequenz, Blutdruck von etwa 80 ipsativen Einheiten (80% der indivi-
und Herzleistung konfrontiert und in einer an- duellen Spanne zwischen Ruhepuls und oberem
schließenden Versuchsphase aufgefordert, die glei- Ankerpunkt) eine annähernd zutreffende, leicht
che Qualität und Intensität durch Variieren eines unterhalb des wahren Wertes liegende Einschät-
Widerstandes an einem Ergometer zu replizieren. zung vorgenommen haben. Eine graue Linie ver-
Im Einzelnen wurde folgendermaßen verfahren: bindet gleiche Werte auf Abszisse und Ordinate
Da die Ruhewerte kardiovaskulärer Parameter und gibt damit die Grenzlinie für eine exakte Wahr-
zwischen Personen erheblich variieren können, nehmung an. Alle Werte, die unterhalb dieser Linie
erschien es zweckmäßig, eine Transformation der liegen, entsprechen einer Unterschätzung der Herz-
Daten vorzunehmen, sodass die Ergebnisse der rate. Bei den meisten Personen ist es zwar nicht zu
unterschiedlichen Personen vergleichbar wurden. ganz exakten Einschätzungen der Herzfrequenz
Dazu wurde für jede Person ein unterer Wert, der gekommen, jedoch ist es ihnen gelungen, im Falle
Ruhewert, als unterer Ankerpunkt einer indivi- einer höheren Herzfrequenz auch eine höhere Ein-
duellen Skala bestimmt. Dies wurde für Herzrate, schätzung abzugeben. Demzufolge kann man von
Blutdruck und die Herzarbeit durchgeführt. Zu- einer gewissen Unterscheidbarkeit unterschied-
sätzlich wurde für jede Person ein physiologisch licher Intensitäten ausgehen.
definierter oberer Ankerpunkt der individuellen Bei einer anderen Variante des Versuchs, der
Skala bestimmt. Dies erfolgte durch Anwendung Einschätzung der Herzfrequenz durch Wiederher-
der sportphysiologischen Formel für die Bestim- stellen der zuvor durch einen Computer gesteuer-
mung der Schwelle zur anaeroben Energiegewin- ten Intensität, zeigte sich, dass die Probanden im
nung (180 minus Lebensalter in Jahren). Die so Mittel eine höhere Belastungsintensität wiederher-
gewonnene Herzfrequenz stellte den oberen An- stellten als ihnen zuvor präsentiert worden war.
kerpunkt dar – die bei dieser Herzfrequenz gefun- Dies spricht ebenfalls dafür, dass sie während der
2.2 · Interozeptionsforschung
23 2

⊡ Abb. 2.1. Interozeption der Herz- 100


frequenz; ipsative Einheiten (0 = Ruhe-
frequenz, 100 = Grenzfrequenz zu
anaerober Stoffwechsellage)
80

60

Herzfrequenz (subjektiv) 40

20

0
0 20 40 60 80 100
Herzfrequenz (objektiv)

Demonstration der Belastungsintensität die Herz- Blutdruck


rate unterschätzt haben. Bei einer Belastungsinten- Die Ergebnisse unserer Untersuchungen in Be-
sität von beispielsweise 25% der individuellen Ska- zug auf die Blutdruckeinschätzung weichen von
la haben sowohl männliche wie auch weibliche den Ergebnissen zur Herzratenwahrnehmung ab
Versuchspersonen anschließend eine sehr viel hö- (⊡ Abb. 2.2). Betrachtet man die Mittelwerte, so er-
here Herzrate hergestellt, nämlich beinahe 50%. hält man den Eindruck, dass bei geringer Belas-
Erst bei diesem Wert hatten sie den Eindruck, dass tungsintensität ebenfalls eine Unterschätzung zu
die vorher demonstrierte Herzrate nun wieder er- beobachten ist, sich dies bei höheren Belastungs-
reicht wäre. Ähnliche Ergebnisse sind auch für die werten jedoch umkehrt. Hier ist es lediglich weni-
höheren Belastungsintensitäten erzielt worden. gen Personen gelungen, unterschiedliche Intensi-
Auffällig ist dabei, dass die Männer stets eine etwas täten des Blutdrucks hinlänglich korrekt einzu-
geringere Unterschätzung der Herzfrequenz zeig- schätzen. Bei allen übrigen Personen besteht kein
ten als die Frauen. Dies stimmt in auffälliger Weise systematischer Zusammenhang zwischen der In-
überein mit den Ergebnissen aus Interozeptions- tensität von gemessenem und wahrgenommenem
untersuchungen, die mit einer völlig anderen Me- Blutdruck. Daher lassen diese Ergebnisse nicht den
thodik durchgeführt wurden. Auch dabei zeigte Schluss zu, dass es den Probanden gelungen ist,
sich, dass die Einschätzung von Männern über ihre den Blutdruck mit ausreichender Sicherheit zu
Herzaktivität – ganz im Gegensatz zur landläufi- differenzieren.
gen Meinung – zutreffender war. Dieser Befund
lässt sich jedoch nicht verallgemeinern. Die Wahr- Herzleistung
nehmung der Herzfrequenz sagt nichts über die Der Einschätzung der Herzleistung, sie entspricht
Wahrnehmung anderer Körpervorgänge aus. Der dem Sauerstoffverbrauch des Myokards, wäre un-
Grund für diese Unterschiede ist im Übrigen bis- ter physiologischem Gesichtspunkt die größte Be-
lang nicht geklärt, wenn auch einige interessante deutung zuzumessen. Es wäre für die Regelung der
und zum Teil plausible Hypothesen dazu angestellt Belastungssteuerung ausgesprochen wünschens-
wurden. wert, wenn der Organismus über diese Information
24 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

⊡ Abb. 2.2. Interozeption des systoli- 120


schen Blutdrucks; ipsative Einheiten
(0 = Ruhedruck, 100 = Grenzdruck bei »iso-tracking-line«
Übergang zu anaerober Stoffwechsel-
2 lage, »iso-tracking-line« = Linie exakter
100

Übereinstimmung von Einschätzung


und Messung)
80

60

40
Blutdruck (subjektiv)

20

0
0 20 40 60 80 100
Blutdruck (objektiv)

verfügen würde und sich daran orientieren könnte. Untersuchung an Patienten


Die Betrachtung der Mittelwerte erweckt den Ein- mit koronarer Herzkrankheit
druck, als sei es den Probanden unter höherer Be- Bei einer Untersuchung an Herzinfarktpatienten
lastung möglich, diese Werte mit einiger Genauig- (Kollenbaum 1990) ließen sich im Prinzip ähn-
keit einzuschätzen. Die Betrachtung der indivi- liche Fehleinschätzungen der Herzrate nachweisen
duellen Zusammenhänge zwischen Einschätzung (⊡ Abb. 2.4). Während die Hälfte der annähernd
und gemessenem Wert (wie in den beiden vorigen 700 Patienten zu Beginn des Rehabilitationsaufent-
Abbildungen) lässt jedoch erkennen, dass ähn- haltes eine leichte Unterschätzung der Herzrate
lich wie im Falle des Blutdrucks allenfalls einige aufwies (⊡ Abb. 2.4; Ausmaß der Fehleinschätzung
wenige Personen in der Lage sind, zutreffende Ein- bei den Interozeptionsübungen 1–5), kam es nur
schätzungen vorzunehmen (⊡ Abb. 2.3). bei einem sehr kleinen Teil der Patienten (weniger
als 10%) zu einer Überschätzung der Herzfrequenz.
Diskussion Die übrigen 40% zeigten eine gravierende Unter-
Wir können aus diesen Untersuchungen an Ge- schätzung der Herzfrequenz am Anfang des Reha-
sunden schließen, dass für die Herzratenwahr- bilitationsaufenthaltes. Durch ein spezielles Intero-
nehmung oder -einschätzung eine ausreichende zeptionstraining wurden diese Personen immer
kognitive Repräsentation vorhanden ist, die auch wieder mit dem Ausmaß ihrer Fehleinschätzung
für eine Verhaltenssteuerung ausreichen könnte. konfrontiert, um so kontinuierlich einen Lernan-
Für Blutdruck und Herzarbeit scheint dies jedoch reiz zu setzen. Tatsächlich ist es im Laufe des Reha-
durch die hier vorgenommene Untersuchungs- bilitationsaufenthaltes gelungen, die Interozeptions-
methodik nicht nachweisbar. Diese Ergebnisse leistung zu verbessern. Während die Personen mit
stimmen ebenfalls recht gut mit den Ergebnissen adäquaten Einschätzungen unverändert blieben,
anderer Arbeiten zur Interozeptionsforschung hatten Personen mit anfänglicher Überschätzung
überein. der Herzrate bereits nach kurzer Zeit das Niveau
der Hauptgruppe erreicht. Auch die anfänglichen
Unterschätzer näherten sich deutlich einer besseren
2.2 · Interozeptionsforschung
25 2

⊡ Abb. 2.3. Interozeption der 120


Herzleistung; ipsative Einheiten
(0 = Ruheleistung, 100 = Leistung
bei Übergang zu anaerober Stoff- 100
wechsellage)

80

60
Herzleistung (subjektiv)

40

20

0
0 20 40 60 80 100
Herzleistung (objektiv)

⊡ Abb. 2.4. Änderung der Ein- 1


schätzung der Herzfrequenz im Üb
Laufe eines Interozeptionstrainings; er
sc
693 Patienten mit KHK, tägliche hä
tze
Übungen über 4 Wochen. Ordinate: 0,5 r
ipsative Einheiten (0 entspricht
korrekter Einschätzung); Abszisse:
Übungen
0

Richtigschätzer
–0,5

–1
r
chätze
Unters

–1,5

–2
1–5 6–10 11–15 16–20
Interozeptionsübungen
26 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

Einschätzung an, ohne jedoch ganz in den Bereich schen Pol oder zu einem leistungsbezogenen Pol
zutreffender Einschätzungen zu kommen. indolenten Verhaltens tendiert. Eine weitere Unter-
Diese Einschätzungen wären ohne große Be- suchung von Whitehead et al. (1986) belegt eben-
2 deutung, wenn sie nicht gleichzeitig und konsistent falls, dass der Umgang mit Körperwahrnehmungen
mit einem entsprechenden Verhalten einhergingen. und Beschwerden erlernt wird. Junge Frauen waren
Patienten, die eine Überschätzung der Herzfrequenz im Hinblick auf die Beschwerden, die sie während
zeigten, haben sich während der Bewegungsthera- der Menstruation erlebten, ganz wesentlich geprägt
pie auffällig zurückgehalten. Ihre Wahrnehmung von der Reaktion der Eltern auf die Menarche und
(»mein Herz schlägt schon so schnell«) hat sie da- die geschilderten Wahrnehmungen der Eltern wäh-
vor zurückschrecken lassen, die günstigen Wirkun- rend der Menstruation wie auch ganz besonders
gen der Bewegungstherapien in vollem Maße aus- von dem Vorbild der Mutter. Wir können daher mit
zuschöpfen. Umgekehrt haben die Patienten mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass ins-
einer Unterschätzung der Herzfrequenz während besondere Prozesse des Modelllernens und der
der Bewegungstherapie nicht nur das Maß über- operanten Konditionierung zur Ausbildung in-
schritten, das sie selbst jeweils erreicht zu haben terozeptiver Prozesse beitragen. Interozeptive Pro-
glaubten, sondern sie haben dabei auch häufig die zesse können daher von erheblicher Bedeutung
ärztlich verordnete Trainingsfrequenz, den Richt- sein. Dies gilt nicht nur für kardiovaskuläre Er-
puls überschritten. Aus Untersuchungen ist be- krankungen.
kannt, dass die häufige Überschreitung des Richt- Auch für Patienten mit Asthma bronchiale ist
pulses mit einer erhöhten Komplikationsrate und es von erheblicher Bedeutung, welche Symptome
einer erhöhten Mortalität bei Koronarpatienten sie wahrnehmen und welche Bedeutung sie diesen
einhergeht. Die zutreffende Einschätzung der Herz- Symptomen geben (Mass et al. 1993; Dahme et al.
rate hat für diese Patienten daher eine existentielle 1996). Die Dosierung der Medikamente erfolgt bei
Bedeutung. Asthmatikern häufig in Abhängigkeit von den
wahrgenommenen Symptomen. Daher kann es zu
einer unnötigen Belastung des Organismus mit
2.3 Klinische Relevanz Sympathomimetika oder Steroiden kommen, wenn
der Interozeptionsforschung Symptome inadäquat wahrgenommen und inter-
pretiert werden.
Die oben vorgestellten Ergebnisse eines Interozep- Ebenso spielt die Symptomwahrnehmung bei
tionstrainings mit Koronarpatienten lassen einen Patienten mit Diabetes mellitus eine bedeutende
psychotherapeutischen Ansatz zur Verbesserung Rolle. Für die rechtzeitige Kalorienzufuhr ist die
dysfunktionaler Körperwahrnehmungen aussichts- Wahrnehmung und Interpretation von Zeichen
reich erscheinen. Für alle chronischen Erkrankun- einer drohenden Hypoglykämie ganz besonders
gen dürfte wohl gelten, dass die Wahrnehmung und wesentlich. Entsprechend sind Wahrnehmungs-
Interpretation von Symptomen ein ganz entschei- trainingsprogramme für Diabetiker entwickelt wor-
dender Faktor für die Wiederaufnahme der Arbeit den, die eine bessere Erkennung sowohl von zu
oder aber eine frühzeitige Berentung ist. Gibt es hohen wie auch von zu niedrigen Blutzuckerwer-
jedoch, abgesehen von solchen plausibel erschei- ten fördern und damit Blutzuckerentgleisungen zu
nenden Versuchen, auch eine rationale Begrün- vermindern helfen (Cox et al. 1995; Fehm-Wolfs-
dung für ein solches Vorgehen? dorf et al. 1995). Da interozeptives Verhalten durch
Bei interozeptiven Prozessen handelt es sich Lernen modifizierbar ist, scheint es sinnvoll, im
weitgehend um ein gelerntes Verhalten. In einer Bedarfsfalle möglichst früh mit einer Schulung zu
Langzeitstudie an 350 Kindern konnte Mechanic beginnen. Daher sind entsprechende Trainings-
(1979) nachweisen, dass der Einfluss elterlicher Er- prozeduren auch in der Pädiatrie etabliert worden
ziehung entscheidend dazu beiträgt, ob späteres (Noeker et al. 2000).
Verhalten im Umgang mit Körperwahrnehmungen Interozeptive Wahrnehmungen sind nach un-
eher zu einem symptombezogenen, hypochondri- serem heutigen Kenntnisstand mitentscheidend
Literatur
27 2

dafür, dass eine Panikstörung zustande kommt. Literatur


Entsprechend ist ein Hauptbestandteil der Behand-
lung dieser Störung die Berücksichtigung der Kör- Arntz, A. (2002). Cognitive therapy versus interoceptive expo-
sure as treatment of panic disorder without agoraphobia.
perwahrnehmungen. Sie können durch intero-
Behaviour Research and Therapy, 40(3), 325–41.
zeptive Exposition und kognitive Therapie so mo- Aronson, K. R. et al. (2001). Feeling your body or feeling badly.
difiziert werden, dass in der Regel eine deutliche Evidence for the limited validity of the Somatosensory
Besserung der Symptomatik eintritt. Beide Be- Amplification Scale as an index of somatic sensitivity.
standteile scheinen unabhängig voneinander zu Journal of Psychosomatic Research, 51(1), 387–94.
Berthoud, H. & W. Neuhuber (2000). Functional and chemical
wirken (Arntz 2002), die meist durchgeführte
anatomy of the afferent vagal system. Autonomic Neuro-
Kombination beider Techniken ist daher durchaus science, 85(1–3), 1–17.
sinnvoll. Cameron, O. G. (2001). Interoception: The Inside Story–A Model
Eine Änderung dysfunktionaler interozeptiver for Psychosomatic Processes. Psychosomatic Medicine,
Prozesse wird aber nur gelingen, wenn gleichzeitig 63(5), 697–710.
Chambers J, Bass C. (1990). Chest pain with normal coronary
auch die Funktionalität dieser Prozesse im Lebens-
anatomy: a review of natural history and possible etiologic
kontext der Individuen berücksichtigt wird. Diese factors. Progress in Cardiovascular Diseases, 33, 161–84.
Funktionalität kann wiederum in drei Beziehung- Cox, D., L. et al. (1995). A multicenter evaluation of blood glu-
saspekten gesehen werden. cose awareness training-II. Diabetes Care, 18(4), 523–8.
▬ Eine intrapsychische Ebene betrifft die Effekte, Craig, A. D. (2002). Opinion: How do you feel? Interoception:
the sense of the physiological condition of the body. Nat
die durch Körperwahrnehmungen im Hinblick
Rev Neurosci, 3(8), 655–66.
auf Schuldgefühle oder depressive Gefühle aus- Dahme, B. et al. (1996). Interoception of respiratory resistance
gelöst werden. Kliniker werden immer wieder in asthmatic patients. Biological Psychology, Special Issue:
mit dem Phänomen konfrontiert, dass eine Interoception and behavior. 42(1–2), 215–229.
Somatisierung in konfliktbeladenen oder ver- Dworkin, B. (1988). Hypertension as a learned response: the
baroreceptor reinforcement hypothesis. In: T. Elbert, W.
unsichernden Situationen erfolgt und unter
Langosch, A. Steptoe & D. Vaitl. (Hrsg.): Behavioral medi-
Umständen über lange Zeit persistiert oder cine in cardiovascular disorders. S. 17–47 Chichester: John
auch sich automatisiert. Wiley & Sons.
▬ Auf einer zweiten, interpersonalen Ebene kön- Fallen, E. L. et al. (2001). Afferent vagal modulation. Clinical
nen Körperwahrnehmungen zur Gestaltung studies of visceral sensory input. Autonomic Neuroscience,
90(1–2), 35–40.
von Beziehungen beitragen. Die Reaktion der
Fehm-Wolfsdorf, G. et al. (1995). Psychophysiological condi-
Umwelt durch Entpflichtung oder durch ver- tions of blood-sugar regulation in humans – conditioning
mehrte Zuwendung kann als verstärkender and interoception. Verhaltenstherapie 5s1: a6.
Mechanismus dazu führen, dass die Körper- Frasure-Smith, N. (1987). Levels of somatic awareness in rela-
wahrnehmungen die zunächst neutral oder tion to angiographic findings. Journal of Psychosomatic
Research, 31, 545–554.
sogar negativ waren, eine positive Bedeutung
Freud, S. (1929). Das Unbehagen in der Kultur. (Studienaus-
im Leben gewinnen, und damit in ihrer Auf- gabe, Bd IX; Fischer, Frankfurt, 2000, S. 204f.)
tretenswahrscheinlichkeit erhöht werden. Giraux, P. et al. (2001). Cortical reorganization in motor cortex
▬ Schließlich spielen auf einer dritten Ebene auch after graft of both hands. Nature Neuroscience, 4(7), 691–692.
soziale Prozesse eine Rolle. Die Bereitschaft, Goehler, L. et al. (2000). Vagal immune-to-brain communica-
tion: a visceral chemosensory pathway. Autonomic Neuro-
mit der die Gesellschaft die Wiederaufnahme
science, 85(1–3), 49–59.
der Arbeit erleichtert oder erschwert oder Ren- Holtzman, S. G. (2003). Discrimination of a Single Dose of
ten vergibt, kann nicht ohne Affekt bleiben auf Morphine Followed by Naltrexone: Substitution of
die unbewusste Bereitschaft, Signale wahrzu- Other Agonists for Morphine and Other Antagonists for
nehmen und sie entsprechend den äußeren Naltrexone in a Rat Model of Acute Dependence. The
Journal of Pharmacology and Experimental Therapeutics,
Einflüssen zu interpretieren.
304(3), 1033–1041.
Holzer, P. (2001). Gastrointestinal afferents as targets of novel
drugs for the treatment of functional bowel disorders and
visceral pain. European Journal of Pharmacology, 429(1–3),
177–193.
28 Kapitel 2 · Einblicke in die Innensicht: Zum Stand der Interozeptionsforschung

Jänig, W. (1995). Visceral afferent neurones: Neuroanatomy


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3

Medizinische Psychologie
in der Intensivmedizin
H. J. Hannich

3.1 Die Einführung der Psychologie in die Intensivmedizin – 30

3.2 Inhaltliche Schwerpunkte – 31


3.2.1 Situation der Patienten – 31
3.2.2 Situation der Angehörigen – 32
3.2.3 Situation des Behandlungspersonals – 32

3.3 Zusammenfassung und Ausblick – 33

Literatur – 34
30 Kapitel 3 · Medizinische Psychologie in der Intensivmedizin

3.1 Die Einführung der Psychologie Vorteile, etwa einer effektiven Dekubitus- und
in die Intensivmedizin Kontrakturprophylaxe, konnten damit nutzbar ge-
macht werden.
Bereits zu Beginn der Intensivmedizin in den sech- Therapeutische Erwägungen führten somit zu
ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde Überlegungen zur Behandlungssituation des Pa-
3 eine enge Verbindung zur Psychologie, insbeson- tienten auf der Intensivstation zurück. Insbe-
dere zur Psychopathologie, deutlich. Mit der Ein- sondere stand die Fragestellung, wie der Schwer-
richtung von Intensivstationen wurden nämlich kranke künstliche Beatmung, die damit zusam-
bei den dort Behandelten schwerste psychopatho- menhängende Intubation, die z. T. sehr schmerz-
logische Veränderungen festgestellt. Da es sich da- haften invasiven Behandlungsmaßnahmen sowie
bei um Patienten mit kardialen Eingriffen handelte, die ausgeprägte Abhängigkeit vom Behandlungs-
beschrieb man diese psychischen Reaktionen auf team und von den Geräten seelisch verarbeite,
die Operation als im Vordergrund. Auch sollten therapeutische An-
▬ »postoperative psychosis«, sätze zur Stützung, Stärkung und Wahrung der
▬ »postcardiotomy delirium«, Kooperationsfähigkeit des Patienten entwickelt
▬ »cardiac psychosis«. werden.
Zu dieser Thematik bildete sich im deutsch-
Auch wurden die Behandlungsbedingungen der sprachigen Raum die erste Arbeitsgruppe an der
Intensivstation zunehmend als ursächlich für die Universität Wien. Bezeichnenderweise ging sie auf
Verwirrtheitszustände angesehen, so dass man die Initiative des leitenden Biotechnikers zurück,
von einem sog. Intensive-care-unit-Syndrom (ICU- der für die Entwicklung der Beatmungstechniken
Syndrom) zu sprechen begann. verantwortlich war. Fast zeitgleich begannen an
Im deutschsprachigen Raum machten Jores anderen deutschsprachigen Universitäten (Gie-
und Freyberger (1968) als erste Autoren auf psychi- ßen, Münster, Graz, Berlin) Forschungsaktivitä-
sche Störungen bei Intensivpatienten aufmerksam. ten, wobei Anästhesisten mit Medizinpsycholo-
Sie stellten bei Patienten auf internistischen Inten- gen kooperierten. Als Folge entstand im Rahmen
sivstationen sog. »Katastrophenreaktionen« fest, der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psy-
vergleichbar denen, die bei Menschen nach einer chologie ein ständiger Arbeitskreis zu diesem
Naturkatastrophe anzutreffen seien. Beide Autoren Thema.
formulierten auch einen Maßnahmenkatalog zu Eine zunehmend lauter werdende Kritik der
klinisch-psychologischen Interventionsmöglich- Öffentlichkeit an der Intensivmedizin gab den
keiten, der aber weitgehend ohne praktische Kon- Aktivitäten dieser Forschergruppen zusätzlichen
sequenzen blieb. Auftrieb. Die Intensivmedizin wurde in der öffent-
Über die Weiterentwicklung therapeutisch- lichen Meinung zum Musterbeispiel für das
technischer Möglichkeiten rückte die Frage nach »seelenlose Krankenhaus«, in der in einer »Welt
der psychosozialen Situation des Patienten sowie monströser Maschinen« »Apparatefolter« betrie-
seinen Erlebensweisen erst wieder Mitte der sieb- ben werde. Statt Humanität – so der Vorwurf – be-
ziger Jahre in den Vordergrund. Grund dafür waren herrsche kalte Technik die Station.
Fortschritte in der Beatmungstechnologie, die Über- Die Unterstützung, die die medizinpsychologi-
legungen zur Zumutbarkeit der Intensivtherapie sche Forschung durch maßgebliche Intensivmedi-
notwendig machten. ziner erfuhr, wurde von deren Erwartung getragen,
Bis dahin wurden beatmungspflichtige Inten- durch wissenschaftliche Argumente eine rationale
sivpatienten aus beatmungstechnischer Indikation Grundlage für die Diskussion mit der Öffentlich-
großzügig sediert und relaxiert. Mit der Entwick- keit zu schaffen. Auch stand sicherlich das Kalkül
lung neuartiger Respirationsprinzipien wurde es dahinter, mit dem Hinweis auf die Tätigkeit von
nun möglich, die Patienten zunehmend wach und Medizinpsychologen auf der Intensivstation den
ansprechbar zu halten. Die mit der Kooperations- Vorwurf etwa des »seelenlosen Krankenhauses«
fähigkeit des Patienten verbundenen medizinischen schon im Vorfeld zu entkräften.
3.2 · Inhaltliche Schwerpunkte
31 3
3.2 Inhaltliche Schwerpunkte ▬ Auf Seiten des Patienten:
 massive Kommunikationsbehinderung
Folgende Themenbereiche sind gemäß einer Lite- (z. B. durch Intubation, Bewusstseinstrü-
raturrecherche über die wesentlichen Veröffentli- bung) und dadurch bedingte kommunika-
chungen im deutschen und englischen Sprachraum tive Verfügbarkeit.
aus den Jahren 1980–2002 unter Forschungsge-
sichtspunkten relevant: Beschreibung psychologischer Probleme bei be-
▬ die Situation von Patienten, Behandlungsteam stimmten Krankheitsgruppen. Dieser Schwerpunkt
und Angehörigen auf der Intensivstation; medizinpsychologischer Betrachtungen der Patien-
▬ deren Beziehungsverhältnis untereinander; tensituation auf der Intensivstation untersucht den
▬ das therapeutische Setting der Intensivbe- Einfluss von patientenspezifischem Adaptations-
handlung. verhalten auf Krankheitsverlauf und -erleben bei
bestimmten Krankheitsgruppen, wie Herzinfarkt-
Um diese Schwerpunktbereiche gruppieren sich patienten, neurologisch Erkrankten, Transplanta-
Veröffentlichungen zu ethischen Fragestellungen tionspatienten u. a. Dem therapeutischen Umgang
auf der Intensivstation (z. B. zur Problematik lebens- mit spezifischen Formen der Krankheitsbewälti-
verlängernder Maßnahmen) bzw. zu psychophar- gung wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
makologischen Aspekten der Patientenbetreuung. In dieser Hinsicht sind in den letzten Jahren medi-
zinpsychologisch-therapeutische Interventionen
und Betreuungsverfahren entwickelt worden mit
3.2.1 Situation der Patienten den Zielsetzungen
▬ der emotionalen Stabilisierung,
Im Fokus der medizinpsychologischen Betrach- ▬ der dialogischen Beziehungsaufnahme,
tungen stehen in Bezug auf den Patienten folgende ▬ der Strukturierung und Entwicklung der Wahr-
Untersuchungen: nehmungsfähigkeit,
▬ der Förderung von Eigenaktivität.
Erfassung von belastenden Strukturmerkmalen
der Intensivtherapie. Hierzu gehört die Untersu- Zu den therapeutischen Konzepten gehören un-
chung von Stressoren wie Überbelastung durch mittelbare patientenbezogene Ansätze wie
Licht, Lärm oder Schlafentzug in ihrem Einfluss ▬ Musiktherapie (v. a. für »bewusstseinsverän-
auf die Befindlichkeit von Patienten. Es werden die derte« Patienten),
psychopathogenen Auswirkungen des sog. »over- ▬ das Angebot von Sinnesreizen zur gezielten
energetic treatments« auf die Bewusstseinslage Ansprache der Wahrnehmungsfähigkeit,
und auf das emotionale Stresserleben erfasst. ▬ psychotherapeutische Verfahren aus dem Spek-
trum der supportiven Psychotherapie.
Analyse der Beziehungs- und Kommunikations-
strukturen zwischen Patient und Behandlungs- Auch finden sich mittelbare Vorschläge, z. B. zur
team. In Beziehungsanalysen werden häufig Ent- patientengerechten Ausstattung der Behandlungs-
fremdungen zwischen Patient und Personal räume etwa über die Farbgestaltung von Decken
konstatiert. Hierfür werden folgende Faktoren und Wänden sowie über den Einsatz von Orien-
verantwortlich gemacht: tierungshilfen. Weiterhin wird eine Zweiteilung
▬ Auf Seiten der Behandler: des Visitengeschehens vorgeschlagen, im Sinne
 biomedizinisch-technische Orientierung einer auf die Person des Patienten bezogenen
mit therapeutischem Aktivismus; Visite innerhalb des Krankenzimmers und einer
 Versuch der emotionalen Distanzierung an den medizinisch-diagnostischen Fragestellun-
vom Patienten durch Konzentration auf gen orientierten Visite außerhalb. An teambezo-
therapeutisch-medizinische Handlungs- genen Ansätzen finden sich vor allem Vorschläge
vollzüge. zur Einführung von interdisziplinären Fallbe-
32 Kapitel 3 · Medizinische Psychologie in der Intensivmedizin

sprechungen zur Sicherung des Informations- 3.2.3 Situation des Behandlungspersonals


flusses.
Zur Implementierung dieser Betreuungsansätze Bereits länger auf der Tagesordnung steht die Be-
auf der Intensivstation ist kritisch festzustellen, dass schreibung von Belastungsfaktoren für das Be-
deren feste Verankerung im Betreuungskonzept bis- handlungspersonal. Im Rahmen der Diskussion
3 lang noch nicht gelungen ist. Ein wesentlicher Grund um das Burn-out in helfenden Berufen wurden die
ist der Mangel an kontrollierten Studien zur Effek- auf Intensivstationen Tätigen zum Gegenstand
tivitätsmessung dieser Maßnahmen. Damit bleibt wissenschaftlicher Betrachtung. Dabei zeigte sich
das evidenzbasierte Wissen über den Einfluss psy- sehr schnell, dass weniger die objektiven Arbeits-
chologischer Interventionen auf den Bewältigungs- bedingungen als vielmehr Aspekte der interpro-
und Genesungsprozess weiter lückenhaft. fessionellen Kooperation als belastend empfunden
wurden. Insbesondere das Verhältnis zwischen
Pflegenden und Ärzten wird von beiden Seiten als
3.2.2 Situation der Angehörigen konfliktgeladen betrachtet.
Bei der Analyse der Konflikte ist auffällig, dass
Während die Belastungssituation des Patienten auf sie in zeitlicher Nähe zu Bestrebungen innerhalb
der Intensivstation gut beschrieben ist, beschäf- des Krankenpflegepersonals zur Professionalisie-
tigen sich im Vergleich dazu nur wenige Arbeiten rung des eigenen Berufes auftraten. Als deren Folge
mit der Situationsanalyse von Angehörigen auf der wird die Zuordnung der Pflege zur Medizin als
Station. Diese Arbeiten machen deutlich, dass die »Assistenzberuf« zunehmend in Frage gestellt. Ob-
Familienmitglieder des Patienten ebenso Betroffe- wohl Pflegende sich im Gegensatz zum Arzt fast
ne der Situation sind. Sie sind sehr ähnlichen Be- ständig in der Nähe des Patientenbettes aufhalten,
lastungsfaktoren wie der Patient selbst (Fremdheit können sie ihre Beobachtungen – so wird aus Pfle-
der Situation, Trennungsängste, Zukunftssorgen) gesicht bemängelt – gegenüber der medizinischen
ausgesetzt und benötigen gerade zu Beginn ihrer Perspektive kaum geltend machen. Ärzte wieder-
Besuche auf der Intensivstation der informieren- um erleben bei Pflegenden eine Verweigerungs-
den Anleitung und emotionaler Stützung. Hier- haltung, sie durch die Übernahme einfacher ärzt-
durch entstehen aber auch zusätzliche organisato- licher Aufgaben (wie Blutentnahme, i.v.-Injektio-
rische und menschliche Probleme, für die bislang nen u. ä.) zu entlasten.
keine ausreichenden Antworten gefunden worden Eine weitere Beeinträchtigung des psychoso-
sind. Obwohl die Einbeziehung von Angehörigen zialen Klimas auf der Intensivstation wird durch
in die Therapie und Pflege von verschiedenen Sei- Kommunikationsmängel zwischen Ärzten ver-
ten – von Ärzten, Pflegenden und Psychologen – schiedener Berufsgruppen (etwa der Anästhesisten
immer wieder gefordert wird, bleibt das Konzept und Chirurgen) berichtet. Sie können u. a. auch als
zur Führung von Familienmitgliedern auf der In- Ursachen ethischer Probleme bei der Behandlung
tensivstation auf das Angebot von Informations- von Patienten angesehen werden.
broschüren zum Stationsablauf beschränkt. Neben den Spannungen in den Interaktionen
Darüber hinaus gehende Konzepte, z. B. zur finden sich psychologische Belastungsfaktoren,
psychischen Stabilisierung von Angehörigen nach die aus der ständigen Konfrontation mit vitalbe-
der Mitteilung von Hiobsbotschaften, werden erst drohten Patienten resultieren. Aufgrund fehlender
allmählich und zaghaft entwickelt. Die ersten Ver- Ausbildung in diesem Bereich fühlen sich viele
suche hierzu stammen aus der Psychotraumatolo- Pflegende und Ärzte auf den angemessenen Um-
gie, die Angehörige von Intensivpatienten als mög- gang mit schwerstkranken Patienten und deren
liche Traumaopfer identifiziert. Weiter beginnen Bedürfnissen nicht vorbereitet.
Pflegewissenschaftler, sich mit der Angehörigen- Obwohl Studien zur Arbeitszufriedenheit von
situation zu befassen, weil sie deren Potential zur Intensivbehandlungsteams ein funktionierendes
Realisierung individueller Pflege am Krankenbett Gruppenklima als wichtiges Stabilisierungsmo-
erkannt haben. ment für den einzelnen Helfer identifizieren, wer-
3.3 · Zusammenfassung und Ausblick
33 3

den psychosoziale Hilfsangebote zur Belastungs- lieren können. Die Verankerung scheint viel-
bewältigung nur sehr zögerlich angenommen. Zwar mehr von örtlichen Gegebenheiten abhängig
wird auf die Notwendigkeit der Etablierung von zu sein.
Supervisions- und Balint-Gruppen auf den Inten-
sivstationen immer wieder hingewiesen. Sie schei- Die Frage der Implementierung medizinpsycho-
nen aber am ehesten dort genutzt zu werden, wo logischen Know-hows auf der Intensivstation ist
ein Medizinpsychologe direkt vor Ort tätig ist. somit eine zukünftig zu lösende Aufgabe. Eine
Seine Person und seine Präsenz auf der Intensiv- Reihe organisatorischer und institutioneller Wi-
station scheinen die Inanspruchnahme im Wesent- derstände sind dabei zu erwarten, so dass Entwick-
lichen mitzubestimmen. lungen nur in kleinen Schritten vollzogen werden
können.
Es stellt sich hierbei ein ähnliches Problem, wie
3.3 Zusammenfassung und Ausblick es in der Präventionsforschung hinreichend disku-
tiert wird: Es besteht eine Kluft zwischen Wissen
Insgesamt ist der Erfolg der Umsetzung von psy- und Handeln. Die Notwendigkeit der Verbesserung
chosozialen Betreuungsansätzen für Patienten, An- der psychologischen Betreuungsqualität auf Inten-
gehörige und Personal auf der Intensivstation zu- sivstationen wird von Ärzten und Pflegenden nicht
rückhaltend zu bewerten. Er bleibt auf sporadische ernsthaft bestritten. Andererseits scheitert die Um-
Einzelinitiativen beschränkt. Die nur unzureichen- setzung dieser Ansätze auf der Handlungsebene.
de Verankerung psychosozialer Maßnahmen im Fehlende Zeit und Mittel werden für diesen Um-
Therapieangebot der Intensivstation veranlasst stand verantwortlich gemacht.
Fenner (2001) in einer kritischen Würdigung zur Ohne die Bedeutsamkeit dieser Argumente in
Psychosomatik der Intensivmedizin zu den Wor- Frage zu stellen – der motivationale Aspekt der Än-
ten: »... kaum eine der von Psychosomatikern seit derungsbereitschaft bleibt dabei unberücksichtigt.
1970 geforderten Maßnahmen wie z. B. Liaison- Dabei scheint diese Variable eine wichtige Rolle bei
dienste oder Supervisionen in Intensivstationen der Entscheidung über den Erfolg des psychologi-
sind aktuell zur Anwendung gekommen« (Fenner, schen Implementationsangebotes auf der Intensiv-
2001, S. 297). station zu spielen. Erste Erfahrungen, die Innova-
Das bisher Gesagte kann demnach folgender- tionsbereitschaft von Behandlungsstationen zu
maßen zusammengefasst werden: erfassen und darauf abgestimmte Implementie-
▬ Medizinpsychologischen Untersuchungen ist rungsangebote zu beginnen, sind bereits gesam-
es gelungen, eine umfassende Analyse der psy- melt worden. So zeigte eine Vergleichsstudie von
chosozialen Situation von Patienten, Personal Bienstein und Hannich (2001), dass die Bestim-
und Angehörigen zu leisten. Ihre Ergebnisse mung der Änderungsbereitschaft Voraussagen
weisen auf einen deutlichen Handlungsbedarf zum Erfolg der Mitarbeit von Behandlern in the-
zur Verbesserung der Betreuungsqualität von menzentrierten Fokusgruppen und Qualitätszir-
Patienten und ihren Angehörigen und zur För- keln erlaubt. Auch erhellt sie einen Teil der Varianz
derung des psychosozialen Klimas im Behand- bei der Abschätzung des Veränderungseffektes in
lungsteam hin. Institutionen.
▬ Von vereinzelten Bemühungen abgesehen ist In der zukünftigen medizinpsychologischen
eine Umsetzung medizinpsychologischer Er- Forschung sollte zudem vermehrt dem Umstand
kenntnisse in den Klinikalltag weitgehend nicht Rechnung getragen werden, dass sich die Verweil-
erfolgt. Anders als in anderen Bereichen der dauer von Patienten auf der Intensivstation im Re-
Medizin, wie z. B. der Onkologie, in denen eine gelfall drastisch verkürzt hat (auf durchschnittlich
medizinpsychologische und psychosomatische 20 Stunden). Dieses lenkt den Blick auf den prä-
Orientierung zum Behandlungsrepertoire ge- operativen Bereich. Hier sollte überlegt werden,
hört, hat sich medizinpsychologisches Denken wie im Rahmen präoperativer Aufklärung saluto-
und Handeln im Intensivbereich nicht fest etab- genetische Aspekte vermehrt berücksichtigt wer-
34 Kapitel 3 · Medizinische Psychologie in der Intensivmedizin

den können. Es könnte etwa die Frage untersucht Literatur


werden, wie präoperative Informationen unter
dem Aspekt der Kohärenzförderung gestaltet sein Bienstein, C. & Hannich,H. J. (2001). Förderungs- und Lebensge-
staltungskonzepte für Wachkoma- und Langzeitpatienten.
müssen.
Frankfurt: Zimmermann.
Weiterhin können Synergieeffekte genutzt wer- Fenner, E. (2001). Psychosomatische Forschung in der Intensiv-
3 den, indem vermehrt Kontakt mit den sich rapide medizin, Psychotherapie, Psychosomatik. Medizinische
entwickelnden Pflegewissenschaften gesucht wird. Psychologie, 51, 7, 295–298.
Anders als Ärzte haben Pflegende den nahen Kon- Jores, A. & Freyberger, H. (1968). Psychologische Probleme in
der Intensivpflege. Verhandlungen der Deutschen Gesell-
takt zum Patienten und sehen deren psychologi-
schaft für Innere Medizin, 74, 401–405.
sche Unterstützung als einen wichtigen Teil ihrer Osterbrink, J., Mayer, H., Fiedler, C. & Ewers, A. (2001). Inzidenz
Aufgabe an. Aus diesem Grund hat sich in den letz- und Prävalenz postoperativer akuter Verwirrtheit kardio-
ten Jahren eine rege Forschungsaktivität zur um- chirurgischer Patienten nach Bypassoperationen sowie
fassenden Pflege, Förderung und Begleitung kri- Herzklappenersatz. Pflege 15 (4), 178–189.
tisch Kranker entfaltet. Viele Themen, die in pflege-
wissenschaftlichen Zeitschriften diskutiert werden
(z. B. zur Prävention von Bewusstseinsstörungen
bei Intensivpatienten, zur Kommunikation mit Be-
atmeten usw.) könnten auch medizinpsychologi-
scher Provenienz sein. Interdisziplinarität bietet
sich demnach an. Auch hier sind bereits erste
Schritte der Zusammenarbeit getan. Zum Beispiel
berichten Untersuchungen zur Frage nach der Pro-
phylaxe postoperativer Verwirrtheitszustände bei
herzoperierten Patienten von einem Zusammen-
gehen pflegerischer und medizinpsychologischer
Kompetenzen (Osterbrink et al. 2001).
Dieser Ausblick in die nahe Zukunft macht
deutlich, dass das Überschreiten von Fachgrenzen
und das Herstellen von Interdisziplinarität eine
wichtige Voraussetzung für die Einführung psy-
chologischer Behandlungskonzepte auf die Inten-
sivstation sein können. Der Medizinpsychologe
braucht dabei nicht um seine Identität zu fürchten.
Sein Wissen um Prozesse des Krankheitserlebens
und der -verarbeitung bei lebensbedrohlich Er-
krankten, um das Spannungsfeld zwischen Technik
und Personalität, seine Kenntnisse motivationaler
Strategien sowie seine psychosoziale Handlungs-
kompetenz in Bezug auf die psychotherapeutische
Begleitung Schwerstkranker und in Hinsicht auf
Team- und Organisationsberatung machen ihn zu
einem für alle Seiten unverzichtbaren Partner. Es
wird an der professionellen Einstellung des Medi-
zinpsychologen liegen, seine Kompetenzen ange-
messen zu vertreten.
4

Psychosomatische Dermatologie
J. Kupfer, U. Gieler

4.1 Systematik psychischer Aspekte in der Dermatologie – 36

4.2 Epidemiologie psychischer Erkrankungen


bei Hautpatienten – 38

4.3 Lebensqualität bei Hautpatienten – 40

4.4 Affektive Störungen bei Hautkrankheiten – 40

4.5 Stress und Hautkrankheiten – 41

4.6 Psychotherapeutische Ansätze und Schulungsprogramme


in der Dermatologie – 42

4.7 Zusammenfassung – 43

Literatur – 44
36 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

 nung für Psoriasis – erkrankte. Es wird weiter berich-


tet, dass durch Erkennen und Lösen des Konflikts
Psychologische und psychosomatische Aspekte der Ausschlag geheilt werden konnte. Trotula (ge-
von Hauterkrankungen sind Gegenstand der psy- storben 1097 in Italien), eine Ärztin an der Medizini-
chosomatischen Dermatologie. Grundsätzlich kann schen Hochschule von Salerno, beschrieb in ihrer
zwischen Hauterkrankungen, die primär durch medizinischen Enzyklopädie, zusammen mit ihrem
psychologische Prozesse ausgelöst werden (z. B. Mann und ihren Söhnen, die ebenfalls Ärzte waren,
Artefakte der Haut, Trichotillomanie, Dysästhesien die praktische Krankenbeobachtung als wichtigen
4 der Haut) und Hauterkrankungen, die sekundär Teil der medizinischen Ausbildung. Darin erwähnte
regelmäßig psychische Veränderungen bedingen sie unter anderem auch die Beobachtung des Ge-
(Psoriasis, Neurodermitis, Akne, Melanom) unter- sichtsausdrucks und das »Fühlen der Haut« als Teil
schieden werden. In Abhängigkeit vom Erkran- der Behandlung (Chicago 1987).
kungsbild können unterschiedliche psychische Schon 1788 konnte Falconer feststellen: »Kum-
Gesichtspunkte relevant werden. Entsprechend mer führt zu geringerem Schwitzen und lässt die
der psychischen Beteiligung am Krankheitsverlauf Haut blass werden, was, wie man hört, auch für
müssen auch die (psycho-)therapeutischen Inter- Neid gilt.« Sulzberger und Zaidens (1948) haben
ventionen differenziert werden. Während nur in schon 1948 Folgendes geäußert: »Es gibt mög-
den seltensten Fällen eine hauptsächlich psycho- licherweise keine einzige Erkrankung, die mehr
therapeutische Intervention angezeigt sein wird, psychischen Stress, mehr Fehlanpassung zwischen
so ist doch bei einer großen Anzahl von Patienten Eltern und Kindern, mehr generelle Unsicherheit
eine psychologisch stützende Therapie bzw. ein und Minderwertigkeitsgefühle sowie eine Un-
psychologisch geprägtes therapeutisches Handeln menge psychischer Leiden hervorruft als die Akne
angezeigt. Dies wird sich meist auf der Ebene der vulgaris.«
psychosomatischen Grundversorgung in der Allge-
meinarzt- oder Hautarztpraxis abspielen. Aspekte
der Arzt-Patient-Beziehung, der Unterstützung bei
Compliance-Problemen, wie sie bei zahlreichen 4.1 Systematik psychischer Aspekte
chronischen Hauterkrankungen bekannt sind so- in der Dermatologie
wie die Förderung der Lebensqualität sind weitere
Forschungsgegenstände der psychosomatischen Psychische Aspekte werden in der Literatur unter-
Dermatologie. schiedlich gewichtet, je nachdem, welches theore-
Schon bei Hippokrates (460–370 v. Chr.) findet tische Konzept bei Hautkrankheiten angelegt wird
sich eine erste Beschreibungen einer psychosoma- (Cotterill 1996; Koblenzer 1983; Medansky und
tisch-dermatologischen Reaktionskette. Er schreibt Handler 1981). Wie bereits in der Einleitung darge-
über den Zusammenhang von Angst und Schweiß- stellt, lassen sich verschiedene dermatologische
ausbrüchen (Hyperhidrose), also einer Emotion als Erkrankungen in Abhängigkeit der psychologi-
Auslöser einer dermatologisch relevanten somati- schen Genese und der Krankheitsverarbeitung sys-
schen Reaktion. tematisieren. In der ersten Gruppe befinden sich
Die ersten Fallberichte zu psychosomatischen dabei in erster Linie Erkrankungsbilder mit Haut-
Aspekten von Hauterkrankungen werden bei Shafii schädigungen, die von den Patienten bewusst oder
und Shafii (1979) zitiert. Diese berichten von einer unbewusst infolge psychischer Konflikte oder Stö-
persischen Schriftensammlung aus dem Jahr 1155, rungen herbeigeführt werden, oder, hier mit dem
in der ein Fallbericht aus dem Jahr 802 n. Chr. ent- Begriff somatoforme Störungen bei Hautkrankhei-
halten ist. Dort berichtet ein Arzt von der Kranken- ten (z. B. körperdysmorphe Störung) zusammen-
geschichte eines Wesirs des Kalifen von Bagdad, der gefasst, Erkrankungen ohne dermatologischen
infolge einer problematischen Vaterbeziehung an Befund. Der Patient stellt sich zwar wegen seiner
einem Ausschlag – Baras, vermutlich die Bezeich- dermatologischen Symptomatik vor, es lassen sich
▼ jedoch höchstens minimale Hautveränderungen
4.1 · Systematik psychischer Aspekte in der Dermatologie
37 4

oder geringfügige Veränderungen der Kopfbehaa- rauf noch genauer eingegangen werden. Die fol-
rung feststellen. Die Häufigkeit solcher somatofor- gende Übersicht fasst die Erkrankungen beider
men Störungen bei Hautkrankheiten tritt in einer Gruppen zusammen.
Universitätsambulanz bei ca. 18% der Hautpatien-
ten auf, wie Stangier et al. (2003) zeigen konnten. In
einer kürzlich vorgestellten Studie zu körperdys- Erkrankungen psychiatrischen Ursprungs,
morphen Störungen konnte Stangier et al. (2002) bei denen die Patienten häufig zunächst
zeigen, dass Patienten mit körperdysmorphen Stö- Dermatologen aufsuchen
rungen eine veränderte Wahrnehmungsschwelle  Dermatitis artefacta
gegenüber Gesunden aufweisen. Die Patienten  Dermatozoenwahn
konnten Photographien eines Gesichts mit einer in  Dysästhesien der Haut
Abstufungen veränderten kleinen Narbe, die im  Sonstige auf die Haut bezogene Wahnvor-
unterschwelligen Zeitbereich präsentiert wurden, stellungen
korrekter ordnen (in Abhängigkeit von der Nar-  Glossodynie
bengröße) als die Kontrollgruppe. Dies scheint ein  Neurotische Exkoriationen
erster Hinweis für eine veränderte Sensibilität der  Pruritus sine materia
Körperwahrnehmung zu sein. Patienten mit kör-  Somatoforme Störungen in der Dermato-
perdysmorpher Störung haben demnach vermut- logie (z. B. körperdysmorphe Störung)
lich eine höhere Wahrnehmungsintensität für be-  Trichotillomanie
reits kleinste Hautveränderungen, die die Kontroll-  Hautveränderungen infolge von Zwangs-
gruppe nicht hatte. Dadurch sind sie besonders handlungen oder Zwangsgedanken
sensibilisiert, auch bei sich selbst solche mini- (z. B. »skin picking«)
malen Veränderungen wesentlich deutlicher wahr-
zunehmen als es Menschen ohne eine solche Stö- Erkrankungen, deren Verlauf durch
rung tun. psychische Faktoren beeinflusst werden
Bei Cotterill (1996) findet sich eine ausführ- kann. (Biopsychosoziales Krankheits-
liche Darstellung aller Erkrankungen, die in der modell)
Gruppe der durch psychologische Faktoren ausge-  Akne vulgaris
lösten Hauterkrankungen aufgeführt sind.  Alopezia areata
Bei den Erkrankungen der zweiten Gruppe,  Dyshidrotisches Ekzem
bei denen ein Wechselspiel zwischen genetischen  Herpes simplex rezidivans
Mechanismen, verschiedenen Auslösefaktoren und  Hyperhidrosis
den psychosozialen Folgen der Hauterkrankung  Lichen planus
betrachtet werden muss, sind die Zusammen-  Neurodermitis (atopische Dermatitis)
hänge zwischen psychologischen Faktoren und  Prurigo nodularis
einer Erkrankung wesentlich schwieriger zu defi-  Pruritus, generalisiert
nieren.  Pruritus ani
Generell kann gesagt werden, dass bei den  Psoriasis vulgaris
meisten Hauterkrankungen erhebliche Schwierig-  Rosazea
keiten bei der Krankheitsverarbeitung auftreten,  Seborrhoisches Ekzem
aufgrund des entstellenden Charakters oder/und  Sklerodermie und andere Kollagenosen
des quälenden Juckreizes oder/und des chronisch  Urtikaria, chronisch
oder chronisch-rezidivierenden Verlaufs. Inwie-  Vitiligo
weit psychologische Faktoren bei der Entstehung
und Aufrechterhaltung oder als Triggerfaktor rele-
vant sind, ist häufig umstritten und Gegenstand
der momentanen Diskussion. An anderer Stelle des
Artikels wird für einzelne Erkrankungsbilder hie-
38 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

4.2 Epidemiologie psychischer Andere Studien geben leicht (Windemuth et


Erkrankungen bei Hautpatienten al.1999) bis deutlich (Fritzsche et al.1999) höhere
Zahlen für die Prävalenz psychischer Begleiter-
Es liegen eine ganze Reihe von Untersuchungen zur krankungen bei dermatologischen Patienten an.
Prävalenz psychischer Störungen in der Dermato- Der Anteil psychischer Komorbidität schwankt
logie vor. Zunächst muss davon ausgegangen wer- bei stationären Patienten zwischen 30% und 60%
den, dass es in Anbetracht der allgemeinen Komor- und bei ambulanten Patienten zwischen 21% und
bidität bei Kranken von ca. 25% (Franz et al.1998) 40%. Einen Überblick über die verschiedenen
4 bei Hautpatienten nicht unbedingt häufiger zu Studien gibt ⊡ Tabelle 4.1.
psychischen Erkrankungen kommt als bei ande- Bei Vergleichen mit anderen Patientengruppen
ren Erkrankungen. Picardi und Abeni (2001) unter- und mit Gesunden ergeben sich in den meisten
suchten 389 ambulante Patienten mit dem General Studien leicht erhöhte Werte von psychischen Stö-
Health Questionnaire (GHQ). Sie legten als Cut-off- rungen bei dermatologischen Patienten (Winde-
Wert für die Diagnose einer psychischen Störung muth et al.1999). Auch aus der Sicht der behandeln-
einen Wert von 5 an, der strenger ist als eigentlich den Ärzte existiert ein hoher Anteil von Patienten,
vorgesehen. Auch mit dem strengeren Kriterium für die ein psychosomatisches Angebot gemacht
fanden sie 20,6% der ambulanten Patienten, die ne- werden sollte (Gieler et al. 2001).
ben dermatologischen Erkrankungen auch psychi- In einer Erhebung an 69 dermatologischen Kli-
sche Beschwerden aufwiesen. Insbesondere Frauen niken wurden die Leitungen der Kliniken gebeten
mit sichtbaren Hauterkrankungen lagen über dem einzuschätzen, wie viele ihrer Patienten eine psy-
Cut-off-Wert. In einer Follow-up-Studie untersuch- chosomatische Therapie benötigten. Im Mittel ga-
ten Picardi et al. (2003) alle Patienten ohne psychi- ben die Ärzte an, dass 23% der Patienten eine solche
sche Begleiterkrankungen nach einem Jahr erneut. zusätzliche Therapie bräuchten. Diese Einschät-
Von 277 Patienten entwickelten 21 (7,6%) eine psy- zung war natürlich stark abhängig von der Art der
chische Begleiterkrankung. Die Entwicklung der Hauterkrankung. Eine grobe Einteilung findet sich
psychischen Begleiterkrankung war dabei signifi- in ⊡ Tabelle 4.2.
kant abhängig von dem Verlauf der Hauterkran- Die leitenden Hautärzte der befragten Kliniken
kung. Patienten mit einer Verschlechterung oder zeigten, dass sie, wie in der Systematik der Über-
einer unveränderten Hauterkrankung entwickelten sicht in Abschn. 4.1 dargestellt, vor allem bei Haut-
mehr als doppelt so häufig psychische Begleiter- erkrankungen, bei denen deutliche psychologi-
krankungen als Patienten mit einer Verbesserung. sche/psychiatrische Aspekte in der Entstehung eine

⊡ Tabelle 4.1. Prävalenz psychischer Begleiterkrankungen bei dermatologischen Patienten. (Modifiziert nach Gieler
u. Kupfer 2005)

Studie Anteil psychischer Diagnostik


Begleiterkrankungen
Ambulante Hughes et al. 1983 30% von 196 GHQ, WSAD
Patienten Wessely & Lewis 1989 40% von 173 GHQ, strukturiertes Interview
Aktan et al. 1998 33% von 256 GHQ, strukturiertes Interview
Picardi et al. 2001 21% von 389 GHQ
Schaller et al. 1998 21% von 249 Interview
Stationäre Hughes et al. 1983 60% von 40 GHQ WSAD
Patienten Windemuth et al. 1999 31% von 247 HADS-D
Fritzsche et al. 1999 50% von 89 Angst und Depression

GHQ General Health Questionnaire, WSAD Wakefield Self-Assessment Depression Scale, HADS-D Hospital Anxiety and
Depression Scale.
4.2 · Epidemiologie psychischer Erkrankungen bei Hautpatienten
39 4

⊡ Tabelle 4.2. Einschätzung des psychosomatischen/psychiatrischen Behandlungsbedarfs von Hauterkrankungen aus


Sicht der behandelnden Ärzte. (Nach Gieler et al. 2001)

Psychiatrische/psychosoma- Adjuvante/begleitende Psychologische Intervention


tische Intervention Intervention nicht erforderlich
Trichotillomanie Acne excoriée Tinea pedum
Artefakt Pruritus sine materia Acne vulgaris
Dermatozoenwahn Neurodermitis Lichen ruber
Acne excorée Melanom Alopecia areata
Pruritus sine materia Psoriasis vulgaris Epidermolysen
Neurodermitis Acne vulgaris Basilom
Urticaria Sklerodermie
Lichen ruber Verrucae vulgaris
Alopecia areata Hyperhidrosis
Epidermolysen Rosacea
Sklerodermie Seborrhoisches Ekzem
Hyperhidrosis Dyshidrosiformes Ekzem
Seborrhoisches Ekzem Virusinfektion
Dyshidrosiformes Ekzem
Rosacea

n = 69; Erkrankung wurde in entsprechende Spalte aufgenommen, wenn mindestens 20% der Befragten diese Kategorie
angaben.

Rolle spielen (wie Artefakte etc.), eine kausale psy- Bei Viruserkrankungen werden psychische
chotherapeutische, meist psychiatrische Interven- Faktoren für den Krankheitsverlauf als kaum rele-
tion für notwendig halten. Aber auch bei anderen vant angesehen. Dies widerspricht mit Einschrän-
Erkrankungen wie der Neurodermitis und dem kungen neuen Forschungsergebnissen zum Herpes
Pruritus sine materia wird von einer größeren An- labialis von Buske-Kirschbaum et al. (2001a). Die
zahl von Kliniken eine kausale Therapie als sinn-
voll erachtet. Bei einer Vielzahl von dermatologi-
⊡ Tabelle 4.3. Bedeutung psychischer Faktoren für
schen Erkrankungen wird eine psychotherapeu-
den Krankheitsverlauf bei verschiedenen dermatolo-
tische Intervention allerdings eher als begleitend gischen Erkrankungen (geordnet nach der Wichtig-
oder unterstützend für sinnvoll angesehen, wäh- keit; nach Gieler et al. 2001)
rend vor allen Dingen bei Erkrankungen, die wenig
entstellend sind oder nur kurzfristig bestehen, eine Bedeutung psychischer Erkrankung
Faktoren für den Krank-
psychotherapeutische Behandlung als nicht not- heitsverlauf
wendig angesehen wird.
Sehr starke Bedeutung Glossodynie
Vergleichbar mit der Einschätzung des psycho-
(3–4) Neurodermitis
therapeutischen Behandlungsbedarfs ist auch die
Starke Bedeutung (2–3) Chronische Urtikaria
Einschätzung der Bedeutung von psychischen Fak- Alopecia areata
toren für den Krankheitsverlauf. Die Einschätzun- Psoriasis
gen sind ⊡ Tabelle 4.3 zu entnehmen. Hyperhidrosis
Auffällig ist dabei, dass, z. B. bei der Neuroder- Geringe Bedeutung Dyshidrosiformes Ekzem
mitis, psychischen Faktoren zwar eine starke Be- (1–2) Akne vulgaris
Lichen ruber
deutung für den Erkrankungsverlauf zugewiesen Rosazea
wird, dass aber nach den Daten zu ⊡ Tabelle 4.2 bei Seborrhoisches Ekzem
der Neurodermitis keine kausale oder wesentliche Virusinfektionen
psychologische Intervention für sinnvoll erachtet Keine Bedeutung (0–1) –
wird.
40 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

Autorinnen führten eine experimentelle Studie setzung zur Erhebung des Coping-Verhaltens von
durch, in der sie Menschen untersuchten, die von chronisch-entzündlichen Dermatosen. Er erfasst
sich aus angaben, beim Betrachten schmutziger zentrale Dimensionen der Krankheitsverarbeitung
Gegenstände leicht einen Herpes an der Lippe zu wie »soziale Ängste«, »Juckreiz-Kratz-Zirkel«,
entwickeln. Dieser entwickelte sich unter dem »Hilflosigkeit im Umgang mit der Erkrankung«,
Untersuchungsdesign beim Zeigen solcher Bilder »Depressivität« und »Lebensqualität« und wurde
tatsächlich, während in der Kontrollgruppe, die bereits in vielen klinischen Studien eingesetzt.
sich neutrale Bilder anschaute, dies nicht passierte. In der Folge wurden zahlreiche Instrumente zur
4 Erfassung der Lebensqualität und zum Erleben
von Hauterkrankungen im deutschen Sprachraum
4.3 Lebensqualität bei Hautpatienten publiziert (z. B. Augustin et al. 1999; Schäfer et al.
2001; Schmidt-Ott et al. 1998).
In den letzten Jahren ist, wie auch sonst in der Me- Ein weiterer wichtiger Bereich befasst sich mit
dizin, bei zahlreichen Studien die Lebensqualität dem Stigmatisierungserleben von Patienten mit
ein zentraler Aspekt gewesen. Dabei wurde deut- Hauterkrankungen. Ginsburg und Link (1989)
lich, dass die Lebensqualität von Betroffenen mit konnten zeigen, dass insbesondere Psoriasis-Pa-
Hautkrankheiten deutlich stärker eingeschränkt tienten mit einem frühen Erkrankungsbeginn, mit
ist als dies bisher angenommen wurde. Speziell die einer mittleren bis schweren Manifestationsform
Neurodermitis und Psoriasis führt zu einer erheb- und sichtbaren Hauterscheinungen viel Zurück-
lichen Einschränkung der Lebensqualität. Der Zu- weisung in ihrem Alltag erleben. Diese Ergebnisse
sammenhang mit dem Schweregrad der Erkran- konnten von Schmid-Ott et al. (1998) weitestge-
kung ist zwar in einigen Studien signifikant, scheint hend bestätigt werden. Bei ihnen fand sich aller-
aber insgesamt von eher untergeordneter Bedeu- dings, dass die erlebte Zurückweisung noch stärker
tung (Harlow et al. 2000; Zachariae et al. 2000). war, wenn die Patienten einen Hautbefall im Intim-
Bei einem Vergleich von Psoriasis-Patienten bereich aufwiesen. Auch bei Urtikaria-Patienten
mit Patienten nichtdermatologischer Erkrankun- geben 29% an, wegen der Hauterscheinungen nicht
gen zeigte sich eine starke Einschränkung der Le- auszugehen (Guillet et al. 1998).
bensqualität für die Psoriasis-Patienten. Bei physi-
schen Symptomen war die Psoriasis nach der Stau-
ungsinsuffizienz die Erkrankung mit der stärksten 4.4 Affektive Störungen
Belastung, noch vor z. B. Diabetes, chronischen bei Hautkrankheiten
Lungenerkrankungen, Herzinfarkt oder Arthritis.
Bei den psychischen Beeinträchtigungen lag sie Depressionen und Angststörungen sind bei allen
hinter der Depression und chronischen Lungener- chronischen Erkrankungen in der Medizin mit
krankungen auf Rang 3 einer Liste mit 11 Erkran- einer gewissen höheren Koinzidenz aufgezeigt
kungen (Rapp et al. 1999). Aufgrund der erheb- worden. Speziell Bei Neurodermitis-Patienten wur-
lichen Belastung durch die Erkrankung wird von den wiederholt erhöhte Neurotizismus-, Angst-
dieser Autorengruppe eine psychische Mitbetreu- und Depressionswerte gefunden. Diese drei Berei-
ung der Psoriatiker, wie auch anderer dermatologi- che konnten auch in einer Metaanalyse als relevant
scher Patienten gefordert (Rapp et al. 1998). abgesichert werden, während bei anderen unter-
Durch die Entwicklung sowohl störungsspezi- suchten Persönlichkeitsmerkmalen widersprüch-
fischer wie auch für Hautkrankheiten generell ein- liche Ergebnisse herauskamen (Al-Abesie 2000). Es
setzbarer Fragebögen konnte die testpsychologi- ist hierbei davon auszugehen, dass es keinerlei per-
sche Untersuchung der Krankheitsverarbeitung sönlichkeitstypische Aspekte gibt, sondern dass
von Patienten mit Hauterkrankungen in Deutsch- sich solche Störungsbilder vor allem durch die Aus-
land stark gefördert werden. Insbesondere die Ent- einandersetzung mit einer sowohl chronischen wie
wicklung des Marburger Hautfragebogens (Stan- auch entstellenden und teilweise sichtbaren Er-
gier et al. 1996) war hierbei eine wichtige Voraus- krankung manifestieren. Zwei Arbeiten konnten
4.5 · Stress und Hautkrankheiten
41 4

außerdem zeigen, dass die auffällig erhöhten Werte ob sich ihr Hautzustand im letzten Monat verän-
in obigen Persönlichkeitseigenschaften nur für dert hat. 38,4% (207 von 539) der Patienten, die in
Subgruppen von Neurodermitikern zutreffen, die einem stark zerstörten Stadtteil lebten, 29,1% (220
sich durch eine negative Krankheitsverarbeitung von 757) der Patienten, die in einem weniger stark
auszeichnen, während andere mit der Erkrankung zerstörten Stadtteil lebten und 6,8% (11 von 161)
adäquat umgehen können (Gieler et al. 1990; Mohr einer Kontrollgruppe gaben eine Verschlechterung
und Bock 1993). des Hautzustandes an (Kodama et al. 1999).
Bei der Urticaria ließen sich ebenfalls erhöhte Eine andere methodische Möglichkeit, Stress-
Angst- und Depressionswerte feststellen. In ande- belastungen zu erfassen, wurde mit Zeitreihenana-
ren Persönlichkeitsbereichen konnten keine kon- lysen dargestellt. So untersuchten King und Wilson
sistenten Befunde festgestellt werden (z. B. Badoux (1991) bei Neurodermitis-Patienten mittels einer
und Levy 1994; Fava et al. 1980; Lyketsos et al. Metaanalyse den Zusammenhang zwischen dem
1985). Hautzustand und interpersonellen Stressereignis-
Erhöhte Depressionswerte konnten auch bei sen. Die Metaanalyse fasst die individuell berech-
Psoriasis-Patienten gezeigt werden, während ande- neten Korrelationen von 50 Patienten zusammen,
re Störungen wenig aussagekräftig sind. Lediglich die über 14 Tage ein Tagebuch mit oben genannten
für erhöhte Depressionswerte finden sich konsis- Variablen ausfüllten. Der interpersonelle Stress am
tente Ergebnisse in mehreren Studien (z. B. Har- Vortag konnte dabei den Hautzustand am aktuel-
vima et al. 1996; Lyketsos et al. 1985; Mazzetti et al. len Tag vorhersagen. Der Hautzustand am Tag x
1994). konnte allerdings wiederum den Stress am Tag x+1
vorhersagen. Nach King und Wilson (1991) handelt
es sich offensichtlich um eine reziproke Beziehung
4.5 Stress und Hautkrankheiten zwischen Hautzustand und Stress. Andere ähnliche
Studien kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen,
Life-Events und Stressreaktionen werden bei zahl- wodurch gezeigt werden konnte, dass der von Pa-
reichen dermatologischen Erkrankungen als wich- tienten häufig angegebene Zusammenhang zwi-
tige schubauslösende Triggerfaktoren angesehen. schen Stress und Symptomverschlechterung sich
Für die am besten untersuchten Erkrankungen durchaus auch wissenschaftlich darstellen lässt.
Neurodermitis und Psoriasis konnte demonstriert Allerdings scheint die Beziehung zwischen Stress
werden, dass jeweils für eine Subpopulation der und Hautzustand nur für eine Untergruppe von
Erkrankten Belastungsfaktoren relevant sind. Patienten zu gelten und die Zeit zwischen Stress
Eine Studie an Dermatologen in 19 verschie- und einer Verschlechterung des Hautzustandes
denen Ländern zeigte, dass auch 70% der Ärzte kann auch länger als einen Tag dauern (Brosig
davon ausgehen, dass der Verlauf der Neuroder- 2003; Helmbold et al. 2000; Kupfer 2002).
mitis durch Stress negativ beeinflusst wird (Rajka Experimentelle Stressreaktionen sind mittels
1986). Auch die Patienten selbst gehen zu 50–100% des inzwischen etablierten Trier Social Stress Test
von einer negativen Beeinflussung der Neuroder- mit verschiedenen Parametern bei Patienten mit
mitis durch Stress aus (Cormia 1951; Jordan und Neurodermitis untersucht worden. Bei diesem
Whitlock 1972). Im Gegensatz zu der breiten Ak- standardisierten Verfahren wird den Versuchsper-
zeptanz der ungünstigen Einflüsse von Stress auf sonen die Aufgabe gestellt, eine freie Rede zu einer
den Erkrankungsverlauf gibt es nur wenige pros- Bewerbung zu halten, ergänzt durch eine arith-
pektive oder experimentelle Studien, die diesen metische Aufgabe, die bei jeweiligen Fehlern unter-
Zusammenhang auch belegen. brochen wird, sodass der Proband von vorne be-
Eine der anschaulichsten neueren Studien auf ginnen muss. Die Ergebnisse dieser Studien zeigten
diesem Themengebiet untersucht Neurodermitis- konsistente Ergebnisse in der Hinsicht, dass sich
Patienten nach dem Hanshin Erdbeben in Kobe/Ja- bei Neurodermitis jeweils im Vergleich zu den Kon-
pan im Jahre 1995. Ein Monat nach dem Erdbeben trollgruppen immer stärkere immunologische Ver-
wurden 1.457 Patienten mit Neurodermitis befragt, änderungen darstellen ließen. Buske-Kirschbaum
42 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

et al. (1997, 2001b) wies einen verminderten Spei- tienten hätten angesichts sozialer Missbilligungen
chel-Cortisol-Response nach dem Stressereignis durch ihr Umfeld und starke Stigmatisierung die
nach. Kupfer (2002) konnte zeigen, dass der ver- Tendenz, Gefühle des Zorns und der Angst zurück-
minderte Speichel-Cortisol-Response nach der zuhalten.
Stresssituation nur bei denjenigen Neurodermiti- Ein großes Problem bei den Studien zum Zu-
kern auftrat, die am Tag nach der Stressexposition sammenhang von Stressereignissen und Verände-
eine Symptomverschlechterung hatten. Die Ar- rungen des Hautzustandes ist die zeitliche Latenz
beitsgruppe von Schmid-Ott et al.(2001 a,b) konnte zwischen diesen Parametern. Während bei der
4 bei den für Neurodermitis typischen Immunpara- Neurodermitis meist innerhalb von 24 Stunden mit
metern CD8+T Lymphozyten und CLA-Rezeptoren einer Verschlechterung des Hautzustandes gerech-
eine verstärkte Reaktion bei der Gruppe mit Neu- net werden kann (falls diese eintrifft), muss man
rodermitikern zeigen. Das gemeinsame Problem bei der Psoriasis von wesentlich längeren Latenz-
dieser Studien stellt das sog. Kompartiment-Pro- zeiten ausgehen. Al’Abadie et al. (1994) befragten
blem dar, da die Parameter im Speichel bzw. im 113 Psoriatiker. 66% sahen einen Einfluss von Stress
Blut untersucht wurden und bisher nicht bekannt auf den Verlauf der Erkrankung. Mehr als die Hälfte
ist, inwiefern die Reaktionen sich auch in der Haut gab an, dass nach einem Stressereignis im Lauf von
und an den Zielzellen abspielen. 4 Wochen mit einer Veränderung des Hautzustan-
Bei der Psoriasis glaubte jeweils ein Drittel der des gerechnet werden kann. Dies führt natürlich zu
Patienten, dass der Hautzustand sich unter Stress einer Vielzahl von methodischen Problemen, da
verschlechtert, war sich unsicher oder sah keinen die intervenierenden Variablen praktisch nicht
Zusammenhang (Faber u. Nall 1974). Von 72 befrag- kontrolliert werden können.
ten Dermatologen in einer Studie in Frankreich Für andere Hauterkrankungen liegen bisher
gaben alle an, dass sie glaubten, dass der Krank- noch sehr wenige Studien vor, so dass eine Bewer-
heitsverlauf der Psoriasis durch Stress beeinflusst tung problematisch erscheint.
wird. Eine sehr anschauliche Studie wurde von
Suljagic et al. (2000) vorgelegt. In ihr wurde der
Zusammenhang von Stressereignissen und Schwe- 4.6 Psychotherapeutische Ansätze
regrad der Erkrankung untersucht. Die Studie wur- und Schulungsprogramme
de in Bosnien während des Krieges durchgeführt in der Dermatologie
und es ergab sich eine Korrelation von r = 0.96 zwi-
schen Schweregrad und den Werten eines Frage- Die Effektivität psychotherapeutischer Verfahren
bogens zu kritischen Lebensereignissen. bei chronischen Hautkrankheiten wurde lange Zeit
Gaston et al. (1987) untersuchten wiederum die nur durch Einzelfallberichte dargestellt. Erst in den
Korrelation zwischen Belastungssituationen und letzten beiden Jahrzehnten werden zunehmend
dem Schweregrad an einzelnen Individuen über auch Therapieevaluationen durchgeführt. Bei der
einen längeren Zeitraum. Nur für einen Teil der Metaanalyse von 40 Studien bei Neurodermitikern
Patienten war ein solcher Zusammenhang über die erfüllten jedoch nur 10 das nach den Gütekriterien
Zeit festzustellen. von Herzog (1997) geforderte Mindestmaß von
Ein methodisch interessanter Ansatz wurde Kriterien (Al-Abesi 2000). Die wenigen Studien,
von Gupta et al. (1989) durchgeführt. Sie unterteil- die in die Analyse mit aufgenommen werden konn-
ten eine Gruppe von Patienten aufgrund der Selbst- ten, zeigten jedoch alle eine signifikante Verbesse-
einschätzung in »high stress responder« und »low rung der Symptomatik, die auch bis zur Katamnese
stress responder«. Dabei zeigte sich, dass die »high anhielt. Am günstigsten schnitten dabei Program-
stress responder« einen ausgeprägteren klinischen me ab, die verhaltenstherapeutische Maßnahmen
Verlauf und ein häufigeres Aufblühen der Efflores- mit dermatologischen Schulungsprogrammen und
zenzen zeigten. Nach Gupta et al. (1989) ist die Be- dermatologischer Basistherapie verbanden (Cole
wältigung des krankheitsbedingten Stresses bei et al. 1988; Ehlers et al. 1995; Niebel 1990). In den
den »high stress respondern« behindert. Die Pa- Studien verbesserte sich allerdings nicht nur die
4.7 · Zusammenfassung
43 4

Symptomatik, sondern auch psychosoziale Para- Bei der Psoriasis scheint eine Verbindung von
meter, wie soziale Ängste, erlebte Hilflosigkeit und Entspannungstechniken, Stressmanagementtrai-
das psychische Befinden (Lange et al. 1999). Inzwi- ning und einem Symptomkontrollimaginations-
schen wurde auch in einer größeren nationalen training eine Verbesserung der Symptomatik zu
Multicenter-Studie zur Neurodermitis-Schulung bringen (Zachariae et al. 1996). Auch Hypnose-
von Eltern, Kindern und Jugendlichen mit Neuro- techniken führten zu einer Reduktion des Schwere-
dermitis anhand von mehr als 1.000 Patienten ge- grades, wobei es nicht auf die Art der Suggestion
zeigt, dass sich die Gruppe unter Schulung signifi- ankam, sondern allein auf die Suggerierbarkeit
kant mehr besserte als eine Wartekontrollgruppe. der Probanden (Tausk und Whitemore 1999). Bei
Diese Studie führte dazu, dass diese Schulungs- der Urtikaria scheinen Entspannungstechniken
programme für Neurodermitis inzwischen fast flä- eine deutliche Symptombesserung zu erzielen,
chendeckend in Deutschland eingeführt wurden wobei erst eine größere Studie existiert, die diese
und auch als Leistung zur sekundären Prävention Effekte aufzeigen konnte (Haustein und Seikowski
der Neurodermitis anerkannt wurden (Gieler et 1990).
al.2000, 2003).
Zachariae et al. (2002) konnten in einer Unter-
suchung von 6.497 Patienten mit Psoriasis zeigen, Wann sollte an Fachpsychotherapie
dass die Teilnehmer von Selbsthilfegruppen einen gedacht werden?
geringeren Schweregrad und eine geringere Ein-  Erkennbarer biografischer Zusammenhang
schränkung der Lebensqualität aufwiesen (Zacha- mit dem Ausbruch der Erkrankung
riae et al. 2002).  Deutlicher Zusammenhang zwischen
Das Wissen um die Beeinflussbarkeit der Er- »Stress« und Verlauf der Erkrankung
krankung durch Stressereignisse führte auch zu  Ausgeprägte innerpsychische Konflikte
der Forderung, entsprechende psychotherapeuti-  Fehlende oder zu wenig soziale Unter-
sche Verfahren zu erproben, um eine bessere Stress- stützung
bewältigung zu erreichen. So konnte eine Studie  Andauernde familiäre Konflikte/Partner-
zeigen, dass Patienten, die aktiv versuchten, mit ih- schaftsprobleme/Probleme am Arbeits-
rer Erkrankung umzugehen (Gefühle nach außen platz
zeigen, soziale Unterstützung suchen, Ablenkung  Sozialer Rückzug und/oder Hinweise auf
suchen, weniger passives Coping), nach einem Jahr Depression
weniger ängstlich und depressiv waren und einen
geringeren Schweregrad aufwiesen (Scharloo et al.
2000).
Fortune et al. (2002) konnten nachweisen, dass 4.7 Zusammenfassung
Managementprogramme mit verhaltensmedizini-
schen Modulen (6 Sitzungen à 2,5 h) zusätzlich zu Im Bereich der psychosomatischen Dermatologie
einer dermatologischen Therapie (n = 53) wirksa- gibt es noch einen großen Forschungsbedarf, aller-
mer sind als eine alleinige dermatologische Rou- dings nicht nur im Bereich der Psychotherapiefor-
tinetherapie (n = 40). Die Teilnehmer am Psoriasis- schung. Bei zahlreichen Hauterkrankungen konnte
Symptom-Management-Programm wiesen nach eine große Effizienz für die psychologische Beein-
sechs Wochen und nach sechs Monaten einen flussbarkeit der Symptomatik, zumindest bei Un-
geringeren Schweregrad, weniger Depression und tergruppen der entsprechenden Erkrankungen,
Ängste, weniger berichteten Stress durch die gezeigt werden. Die Kenntnisse darüber, wie sich
Psoriasis und geringere Einschränkungen der Le- psychologische Einflussfaktoren, wie z. B. Stress,
bensqualität auf. durch Veränderungen im Immunsystem auf das
Zusätzliche angewandte Entspannungstechni- Krankheitsgeschehen auswirken, sind noch relativ
ken zu einer Phototherapie/Photochemotherapie gering und sind Gegenstand laufender Forschungs-
wirkten sich ebenfalls günstig aus. arbeiten.
44 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

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46 Kapitel 4 · Psychosomatische Dermatologie

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5

Psychoophthalmologie
G. H. Franke

5.1 Übersicht über bisherige Schwerpunkte – 48


5.1.1 Psychoophthalmologische Untersuchungen spezifischer Augen-
erkrankungen – 49
5.1.2 Psychoophthalmologische Auswirkungen ophthalmologischer
Interventionen – 50

5.2 Ein rehabilitationspsychologischer Zugang zur Psycho-


opthalmologie – 51
5.2.1 Rehabilitationspsychologisch relevante Faktoren – 51
5.2.2 Rehabilitationspsychologische Diagnostik – 52
5.2.3 Rehabilitationspsychologische Intervention – 53

5.3 Der psychoophthalmologische Einzelfall – 53


5.3.1 Diagnosestellung – 55
5.3.2 Behandlung – 55
5.3.3 Behandlungsfolgen – 55

Literatur – 57
48 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

 5.1 Übersicht über bisherige


Schwerpunkte
Es gibt verschiedene Wege, einen Werkstattbericht
aus dem Arbeitskreis Psychoophthalmologie der Die unten stehende Übersicht gibt einen kurzen
Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psycho- Überblick über die verschiedenen Vorträge, die
logie (DGMP) zu verfassen. Eine Möglichkeit ist es, bislang im Rahmen des Arbeitskreises gehalten
sich eher formal zu nähern: Bei unserem Arbeits- wurden. Vordringlich fanden sich Arbeiten zu
kreis handelt es sich um eine kleine Gruppe, die sich spezifischen Augenerkrankungen der Lider, Au-
in wechselnder Besetzung seit 1997 (in Münster) genhöhle und Linse sowie der Gefäßhaut, Vor-
regelmäßig im Rahmen der Jahrestagungen der derkammer und Netzhaut. Bei der Betrachtung
5 DGMP (1998 in Hamburg, 1999 in Heidelberg, 2000 verschiedener Altersgruppen rückten besonders
in Aachen, 2001 in Greifswald, 2002 in Dresden und sehr junge und sehr alte Patientinnen und Patien-
2004 in Bochum) trifft. ten in den Mittelpunkt. Die ophthalmologische
In unserer Selbstdarstellung wird der wissen- und medizinpsychologische Diagnostik bezog
schaftliche Meinungs- und Erfahrungsaustausch sich sowohl auf den Bereich der Arzt-Patient-In-
über die medizin- und rehabilitationspsychologi- teraktion als auch auf die psychologisch-diagnos-
schen Implikationen von Augenerkrankungen, Seh- tische Erfassung der Auswirkung von Augener-
beeinträchtigung, Sehbehinderung und Erblindung krankungen auf die sehbezogene Lebensqualität.
in allen Phasen des Lebensalters in den Vorder- Auf methodischer Ebene fanden sich zwei An-
grund gestellt. Vor dem Hintergrund der auch ak- sätze:
tuell wieder heftig diskutierten demographischen 1. In zahlreichen Studien wurde eine Gruppe von
Entwicklung in den westlichen Industrienationen Patienten mit spezifischen Augenerkrankun-
(Stichwort »The graying of our society«) werden die gen hinsichtlich verschiedener psychologischer
rehabilitationspsychologischen Auswirkungen von Variablen aus dem weiten Bereich der psy-
Augenerkrankungen und Seheinbußen in Zukunft chologisch-diagnostischen Lebensqualitätsfor-
einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Da- schung untersucht; zum Teil wurde zu Ver-
her befasst sich der Arbeitskreis vor allem mit wis- gleichszwecken eine aufgrund soziodemogra-
senschaftlich-empirischen oder experimentellen phischer Daten parallelisierte Vergleichsgruppe
Studien zu medizin- und rehabilitationspsycholo- herangezogen.
gischen Ursachen, Auswirkungen und Interven- 2. Eine weitere Gruppe von Studien widmete sich
tionsmöglichkeiten im Rahmen der Ophthalmo- der Erfassung der Effekte ophthalmologischer
logie. Es trafen sich bislang Arbeitsgruppen aus elf oder psychologischer Interventionen. Die zen-
Städten (Davos-Wolfgang, Dortmund, Essen, Hei- tralen Ergebnisse werden im Folgenden schlag-
delberg, Leipzig, Maastricht, Magdeburg, Marburg, lichtartig dargestellt.
Rostock, Stendal und Witten-Herdecke), fünf Arbeits-
kreisteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden
bislang mit einem psychoophthalmologischen Thematisch gegliederte Vorträge
Thema promoviert (Fleiß 2003; Gilg 2003; Mähner im Arbeitskreis Psychoophthalmologiea
1999; Reimer 2000; Simon 2001), eine Teilnehmerin Spezifische Augenerkrankungen
erlangte das Diplom in Rehabilitationspsycholo-  Lider und Muskeln
gie (Schütte 2004). Die einzelnen thematischen – Essentieller und hemifacialer Blepharo-
Schwerpunkte der Vorträge werden im Folgenden spasmus
kurz vorgestellt. Essen: Gilg et al. 2000, 2002 (Gilg 2003)
– Strabismus
Rostock: Klauer et al. 2000 (Klauer et al.
2000)

5.1 · Übersicht über bisherige Schwerpunkte
49 5

 Augenhöhle (Orbita): Endokrine Orbito-  Sehbeeinträchtigte im höheren Erwachse-


pathie nenalter
Essen: Franke et al. 1997, 1998 Heidelberg: Heyl et al. 1998, 1999 (Burmedi
Marburg: Strempel 1999 et al. 2002)
Witten-Herdecke: Simon 2002 (Simon  Sehbeeinträchtigung bei verschiedenen
2001) Altersgruppen
 Linse und Katarakt Essen: Franke et al. 2000 (Franke et al. 2001)
Essen: Krohner et al. 2000 (Laube et al.
2003) Ophthalmologische und medizinpsychologische
Maastricht: Nijkamp et al. 1999, 2000, 2002 Diagnostik
(Nijkamp et al. 2002)  Verbesserung der perimetrischen Unter-
 Gefäßhaut (Uvea) suchung
– Chronische Uveitis Magdeburg: Töpfer et al. 2002
Davos-Wolfgang: Körner et al. 2000  Entwicklung sehbezogener psychologisch-
Stendal: Schütte et al. 2002 (Schütte diagnostischer Verfahren
et al. 2004) Essen: Mähner et al. 1997; Franke et al. 1999,
– Malignes Aderhautmelanom 2000, 2001
Essen: Fleiß et al. 2001; Reimer
a
et al. 1997, 1998, 2000, 2001; In Klammern hinter den Angaben zu den Vorträgen
stehen weiterführende/inhaltlich entsprechende
Reichel et al. 2000 (Fleiß 2003;
Literaturangaben. Nur diese sind im Literaturver-
Reimer et al. 2003) zeichnis aufgeführt.
 Vorderkammer und Glaukom
Marburg: Kaluza et al. 1998; Strempel et al.
1999 (Kaluza et al. 1996; Klauer et al. 2002)
 Netzhaut (Retina)
– Altersabhängige Makuladegeneration 5.1.1 Psychoophthalmologische
Leipzig: Reichel et al. 2000 Untersuchungen spezifischer
– Diabetische Retinopathie Augenerkrankungen
Essen: Bormacher et al. 1997
– Fokal-hämorrhagische Chorioretino- ▬ Gilg (2003) konnte zeigen, dass die gesund-
pathie heits- und sehbezogene Lebensqualität von
Essen: Mähner et al. 1997, 1998 Patienten, die unter essentiellem Blepharospas-
(Mähner 1999) mus oder Spasmus hemifacialis – zwei For-
– Retinopathia centralis serosa men der Dystonie, die zu Lidkrämpfen führen
Essen: Spangemacher et al. 1997 – litten, im Vergleich zu anhand soziodemo-
(Franke et al. 1998a) graphischer Daten parallelisierten gesunden
Vergleichspersonen deutlich geringer ist. Bei
Verschiedene Altersgruppen diesen Patienten ist die reibungslose Kommu-
 Sehbeeinträchtigte und blinde Kinder und nikation durch die Lidkrämpfe gestört, so dass
ihre Eltern Isolation und Vereinsamung drohen.
Dortmund: Tröster et al. 1998, 2000 (Tröster ▬ Auch Patientinnen mit endokriner Orbito-
et al. 1996, 2001) pathie leiden unter einer Erkrankung, die vor
 Blinde Erwachsene allem durch das Hervorquellen der Augen zur
Essen: Schliepe et al. 1997 (Schliepe et al. Störung der Interaktion mit anderen führen
1999) kann. Simon (2001) diskutierte die massiven
▼ psychosozialen Beeinträchtigungen dieser Pa-
tientinnen.
50 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

▬ Schütte et al. (2003) konnten nachweisen, dass Korrektur durch Brille und/oder Kontaktlinsen)
Patienten mit chronischer Uveitis – einer Ent- mit geringerer gesundheitsbezogener Lebensquali-
zündung des Augeninneren – im Vergleich zu tät einhergingen. Auch Lee et al. (1996) konnten in
einer parallelisierten Vergleichsgruppe unter einer weiteren repräsentativen Studie die negativen
erhöhter psychischer Belastung und reduzier- Auswirkungen von verschwommenem Sehen nach-
ter sehbezogener Lebensqualität litten; hier weisen.
standen Schmerzen sowie eine Beeinträch- Weiterhin führen Schmerzen oder Erkrankun-
tigung der allgemeinen Sehkraft im Vorder- gen, die von Interaktionspartnern wahrgenom-
grund. men werden, wie Lidkrämpfe oder hervorquel-
▬ Mähner (1999) und Franke et al. (1998a) zeig- lende Augen, zu subtilen bis schweren Interak-
5 ten, dass Patienten mit verschiedenen Netz- tionsstörungen (Kaluza u. Strempel 1995), die für
hauterkrankungen, wiederum im Vergleich zu die Betroffenen besonders schwer zu verarbeiten
Vergleichsgruppen, im Durchschnitt als psy- sind. In diesem Zusammenhang ist es interessant,
chisch belastet gelten müssen. dass bisherige Erkenntnisse, z. B. im Bereich des
▬ Die Einschränkung der gesundheitsbezogenen essentiellen Blepharospasmus und hemifacialen
Lebensqualität bei sehbeeinträchtigten und Spasmus, zur relativen Abwesenheit von psycho-
blinden Kindern diskutierten Tröster et al. pathologischen Aspekten bei den betroffenen Pa-
(1996, 2001), bei blinden Erwachsenen Schliepe tienten (Scheidt et al. 1996) heute so nicht mehr
et al. (1999) und bei alten Menschen Burmedi stehen bleiben können. Der Hintergrund dieser
et al. (2002). Franke et al. (2001) konnten in Verschiebung der wissenschaftlichen Wahrneh-
einer Untersuchung von 424 sehbeeinträchtig- mung von »relativer Abwesenheit von psychopa-
ten Patienten in verschiedenen Altersstufen thologischen Aspekten« hin zur nachweisbaren
nachweisen, dass ältere (70–79 Jahre) und sehr erkrankungsspezifischen Beeinträchtigung könn-
alte (80–93 Jahre) Patienten am deutlichsten te in der Verwendung spezifischer psychologisch-
unter Einschränkungen der globalen körper- diagnostischer Verfahren im Arbeitskreis Psy-
lichen (Skala Körperlicher Summenscore choophthalmologie liegen – die aber auch hier
Short-Form(SF)-36) – nicht aber der psychi- in Übereinstimmung mit internationalen Ent-
schen (Skala Psychischer Summerscore SF-36) wicklungen vorgenommen wird (Mangione et al.
– Lebensqualität litten. Diese beiden Alters- 1998).
gruppen wiesen die schlechteste Sehkraft und
damit korrespondierend die deutlichsten seh-
spezifischen Einbußen ihrer Lebensqualität 5.1.2 Psychoophthalmologische
auf. Auswirkungen ophthalmologischer
Interventionen
Zusammengefasst wird deutlich, dass Patientinnen
und Patienten der Augenheilkunde im Durch- ▬ Klauer et al. (2002) diskutierten psychosoziale
schnitt unter Einbußen im Bereich der körperli- Effekte der Strabismuschirurgie bei Erwachse-
chen, funktionalen, psychologischen und sozialen nen; die operative Korrektur des Schielens beim
Komponenten der sehbezogenen Lebensqualität Erwachsenen bringt – neben der zu erwarten-
leiden. Aus ophthalmologischer Sicht wenig rele- den Entlastung – auch neue Bewältigungsan-
vante, leichte oder mäßig schwere Sehbeeinträch- forderungen mit sich.
tigungen führen zu einer deutlichen Reduzierung ▬ Laube et al. (2003) erforschten die – im Ganzen
der sehbezogenen Lebensqualität (Bahrke et al. – positiven Auswirkungen verschiedener sedie-
2000; Conrad et al. 2000). Dass Seheinbußen zu render Medikamente auf den Verlauf der Kata-
psychischer Belastung führen, belegten auch King- rakt-Operation. Nijkamp et al. (2002) hingegen
ton et al. (1997) in einer bevölkerungsrepräsentati- wiesen darauf hin, dass die Angst von Patienten
ven Studie in 2.249 Haushalten (Alter > 50 Jahre) in vor der Katarakt-Operation durch ein gutes
den USA, in der Probleme beim Sehen (auch unter Aufklärungsprogramm sowie eine funktionie-
5.2 · Ein rehabilitationspsychologischer Zugang zur Psychoopthalmologie
51 5

rende Arzt-Patient-Beziehung reduziert wer- ges, z. B. im Bereich des malignen Aderhautme-


den kann. Franke et al. (2003) konnten in einer lanoms, sollten in Zukunft intensiver betrieben
Stichprobe von 102 Patienten vor und nach werden.
einer Katarakt-Operation zeigen, dass diese die
sehbezogene Lebensqualität in hohem Maße
verbesserte. Diese Verbesserung wurde zwi- 5.2 Ein rehabilitationspsychologischer
schen 15% und 43% durch den Visus des besse- Zugang zur Psychoopthalmologie
ren Auges aufgeklärt. Die globale Lebensqualität
(erfasst mit dem SF-36) hingegen veränderte Die psychoophthalmologische Forschung orien-
sich nicht. tierte sich bislang sehr deutlich an ophthalmologi-
▬ Fleiß (2003) konnte nachweisen, dass Patienten schen Fragestellungen. Dies ist – vor dem Hinter-
mit malignem Aderhautmelanom vor und z. T. grund der diplomatisch nicht immer einfachen
auch drei Monate nach einer Radioapplika- Anbahnung von interdisziplinären wissenschaft-
tortherapie – eine radioaktiv markierte Schale lichen Kooperationen – auch einsichtig. Ein Blick
wird für kurze Zeit operativ genau hinter den auf die Übersicht in Abschn. 5.1 macht deutlich,
Tumor auf die Sklera genäht und dort für eine dass die Gliederung herkömmlicher Lehrbücher
nach der Strahlendosis berechneten Zeit belas- der Augenheilkunde nahtlos herangezogen werden
sen – unter erhöhter psychischer Beeinträchti- kann, um psychoophthalmologische Studien the-
gung litten. Reimer et al. (2003) stellten fest, dass matisch zu gliedern.
auch im Langzeitverlauf ein erhöhtes Ausmaß Aus psychologischer Sicht kann die in der
an psychischer Belastung bei diesen Patienten genannten Übersicht vorgenommene Gliederung
vorlag. allerdings nicht überzeugen. Eine zentrale Er-
▬ Kaluza und Strempel (1995) behandelten Patien- kenntnis der Psychoophthalmologie ist, dass der
ten mit Offenwinkel-Glaukom mit Entspan- Visus des besseren Auges eine entscheidende Rolle
nungsverfahren und konnten sowohl medi- bei der Beurteilung der eigenen sehbezogenen
zinisch als auch psychologisch ermutigende und vor allem bei alten und sehr alten Patienten
Ergebnisse präsentieren (Kaluza et al. 1996; auch der körperlichen Seite der gesundheitsbe-
Klauer et al. 2002). zogenen Lebensqualität spielt. Dieser Zusammen-
hang ist völlig unabhängig von der ophthalmo-
Zusammengefasst liegt der Schwerpunkt der psy- logischen Diagnose, d. h. er gilt für alle Sehbe-
choophthalmologischen Interventionsforschung einträchtigten. Daher wird in der Übersicht in
im Bereich der Katarakt-Operation – einer der Abschn. 5.2.1 eine rehabilitationspsychologische
weltweit am häufigsten durchgeführten Operatio- Gliederung der Psychoophthalmologie vorgenom-
nen. Damit spiegelt sich in unserem Arbeitskreis men, die auf eine ophthalmologische Spezifizie-
Psychoophthalmologie auch der internationale rung verzichtet.
Trend wieder, denn Lee und Wilson (2000, S. 87)
fassen zusammen:
5.2.1 Rehabilitationspsychologisch
Improvement in vision-targeted quality of life relevante Faktoren
has been shown following cataract surgery;
however, an improvement in self-perceived Die Gliederung in der unten folgenden Übersicht
overall health status follwing cataract surgery greift auf die zentralen Komponenten des Kon-
has not been established. zeptes der gesundheitsbezogenen Lebensqualität
zurück (Bullinger 1997) und ergänzt die dort dis-
Sowohl die Erforschung der Auswirkungen mus- kutierten körperlichen, funktionalen, psychologi-
kelchirurgischer Eingriffe, z. B. im Bereich der Stra- schen und sozialen Aspekte durch einen zusätz-
bismuschirurgie, als auch die Erfassung der Effekte lichen soziodemographischen Bereich. Den zen-
der Behandlung von Krebserkrankungen des Au- tralen Stellenwert des Alters der Patienten in der
52 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

Psychoophthalmologie diskutierten bislang alle


Arbeitsgruppen, die sich mit dem Thema befassten  Psychologische Aspekte (individuelles
(Burmedi et al. 2002; Franke et al. 2001; Schliepe et Erleben und Verhalten)
al. 1999; Tröster et al. 1996, 2001). Weiterhin gilt es, – Einschränkung der
den sozioökonomischen Status zu berücksichtigen, Wahrnehmungsfunktion des Auges
da dieser – auch in westlichen Industrienationen, Ausdrucksfunktion des Auges
wie der Bundesrepublik Deutschland – immer Kommunikationsfunktion des Auges
noch direkt mit dem Zugang zu Bildungschancen – Psychische Belastung
verbunden ist. – Bewältigungsstrategien, Krankheits-
verarbeitung
5  Soziale Aspekte
Rehabilitationspsychologische Gliederung – Ehe, Partnerschaft, Familie
der Psychoophthalmologie – Beruf
Rehabilitationspsychologisch relevante Faktoren – Freundeskreis, soziales Netz
 Soziodemographische Aspekte
– Alter: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Rehabilitationspsychologische Diagnostik
alte Menschen  Bewährte Verfahren zur Prä-, Verlaufs- und
– Sozioökonomischer Status Postmessung
bei Kindern/Jugendlichen: – Sehspezifische Einschränkung der
Status der Eltern Lebensqualität: NEI-VFQ (Franke et al.
bei Erwachsenen: der eigene Status 1998b, 2003)
 Körperliche Aspekte (Symptomatik) – Psychische Belastung: Screening,
– Schmerzen SCL-90-R oder BSI (Franke 2000, 2002)
– Visusverlust – Krankheitsbewältigung: EFK (Franke
Verlust Sehkraft Nähe/Ferne et al. 2000)
Verlust des beidäugigen Sehens
– Lichtscheu Rehabilitationspsychologische Interventionen
– Gesichtsfeldausfälle  Psychologisch-unspezifische Interven-
– Farbsinnstörungen tionen
– Bewegungsstörungen der Augen – Entspannungsverfahren
 Funktionale Aspekte (Beeinträchtigung  Psychologisch-spezifische Interventionen
der Funktionsfähigkeit) – Training sozialer Kompetenzen
– Sehbeeinträchtigung – Stress-/Schmerzbewältigungspro-
Gröbere einseitige Sehbeeinträchti- gramme
gung (Einäugigkeit, d. h. 1/1 auf einem  Erkrankungsspezifische Interventionen
Auge und 1/3 bis 0 auf dem anderen – Gruppe: Psychoedukation
Auge) – Einzelfall: Individualbetreuung
Mäßige beidseitige Sehbeeinträch-
tigung (9/10 bis 1/3)
– Wesentliche Sehbehinderung
Sehbehinderung (1/3 bis 1/20) 5.2.2 Rehabilitationspsychologische
Hochgradige Sehbehinderung Diagnostik
(1/20 bis 1/50)
– Blindheit (1/50 bis 0) Genuine Aufgabe der Psychoophthalmologie ist es
– Nebenwirkungen operativer und/oder nun, durch den Einsatz psychologisch-diagnosti-
medikamentöser Interventionen scher Verfahren die rehabilitationspsychologische
▼ Diagnostik zu verbessern. In diesem Zusammen-
hang liegt mit der deutschen Version des Visual
5.3 · Der psychoophthalmologische Einzelfall
53 5

Functioning Questionnaire des National Eye Ins- 5.2.3 Rehabilitationspsychologische


titute der USA (NEI-VFQ) ein Instrument vor, Intervention
das die sehbezogenen Einbußen an Lebensqualität
erfasst. Die psychometrischen Eigenschaften des Im dritten Schritt wird die rehabilitationspsycho-
NEI-VFQ können als befriedigend gelten, wenn- logische Intervention thematisiert, da die Beschrei-
gleich weitere Analysen der Faktorenstruktur und bung der hohen psychischen Belastung vieler Pa-
Validität notwendig erscheinen (Franke et al. 1998b, tienten – auch aus ethischen Erwägungen – nicht
2003). Die zwölf Skalen des Verfahrens lauten: der Endpunkt der wissenschaftlichen Beschäfti-
▬ Allgemeiner Gesundheitszustand gung sein kann. Interventionsstudien im Bereich
▬ Allgemeine Sehkraft der Psychoophthalmologie thematisieren bislang
▬ Augenschmerzen fast ausschließlich die medizinpsychologischen
▬ Nahsicht Auswirkungen von ophthalmologischen Interven-
▬ Fernsicht tionen, vordringlich im Bereich der operativen In-
▬ Soziale Funktionsfähigkeit tervention. Dieser Ansatz ist selbstverständlich
▬ Psychisches Befinden lohnenswert, nur darf die Psychoophthalmologie
▬ Ausübung sozialer Rollen hierbei nicht stehen bleiben. Es gilt, erkrankungs-
▬ Abhängigkeit von anderen spezifische rehabilitationspsychologische Interven-
▬ Probleme mit dem Autofahren tionen auf Einzelfall- und Gruppenebene zu ent-
▬ Farbensehen wickeln und zu evaluieren, um die nachweisbaren
▬ Peripheres Sehen Einbußen an gesundheitsbezogener Lebensquali-
tät dauerhaft zu reduzieren.
Zur Erfassung der psychischen Belastung bietet Bislang haben im deutschsprachigen Raum al-
sich die Symptomcheckliste(SCL)-90-R an, die seit lerdings nur Kaluza und Strempel (1995) sowie
kurzer Zeit in zweiter, vollständig überarbeiteter Kaluza et al. (1996) über die positiven Effekte von
und neu normierter Auflage vorliegt (Franke 2002); Entspannungsverfahren auf Patienten mit Offen-
auch die Nutzung der Kurzversion (»Brief Symp- winkel-Glaukom publiziert. Hier sind weitere Ar-
tom Inventory«, BSI, Franke 2000) ist möglich. Der beitsgruppen aufgerufen, sich konstruktiv einzu-
Essener Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung bringen. Auf der anderen Seite muss berücksich-
(EFK, Franke et al. 2000) wurde an einer Stichprobe tigt werden, dass psychologische Interventionen
von 210 Augenkranken mit recht ermutigenden Er- schnell zu überzogenen und nicht gerechtfertigten
gebnissen validiert. Dieses Verfahren erfasst die »Heilserwartungen« führen können. Angi et al.
neun Bewältigungsbereiche: (1996), die eine der wenigen internationalen Stu-
▬ Handelndes, problemorientiertes Coping dien zu Effekten psychologischer Interventionen
▬ Abstand und Selbstaufbau – hier ein Biofeedbacktraining bei Kurzsichtigen
▬ Informationssuche und Erfahrungsaustausch – vorlegten, konnten nur Verbesserungen im psy-
▬ Bagatellisierung, Wunschdenken und Bedro- chologischen, nicht aber im ophthalmologischen
hungsabwehr Messbereich berichten.
▬ Depressive Verarbeitung
▬ Bereitschaft zur Annahme von Hilfe
▬ Aktive Suche nach sozialer Einbindung 5.3 Der psychoophthalmologische
▬ Vertrauen in die ärztliche Kunst Einzelfall
▬ Erarbeiten eines inneren Halts
Eine andere Möglichkeit der Annäherung an das
noch junge Gebiet der Psychoophthalmologie ist
die Ebene des Einzelfalles. Das nachfolgende Bei-
spiel zeigt den Inhalt einer Anfrage von Patientin
A., die die Verfasserin vor einiger Zeit per E-mail
erreichte.
54 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

Liebe Frau Professor Franke,

im Oktober 2000 wurde bei mir im Uni-Klinikum XY ein Aderhautmelanom festgestellt. Es war ein Zufalls-
befund aufgrund einer Untersuchung beim Augenarzt. Ich wollte eigentlich nur eine Brille, da ich, damals
im Alter von fast 44 Jahren, dachte, es wäre eine normale Fehlsichtigkeit. Der Schock bei mir und auch in
der Familie war sehr groß. Es fielen die Worte »Tumor« und »bösartig«. Bis dahin hatte ich keine großen
Erkrankungen und hatte vorher noch nie einen Krankenhausaufenthalt. In XY sagte man mir nun, zur Be-
handlung müsste ich nach Z-Stadt. Nach der Diagnose nun auch noch ein so weit entferntes Krankenhaus.
Ich bin in der Nähe von Q daheim.
5 In Z-Stadt war ich sehr gut aufgehoben, es wurden diverse Behandlungsmöglichkeiten besprochen.
Prof. T. entschied sich dann für eine Applikatorbestrahlung. Nach dreieinhalb Wochen war ich wieder zu
Hause. Anfangs war meine Sehkraft noch sehr gut. Aber bereits nach kurzer Zeit stellte sich eine massive
Blickfeldeinschränkung ein. Ich war informiert, dass dies ein normaler Verlauf ist, aber es war total beängs-
tigend, weil niemand sagen konnte, was von meiner Sehkraft auf dem kranken Auge übrig bleibt. Mittler-
weile ist noch in etwa das »obere Drittel« des Auges da, allerdings wurde bei meinem letzten Sehtest bei
meiner Augenärztin festgestellt, dass von diesem Rest die Sehstärke in kurzer Zeit abgenommen hat.
Ich bin nach meinem Krankenhausaufenthalt so schnell als möglich wieder zur Arbeit gegangen.
Ich habe einen sehr verständnisvollen Vorgesetzten und wunderbare Kollegen. Das machte mir vieles
leichter.
In Z-Stadt hatte ich eine sehr liebe Mitpatientin, die zwei Jahre vor mir ebenfalls an einem Aderhaut-
melanom erkrankt war. Mit mir war sie nun auf Station, weil Metastasen in Lunge und Leber und im ande-
ren Auge gefunden worden waren. Auf dem behandelten Auge war sie bereits erblindet. Wir haben in
dieser Zeit eine sehr enge Freundschaft geschlossen und auch heute noch Kontakt. Leider ist es so, dass
diese liebe Freundin nicht mehr lange zu leben hat. Ein Gespräch am Telefon war ihr vor ein paar Tagen
nicht mehr möglich.
Durch sie habe ich bereits in Z-Stadt realisiert, dass, auch wenn der Tumor behandelt ist, die Gefahr
von Metastasen in anderen Organen immer vorhanden ist. Ständig hat sie mich gebeten, nicht leichtsinnig
zu sein und die internistischen Untersuchungen nicht zu versäumen.
Ich habe in meinem Alltag die Krankheit so gut es geht »beiseite gestellt«. Auf Anraten meiner Augen-
ärztin war ich zur Kur in B-Dorf in der C-Klinik. Dort gab es mehrere Patienten mit Aderhautmelanom. Alle
gingen anders mit der Krankheit um. Die Zeit dort und die Gespräche haben mir viel gegeben. Dort war
ich kein »Exot« mit der Krankheit, von der in der Regel noch keiner gehört hat und auch kaum Literatur zu
bekommen ist.
Meine Angst vor einer Ausbreitung des Krebses nimmt bei mir leider im Lauf der Zeit nicht ab, im
Gegenteil. Vor jeder Untersuchung bin ich ein Nervenbündel, und es wird immer schlimmer. Der Gedanke
an die Krankheit ist immer im Hinterkopf und ich kann das nicht abstellen.
Jetzt, nach diesem langen Vorspann, meine Bitte an Sie: Gibt es Broschüren, Abhandlungen etc. zu
diesem Thema, die nicht nur die medizinische Behandlung zum Inhalt haben, sondern auch die psycholo-
gische Seite dieser Krankheit zum Thema haben? Es ist leicht vom Verlust der Sehkraft zu sprechen, wenn
man selber nicht betroffen ist. Vor allem aber meine Angst, wie es weitergehen wird, belastet mich sehr.
Nach außen hin und auch gegenüber der Familie gebe ich mich »cool« und es ist immer alles in Ord-
nung. Es hilft mir ja auch nicht, wenn ich meinen Mann und die Familie zusätzlich damit belaste.
Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören.

Herzlichst Ihre Patientin A.


5.3 · Der psychoophthalmologische Einzelfall
55 5
5.3.1 Diagnosestellung rapie. Fleiß (2003) hat aufgrund einer Längsschnitt-
studie an der Augenklinik des Essener Universi-
Frau A leidet unter einem bösartigen Tumor der tätsklinikums zeigen können, dass jeder zweite
Aderhaut, dem malignen Aderhautmelanom. Übli- Patient zu Beginn dieser Bestrahlungstherapie un-
cherweise ist diese Diagnose in der Ophthalmo- ter einer klinisch auffällig hohen psychischen Be-
logie ein Zufallsbefund. Man nimmt plötzlich eine lastung litt. Die Radioapplikatortherapie gilt als
Beeinträchtigung des Sehvermögens wahr und augeerhaltendes Verfahren; eine kleine, radioaktiv
stellt durch einfache Selbstversuche – das Zuknei- markierte Schale wird kurzfristig auf den Tumor
fen oder Abdecken des einen und wechselweise des der Aderhaut aufgebracht und im günstigsten Fall
anderen Auges – fest, dass das Sehen beeinträchtigt schmilzt der Tumor dadurch vollständig ein. Die
ist. Im Regelfall geht man nun davon aus, dass der meiste Zeit müssen die so behandelten Patienten
selbstverständlich folgende Weg zum Augenarzt im Isolierzimmer verbringen – auch diese Zeit ist
maximal dazu führen wird, dass man eine neue psychisch nur schwer zu verkraften.
oder die erste Brille verschrieben bekommt. Sowohl die Operationsvorbereitung als auch
Die Diagnosestellung »malignes Aderhautme- die Betreuung im Behandlungsverlauf sollte bei
lanom« ist für die behandelnden Augenärztinnen Patientinnen und Patienten mit malignem Ader-
und -ärzte nicht einfach, denn sie treten völlig un- hautmelanom durch engmaschige medizin- oder
vorbereiteten Patienten gegenüber. Frau A. be- rehabilitationspsychologische Diagnostik und In-
schreibt, dass vor allem die Worte »Tumor« und terventionen begleitet werden.
»bösartig« bei ihr einen »sehr großen Schock« aus-
lösten, der im zweiten Schritt auch ihre Familie traf.
Auch die beste medizinpsychologische Schulung 5.3.3 Behandlungsfolgen
des diagnosestellenden Arztes wird dies allerdings
nicht verhindern können. Nach der Diagnose- Nach der Entlassung aus der stationären Behand-
stellung werden die betroffenen Patienten übli- lung berichtet Frau A., dass sie »so schnell als mög-
cherweise sofort in eines der wenigen Zentren in lich wieder zu Arbeit gegangen« ist. Das schnelle
Deutschland überwiesen, die sich auf die Behand- Herstellen von »Normalität« ist sicherlich ein guter
lung des malignen Aderhautmelanoms speziali- Weg, wieder eine stärkere innere Sicherheit zu er-
siert haben. Aus medizinischer Sicht ist es absolut langen, denn nun ist Zeit für die Verarbeitung der
sinnvoll, direkt mit einer Therapie zu beginnen. eigenen Situation.
Für die Betroffenen hingegen bleibt keine Zeit, die Als direkte Behandlungsfolgen sind drei Schwer-
Diagnose zu verarbeiten und die womöglich trag- punkte voneinander abzugrenzen. Zum einen kann
fähige Beziehung zum bisher behandelnden Au- die Radioapplikatortherapie zu ophthalmologi-
genarzt löst sich für eine Weile auf, da die weitere schen Komplikationen führen; zum zweiten seh-
Behandlung durch Spezialisten vorgenommen nen sich die Patienten nach prognostischer Klar-
werden muss. heit, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht herstell-
bar ist und zum dritten ist die Einbuße an Sehkraft
des behandelten Auges die einzige Behandlungs-
5.3.2 Behandlung folge, die man direkt spürt.

Die ophthalmologischen Spezialisten sehen sich Komplikationen, weitere Behandlung


nun Patienten gegenüber, die erst seit sehr kurzer und Verlaufskontrolle
Zeit von ihrer Diagnose wissen, diese noch nicht Fleiß (2003) fand bei der Analyse des Behand-
verarbeitet haben und sich nun auf neue ärztliche lungsverlaufs von 51 Patienten mit malignem Ader-
Bezugspersonen einstellen müssen. Fast direkt mit hautmelanom unter Radioapplikatortherapie eine
der Diagnosestellung kommt es dann zur Thera- Komplikationsrate von 24/51, d. h. dass annähernd
pieempfehlung. Unter bestimmten medizinischen jeder zweite Patient noch weiteren Behandlungs-
Voraussetzungen lautet diese Radioapplikatorthe- bedarf hatte. Elf Patienten benötigten eine nach-
56 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

trägliche Laserbehandlung bzw. eine Thermokoa- viduellen Verlauf der Erkrankung abgeben. Auch
gulation; drei Patienten mussten sich erneut einer für Patienten mit malignem Aderhautmelanom hat
Applikatortherapie unterziehen und bei weiteren die Diagnose »Krebs« eine besondere Bedeutung.
drei Patienten musste das betroffene Auge doch Den metaphorischen Gehalt der Diagnose hat Son-
entfernt werden. Fünf Patienten litten unter einer tag (1981, 1989) beschrieben. Sie stellt das Erleben
Glaskörperblutung, bei vier Patienten entwickelte der eigenen Bedrohung auch für Nichtbetroffene
sich ein Sekundärglaukom. Unter einer Rubeosis in den Vordergrund. Nach dem Muster der Infek-
iridis litten drei Patienten, bei je zwei Patienten tionskrankheiten hat »Krebs« die Nachfolge von
kam es zu einem Katarakt bzw. einer Retinopathie. Pest und Tuberkulose angetreten. Die Patienten mit
Je ein Patient entwickelte eine epiretinale Gliose, malignem Aderhautmelanom leiden nun an einem
5 Sicca-Symptomatik, Makulaödem bzw. ein Zen- Karzinom, das sehr klein ist, und es fällt ihnen
tralskotom, bei einem Patienten wurde eine Vitrek- schwer, sich eine Vorstellung von ihrer Krankheit
tomie nötig. Sehr starke Schmerzen, die durch viel- zu machen. Gleichzeitig ist mit dem Auge ein Teil
fältige Komplikationen verursacht wurden, gaben des Körpers betroffen, zu dem man eine besondere
vier Patienten an. Dies verdeutlicht, dass es sich Beziehung hat.
bei Art und Ausmaß der Komplikationen durchaus
um schwerwiegende Probleme mit weitreichenden Sehbeeinträchtigung als einzig
Nachbehandlungen und Konsequenzen handelt. wahrnehmbare Behandlungsfolge
Reimer (2000) konnte allerdings zeigen, dass diese Abgesehen von Komplikationen, die weitere Be-
Komplikationen im Langzeitverlauf zu keinen sta- handlungen nach sich ziehen, ist die Beeinträchti-
tistisch signifikanten psychologischen Auswirkun- gung des Sehens beim betroffenen Auge die einzige
gen führten. Behandlungsfolge, die die Patienten wahrnehmen
Glücklicherweise hat Frau A. die Behandlung können. Und auch hier beschreibt Frau A., dass sie
offensichtlich ohne Komplikationen überstanden. sich vor allem ängstigte, »weil niemand sagen
Für sie stand recht schnell der Visusverlust beim konnte, was von meiner Sehkraft auf dem kranken
betroffenen Auge sowie die Angst vor einem Auge übrig bleibt«. Gleichzeitig bekam sie die In-
Fortschreiten der Krebserkrankung im Vorder- formation, der Sehkraftverlust sei »ein normaler
grund. Verlauf«. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung
mag es schwierig sein, den hohen Stellenwert die-
Von der Unmöglichkeit, ses Sehkraftverlustes schon früh zu antizipieren.
eine Prognose abgeben zu können Bei normal gesundem zweiten Auge leiden Patien-
Durch ihre enge Freundschaft zu einer Mitpatien- ten im Langzeitverlauf maximal unter einer »grö-
tin wurde Frau A. früh mit einem schweren Verlauf beren einseitigen Sehbeeinträchtigung«. Subjektiv
der Erkrankung konfrontiert. Die Freundin litt un- kann diese Einbuße an Sehkraft allerdings zu
ter »Metastasen in Lunge und Leber und im ande- schwerer bis schwerster psychischer Beeinträchti-
ren Auge … Auf dem behandelten Auge war sie gung führen, die dann als behandlungsbedürftig
bereits erblindet« und ist leider, kurz nachdem gelten muss und zur Überweisung in psychothera-
Frau A. die E-mail (s. o.) an die Verfasserin schrieb, peutische Behandlung zu führen hat.
gestorben. Grundsätzlich beträgt die Mortalitätsra- Frau A. schildert ihre eigene Verfassung grund-
te beim malignen Aderhautmelanom – dem häu- sätzlich wie folgt:
figsten primären intraokularen Tumor – in einem
Zeitraum von 5 Jahren 20% (Collaborative Ocular Meine Angst vor einer Ausbreitung des Krebses
Melanoma Study Group 2001; Shields et al. 2000). nimmt bei mir leider im Lauf der Zeit nicht ab,
Zusammengefasst ist der Tumor somit außerge- im Gegenteil. Vor jeder Untersuchung bin ich
wöhnlich bösartig und metastasiert früh hämato- ein Nervenbündel, und es wird immer schlim-
gen in Leber, Lunge, Knochen und Haut. mer. Der Gedanke an die Krankheit ist immer
Aus den vorliegenden Statistiken lässt sich al- im Hinterkopf und ich kann das nicht ab-
lerdings keine Prognose über den möglichen indi- stellen.
Literatur
57 5

In einer solchen Situation ist es angeraten, sich pro- Literatur


fessionelle Hilfe zu suchen; psychologische oder
ärztliche Psychotherapie zur Reduktion der läh- Angi, M. R., Caucci, S., Pilotto, E., Racano, E., Rupolo, G. & Sab-
menden Angst ist sicherlich der richtige Weg. badin, E. (1996). Changes in myopia, visual acuity, and
psychological distress after biofeedback visual training.
Frau A. zeichnet sich gleichzeitig durch beson-
Optometry and Vision Science, 73, 35–42.
dere Anstrengungen in ihrer Krankheitsverarbei- Bahrke, U., Krause, Walliser, U., Bahdemer-Greulich, U. & Gold-
tung aus. Sie sucht zielstrebig Informationen und hahn, A. (2000). Retinopathia centralis serosa – Magen-
berichtet, dass der Erfahrungsaustausch mit ande- geschwür der Augenheilkunde? Psychotherapie, Psycho-
ren Betroffenen ihr »viel gegeben« habe. Wie die somatik, medizinische Psychologie, 50, 464–469.
Bullinger, M. (1997). Gesundheitsbezogene Lebensqualität
meisten Patienten der Augenheilkunde hat sie ein
und subjektive Gesundheit. Psychotherapie, Psychoso-
hohes Maß an Vertrauen in die ärztliche Kunst. matik, Medizinische Psychologie, 47, 76–91.
Da die Patienten mit malignem Aderhautmelanom Burmedi, D., Becker, S., Heyl, V., Wahl, H.-W. & Himmelsbach, I.
über die Republik verstreut leben, ist die Gründung (2002). Behavioral consequences of age-related low vision.
einer Selbsthilfegruppe in der Wohngegend von A narrative review. Visual Impairment Research, 4, 15–45.
Collaborative Ocular Melanoma Study Group (2001). The
Frau A. unrealistisch. Eine andere Möglichkeit der
COMS randomised trial of iodine 125 brachytherapy for
Selbsthilfe könnte der Austausch unter Betroffenen choroidal melanoma. III. Initial mortality findings. Archives
im Internet sein. Eine Internetplattform, auf der of Ophthalmology, 119, 969–982.
u. a. ein Austausch über das maligne Aderhautme- Conrad, R., Bodeewes, I., Schlling, G., Geiser, F., Imbierowicz, K. &
lanom stattfindet, gibt es z. B. unter http://www. Liedtke, R. (2000). Chorioretinopathia centralis serosa und
psychische Belastung. Ophthalmologe, 97, 527–531.
krebs-kompass.de. Die Beschäftigung mit solchen
Fleiß, A. (2003). Medizinpsychologische Auswirkungen der Radio-
Internetforen könnte im zweiten Schritt auch dazu applikatortherapie beim malignen Aderhautmelanom im
führen, dass die Bewältigung der Krebserkrankung zeitlichen Verlauf. Unveröff. Diss. Universität Essen.
sowie der Einbußen an Sehkraft dazu führt zu ler- Franke, G. H. (2000). BSI. Brief Symptom Inventory – Deutsche
nen, mit anderen über die eigene Situation spre- Version. Manual. Göttingen: Beltz.
Franke, G. H. (2002). SCL-90-R. Symptomcheckliste von L. R.
chen zu können. Neben der individuellen Krank-
Derogatis – Deutsche Version – Manual. Göttingen: Beltz,
heitsverarbeitung könnte so auch Stück für Stück 2. vollständig überarbeitete und neu normierte Auflage.
ein soziales Netz im Nahbereich geschaffen wer- Franke, G. H., Esser, J., Stäcker, K.-H. & Spangemacher, B. (1998a).
den, das informiert ist und Verständnis entwickeln Über den Zusammenhang zwischen Krankheitsprogre-
kann. dienz und Streßverarbeitung bei Patienten mit Retino-
pathia centralis serosa. Psychotherapie, Psychosomatik,
Konnte die im Arbeitskreis Psychoophthalmo-
medizinische Psychologie, 48, 215–222.
logie betriebene wissenschaftliche Arbeit nun die Franke, G. H., Esser, J., Voigtländer, A. & Mähner, N. (1998b). Erste
Anfrage von Frau A. umfassend beantworten? Die Ergebnisse zur psychometrischen Prüfung des NEI-VFQ
Beantwortung dieser Frage bleibt Frau A. sowie den (National Eye Institute Visual Function Questionnaire),
Lesern überlassen. Für die Verfasserin bedeutete eines psychodiagnostischen Verfahrens zur Erfassung
der Lebensqualität bei Sehbeeinträchtigten. Zeitschrift
die Fertigstellung dieses Textes, die in allen dis-
für Medizinische Psychologie, 7, 178–184.
kutierten Studien gefundenen Ergebnisse auf der Franke, G. H., Mähner, N., Reimer, J., Spangemacher, B. & Esser, J.
Ebene der Mittelwerte von kleinen bis großen Stich- (2000). Erste Überprüfung des Essener Fragebogen zur
proben mit oder ohne Vergleichsgruppen auf den Krankheitsverarbeitung (EFK) an sehbeeinträchtigten
vorliegenden Einzelfall zu übertragen. Zusammen- Patienten. Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische
Psychologie, 21, 166–172.
gefasst könnte die Psychoophthalmologie sich – zu-
Franke, G. H., Esser, J., Mähner, N. & Reimer, J. (2001). The psycho-
mindest in einem Strang – in Zukunft verstärkt der logical impact of visual impairment in patients of differ-
Einzelfallforschung widmen, um den direkten Be- ent age. In H. W. Wahl & H. Schulze (Eds.). On the special
zug zur Psychologie zu vertiefen. Frau A.s Anre- needs of blind and low vision seniors. S. 67–75. Amsterdam:
gung zur Erstellung von Broschüren zur Patienten- IOS.
Franke, G. H., Mähner, N., Reimer, J., Voigtländer-Fleiß, A. & Esser,
aufklärung, die sich der psychologischen Seite der
J. (2003). Ein psychodiagnostischer Zugang zur Erfassung
Erkrankung nähern, wird abschließend selbstver- der Einbußen an gesundheitsbezogener Lebensqualität
ständlich zur Aufgabe des Arbeitskreises Psy- bei verringerter Sehkraft. Zeitschrift für Medizinische Psy-
choophthalmologie gemacht. chologie, 12, 57–62.
58 Kapitel 5 · Psychoophthalmologie

Gilg, K. (2003). Ein medizinpsychologischer Vergleich zwi- Scheidt, C. E., Schuller, B., Rayki, G., Kommerell, G. & Deuschl, G.
schen Patienten, die an essentiellem Blepharospasmus (1996). Relative absence of psychopathology in benign
oder Spasmus hemifacialis erkrankt sind – unter der essential blepharospasm and hemifacial spasm. Neuro-
Therapie mit Botulinum Toxin A. Unveröff. Diss. Universität logy, 47, 43–45.
Essen. Schliepe, V., Esser, J. & Franke, G. H. (1999). Vorstellung des
Kaluza, G. & Strempel, I. (1995). Psychologie und Ophthalmo- Projektes »Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) für
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193. Schütte, E., Heiligenhaus, A. & Franke, G. H. (2004). Verhaltens-
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therapy. Graefe’s Archive of Clinical and Experimental
Ophthalmology, 241, 371–377.
6

Biopsychosoziale Mechanismen der


Chronifizierung von Rückenschmerzen
M. Hasenbring, B. Klasen, D. Hallner

6.1 Inhaltliche Schwerpunkte und Forschungsmethodik – 60

6.2 Chronifizierung auf somatischer Ebene – 61

6.3 Chronifizierung auf der Basis zentralnervöser


Neuroplastizität – 64

6.4 Chronifizierung auf psychischer Ebene – 65


6.4.1 Der Einfluss der emotionalen Stimmung – 65
6.4.2 Der Einfluss chronisch anhaltender Alltagsbelastungen – 66
6.4.3 Der Einfluss der individuellen Schmerzbewältigung – 67

6.5 Chronifizierung auf der sozialen Ebene – 69

6.6 Risikofaktorenmodell im Zusammenhang – 70

Literatur – 71
60 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

 6.1 Inhaltliche Schwerpunkte


und Forschungsmethodik
Dauert ein akuter Schmerz trotz jeweils indizierter
medizinischer Behandlungsmaßnahmen länger als In medizinischer wie in sozioökonomischer Hin-
6 Monate an, sprechen wir gemäß einer internatio- sicht ist die Phase des Übergangs vom akuten zum
nalen Konvention von einem chronischen Schmerz. chronischen Schmerz von herausragender Bedeu-
Zu den häufigsten chronischen Schmerzsyndro- tung. Es stellen sich folgende Fragen:
men zählen verschiedene Kopfschmerzformen, ein- 1. Welche Faktoren beeinflussen die Entwicklung
schließlich Migräne, sowie chronische Rücken- eines chronischen Verlaufs der Beschwerden?
schmerzen bei rheumatischen und degenerativen 2. Lassen sich Risikofaktoren identifizieren, die
Erkrankungen. Chronische wirbelsäulenbedingte dem Arzt frühzeitig, d. h. bei Auftreten erster aku-
Rückenschmerzen stellen nach einem meist lang- ter Schmerzen, anzeigen, ob bei einem Patienten
jährigen Krankheitsverlauf mit 25% den häufigsten die Gefahr einer Chronifizierung besteht?
6 Grund für Frühberentungsmaßnahmen bei Frauen,
mit 32% den zweithäufigsten bei männlichen Ar- Das zur Beantwortung dieser Fragen adäquate
beitnehmern (Hagen et al. 1997). Die Entwicklung Forschungsparadigma im Humanbereich ist die
effektiver Behandlungsmaßnahmen setzt Kennt- prospektive Längsschnittstudie: Zu einem defi-
nisse darüber voraus, bei wie vielen Menschen ein nierten Zeitpunkt T 1 (z. B. Auftreten akuter Rü-
einmalig auftretender, akuter Schmerz in ein chro- ckenschmerzen nach mindestens sechsmonatiger
nisches Schmerzleiden übergeht und welche Fak- schmerzfreier Periode) werden Prädiktorvariablen
toren zu einer lang dauernden Chronifizierung im Sinne potentieller Risikofaktoren erhoben; zu
beitragen. Ein empirisch gesichertes Wissen zu die- verschiedenen späteren Zeitpunkten werden die
sen Fragen existiert gegenwärtig vor allem im Be- Kriteriumsvariablen erfasst (z. B. Auftreten per-
reich chronischer, wirbelsäulenbedingter Rücken- sistierender oder rezidivierender Schmerzen, Ar-
schmerzen. beitsunfähigkeits-Tage). Maße der Sensitivität und
Epidemiologischen Studien zufolge leiden Spezifität geben pro Risikofaktor die Genauigkeit
80% der Bevölkerung einmal in ihrem Leben unter der Vorhersage an. Über geeignete multivariate
akuten Rückenschmerzen (Berger-Schmitt et al. Auswertungsmodelle (multiple Regression, Dis-
1996; Brown et al. 1998). In etwa 10% der Fälle kriminanzanalysen, Pfadanalysen) kann die rela-
zeigt sich bereits bei ersten Behandlungsversu- tive Vorhersagekraft eines jeden Risikofaktors be-
chen eine anhaltende Therapieresistenz. In den stimmt werden.
übrigen 90% tritt bei ersten Behandlungsversu- Empirische Befunde, die über prospektive
chen (z. B. Entlastung, Physiotherapie, Analgetika) Längsschnittstudien gewonnen wurden, lassen sich
kurzfristig eine Besserung ein. Langfristig jedoch in drei Bereiche unterteilen (Hasenbring 1998):
weisen etwa 35% chronisch anhaltende oder rezidi- 1. Chronifizierungsverläufe bei Patienten mit
vierende Beschwerden auf (Biering-Sorensen 1983; erstmaligen akuten unspezifischen Rücken-
Croft et al. 1999; Waddell 1998). So wiesen beispiels- schmerzen;
weise in einer Stichprobe von 494 Patienten mit 2. Chronifizierungsverläufe bei Patienten mit
chronischen Schmerzen am Johns Hopkins Hos- akuten spezifischen Rückenschmerzen (z. B.
pital in Baltimore 85% Zeichen von Depressivität Rücken-/Beinschmerzen bei akutem Band-
auf (»major depression« nach DSM III - R, Long scheibenprolaps) nach einer konservativen
1988). oder operativen medizinischen Behandlung;
3. Aufrechterhaltung oder Reduktion bereits
chronifizierter Schmerzen nach einer definier-
ten Behandlung.

Während die unter 2. und 3. genannten Studien den


Chronifizierungsverlauf nach einer umrissenen,
6.2 · Chronifizierung auf somatischer Ebene
61 6

teilweise auch standardisiert durchgeführten Be- kommen nach operativen Eingriffen weiterhin
handlung untersuchen, erwecken die unter 1. ge- zahlreiche postoperative Komplikationen in Be-
nannten Arbeiten häufig den Eindruck, als würde tracht. Seit Beginn der 90er Jahre wird die Auf-
der »Spontanverlauf« erster akuter Rückenschmer- rechterhaltung akuter Schmerzen darüber hinaus
zen verfolgt. Dabei bleibt jedoch in vielen Arbeiten auf eine Kaskade neurophysiologischer und mole-
unerwähnt, welche konservativen, meist ambulant kularbiologischer Veränderungen zurückgeführt,
eingeleiteten Maßnahmen zur Schmerzlinderung die eine Plastizität des zentralen Nervensystems
durchgeführt wurden bzw. welche Patienten sich auf spinaler, subkortikaler und kortikaler Ebene
überhaupt medizinischen Behandlungen unterzo- belegen (Coderre et al. 1993). Kennzeichnend für
gen haben. Wie erste Erhebungen innerhalb der diese Prozesse ist, dass sie nach einem starken und/
allgemeinärztlichen Versorgung von Rückenpa- oder repetitiven Schmerzreiz auch nach dessen Be-
tienten zeigen, werden vielfältige therapeutische endigung ohne weiteren afferenten Signaleinstrom
Interventionen in sehr inkonsistenter Weise durch- in Gang gesetzt werden.
geführt; ihr Einfluss auf den jeweils untersuch-
ten Chronifizierungsprozess bleibt jedoch unklar Peripherphysiologische Faktoren
(Turner et al. 1998). der Chronifizierung
Innerhalb der laborexperimentellen Schmerz- Radikuläre, bandscheibenbedingte Schmerzen zei-
forschung wurden vor allem neurophysiologi- gen unabhängig davon, ob eine stationäre konser-
sche und molekularbiologische Prozesse der Auf- vative oder operative Behandlung vorgenommen
rechterhaltung akuter, experimentell induzierter wurde, langfristig in etwa 40% der Fälle einen chro-
Schmerzen untersucht (Price et al. 1996; Zimmer- nischen Verlauf (Valen u. Rolfsen 1998). Der ameri-
mann 1999). Die hieraus gewonnenen Aussagen kanische Neuroorthopäde Wilkinson (1983) fasst
sind zunächst lokalisationsunspezifisch, d. h. die die Beschwerden unter dem Begriff des »failed
daraus resultierenden biologischen Modellvor- back syndrome« (FBS) zusammen. Im Fall einer
stellungen zur Chronifizierung können für unter- operativen Behandlung eines lumbalen Bandschei-
schiedliche klinische Schmerzsyndrome Geltung benvorfalls bei radikulären Schmerzen können
haben. eine Reihe postoperativer Komplikationen an der
Im Folgenden werden empirische Ergebnisse Chronifizierung des Schmerzbildes beteiligt sein.
sowohl der klinischen als auch der laborexperi- In der überwiegenden Zahl der Fälle werden je-
mentellen Schmerzforschung beschrieben. Die kli- doch Einflussfaktoren angenommen, die Muskeln,
nischen Studien beziehen sich dabei in erster Linie Bänder und Gelenke eines Bewegungssegmentes
auf die Chronifizierung von Rückenschmerzen betreffen und bereits vor Behandlungsbeginn be-
und hier im Wesentlichen auf die oben genannten standen haben.
Aspekte 1. und 2. Zu den häufigsten postoperativen Komplika-
tionen zählen narbige Veränderungen, die als epi-
durale Verwachsungen, als perineurale Fibrosen im
6.2 Chronifizierung dorsalen Anteil des Wirbelkanals oder in Form in-
auf somatischer Ebene traneuraler Narben auftreten können (Grumme u.
Kolodziejczyk 1983). Die Häufigkeit narbiger Ver-
Auf somatischer Ebene wird die Chronifizierung wachsungen als tatsächliche Ursache chronifizier-
akuter Rückenschmerzen seit mehr als 20 Jahren ter Schmerzen ist noch schwer abzuschätzen, da
auf eine Reihe peripherphysiologischer Prozesse ein Nachweis bisher primär über eine operative
zurückgeführt, die mit einem veränderten afferen- Inspektion möglich war. Somit ist unklar, wie viele
ten Input einhergehen. Die wichtigsten Faktoren Patienten, die nach einer Operation schmerzfrei
betreffen Veränderungen an Bändern, Sehnen und geworden sind, ebenfalls Narbengewebe aufweisen.
Gelenken sowie in der Muskulatur. Im Falle spezi- Die Möglichkeit, Narbengewebe auch über bild-
fischer, mit einem lumbalen Bandscheibenbefund gebende Verfahren zu diagnostizieren, wird noch
einhergehender Rücken- und/oder Beinschmerzen nicht einhellig befürwortet. Es wird vermutet, dass
62 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

⊡ Abb. 6.1. Pathogenese von


Schmerzen muskulärer Genese.
(Aus Hildebrandt u. Pfingsten 1990)

es bei einer großen Zahl von Patienten zu narbigen tik, BSG-Beschleunigung sowie ein starkes Krank-
Verwachsungen kommt, ohne dass diese über heitsgefühl erkennen lassen. Im weiteren eine Ver-
Schmerzen klagen. letzung der Nervenwurzel oder der Dura infolge
Ein erneuter Bandscheibenvorfall in der glei- intraoperativer Komplikationen, das Übersehen
chen Etage oder weitere Vorfälle in benachbarten von Bandscheibenmaterial oder eine unvollstän-
Etagen werden in 2–5% aller Erstoperationen diag- dige Ausräumung, ein vor allem bei Mehrfachope-
nostiziert (Thomalske et al. 1977; Valen u. Rolfson rationen diskutiertes Ileosakralgelenksyndrom,
1998), bei weiteren Reoperationen erhöht sich die die Möglichkeit von Segmentlockerungen und fol-
Wahrscheinlichkeit auf 30–60%. Auch hier ist der gender Instabilität im Bewegungssegment. Da die
tatsächliche Zusammenhang zwischen erneutem Wahrscheinlichkeit operativ bedingter Komplika-
oder weiterem Austreten von Bandscheibenma- tionen mit der Anzahl durchgeführter Operationen
terial und den chronifizierten Schmerzen schwer ansteigt, gilt die Anzahl an Voroperationen als Ri-
zu bestimmen. Erste computertomographisch kon- sikofaktor für das Auftreten chronifizierter Schmer-
trollierte Nachuntersuchungen nach einer konser- zen im Sinne eines »failed back syndrome«.
vativen Behandlung haben gezeigt, dass es zu einer Die Operation eines lumbalen Bandscheiben-
völligen Reduktion der Schmerzen kommen kann, vorfalls hat die Befreiung der Nervenwurzel mit
obwohl ein Bandscheibenvorfall weiterhin besteht einer Beseitigung neurologischer Ausfallserschei-
(Schultz et al. 1986). nungen und der radikulären Schmerzsymptomatik
Verschiedene weitere postoperative Kompli- zum Ziel. Die mit einem Bandscheibenvorfall häu-
kationen werden als chronifizierende Faktoren fig einhergehenden Veränderungen in einem Be-
vermutet, für die allerdings genaue Angaben zur wegungssegment, primär Wirbelgelenke, Bänder
Sensitivität und Spezifität nicht bekannt sind. Dazu und Muskeln betreffend, bleiben dabei unbehan-
zählt die Spondylodiscitis mit teilweise schweren delt. Diese die Biomechanik der Wirbelsäule be-
Veränderungen an den Gelenken und angrenzen- treffenden Veränderungen gehen in der Regel mit
den Wirbelkörpern, die sich über Röntgendiagnos- lokalen lumbalen oder sog. pseudoradikulären
6.2 · Chronifizierung auf somatischer Ebene
63 6

Schmerzen einher, die in die proximalen Extremi- lär bedingte Schmerz dar, der entweder sekundär
täten ausstrahlen. Es wird vermutet, dass diese prä- als reflektorische Muskelspannung (bei primärer
operativ bestehenden Beschwerden den durch aku- Reizung von Nozizeptoren, z. B. durch bandschei-
ten Bandscheibenvorfall bedingten radikulären benbedingte Wurzelbedrängung) oder primär über
Schmerz begleiten, von diesem aktuell überdeckt anhaltende physikalische oder psychische Belas-
und unbehandelt bleiben, sodass sie später we- tung auftritt (⊡ Abb. 6.1).
sentlich zur Chronifizierung des Schmerzbildes Zu physikalischen Belastungen zählen hier in
beitragen. erster Linie unphysiologische Körperhaltungen,
Einen bedeutsamen Chronifizierungsfaktor bei die über längere Zeit eingenommen werden (z. B.
unspezifischen Rückenschmerzen stellt der musku- vornübergebeugtes Sitzen oder Stehen, ⊡ Abb. 6.2).

⊡ Abb. 6.2. Intradiskaler Druck in Höhe L 3 bei verschiedenen Körperpositionen und Flüssigkeitsverschiebungen an der Band-
scheibengrenze. (Aus Nachemson 1987)
64 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

Die Arbeitsgruppe um den schwedischen Neuro- rende Bahnen aus der Formatio reticularis das
orthopäden Nachemson konnte anhand von In- System der Gamma-Motoneurone aktivieren und
vivo-Messungen des intradiskalen Drucks und so zu einer anhaltenden Erhöhung der Muskel-
gleichzeitig im Oberflächen-EMG gemessener spannung vor allem der lumbalen sowie der Hals-
Muskelaktivität zeigen, dass es bei vornüberge- Nacken-Muskulatur führen. Dies sind Areale, die
beugtem Sitzen oder Stehen nicht nur zu einer eine besonders hohe Dichte an Muskelspindeln
maximalen Anspannung der lumbalen Rücken- aufweisen.
streckermuskulatur, Verkürzung der tonischen und
Schwächung der phasischen Muskulatur kommt,
sondern auch zu einer einseitigen Druckbelastung 6.3 Chronifizierung auf der Basis
der Bandscheiben (Andersson et al. 1974; Nachem- zentralnervöser Neuroplastizität
son 1987; Wilke et al. 1999). Diese spezifischen Kör-
perhaltungen und damit einhergehend ein erhöh- Eine Vielzahl klinischer Beobachtungen legt seit
6 ter intradiskaler Druck gehen darüber hinaus mit Jahren die Hypothese nahe, dass Schmerzen auch
einer Verringerung nutritiver Prozesse des Band- ohne entsprechenden afferenten Input aus der Pe-
scheibengewebes einher (Adams u. Hutton 1983; ripherie aufrechterhalten werden können. Hierzu
Handa et al. 1997), die ihrerseits zu verringerter zählen Phänomene der sekundären Hyperalgesie
Elastizität und zunehmender Degeneration führen mit einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit in
(Acaroglu et al. 1995; Umehara et al. 1996). Zahlrei- Körperbereichen, die weit entfernt von einem ver-
che prospektive Längsschnittstudien konnten den letzten oder erkrankten Organ liegen (z. B. Hyper-
Faktor langanhaltend eingenommener konstanter algesie in Gesicht und Kopfhaut nach einer Infek-
Körperpositionen (Sitzen oder Stehen) sowohl als tion des Ohres (Hardy et al. 1950), Phänomene des
Risikofaktor für die Chronifizierung akuter unspe- übertragenen Schmerzes in nichtdermatombezo-
zifischer Rückenschmerzen (u. a. Macfarlane et al. genen Hautarealen (Brylin u. Hindfelt 1984) oder
1997) als auch für die Chronifizierung spezifischer, des Schmerzes nach Deafferenzierung. Vor allem
mit Bandscheibenbefund einhergehender Rücken-/ bei der Aufrechterhaltung von Schmerzen nach
Beinschmerzen belegen (Hasenbring 1992; Hasen- Amputation einer Extremität (Phantomschmerz)
bring et al. 1994). Während diese unphysiologischen ist ein afferenter Input aus der Peripherie zur Er-
Körperhaltungen zu den Belastungshaltungen klärung chronischer Schmerzen ausgeschlossen
zählen, trägt nach Nachemson (1987) auch das an- (Melzack 1971). Tier- und humanexperimentelle
haltende Einnehmen von ausgesprochenen Ent- Forschungsarbeiten konnten mittlerweile zahlrei-
lastungshaltungen (langes Liegen) zur Chronifi- che Anzeichen für eine neuronale Plastizität im
zierung bei. Das Bandscheibengewebe quillt unter ZNS belegen (Coderre et al. 1993; Price et al. 1996).
diesen Bedingungen auf, die Muskulatur atrophiert. So wurden nach starker und/oder repetitiver noxi-
Dies sind Bedingungen, die bereits bei normaler scher Reizung erhöhte Entladungsraten in den
physischer Belastung sehr früh zu Schmerzen füh- spinalen Motoneuronen, im Thalamus sowie im
ren. Belege liefern auch hierfür prospektive Längs- somatosensorischen Kortex gemessen, die noch bis
schnittstudien, die zeigen konnten, dass langes zu Minuten nach Beendigung der Schmerzreizung
Liegen (z. B. lange Bettruhe) eher mit einer Auf- anhielten (Wind-up-Phänomen).
rechterhaltung der Schmerzen einhergeht (Waddell Dieser Sensibilisierungsprozess wird offen-
1998). Nach Nachemson (1987) ist daher die Reali- sichtlich durch eine veränderte Freisetzung neuro-
sierung eines rhythmischen Wechsels zwischen be- chemischer Mediatoren getriggert. Hierzu zählen
und entlastenden Körperhaltungen im Alltag eine die vermehrte Freisetzung von Neuropeptiden wie
zentrale Voraussetzung für eine physiologische Be- Substanz P an den C-Fasern und exzitatorischen
lastung von Muskeln und für eine ausreichende Aminosäuren (EAAs) in den spinalen Motoneuro-
Elastizität der Bandscheiben. nen und im Thalamus. EAAs erwiesen sich wieder-
Neben biomechanischen Belastungshaltungen um als Trigger für eine veränderte Membranper-
kann auch psychischer Stress u. a. über deszendie- meabilität mit erhöhtem Ca2+-Einstrom an den
6.4 · Chronifizierung auf psychischer Ebene
65 6

NMDA-Rezeptoren, Substanz P erhöhte die Durch- 6.4.1 Der Einfluss


lässigkeit an den spannungsgesteuerten Ca2+-Ka- der emotionalen Stimmung
nälen. Beobachtungen, dass diese Prozesse vor
allem durch tonische, nicht aber durch kurze pha- Liegt bei einem Patienten mit akutem lumbalen
sische Schmerzreize ausgelöst werden, unterstützen Bandscheibenvorfall und radikulärer Schmerz-
dabei die Annahme, dass diese zellulären Prozesse symtomatik eine erhöhte depressive Stimmungs-
an der Chronifizierung klinischer Schmerzproble- lage vor, so ist in über 80% der Fälle davon auszu-
me beteiligt sind (Coderre et al. 1993). gehen, dass der Betroffene von einer Operation
Schließlich liegen eine Reihe von Hinweisen allein nicht profitieren und ein chronisches Schmerz-
dafür vor, dass die Prozesse funktioneller Plastizi- bild entwickeln wird. Eine Reihe prospektiver Un-
tät im weiteren Verlauf auch strukturelle Verände- tersuchungen zeigen anhand eines standardisier-
rungen bewirken können. Diese Vermutung wird ten Selbstbeurteilungsinstrumentes (Beck Depres-
durch molekularbiologische Befunde aus tierexpe- sionsinventar, BDI) im Mittel eine Sensitivität von
rimentellen Untersuchungen gestützt, in denen 90% und eine Spezifität von 75% (Hasenbring 1992;
nach repetitiver noxischer Reizung intrazellulär Hasenbring et al. 1994). Überwiegend handelt es
erhöhtes Ca2+ sowie die Aktivierung von Second- sich dabei um milde Formen von Depressivität mit
messenger-Systemen eine erhöhte Bildung von ihren emotionalen (niedergeschlagene Stimmung),
»immediate early genes« (IEGs) bewirken. Letztere motivationalen (Antriebsverlust), kognitiven (Ge-
können über eine Expression von Transkriptions- danken der Hilf- und Hoffnungslosigkeit) und ver-
faktoren (c-Fos, c-Jun) eine Kontrolle über Zielge- haltensbezogenen (Rückzugsverhalten) Anteilen.
ne ausüben, worüber wiederum die Synthese von Psychiatrisch relevante depressive Erkrankungen
Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter finden sich hier nur in 2–5% der Fälle.
Rezeptorproteine beeinflusst wird (Herdegen et al. Eine erhöhte Depressivität als Chronifizie-
1991). rungsfaktor muss nicht immer auf allen 4 Ebenen
Hinweise zur Relevanz des Konzeptes der neu- zum Ausdruck kommen. Gerade im Zusammen-
ronalen Plastizität für die Chronifizierung von hang mit der Chronifizierung von Schmerzen ist
klinischen Schmerzsyndromen beim Menschen, beispielsweise der emotionale Anteil einer nieder-
wie z. B. beim Rückenschmerz, ergeben sich u. a. geschlagenen oder depressiven Stimmung nicht
aus Untersuchungen zur kortikalen Aktivität im beobachtbar. In diesen Fällen ist eine über das
EEG. So interpretierten Lutzenberger et al. (1997) ärztliche Gespräch hinausgehende psychologische
den Befund einer stärkeren kortikalen Komplexi- Testdiagnostik notwendig.
tät im EEG bei chronischen Rückenschmerzpa- Eine depressive Stimmungslage kann im Ein-
tienten gegenüber Gesunden auf der Basis einer zelfall die Folge lang anhaltender, d. h. nicht bewäl-
veränderten neuronalen Plastizität. Offen bleibt tigter, Belastungen im beruflichen oder privaten
in diesen Ansätzen bislang, wann sich diese Ver- Alltag sein – oder die Folge einer chronischen kör-
änderungen im Prozess der Chronifizierung ein- perlich/mentalen Überforderung (Arbeitsanforde-
stellen. rungen mit Hektik und Zeitnot), eines aktuellen,
lebensverändernden Ereignisses (z. B. der Verlust
eines nahen Angehörigen) aber auch bereits be-
6.4 Chronifizierung stehender Schmerzen bzw. einer spezifischen, un-
auf psychischer Ebene günstigen Form der Schmerzbewältigung.
Zur Frage psychobiologischer Wechselwirkun-
Unter den Chronifizierungsfaktoren auf psychi- gen existieren gegenwärtig verschiedene, sich er-
scher Ebene sind vor allem die emotionale Stim- gänzende Hypothesen, für die erste bestätigende
mung, chronisch anhaltende Belastungen im be- empirische Ergebnisse vorliegen. Tritt eine depres-
ruflichen oder privaten Alltag und die Art der sive Stimmungslage als Folge chronischer Belas-
alltäglichen Schmerzbewältigung relevant (Linton tungen im Alltag auf, wird eine erhöhte muskuläre
2000). Anspannung als ein vermittelnder Faktor ange-
66 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

nommen. Eine anhaltende muskuläre Anspannung, für eine Schmerzchronifizierung (Sieben et al.
vor allem im lumbalen Wirbelsäulenabschnitt, 2002). Wird ein bewegungsabhängiger, radikulärer
kann einerseits zu einem rein muskulär bedingten Schmerz emotional von Angst begleitet, kommt es
Schmerz führen. Andererseits kann sie über einen leicht zu einer vorschnellen Unterbrechung ent-
erhöhten intradiskalen Druck zu einer weiteren sprechender Bewegungsabläufe. Durch Mechanis-
Verschiebung des Bandscheibengewebes führen, men der klassischen Konditionierung entwickeln
sodass es wieder zu einer schmerzhaften Bedrän- sich Schonhaltungen und Schonbewegungen, die
gung der Nervenwurzel kommt. In einer ersten bereits durch leichtere Schmerzreize ausgelöst
humanexperimentellen Studie, in der der Einfluss werden (Gentry u. Bernal 1977). Operante Kondi-
chronischer Alltagsstressoren auf die Anspannung tionierungsprozesse sind im weiteren Verlauf an
der lumbalen Rückenstreckermuskulatur bei chro- der Aufrechterhaltung eines Vermeidungsver-
nischen Rückenschmerzpatienten nachgewiesen haltens beteiligt, wenn bestimmte schmerz- und
wurde, erwies sich das Vorliegen einer erhöhten angstassoziierte Aktivitäten nicht mehr ausgeführt
6 Depressivität als bester Prädiktor der im Oberflä- werden und dies in erster Linie zu einer Angstre-
chen-EMG gemessenen Muskelspannung (Flor et duktion führt.
al. 1985). Geht eine depressive Stimmungslage mit
Passivität und Rückzugsverhalten einher, kann es
über eine länger anhaltende Inaktivität zu einer 6.4.2 Der Einfluss chronisch
Atrophie der Muskulatur kommen, die bei Belas- anhaltender Alltagsbelastungen
tung besonders schnell schmerzhaft wird.
Eine stark zunehmende Zahl von Forschungs- Chronisch anhaltende Alltagsbelastungen im be-
arbeiten im Bereich der Neuropsychobiologie hat ruflichen oder privaten Alltag, für die die Betroffe-
darüber hinaus im letzten Jahrzehnt den Zu- nen keine Lösungsmöglichkeiten sehen, stellen
sammenhang zwischen Neuropeptiden, wie z. B. einen wesentlichen Risikofaktor für die Chronifi-
Endorphin, und Depressivität einerseits sowie zierung primär bandscheibenbedingter Schmer-
der Schmerzmodulation andererseits untersucht. zen dar. Sensitivität und Spezifität für die Vorher-
Klinische Studien, in denen Patienten mit einer sage eines »failed back syndrome« liegen ersten
uni- oder bipolaren Depression intravenös β-En- empirischen Studien zufolge bei über 70% (Hasen-
dorphin verabreicht wurde, zeigten Effekte der bring 1992). In über 80% der Fälle konnte allein
Stimmungsaufhellung, Aktivitätszunahme und anhand des Wissens um berufliche Belastungen
Steigerung der Spontaneität (u. a. Angst et al. 1979). und Depressivität vorhergesagt werden, ob es 6
In einer Reihe tier- und humanexperimenteller Monate nach Behandlungsende zu einer Frühbe-
Studien wurde andererseits der positive Einfluss rentung kommt oder nicht (Feuerstein et al. 1985).
körperlicher Aktivität auf die Freisetzung von En- Das entscheidende psychobiologische Binde-
dorphinen gezeigt. Farrell und Gustafson (1986) glied wird, wie oben erwähnt, in einer Erhöhung
wiesen die Auswirkung körperlicher Aktivität (1 der muskulären Anspannung vor allem der lum-
Meile Jogging in selbstgewähltem Tempo) auf die balen Rückenstreckermuskulatur vermutet. Erste
Schmerzschwelle nach, die nach der Übung signifi- laborexperimentelle Belege für einen Zusammen-
kant erhöht war. Durch Verabreichung von 10 mg hang zwischen psychosozialem Stress und mus-
Naloxon wurde dieser Effekt aufgehoben. Aufgrund kulärer Anspannung bei lumbalen Rückenschmer-
dieser Ergebnissen wird angenommen, dass es bei zen liefern humanexperimentelle Studien (Flor et
Bandscheibenpatienten, bei denen sich eine erhöh- al. 1985; Hasenbring et al. 1999), in denen der Ein-
te Depressivität in Verbindung mit körperlicher fluss persönlich relevanter, alltäglicher Belastungs-
Inaktivität zeigt, zu einer verringerten Endorphin- situationen auf die Anspannung der lumbalen
freisetzung kommt, die wiederum mit einer erhöh- Rückenstreckermuskulatur im Oberflächen-EMG
ten Schmerzempfindlichkeit einhergeht. nachgewiesen wurde. In einer dieser Studien wur-
Neben Depressivität gehört auch schmerz- den 17 Patienten mit chronischen Rückenschmer-
bezogene Angst zu den relevanten Risikofaktoren zen mit 17 Patienten verglichen, die unter Schmer-
6.4 · Chronifizierung auf psychischer Ebene
67 6

zen anderer Lokalisation litten. Die EMG-Aktivität schen gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er
wurde bilateral vom M. erector trunci und dem Schmerzen hat.
M. trapezius abgeleitet. In den experimentellen Be- Ein erster Chronifizierungfaktor unter den
dingungen wurde der Einfluss standardisierter Schmerzbewältigungsformen ist das Vermeiden
mentaler Stressoren (Kopfrechnen) sowie persön- aller körperlichen Aktivitäten, die prämorbid aus-
lich relevanter Stressoren (alltägliche Belastung) geübt wurden, wobei keine sichere medizinische
mit Ruhephase variiert. Die Konfrontation mit der Indikation für das Unterlassen der Aktivitäten vor-
Alltagsbelastung erfolgte über einen einminütigen liegt. Dazu gehört, wenn der Patient z. B. seinen
Bericht. Für die Rückenschmerzpatienten zeigte sportlichen Aktivitäten dauerhaft nicht mehr
sich im Unterschied zur Vergleichsgruppe ein An- nachgeht, wenn er spezifische berufliche Aktivitä-
stieg der EMG-Aktivität im M. erector trunci unter ten, Hausarbeiten oder Freizeitaktivitäten meidet.
der persönlichen Alltagsbelastung. In der standar- Um ein extremes Vermeidungsverhalten handelt es
disierten Stresssituation zeigte sich ein signifi- sich, wenn ein Patient tagsüber mehrere Stunden
kanter Anstieg in den Mm. trapezii in beiden im Bett verbleibt oder liegt (Vlaeyen et al. 1995).
Gruppen. Einen weiteren Chronifizierungfaktor stellt das
Für die Situation von Patienten mit einem schmerzbedingte Vermeiden sozialer Aktivitäten
akuten lumbalen Bandscheibenvorfall wird ange- dar, d. h. es werden solche sozialen Aktivitäten
nommen, dass ein auf diesem Wege psychisch get- dauerhaft gemieden, die prämorbid ausgeübt wur-
riggerter muskulärer Schmerz vom akuten radiku- den, ohne dass eine medizinische Indikation dafür
lären Schmerz überlagert wird. Er bleibt somit im besteht. So hat ein Patient beispielsweise kaum noch
Fall einer Operation unbehandelt und hat einen soziale Kontakte, da er weder Gäste einlädt noch
wesentlichen Anteil am Entstehen eines »failed Freunde und Bekannte besucht, weil er nicht mehr
back syndrome«. Viele betroffene Patienten neigen als 30 Minuten sitzen kann. Sportliche Aktivitäten,
dazu, bei Vorliegen anhaltender beruflicher Belas- die mit sozialen Kontakten einhergehen (z. B. Ke-
tungen und depressiver Stimmungslage eine vor- geln, Tennis spielen, Tanzen), wurden vollkommen
zeitige Berentung anzustreben – subjektiv oft der aufgegeben. Der Patient hat keinen Ausgleich dafür
einzige Ausweg aus einem Teufelskreis zwischen geschaffen (z. B. mit zum Kegeln gehen, ohne selbst
Stress, muskulärer Anspannung und verstärktem mitzuspielen). In der Anamnese oder Verhaltensa-
Schmerz. Dies ist jedoch ein Ausweg, der meist nur nalyse wird deutlich, dass entsprechende Sozialkon-
kurzfristig eine Erleichterung verschafft. Langfris- takte vor allem dann vermieden wurden, wenn sie
tig ist in den meisten Fällen mit einer bleibenden emotional belastend waren. Eine solche Belastung
Chronifizierung der Schmerzen und dadurch be- kann krankheitsreaktiv sein (z. B. beschweren sich
dingtem Leiden zu rechnen. Freunde, wenn der Kontakt wegen der Schmerzen
zu lange unterbrochen war; der Patient sieht sich
nicht in der Lage, diese Konflikte zu klären und mei-
6.4.3 Der Einfluss der individuellen det diese Freunde nun), sie kann sich jedoch auch
Schmerzbewältigung vollkommen unabhängig von den Schmerzen, fast
zeitgleich mit Schmerzbeginn, ergeben oder bereits
Neben der emotionalen Stimmung und der Kon- vor Schmerzbeginn bestanden haben.
frontation mit anhaltenden Belastungen im Alltag Die Aufrechterhaltung und Chronifizierung
sind verschiedene Formen, Schmerzen im Alltag des Vermeidens körperlicher oder sozialer Aktivi-
zu bewältigen, wesentlich an der Chronifizierung täten geschieht über Prozesse des operanten Kon-
bandscheibenbedingter Beschwerden beteiligt. Zu ditionierens. Führt das Verhalten zu einer Reduzie-
den kritischen Verhaltensweisen zählt zum einen rung von Schmerz, Angst und/oder Gefühlen der
der Umgang mit körperlichen oder sozialen Akti- Überforderung, kommt es auf dem Weg der nega-
vitäten, wenn sie mit Schmerzen verbunden sind, tiven Verstärkung zu einer Stabilisierung dessel-
zum anderen die Art der Kommunikation, d. h. die ben. Im Hinblick auf psychobiologische Zusam-
Art und Weise, wie der Betroffene anderen Men- menhänge werden zwei Wege angenommen:
68 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

▬ Das dauerhafte Vermeiden sozialen Zusam- Durchsaftung der Bandscheiben darstellt. Formen
menseins mit anderen Menschen begünstigt einer zu geringen oder einer zu starken anhalten-
und verstärkt eine depressive Stimmungslage, den und einseitigen Belastung führen zu einer un-
indem es neben der kurzfristigen Angst- und physiologischen Belastung der Muskulatur und zu
Konfliktreduktion langfristig zu einem Ver- einer vorschnellen Degeneration der Bandschei-
stärkerverlust kommt, d. h. zu einem Verlust ben. Diese Ergebnisse führten zur Formulierung
potentiell schöner Empfindungen, zu einem des Avoidance-endurance-Modells der Schmerz-
Verlust an Freude oder Ablenkung, die durch chronifizierung (⊡ Abb. 6.3).
das Zusammensein mit anderen Menschen Zur Schmerzbewältigung auf der kognitiven
ausgelöst werden kann. (gedanklichen) Ebene zählen u. a. verschiedene
▬ Vor allem das Vermeiden körperlicher Aktivi- Formen der Ablenkung vom Schmerz sowie der
täten kann über die Minderbeanspruchung der gedanklichen Uminterpretation einer Schmerz-
Muskulatur zu einer Muskelatrophie führen, erfahrung (Hasenbring 2000). Zahlreiche labor-
6 die aufgrund von neurophysiologischen Sensi- experimentelle Studien zum Akutschmerz beim
bilisierungsprozessen bei Belastung verstärkt Menschen (Eccleston et al. 1995) haben gezeigt,
schmerzhaft wird (Zimmermann 1999). dass diese Formen kognitiver Schmerzbewältigung
vor allem die individuelle Schmerztoleranz deut-
Einen Gegenpol zum Vermeidungsverhalten bilden lich erhöhen können. Im Umgang mit zeitlich ein-
sog. Durchhaltestrategien: Der Patient zeigt trotz deutig begrenzten Akutschmerzen (Schmerz bei
starker Schmerzen ein ausgeprochenes Durchhal- medizinischen Eingriffen, z. B. Zahnbehandlung)
teverhalten. Mit Äußerungen wie »ein Indianer können diese Bewältigungsformen außerordent-
kennt keinen Schmerz« beißt er die Zähne zusam- lich hilfreich sein. Im Prozess der Chronifizierung
men, hält jeden Termin und jede Verabredung, die klinischer Schmerzzustände, wie z. B. beim radiku-
er getroffen hat, ein. Er ist um keinen Preis bereit lären Schmerz, stellen kognitive Ablenkung und
oder sieht sich nicht in der Lage, einmal früher von Umbewertung weitere Chronifizierungsfaktoren
der Arbeit nach Hause zu gehen, sich krankschrei- dar, die einen hohen Zusammenhang mit den
ben zu lassen oder Unternehmungen abzusagen, zu o. g. Durchhaltestrategien auf der Verhaltensebene
denen er sich eigentlich nicht in der Lage fühlt. Er zeigen. In diesem Fall dient die Ablenkung vom
ist es nicht gewohnt, Pausen bzw. Phasen der Ent- Schmerz der Aufrechterhaltung gerade ausgeführ-
spannung in seinen Tätigkeiten zu realisieren. Im ter Tätigkeiten, sodass es auf dem Weg der biome-
Rahmen eines Entspannungstrainings zeigt er eine chanischen Überlastung von Muskulatur, Gelen-
starke muskuläre Anspannung und eine anfängli- ken und Bandscheiben zur Chronifizierung der
che Unfähigkeit zur Entspannung. Als wesentliche Schmerzen kommt.
vermittelnde pathophysiologische Mechanismen Im Hinblick auf die Kommunikation von
werden hier wiederum Anspannungen der lumba- Schmerzen gegenüber wichtigen Bezugspersonen
len Rückenstreckermuskulatur angenommen (Ha- (Angehörige, Kollegen am Arbeitsplatz) stellt das
senbring 1992; Hasenbring 1993; Hasenbring et al. nichtverbale Ausdrucksverhalten im Umgang mit
1994). Schmerzen einen weiteren wichtigen Chronifizie-
Die Tatsache, dass sich in prospektiven Längs- rungsfaktor auf der Verhaltensebene dar (Fordyce
schnittstudien sowohl ein extremes Vermeidungs- 1976; Hasenbring et al. 1994). Um ein ausgeprägtes
verhalten als auch ein stark ausgeprägtes Durch- nichtverbales Schmerzverhalten handelt es sich,
halteverhalten als wichtige Chronifizierungsfak- wenn ein Patient seiner Umgebung überwiegend
toren bandscheibenbedingter Schmerzen erwiesen über die Mimik, Gestik, Körperhaltung sowie über
haben, stützt die laborexperimentellen Ergebnisse paraverbale Merkmale (u. a. Stimmlage, Betonung)
von Nachemson (1987). Diese hatten gezeigt, dass signalisiert, dass er Schmerzen hat. Nichtverbales
der rhythmische Wechsel zwischen Anspannung Ausdrucksverhalten wird wesentlich durch ope-
und Entspannung Voraussetzung für eine adäquate rante Verstärkungsprozesse aufrechterhalten, wenn
Belastung der Muskulatur und für eine optimale also Bezugspersonen im privaten oder beruflichen
6.5 · Chronifizierung auf der sozialen Ebene
69 6

⊡ Abb. 6.3. Avoidance-endurance-Modell der Schmerzverarbeitung. (Aus Hasenbring et. al. 2001)

Alltag das Verhalten positiv verstärken (vermehrte 6.5 Chronifizierung auf der sozialen
Zuwendung) oder negativ verstärken (Abnahme Ebene
unangenehmer Aufgaben, Beenden unangenehmer
sozialer Kontakte). Häufig geht die Neigung zu Zu den sozialen Risikofaktoren für eine Chronifi-
nichtverbalem Ausdrucksverhalten mit einer Un- zierung bandscheibenbedingter Schmerzen zählen
fähigkeit einher, Bezugspersonen, wie beispiels- bestimmte Altersgruppen, verschiedene Arbeits-
weise den Partner, offen und direkt um Hilfe, Un- platzmerkmale und die soziale Schichtzugehörig-
terstützung oder auch um mehr Zuwendung und keit (Turk 1996).
Zärtlichkeit zu bitten. Operante Verstärkungspro- Zu den kritischen Altersgruppen, bei denen
zesse als exogene Einflüsse und ein Verhaltensdefi- häufiger ein chronischer Beschwerdeverlauf sowie
zit in der direkten Kommunikation (direkte Bitte eine häufigere Frühberentung beobachtet wurde,
um soziale Unterstützung) als personenspezifische zählen die über 50-Jährigen (Marshall u. Schorstein
Voraussetzung tragen zur Aufrechterhaltung nicht- 1968) und die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen
verbalen Ausdrucksverhaltens bei und führen so (Schramm et al. 1978). Der Soziologe Parsons (1967)
zur Chronifizierung eines eigenständigen Anteils vermutet bei den Betroffenen einen »Rückzug in
am Schmerzproblem. die Krankheit«, der besonders dann angetreten
wird, wenn die beruflichen Arbeitsbedingungen als
besonders belastend erlebt werden. Die Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass die berufliche Arbeit
70 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

anhaltenden Stress mit sich bringt, sei bei der zu- Wenn Personen unterer sozialer Schichten (Arbei-
nehmenden Industrialisierung und vermehrten ter mit geringer Schulbildung in unselbständiger
Leistungsanforderung gerade bei den über 50-Jäh- Tätigkeit) nach einem Bandscheibenvorfall ten-
rigen besonders groß, da diese sich weniger gut denziell eher chronische Schmerzen entwickeln,
veränderten Arbeitsbedingungen (z. B. Umstellung kann dies auf unterschiedliche andere Faktoren,
auf EDV) anpassen könnten. die mit sozialer Schicht kovariieren, zurückzu-
Eine Reihe von Langzeitstudien zeigen, dass führen sein. Allen voran ist hier die körperliche
verschiedene Arbeitsplatzmerkmale mit einer erhöh- Schwere der Arbeitstätigkeit zu nennen. Bei einem
ten Wahrscheinlichkeit chronifizierter Beschwer- geringeren Bildungsgrad kann die Umstellung auf
den einhergehen. Vor allem, wenn der Arbeitsplatz neue, sich verändernde Arbeitsbedingungen er-
starke körperliche Belastungen und/oder eine hal- schwert sein, sodass sich auf diesem Weg zuneh-
tungskonstante Körperposition in einer für die mende Belastungen am Arbeitsplatz ergeben. Wei-
Wirbelsäule unphysiologischen Haltung mit sich terhin kann die Unselbständigkeit der Tätigkeit mit
6 bringt, steigt die Rate der rezidivierenden und per- Gefühlen des Kontrollverlustes einhergehen – eine
sistierenden Schmerzen nach einem Bandschei- Voraussetzung für das Entstehen depressiver Stim-
benvorfall. Eine kyphotische Haltung im Sitzen, mungslagen auf psychologischem Weg. Das bedeu-
Tätigkeiten, die mit Vornüberneigen (beim Heben) tet, dass der Faktor der sozialen Schichtzugehörig-
einhergehen, sowie Haltungen mit verstärkter keit auf unterschiedlichsten soziobiologischen und
Lendenlordose führen zu einer einseitigen starken psychobiologischen Wegen an der Chronifizierung
Druckbelastung der dorsalen Bandscheiben und beteiligt sein kann.
beschleunigen damit degenerative Vorgänge im
Zwischenwirbelabschnitt (Nachemson 1987). Die
Vorhersagekraft des Risikofaktors »Haltungskons- 6.6 Risikofaktorenmodell
tanz« ist einigen prospektiven Untersuchungen im Zusammenhang
(Hasenbring et al. 1994; Macfarlane et al. 1997) zu-
folge zwar vorhanden, aber im Gegensatz zu psy- Die vorliegenden empirischen Befunde zur Chro-
chologischen Parametern nicht sehr hoch. Das be- nifizierung bandscheiben-bedingter Beschwerden
deutet, dass zwar ein signifikanter Zusammenhang lassen sich in einem zusammenfassenden Risiko-
zwischen haltungskonstanter Körperposition am faktorenmodell darstellen, das im Hinblick auf die
Arbeitsplatz und dem Auftreten eines »failed back angedeuteten psychobiologischen Zusammenhän-
syndrome« besteht, dass jedoch nicht jeder Band- ge teilweise noch hypothetischen Charakter hat.
scheibenpatient, der an einem entsprechenden Auf einer untersten Stufe finden sich eine Reihe
Arbeitsplatz arbeitet, chronische Beschwerden ent- somatischer Faktoren, die sich bisher in diesem Zu-
wickelt. Es wird vermutet, dass hier psychologische sammenhang als relevant erwiesen haben. Vermit-
Faktoren vermittelnd wirksam werden. Dies be- telnd zwischen diesen und sozialen, institutionel-
deutet z. B., dass vor allem diejenigen zur Entwick- len und konstitutionellen Faktoren finden sich
lung eines »failed back syndrome« tendieren, die psychologische Mechanismen. Erste Längsschnitt-
bei haltungskonstantem Arbeitsplatz in ihrer studien, in denen potentielle Risikofaktoren auf
Schmerzbewältigung sog. Durchhaltestrategien somatischer, psychischer und sozialer Ebene im
zeigen – sich also keinerlei Pause ermöglichen, bei Zusammenhang untersucht wurden, zeigen, dass
Auftreten erster Schmerzen »die Zähne zusam- sich die drei Ebenen in ihrer Vorhersagegüte er-
menbeißen« etc. gänzen. In der Vorhersage chronischer Schmerzen
Die Bedeutung der sozialen Schichtzugehörig- nach akutem lumbalen Bandscheibenvorfall wer-
keit für die Chronifizierung bandscheibenbeding- den anhand multipler Regressionsanalysen 23%
ter Schmerzen ist bislang nicht so eindeutig zu der Kriteriumsvarianz durch vor Behandlungsbe-
beurteilen. Einige Längsschnittstudien (Turk 1996) ginn erhobene somatische Parameter aufgeklärt,
zeigen einen negativen signifikanten Zusammen- 38% durch die psychologischen und 6% durch die
hang, der jedoch nicht sehr stark ausgeprägt ist. sozialen Parameter. Gemeinsam ist eine Varianz-
Literatur
71 6

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gen auf 86% (Hasenbring et al. 1994; Klenerman
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72 Kapitel 6 · Biopsychosoziale Mechanismen der Chronifizierung von Rückenschmerzen

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Psychokardiologie:
Vom Typ-A-Konzept zur Depressions-
behandlung nach Herzinfarkt
U. Dörner, F. A. Muthny

7.1 Epidemiologie und Pathogenese der koronaren Herzkrankheit


(KHK) – 74

7.2 Psychosoziale Faktoren im Rahmen des Risikofaktorenmodells


der KHK – 75

7.3 Belastungen durch die Erkrankung und Coping-Prozesse – 77

7.4 Belastungen durch diagnostische und therapeutische


Maßnahmen – 79

7.5 Kardiologische Erkrankungen und die Bedeutung


der sozialen Unterstützung – 81

7.6 Bedeutung von Depressionen und Angst für Entstehung


und Verlauf der KHK – 81

7.7 Psychosoziale Interventionen und ihre Wirksamkeit – 82

7.8 Fazit und Ausblick – 84

Literatur – 85
74 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

 7.1 Epidemiologie und Pathogenese


der koronaren Herzkrankheit (KHK)
Nach Jordan et al. (2001) umfasst »Psychokardio-
logie« als neues Fachgebiet »die Wissensbestände In den westlichen Industrieländern stirbt fast die
hinsichtlich psychosozialer Faktoren der Entstehung, Hälfte der Menschen an einer Herzerkrankung,
des Verlaufs, der Rehabilitation und der Krankheits- wobei die koronare Herzkrankheit (KHK) mit ei-
verarbeitung kardiologischer Erkrankungen«, an nem Anteil von 30% an der Gesamtsterblichkeit die
dem unterschiedliche naturwissenschaftliche und häufigste einzelne Todesursache darstellt (Terres et
psychosoziale Fächer beteiligt sind. Psychosoziale al. 1999; Rugulies u. Siegrist 2002).
Untersuchungen und Ergebnisse bezogen sich tra- Bei der KHK führen arteriosklerotische Prozes-
ditionell eher auf die möglichen Ursachen kardiolo- se in den Koronargefäßen zu einer Sauerstoffunter-
gischer Erkrankungen im Sinne psychodynamischer versorgung des Herzmuskels. Daraus können als
Konflikte und vor allem auf die Typ-A-Persönlich- klinische Folgen resultieren:
keit. Später wurden auch die Einflüsse weiterer psy- ▬ eine Angina pectoris,
chosozialer Variablen einbezogen und besonders ▬ ein akuter Myokardinfarkt nach dem Verschluss
7 im Hinblick auf die koronare Herzkrankheit (KHK) eines oder mehrerer Herzkranzgefäße (mit fol-
untersucht. Neben den Belastungen durch die Er- gendem Untergang von Herzmuskelgewebe)
krankung selbst wurden auch diagnostische und und/oder
therapeutische Maßnahmen als Stressoren berück- ▬ Herzrhythmusstörungen.
sichtigt. Schließlich untersuchte man auch die Be-
deutung von Interventionen zur Reduktion der Der Myokardinfarkt kann wiederum eine Herz-
Risikofaktoren und zur Unterstützung der Krank- insuffizienz, einen kardiogenen Schock oder Herz-
heitsverarbeitung und Compliance im Prozess der rhythmusstörungen bewirken und u. U. zum plötz-
Rehabilitation. lichen Herztod führen.
Aufgrund der Fülle von Publikationen zu die- Am Anfang einer Arteriosklerose von Koronar-
sem Themengebiet wird im vorliegenden Artikel gefäßen steht eine Schädigung der inneren Gefäß-
lediglich versucht, einen kurzen Überblick über die auskleidung (Endothel), z. B. aufgrund einer bereits
wichtigsten Themengebiete und zentrale Ergeb- lange bestehenden Hypertonie. An diese Läsionen
nisse zu geben. Eine ausführliche Übersicht über lagern sich Blutplättchen (Thrombozyten) an, die
den derzeitigen Wissensstand geben die Expertisen über vermittelnde Substanzen eine Einwanderung
der Statuskonferenz »Psychokardiologie« (Jordan und Wucherung von glatten Muskelzellen und sog.
et al. 2000–2003). Viele der hier dargestellten Ergeb- Makrophagen des Immunsystems in die innerste
nisse zu den verschiedenen psychosozialen Fakto- Schicht der Gefäßwände (Gefäßintima) hervor-
ren bei kardiologischen Erkrankungen gelten streng rufen (Terres et al. 1999). Die Makrophagen verän-
genommen nur für Männer, da Frauen bislang auf- dern sich durch Aufnahme von LDL-Cholesterin zu
grund einer geringeren Erkrankungshäufigkeit we- Schaumzellen und können sich ebenfalls in kleins-
niger untersucht worden sind (Jordan et al. 2001). ten Gefäßläsionen anlagern. Im weiteren Prozess
Besonders umfangreiche Ergebnisse zum Zu- führen die vermehrte Bildung von Bindegewebe
sammenhang zwischen psychosozialen Faktoren und Verkalkungen (sog. Plaques) zu Gefäßveren-
und der Entstehung oder dem Verlauf einer kardia- gungen. Für die Entstehung der Arteriosklerose
len Erkrankung liegen für die KHK vor, während an- werden bestimmte Risikofaktoren verantwortlich
dere Krankheitsbilder weniger untersucht wurden. gemacht, auf die später eingegangen wird.
Daher beziehen sich die weiteren Ausführungen Standardtherapiebausteine zur Behandlung
vor allem auf dieses Krankheitsbild. der Angina pectoris und des akuten Myokardin-
farkts sind die medikamentöse Behandlung (z. B.
Beta-Blocker, Nitrate, Kalziumantagonisten, Aspi-
rin), Risikofaktorenveränderung durch Gesund-
heitstrainings oder verhaltensmedizinische Maß-
7.2 · Psychosoziale Faktoren im Rahmen des Risikofaktorenmodells der KHK
75 7

nahmen, die Aufweitung der Gefäßverengung und Lebenssituation, berücksichtigt. In diesem


mittels Ballonkatheter (Percutane Transluminale Zusammenhang wurde auch deutlich, dass die
Coronar Angioplastie, PTCA), die Beseitigung von Compliance der Patienten und die damit zusam-
Koronarstenosen mit Hilfe eines Drahtgitternetzes menhängenden Risikofaktoren wesentlich durch
(Stentimplantation) oder eine Bypass-Operation, psychologische Variablen, wie Einstellung und
bei der eine Stenose über eine Verbindung (meist Verhalten, bestimmt werden (⊡ Abb. 7.1). Die Be-
mit Hilfe einer Vene) zwischen Aorta und dem deutung von Verhaltensänderungen ergibt sich
betroffenen Gefäß beseitigt wird. Die internis- u. a. daraus, dass beim Vorliegen mehrerer Risi-
tische Zusatztherapie ist dabei jeweils eine lang- kofaktoren das Erkrankungsrisiko überadditiv an-
fristige medikamentöse Hemmung der Blutgerin- steigt.
nung durch sog. Antikoagulantien. Aus der Vielzahl potentieller psychosozialer
Faktoren, deren Bedeutung im Hinblick auf Ent-
stehung und Verlauf einer KHK untersucht wurde,
7.2 Psychosoziale Faktoren im Rahmen werden im folgenden vor allem diejenigen darge-
des Risikofaktorenmodells der KHK stellt, deren Einfluss zum jetzigen Forschungsstand
am besten empirisch abgesichert sind (Jordan et al.
In der (inzwischen historischen) frühen psychoa- 2001).
nalytischen Vorstellung der psychosomatischen Verschiedene Studien haben eine Schichtspezi-
Entstehung bzw. Förderung von Herz-Kreislauf-Er- fität der KHK gezeigt, in dem Sinne, dass Patienten
krankungen geht beispielsweise Alexander (1951, mit einer KHK überproportional häufig in den un-
zit. in Bräutigam u. Christian 1976) davon aus, dass teren Sozialschichten anzutreffen sind (Rugulies
diese grundsätzlich aus der Blockierung der Ab- und Siegrist 2002). Dabei lässt sich eine kontinuier-
fuhr feindseliger aggressiver Antriebe (Kampf oder liche Beziehung zwischen Erkrankungsrisiko und
Flucht) entstehen. Die Erklärung der weiteren Sozialstatus feststellen: Eine Zunahme des Erkran-
Spezifität (ob dann beispielsweise Bluthochdruck, kungsrisikos geht mit einer Abnahme des Sozial-
Migräne oder koronare Herzkrankheit entsteht) status einher. Dieser sog. soziale Gradient der KHK
wird von der Herausarbeitung spezifisch-dynami- bleibt auch nach Kontrolle der herkömmlichen
scher Konfliktsituationen erwartet. Risikofaktoren abgeschwächt erhalten.
Seit den 50-er Jahren wurden im Sinne des Risi- Chronische Stressbelastungen und Distress-
kofaktorenmodells große prospektive epidemiolo- Erfahrungen im Erwerbsleben, wie z. B. fehlende
gische Studien, wie z. B. die Framingham-Studie, Kontrollmöglichkeiten oder mangelnde Aufstieg-
durchgeführt, um die Ätiologie und Pathogenese schancen, werden ebenfalls als mögliche Ursachen
der koronaren Herzerkrankung mit ihren poten- einer KHK angeführt (Rugulies u. Siegrist 2002).
tiellen Ursache- bzw. Auslösebedingungen zu klä- Mitglieder unterer sozialer Schichten weisen unter
ren (Schmidt et al. 1990; MacMahon u. Lip 2002). Es Umständen deswegen ein höheres Risiko für eine
zeigten sich dabei zwar u. a. Korrelationen zwi- KHK auf, da sie häufiger unter derartigen Belas-
schen den Lebensgewohnheiten der Patienten und tungen arbeiten und zusätzlich verstärkt koro-
dem Erkrankungsrisiko einer koronaren Herz- narschädigendes Verhalten zeigen.
krankheit. Allerdings konnte mit Hilfe dieser sog.
klassischen Risikofaktoren (Rauchen, Bluthoch- Typ-A-Verhalten, Hostilität/Feindseligkeit und Är-
druck, erhöhte Blutfettwerte, Übergewicht, Bewe- ger. Ende der 50-er Jahre haben Friedman und Ro-
gungsmangel und genetische Disposition, später senman (1975) bei Herzinfarkt-Patienten ein Ver-
auch Diabetes mellitus) das Auftreten der Erkran- haltensmuster beschrieben, das ihnen typisch für
kung nur begrenzt aufgeklärt werden. Um diesen diese Patientengruppe erschien und das vor allem
erklärbaren Varianzanteil zu erhöhen, wurden da- ehrgeiziges Leistungsstreben, Konkurrenzstreben,
her zunehmend psychosoziale Variablen, wie Ver- Zeitdruck, Ungeduld, Aggressivität und Feindselig-
haltens- und Einstellungsmerkmale (vor allem das keit umfasste. Dieses Verhaltensmuster bezeichne-
Typ-A-Verhalten) oder auch Variablen der Arbeits- ten sie in der Folge als »Typ-A-Verhalten«, das bis
76 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

⊡ Abb. 7.1. Risikofaktoren arteriosklerotischer Erkrankungen. (Nach Rüddel 1995)

vor kurzem noch zu den gesicherten kardiovasku- Aufgrund dieser Befundlage konzentrierte man
lären Risikofaktoren gezählt wurde (Kupfer 1993; sich in der Folge auf Feindseligkeit, Ärger und
Mittag 1999). Auf der Grundlage dieser zusammen- Aggressivität als die möglicherweise wesentlichen
gefassten Eigenschaften wurden eine interview- Wirkfaktoren. Während Miller et al. (1996) und
basierte Messmethode und ein Selbstschilderungs- Mittag (1999) z. B. die Bedeutung der Hostilität un-
fragebogen entwickelt, die in der Folge in vielen terstreichen, fällt das Fazit von Myrtek (2000) in
Studien eingesetzt wurden. Anfangs konnte die Be- seiner jüngsten Metaanalyse eher ernüchternd aus.
deutung des Typ-A als kardiovaskulärer Risiko- Er findet zwar einen durchaus signifikanten Zu-
faktor in prospektiven epidemiologischen Längs- sammenhang zwischen Feindseligkeit und KHK,
schnittstudien belegt werden (z. B. im Rahmen der dieser sei allerdings für die Praxis unbedeutend.
Western-Collaborative-Group-Studie von Rosen- Problematisch ist bei der Erfassung von Hostilität/
man et al. 1975; der Framingham-Studie von Hay- Zynismus, dass es sich wie beim Typ-A-Konzept
nes et al. 1980). Später fand sich dieser Zusammen- nicht um ein eindimensionales Konzept handelt
hang jedoch nur noch schwach ausgeprägt oder gar (Mittag 1999; Myrtek 2000). Ein weiteres Problem
nicht mehr (z. B. Shekelle et al. 1985). Ragland und besteht darin, dass bislang unklar ist, wie Hostilität
Brand (1988) konnten sogar anhand einer Reana- die Entstehung einer KHK begünstigen könnte. Als
lyse vorhandener Daten eine höhere Überlebensra- ätiologische Faktoren werden z. B. die Bedeutung
te bei Typ-A-Personen nachweisen. Myrtek (2000) einer autonomen Dysregulation des Herzens (z. B.
kommt in einer umfangreichen Metaanalyse zu Sloan et al. 1999), der indirekte Einfluss von Hos-
dem Schluss, dass das Typ-A-Verhalten keinen tilität auf koronarschädigende Verhaltensweisen
eigenständigen Risikofaktor der KHK darstelle, (z. B. Whiteman et al. 1997) oder auch die Bereit-
wenn klassische Risikofaktoren dabei kontrolliert schaft zur Äußerung von Beschwerden diskutiert.
würden. Ärger korreliert allgemein mit erhöhtem Blut-
7.3 · Belastungen durch die Erkrankung und Coping-Prozesse
77 7

druck und KHK-Risiko (z. B. Siegman et al. 1987). terschiedlichen Ansätzen die folgenden Haupt-
Experimentelle Befunde weisen auf die Wirkungen dimensionen:
von Ärgerunterdrückung auf den systolischen Blut- ▬ intrapsychisches Coping – direkte Handlung
druck hin, allerdings sind diese Ergebnisse offen- (Lazarus 1966),
sichtlich von der Art der Ärgerinduktion und ▬ Coping – Abwehr – Fragmentation (Haan
vom Instrument zur Ärgererfassung abhängig 1977),
(Schwenkmezger et al. 1995). ▬ Problem-focused-Coping – Emotion-focused-
Coping (Lazarus u. Launier 1978),
▬ handlungs-, kognitions- und emotionsbezoge-
7.3 Belastungen durch die Erkrankung nes Coping (Heim et al. 1983),
und Coping-Prozesse ▬ Approach-Coping – Avoidance-Coping (Cron-
kite u. Moos 1984).
Als psychosoziale Folgen von kardialen Ereignis-
sen werden vor allem Bedrohungserlebnisse für Lazarus und Mitarbeiter verstehen Coping als
Patient und Familie (bis hin zur Todesangst), Angst komplexen Prozess der Stressverarbeitung, bei dem
vor Komplikationen und Reinfarkt, körperliche die Person zunächst die Bedrohlichkeit der Situa-
Beeinträchtigung, Sexualstörungen, Durchgangs- tion bewertet (»primary appraisal«) und anschlie-
syndrome nach Herzoperation, Immobilisations- ßend ihre eigenen Bewältigungsmöglichkeiten
stress oder Anpassungsstörungen mit Angst und und Ressourcen einschätzt (»secondary appraisal«)
Depression gesehen. Dies macht umfassende psy- (Lazarus u. Folkman 1984). Dieser Prozess kann
chosoziale Versorgungsangebote, aber auch ge- dann zu einer Neubewertung (»reappraisal«) und
sundheitsbildende Rehabilitationsmaßnahmen einer Adaptation an die belastende Ausgangssitua-
und z. T. präoperative Vorbereitungsprogramme tion führen. Entscheidend an diesem Modell ist
zur Verhinderung langfristiger negativer Konse- damit eine bestimmte Beziehung zwischen der Per-
quenzen erforderlich. son und der relevanten Umweltsituation (»Trans-
Häufige Symptome bei Patienten mit einer aktion«). Neben den personenbezogenen und si-
schweren KHK sind z. B. Depression, Hilflosigkeit, tuationsbezogenen Variablen ist außerdem die so-
Angst, Ärger sowie Kontrollverlusterfahrungen, ne- ziale Unterstützung ein wichtiger Bestandteil des
gative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und Prozesses (Dörner u. Muthny 2003).
Partnerschaftskonflikte (Siegrist u. Rugulies 1997). Vor allem der kognitiven Seite der Verarbei-
Im Rahmen der Coping-Forschung wird unter- tungsprozesse wurde in der psychokardiologischen
sucht, ob und auf welche Weise sich verschiedene Forschung früh besondere Bedeutung beige-
Prozesse der Krankheitsverarbeitung eher günstig messen. Generelle Grundannahme ist dabei, dass
oder eher ungünstig auf die Anpassung an eine Menschen Selbstreflexivität besitzen und in der
kardiologische Erkrankung auswirken. Die ange- Auseinandersetzung mit der Erkrankung und er-
messene Erfassung sollte dabei der kognitiven, krankten Personen Annahmen über Ursachen und
emotionalen und Verhaltensebene von Coping- das »Wesen« der Erkrankung bilden (sog. subjekti-
Prozessen Rechnung tragen und multimodal erfol- ve Theorien oder Laientheorien). Am intensivsten
gen (z. B. Heim 1986). Weiterhin ist sowohl die zeit- wurden früh (und bis heute andauernd) Ursachen-
liche Stabilität als auch Variabilität von Coping zu zuschreibungen und Kontrollüberzeugungen be-
berücksichtigen (Heim et al. 1993). forscht (Theoriegrundlage durch Heider 1958 und
Die Forschung zur Krankheitsverarbeitung Rotter 1966 mit dem »locus of control«), vor allem
basiert vor allem einerseits auf der psychoanaly- auch deshalb, weil diese Laientheorien in enger Be-
tischen Abwehrlehre und andererseits auf verschie- ziehung zu Verarbeitungsprozessen (bzw. als Teil
denen Modellen psychophysiologischer Stresstheo- derselben), aber auch zur Behandlungscompliance
rien (Muthny 1994; Dörner u. Muthny 2003). und Lebensqualität gesehen werden. Unter den
Frühere theoretische Konzeptionen zur Krank- Kausalattributionen steht bei Betroffenen wie auch
heitsverarbeitung enthielten in zum Teil recht un- Gesunden der »Stress« (als Erklärung der Ätiologie
78 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

wie auch der Pathogenese) ganz im Vordergrund, Ärzte die Behandlungscompliance der Patienten
gefolgt von beruflichen Belastungen und ungüns- oder auch das Erreichen des medizinisch optima-
tigen Lebensgewohnheiten (z. B. Kramer et al. 1993). len Ergebnisses relevanter sind. Heim (1988) konn-
Ein interessanter wissenschaftlicher Disput (nen- te in einer umfangreichen Metaanalyse bei ver-
nen wir ihn »Myrtek-Ernst-Kontroverse«) hat schiedenen Erkrankungen zeigen, dass sich zupa-
sich in den achtziger Jahren an der Frage ent- ckendes Verhalten, die Suche nach Zuwendung und
zündet, inwieweit die Stressattribuierung (stark Problemanalyse im Hinblick auf die Überlebens-
verkürzt dargestellt) als Ausdruck substantieller zeit als eher adaptives Coping-Verhalten erwiesen,
Belastung und als zentraler (auch gesellschafts- während fatalistisches Akzeptieren, Passivität, Re-
politischer) Ansatzpunkt von Interventionen ge- signation und Selbstbeschuldigung als eher mala-
sehen werden sollte oder eher eine Vermeidungs- daptives Coping-Verhalten identifiziert werden
strategie darstellt, um sich nicht der Veränderung konnten. Zur Krankheitsverarbeitung setzen Koro-
der Lebensgewohnheiten und Risikofaktoren stel- narpatienten meist arzt- und compliancebezogene
len zu müssen. Verarbeitungsstrategien ein und schätzen diese
Unter den Kontrollüberzeugungen der Gesun- auch als am effektivsten ein (Muthny et al. 1992).
7 den zum Herzinfarkt werden in hohem Maße in- In der klinischen Praxis ist bereits seit längerer
ternale Faktoren (eigenes Verhalten, eigene Ein- Zeit bekannt, dass eine Verleugnung der Herzer-
stellungen) betont, aber auch die Bedeutung des krankung und ihrer Folgen sich kurzfristig zwar
»Engagements« und des »Könnens« der Ärzte für günstig auswirken kann, langfristig jedoch eher die
den weiteren Verlauf der Erkrankung hervorgeho- Anpassung erschwert (Siegrist u. Siegrist 1994). Die
ben. Die Kontrollierbarkeit der Erkrankung wird empirische Befundlage zur Bedeutung der Krank-
dabei insgesamt (z. B. im Vergleich zu einer Krebs- heitsverarbeitung für die Vorhersage des Erfolgs
erkrankung) stark überschätzt, z. T. im Sinne einer kardiologischer Rehabilitation ist allerdings ins-
Kontrollillusion (Kramer et al. 1993; Muthny et al. gesamt sehr heterogen; nicht zuletzt auch wegen
1994). forschungsmethodischer Probleme und Vergleich-
Vergleicht man die entsprechenden subjektiven barkeit der Studien, besonders im Hinblick auf
Theorien von Patienten mit verschiedenen schwe- den Einsatz der verschiedenen Coping-Instrumen-
ren körperlichen Erkrankungen, so zeigt sich bei- te. Meist wurde auch in den Studien darauf verzich-
pielsweise bei Muthny et al. (1992), dass Herzin- tet, das Coping-Verhalten multimodal in Selbst-
farkt-Patienten seltener Psychoätiologievorstellun- und Fremdeinschätzung zu erfassen.
gen berichten als Krebspatienten, aber gegenüber Relativ konsistent lassen sich aber in Längs-
den anderen Diagnosegruppen am stärksten die schnittstudien statistische Zusammenhänge zwi-
Erkrankung auf Stress im Sinne von Alltagsbelas- schen einer schlechten Anpassung und einer dep-
tungen und beruflichen Anforderungen zurück- ressiven Krankheitsverarbeitung bzw. damit zu-
führen. Bislang gibt es kaum Ergebnisse zu der sammenhängender Prozesse feststellen, was mit
Frage, inwieweit diese subjektiven Theorien (ge- ein paar Beispielen verdeutlicht werden soll:
rade beim Herzinfarkt) durch kollektive Mythen, In der Studie von Terry (1992) erschwerte z. B.
Einflüsse der Medien oder durch konkrete Krank- ein emotionsorientiertes Coping (Regulation von
heitserfahrungen geformt werden und inwieweit Gefühlen) die psychosoziale Anpassung nach ei-
sie im Rahmen der Behandlung und Rehabilitation nem Herzinfarkt. Problemorientiertes Coping (Lö-
günstig beeinflussbar sind (wobei vor allem die sung von Problemen, die mit der Erkrankung zu-
Stärkung der internalen Kontrollüberzeugungen sammenhängen) korrelierte dagegen nicht mit der
wesentliches Ziel ist). Anpassung. Insgesamt hatten diejenigen Patienten
Die Einschätzung des Verarbeitungserfolgs ist eine bessere Anpassung an den Infarkt, die eine
abhängig von den jeweiligen Zielsetzungen der Be- hohe internale Kontrollüberzeugung, ein hohes
urteiler (Muthny, 1994). Patienten heben besonders Selbstwertgefühl, geringe Ängstlichkeit und gute
die Wiedergewinnung des emotionalen Gleichge- familiäre Beziehungen angaben. Die Infarktschwe-
wichts oder Wohlbefindens hervor, während für re hing dabei nicht mit der Anpassung zusammen.
7.4 · Belastungen durch diagnostische und therapeutische Maßnahmen
79 7

Van Elderen et al. (1999) fanden in einer um- ping und Krankheitsverleugnung waren nach einem
fangreichen Längsschnittstudie, dass der Anpas- Jahr seltener wieder erwerbsfähig und schätzten ih-
sungserfolg bei Koronarpatienten abhängig davon ren Gesundheitszustand auch schlechter ein.
ist, wann die Patienten im Krankheitsverlauf ein Titscher et al. (1996) konnten zeigen, dass be-
auf die Krankheit gerichtetes Coping-Verhalten sonders diejenigen Patienten ein höheres Ausmaß
(»approach«) oder aber vermeidendes Coping an Restenosebildung drei Monaten nach erfolgter
(»avoidance«) einsetzten. Patienten mit vermei- PTCA aufwiesen, die mit einer resignativen, selbst-
dender Krankheitsverarbeitung einen Monat nach bemitleidenden Stressverarbeitung und einer de-
einem kardialen Ereignis waren zu diesem Zeit- pressiven Krankheitsverarbeitung reagierten und
punkt weniger ängstlich und zufriedener mit ih- die mit ihrem Leben unzufriedener waren.
rem Leben, während sich hier die Zuwendung hin Besonders interessant sind die Ergebnisse von
zur Erkrankung ungünstig auswirkte. Dagegen wa- Murberg (2001), der bei Patienten mit chronischer
ren diejenigen Patienten, die sich einen Monat nach Herzinsuffizienz Zusammenhänge zwischen Co-
einem kardialen Ereignis aktiv mit ihrer Erkran- ping-Strategien einerseits und Mortalität anderer-
kung auseinandersetzten, drei Monate später zu- seits untersuchte. Es zeigte sich, dass Patienten, die
friedener mit ihrem Leben sowie weniger ängstlich mit einem hilflosen Coping-Stil auf krankheitsbe-
und depressiv im Gegensatz zu Patienten mit ver- dingte Belastungen und mit fehlender Krankheits-
meidendem Coping. akzeptanz reagierten, während eines zweijährigen
Lowe et al. (2000) konnten ebenfalls zeigen, Untersuchungszeitraums ein größeres Sterberisiko
dass im Längsschnitt emotionales Coping und Ver- aufwiesen. Diese Beziehungen galten auch bei Kon-
meidung sowohl zwei Monate als auch sechs Mona- trolle der Krankheitsschwere, des Geschlechts und
te nach einem ersten Herzinfarkt positiv mit Angst, des Alters.
negativer Stimmung und Beschwerden zusammen- Weitere Bestätigung erhalten diese Zusammen-
hingen, während problemorientiertes Coping und hänge zwischen depressivem bzw. emotionsorien-
Akzeptieren jeweils positiv mit positiver Stimmung tiertem Coping und einer schlechten medizini-
korrelierten und ersteres außerdem eine Reduk- schen und psychosozialen Anpassung durch quer-
tion von Beschwerden sechs Monate nach dem schnittliche Studienergebnisse (z. B. Craney et al.
Herzinfarkt vorhersagte. 1997; Ben-Zur et al. 2000), deren Aussagekraft aller-
Dunbar et al. (1999) untersuchten den Anpas- dings nur begrenzt ist.
sungsprozess nach Implantation eines Defibrilla- Die empirische Befundlage zur Bedeutung
tors (ICD) und stellten fest, dass emotionsorien- aktiver und problemorientierter Verarbeitungs-
tiertes Coping zu allen drei Messzeitpunkten (prä- prozesse stellt sich somit in Quer- und Längsschnitt-
operativ, 1 und 3 Monate später) mit vermehrten studien insgesamt heterogen und weniger konsis-
emotionalen Problemen in Beziehung stand. Prob- tent dar. Während einige Studien von einem positi-
lemorientiertes Coping war dagegen vor der ven Einfluss berichteten (z. B. Holahan et al. 1997a;
Operation und drei Monate später mit weniger Dunbar et al. 1999; Grady et al. 1999; Helgeson u.
emotionalen Problemen assoziiert und wies zum Fritz 1999; Lowe et al. 2000), konnte in anderen
zweiten Messzeitpunkt positive Beziehungen zum Studien dagegen kein (z. B. Terry 1992) oder aber
funktionalen Status auf. ein negativer Zusammenhang identifiziert werden
Rogner et al. (1994) stellten fest, dass Patienten (z. B. Van Elderen et al. 1999; Echteld et al. 2001).
einer kardiologischen Rehabilitationsklinik mit ei-
ner depressiven Krankheitsbewältigung unabhängig
von der Erkrankungsschwere vier Jahre später eine 7.4 Belastungen durch diagnostische
Verschlechterung des kardialen Befundes hatten. und therapeutische Maßnahmen
Auch die Ergebnisse von Julkunen und Saarinen
(1994) verdeutlichen den Stellenwert einer depres- Die (lebensrettende) Therapie selbst kann eben-
siven Verarbeitung für den Anpassungserfolg. Herz- falls zur Belastung werden, auch wenn dieser Fak-
infarktpatienten mit depressiv-resignierendem Co- tor sich nicht ganz so stark und regelhaft auswirkt,
80 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

wie dies »Stahl, Strahl und Chemie« in der Krebs- lich ihrer Lebensqualität von der OP zu profitieren
behandlung tun. So besteht auch hier ein wichtiges (Kiebzak et al. 2002).
medizinpsychologisches Forschungsfeld, zumal Mittels PTCA kann in vielen Fällen eine By-
solche Belastungen sich nicht nur auf die Lebens- pass-OP vermieden werden. Patienten können die
qualität, sondern auch auf die konkrete Behand- PTCA bei vollem Bewusstsein miterleben und zei-
lungscompliance niederschlagen und die Arzt-Pa- gen häufig ein relativ großes Vertrauen in die Mög-
tient-Beziehung unter bestimmten Voraussetzun- lichkeiten der Medizin und das Können der Ärzte,
gen sehr strapazieren können. sodass sie vor und nach der OP wenig Angst und
Bereits die kardiologische Routinediagnostik Nervosität zeigen (Jordan 1992). Patienten, die nach
kann als belastend erlebt werden, so beispielsweise dem Eingriff positive Zukunftserwartungen, inter-
die häufigen Herzkatheteruntersuchungen, die vor nale Kontrollüberzeugungen und ein positives
allem mit Ängsten und einer erhöhten sympathiko- Selbstwertgefühl aufweisen, haben mit geringerer
tonen Erregung verbunden sind (z. B. McNamara Wahrscheinlichkeit später erneute kardiale Proble-
2003). me (Helgeson u. Fritz 1999).
Ein ausgeprägter Belastungscharakter wurde Besondere Bedeutung wurde in diesem Zusam-
7 schon früh vor allem bei Eingriffen am offenen menhang auch dem Organersatz und den entspre-
Herzen gesehen und auch wissenschaftlich doku- chenden psychosozialen Reaktionen beigemessen,
mentiert (Meffert 1992) – nicht nur, weil hier ein früh schon am Beispiel des Herzschrittmachers,
ausgedehnter Eingriff mit entsprechenden post- später auch der künstlichen Herzklappen und
operativen Schmerzen und Funktionseinbußen schließlich in jüngster Zeit vor allem der implan-
vorliegt, sondern weil auch alarmierende zentral- tierten Defibrillatoren bei malignen Herzrhyth-
nervöse Symptome und Folgen beobachtet wur- musstörungen.
den, die man heute weitgehend als neurologisches Der implantierbare Kardioverter-Defibrillator
Durchgangssyndrom in Folge ischämischer Pha- (ICD) stellt angesichts der Bedrohung von Patienten
sen aufklären konnte. Symptome waren vor allem mit malignen Herzrhythmusstörungen durch die
eine psychoorganische Symptomatik (z. B. Denk-, Gefahr des Herzstillstandes und plötzlichen Herz-
Orientierungs-, Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- todes eine weitere wichtige und lebensrettende
störungen), emotionale Störungen (z. B. Angst) Maßnahme der kardiologischen Therapie dar. Die
und eine paranoid-halluzinatorische Sympto- entsprechenden Patienten sind bereits durch das
matik (z. B. Sinnestäuschungen, Wahn) (Meffert frühere Erleben und Überleben von Herzstillstän-
1992). den belastet, z. T. auch traumatisiert (Auftreten
Eine Bypass-Operation kann die Prognose bei von Kontrollverlustgefühlen, übermäßiger Selbst-
Patienten mit einer KHK verbessern, wenn es beobachtung, u. U. auch Todesangst). Als besonders
gleichzeitig gelingt, bestehende Risikofaktoren belastend wird auch eine wichtige diagnostische
günstig zu verändern (Franz 1998). Vor der OP ha- Maßnahme beschrieben, die sog. elektrophysiologi-
ben Patienten besonders im körperlichen Bereich sche Untersuchung, bei der ein künstlicher Herz-
aufgrund der Belastung durch die Erkrankung eine stillstand erzeugt wird, um das Ansprechen der
reduzierte Lebensqualität (Kiebzak et al. 2002). Behandlungsmethode zu prüfen (Stankoweit u.
Doch trotz eines erfolgreichen körperlichen Ein- Muthny 1996). Trotz unbestrittener Effektivität des
griffs und Beseitigung der Stenose gelingt vielen Verfahrens im Hinblick auf erhöhte Überlebens-
Patienten die psychische Anpassung nicht. Studien zeiten und auch bessere Lebensqualität (für die
belegen, dass besonders diejenigen Patienten eine Mehrheit der Behandelten) zeigen Forschungsergeb-
schlechte psychosoziale Anpassung aufweisen, die nisse aber auch Nebenwirkungen in Form von Miss-
auch vor der OP erhöhte Angst- und Depressions- empfindungen, unangenehmen Schockabgaben des
werte hatten (Duits et al. 1997). Soziale Unter- Geräts und der Frage, ob der Aufwand überhaupt
stützung, internale Kontrollüberzeugungen und sinnvoll ist, wenn (wie bei ca. der Hälfte der Patien-
Optimismus wirkten sich dagegen positiv aus. Ins- ten) nie ein Herzstillstand und entsprechender Ein-
gesamt scheinen aber die meisten Patienten bezüg- satz des Geräts erfolgt (Stankoweit et al. 1997).
7.6 · Bedeutung von Depressionen und Angst für Entstehung und Verlauf der KHK
81 7

Die Herztransplantation stellt eine sehr bedeut- Alleinlebende vermehrt kardiale Risikofaktoren
same medizinische Maßnahme für die Therapie haben (wie z. B. Rauchen, höherer diastolischer
von Patienten mit terminaler Herzinsuffizienz dar, Blutdruck). Soziale Isolation hing dagegen mit dem
die allerdings für Patienten und deren Angehörige, Eintreten neuer kardialer Ereignisse, einem erhöh-
aber auch für das medizinische Personal mit ver- ten Mortalitätsrisiko sowie einem schlechteren
schiedenen Belastungen verbunden ist (z. B. Angst psychosozialen Outcome zusammen. Umgekehrt
vor der OP, Ungewissheit über den Termin der stellen aber chronischer Ehestress sowie ein über-
Transplantation etc.). Im Verlauf der Wartezeit auf fürsorgliches Verhalten der Partnerin einen Risiko-
eine Transplantation hatten Patienten erhöhte De- faktor dar und können den Anpassungsprozess
pressivitätswerte, eine geringere Lebenszufrieden- erschweren. In der Untersuchung von Pedersen et
heit sowie eine deutlich erhöhte external-fatalisti- al. (2002) hatten Herzinfarkt-Patienten, die mit ih-
sche Kontrollüberzeugung (Zipfel et al. 1999). Häu- rer sozialen Unterstützung nicht zufrieden waren,
fige Probleme nach der Transplantation können ein höheres Risiko für Angst, Depression sowie für
eine reduzierte Lebensqualität, Compliance-Proble- eine posttraumatische Belastungsstörung und be-
me sowie ein größeres Risiko für körperliche und richteten mehr gesundheitliche Beschwerden. Auch
psychische Erkrankungen (z. B. »major depression«, andere Autoren konnten den protektiven und mo-
Anpassungsstörungen, Angststörungen) sein (Bun- derierenden Einfluss der sozialen Unterstützung in
zel u. Läderach-Hofmann 2000; Dew et al. 2001). ihren Reviews bestätigen (Anderson et al. 1996;
Hemmingway u. Marmot 1999). Dabei scheinen
diejenigen Patienten am meisten von einer guten
7.5 Kardiologische Erkrankungen sozialen Einbindung zu profitieren, die vulnerabler
und die Bedeutung sind oder denen nur geringe Coping-Fertigkeiten
der sozialen Unterstützung zur Verfügung stehen (Barefoot et al. 2000; Frasure-
Smith et al. 2000). Die Wirkungsweise der sozialen
Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk und Unterstützung lässt sich zum einen damit erklären,
die Zuwendung von nahen Bezugspersonen kön- dass das Gefühl, geliebt und akzeptiert zu werden,
nen sich protektiv auf Befinden und Gesundheit und das Wissen um Beistand einen positiven Effekt
von Menschen auswirken und den Prozess der auf die psychische und physische Befindlichkeit
Krankheitsverarbeitung von Patienten beeinflus- haben (Haupteffektmodell). Zum anderen soll der
sen (Leppin u. Schwarzer 1997). Subjektiv wahrge- Einfluss der sozialen Unterstützung besonders in
nommene, wichtige inhaltliche Aspekte sozialer belastenden Situationen im Sinne eines Puffers die
Unterstützung beziehen sich auf die emotionale negativen Konsequenzen abfangen (Puffermodell).
(wie z. B. Empathie, Nähe, Vertrauen, Sicherheit Als vermittelnde Prozesse werden neben immuno-
und Engagement), die informationale (wie z. B. logischen und neuroendokrinen Mechanismen
Rückmeldung, handlungsrelevante Informatio- verhaltensbezogene Faktoren diskutiert (Ader et al.
nen), die praktische und die materielle Unterstüt- 1991; Cohen 1988). Der protektive Einfluss einer gu-
zung (Leppin u. Schwarzer 1997; Sommer u. Fydrich ten sozialen Einbindung scheint auf der Grundlage
1991). Auch in Bezug auf kardiale Erkrankungen der dargestellten Arbeiten empirisch abgesichert
wird ein moderierender Einfluss auf den Erkran- zu sein und sollte daher bei der Behandlung kardio-
kungsverlauf angenommen. Einen guten Überblick logischer Erkrankungen berücksichtigt werden.
über den Zusammenhang zwischen der Paarbe-
ziehung und einer KHK gibt die aktuelle Litera-
turübersicht und Metaanalyse von Titscher und 7.6 Bedeutung von Depressionen
Schöppl (2000). Die Autoren konnten zeigen, dass und Angst für Entstehung
verheiratete Männer im Vergleich zu geschiedenen und Verlauf der KHK
oder verwitweten ein geringeres Risiko aufwiesen,
an einer KHK zu erkranken, und insgesamt länger Depressionen und Ängste weisen eine hohe Kova-
lebten. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass rianz auf (Ehlers u. Margraf 1994) und werden in
82 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

vielen Studien und Überblicksarbeiten zu psycho- kardialen Ereignissen. Bunker et al. (2003) sehen in
sozialen Einflussvariablen koronarer Erkrankun- ihrem Review dagegen kaum konsistente Hinweise
gen als negative Emotionen zusammengefasst. auf eine Beziehung zwischen Angst und einer
Die empirische Befundlage zum Zusammen- KHK.
hang zwischen Depressionen und koronaren Herz- Die Auswirkungen von Ängsten auf den Krank-
erkrankungen zeigt sich ausgesprochen konsistent heitsverlauf wurden insgesamt weniger untersucht
und weist auf die negativen Auswirkungen auf Ent- (Smith 2001), obwohl hier eine gesteigerte sym-
stehung und Verlauf einer KHK hin (Köhle u. Gaus pathikotone Erregung und eine damit einher-
1986; Hemmingway u. Marmot 1999; Mayou et al. gehende erhöhte Herzbelastung möglicherweise
2000; Hermann-Lingen u. Buss 2002; Bunker et al. einen pathophysiologisch relevanten Prozess dar-
2003; Sirois u. Burg 2003). Verschiedene prospek- stellen können. Zusammengefasst zeigt sich in
tive Längsschnittstudien belegen, dass eine depres- verschiedenen Studien, dass Patienten mit einer
sive Symptomatik einen unabhängigen Risikofak- vorhandenen KHK eine reduzierte Lebensqualität,
tor für die Entstehung einer KHK darstellt, unab- einen schlechteren kardialen Erholungsprozess,
hängig von den klassischen Risikofaktoren oder spätere Komplikationen und sogar ein höheres
7 der Erkrankungsschwere (z. B. Barefoot u. Schroll Sterberisiko aufweisen können (z. B. Frasure-Smith
1996; Hippisley-Cox et al. 1998; Ford et al. 1998; Fer- 1991; Allgunder u. Lavori 1993; Jenkins et al. 1996;
ketich et al. 2000). Neben einer erhöhten Erkran- Moser u. Dracup 1996).
kungswahrscheinlichkeit wurde in einigen Studien Depressionen und Ängste gehören zu den häu-
ebenfalls ein höheres Mortalitätsrisiko festgestellt figsten psychosomatischen Symptomen bei Herz-
(z. B. Ferketich et al. 2000). Auch im Hinblick auf patienten und sollten wegen ihres möglichen nega-
den weiteren Krankheitsverlauf zeigt sich der un- tiven Einflusses frühzeitig therapeutisch behandelt
günstige Einfluss einer depressiven Symptomatik, werden.
und zahlreiche Studien belegen, dass Depressionen
bei bereits vorhandener KHK mit einer erhöhten
kardialen Mortalität einhergehen (Barefoot et al. 7.7 Psychosoziale Interventionen
1996; Frasure-Smith et al. 1995, 1999; Wulsin et al. und ihre Wirksamkeit
1999).
Der zugrunde liegende Wirkmechanismus ist Psychosoziale Interventionen beziehen sich vor
allerdings derzeit noch unklar. Depressionen könn- allem auf eine Modifikation der Risikofaktoren ko-
ten entweder direkt oder aber indirekt über ver- ronarer Herzkrankheiten, so vor allem auf
mittelnde Prozesse wirken, wie z. B. über die klas- ▬ Raucherentwöhnungsprogramme,
sischen Risikofaktoren (die häufig bei Depressiven ▬ psychologische Therapien zur Verringerung
verstärkt zutreffen, auch wenn sie in einigen Stu- von Übergewicht,
dien kontrolliert wurden), über eine geringere In- ▬ Bewegungstherapie,
anspruchnahme des Gesundheitssystems, eine ge- ▬ Entspannungstrainings zur Senkung des Akti-
ringere Compliance oder über psychoendokrino- vierungsniveaus und des Blutdrucks,
logische Mechanismen. ▬ Stressbewältigungsprogramme zur Verringe-
Die Bedeutung von Ängsten wird dagegen rung psychosozialer Belastungen im Alltag
kontrovers diskutiert. Einige Autoren betonen auf- und
grund der vorliegenden empirischen Ergebnisse ▬ sog. gesundheitsbildende Maßnahmen zur Ver-
den starken Einfluss von Ängsten als Risikofakto- ringerung der Risikofaktoren und zur Stärkung
ren für die Entstehung einer KHK (z. B. Kubzansky bzw. zum Aufbau einer gesundheitsorientierten
et al. 1998; Hemmingway u. Marmot 1999; Kubzansky Motivation.
u. Kawachi 2000). Chronische Ängste wirken sich
dabei möglicherweise einerseits auf das Gesund- Verhaltensmodifikationsprogramme und pharma-
heitsverhalten aus und begünstigen andererseits kologische Interventionen ergänzen sich in der
arteriosklerotische Prozesse bis hin zu tödlichen Behandlung, können aber auch in einem gewis-
7.7 · Psychosoziale Interventionen und ihre Wirksamkeit
83 7

sen Konkurrenzverhältnis stehen. So kann z. B. die 2003). Auch konnte in einer weiteren Studie ein
Compliance für ein verhaltensmedizinisches Pro- Rückgang der koronaren Arteriosklerose ein Jahr
gramm zur Gewichtsreduktion geringer sein, wenn nach dem Trainingsprogramm in der Interven-
parallel dazu Lipidsenker eingesetzt werden. Prä- tionsgruppe festgestellt werden (Ornish et al. 1998).
ventive Maßnahmen haben vor allem im Rahmen Die Effektivität einzelner Behandlungsmaß-
der Rehabilitation eine große Bedeutung, da die nahmen lässt sich im Rahmen solcher Studien
motivationalen Voraussetzungen für Verhaltens- nicht abschätzen, da sie im Kontext anderer Maß-
änderungen häufig erst nach Eintritt einer Erkran- nahmen der Rehabilitationsbehandlung durchge-
kung und aufgrund der damit verbundenen Belas- führt werden. Häufig wird in Studien daher die
tungen gegeben sind (Hoefert 1997). Standardbehandlung mit einer zusätzlichen Inter-
Halhuber (1993) plädiert für eine »präventive vention verglichen. Außerdem sind in vielen Eva-
Kardiologie«, die sich sowohl an Gesunde als auch luationsstudien edukative Maßnahmen und Be-
an bereits Erkrankte wendet. Dabei sind besonders standteile eines Stressmanagementtrainings kon-
5 wesentliche Ziele für die Rehabilitationsphase fundiert.
von Koronarpatienten relevant: Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über
1. Annehmen der Krankheit, die am häufigsten eingesetzten und am besten eva-
2. Wissen von der Krankheit, das dem Patienten luierten Interventionen in der Herzinfarkt-Rehabi-
erlaubt, für seine Zukunft bessere Entscheidun- litation gegeben werden: Raucherentwöhnung und
gen zu treffen, Entspannungs- bzw. Stressmanagementtrainings.
3. seelische Unterstützung und sozialer Rückhalt,
4. dauerhafte Verhaltensdisziplin und Therapie- Wirkungen der Raucherentwöhnung
treue sowie das bei Koronarpatienten
5. Erreichen der bestmöglichen Leistungsfähig- Die Bedeutung des Rauchens für die Entstehung
keit in allen Lebensbereichen. einer KHK und für die Bedrohung durch einen Re-
infarkt ist empirisch gut abgesichert (Njolstadt u.
Die Frühmobilisierung (wie z. B. frühes Verlassen Lund-Larsen 1996). Nichtrauchertrainings gehören
des Krankenbetts unter physiotherapeutischer Be- daher zum Standardprogramm kardiologischer
treuung) während der Akutbehandlung stellt be- Rehabilitationskliniken (Trost 1995), wobei die
reits den Beginn der kardiologischen Rehabilita- meisten Patienten, die mit dem Rauchen aufgehört
tion dar. Während der Anschlussheilbehandlung haben, dies nicht auf die Interventionen zurück-
in einer stationären oder ambulanten Rehabilita- führen. Wie verschiedene Studien belegen, senkt
tionseinrichtung soll der Patient zur Vermeidung die Raucherentwöhnung das weitere Erkrankungs-
einer frühzeitigen Berentung seine Krankheit ak- risiko (z. B. Kawachi et al. 1994; Barth u. Bengel
zeptieren und mit ihr leben lernen (Franz 1998). 2003).
Ornish und Mitarbeiter (Ornish et al. 1990, Burling et al. (1984) stellten in ihrer Literatur-
1998; Koertge et al. 2003) haben ein spezielles Pro- analyse fest, dass kurzfristig zwar viele Herzinfarkt-
gramm entwickelt und in verschiedenen Studien Patienten das Rauchen aufgaben, aber davon nur
eingesetzt, das verschiedene Methoden integriert, ca. die Hälfte langfristig erfolgreich war. Brummett
um eine intensive Veränderung der Lebensweise zu et al. (2002) konnten zeigen, dass ein höheres Bil-
bewirken. Bestandteile des Programms sind eine dungsniveau, die Schwere der Erkrankung und das
strenge, fettreduzierte Diät auf pflanzlicher Basis, Vorliegen einer Bypass-Operation eine langfristige
moderate Bewegung, Stressmanagement, Raucher- Aufgabe des Rauchens vorhersagten, während hö-
entwöhnung sowie Gruppensitzungen. Mit Hilfe here Feindseligkeitswerte, Krankheitssorgen, An-
des Programms konnten sowohl signifikante Ver- spannung und depressive Symptome mit einem
besserungen bezüglich medizinischer Variablen höheren Rückfallrisiko in Verbindung standen.
(z. B. Plasmalipide, Blutdruck, Gewicht, körperli- Trotz zum Teil unterschiedlicher Ergebnisse
che Fitness) als auch psychosozialer Variablen (wie in Einzelstudien kann man die Effektivität der
die Lebensqualität) erzielt werden (Koertge et al. Raucherentwöhnung insgesamt als empirisch recht
84 Kapitel 7 · Psychokardiologie: Vom Typ-A-Konzept zur Depressionsbehandlung nach Herzinfarkt

gut abgesichert bezeichnen (Lancaster et al. 2000). bezogenen Zusatzinterventionen deutlich wird,
Zu den unterschiedlichen Methoden, die in ver- scheint die relevante Post-Infarkt-Depression nur
schiedenen Metaanalysen untersucht wurden, ge- wenig beeinflussbar zu sein.
hörten z. B. verhaltenstherapeutische Gruppen, In einer sehr aufwendigen, randomisierten Psy-
Nikotinersatz (z. B. Nikotinkaugummi, z. T. in chotherapiestudie an weit über 2000 Herzinfarkt-
Kombination), Beratung durch den Arzt oder In- Patienten wurde untersucht, ob sich mittels kogni-
terventionen durch Pflegekräfte. Nicht belegt er- tiver Verhaltenstherapie, wahlweise ergänzt durch
scheint dagegen die Wirksamkeit der Akupunktur. einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehem-
In einer kürzlich erschienenen Überblicksarbeit mer, Depression und eine als gering wahrgenom-
konnte allerdings nur eine begrenzte Wirkung mene soziale Unterstützung günstiger beeinflussen
einzelner Therapiebausteine festgestellt werden, lassen im Vergleich zur Standardtherapie und ob
sodass hier weiterer Forschungsbedarf besteht dies Auswirkungen auf weitere kardiale Ereignisse
(Wiggers et al. 2003). und die Überlebenszeit hat (Berkman et al. 2003).
Es zeigte sich, dass die Interventionsgruppe nach
Zur Wirkung von Entspannungsverfahren der Therapie zwar weniger depressiv war und eine
7 bzw. Stressmanagement bessere soziale Einbindung hatte, allerdings wiesen
Zwei umfangreiche Metaanalysen untersuchten die die Patienten der Standardbehandlung ebenfalls
Wirkung von einer zusätzlichen psychosozialen signifikante Verbesserungen auf. Keine Unterschie-
Intervention im Vergleich zur Standardbehandlung de konnten bezüglich der Überlebenszeit zwischen
bei KHK-Patienten in der Rehabilitation (Linden et beiden Studien festgestellt werden, so dass hier die
al. 1996; Dusseldorp et al. 1999). Einen guten Über- Ergebnisse noch widersprüchlich sind.
blick über diesen Themenbereich bietet ebenfalls
die Metaanalyse von Langosch et al. (2003).
In der Analyse von Linden et al. (1996) wurden 7.8 Fazit und Ausblick
kognitiv-verhaltensbezogene Interventionen als
»Stressmanagement« zusammengefasst und mit Die »Psychokardiologie«-Forschung hat eine in-
der Standardtherapie (medikamentöse kardiolo- teressante Entwicklung durchgemacht, von den
gische Therapie, Ernährungsempfehlungen und frühen Spekulationen im Hinblick auf eine psycho-
Bewegungstherapie) verglichen. Dabei zeigte sich somatische Ätiologie und Pathogenese hin zur
kurz- und mittelfristig eine 41%-ige Verringerung Identifikation von Ätiologiefaktoren in einem mul-
des Mortalitätsrisikos, die längerfristig allerdings tikausalen Verständnis und zur Evaluation der
nicht mehr signifikant war. Ebenfalls hatte die Möglichkeiten psychosozialer Interventionen.
Interventionsgruppe geringere systolische Blut- Es hat sich gezeigt, dass Entstehung und Verlauf
druckwerte, eine geringere Herzfrequenz und we- der koronaren Herzkrankheit (KHK) einen mul-
niger psychologischen Stress. tifaktoriell bedingten, biopsychosozialen Prozess
Dusseldorp et al. (1999) untersuchten insge- darstellen, bei dem eine genetische Komponente,
samt 37 Studien und konnten zeigen, dass Patien- Risikofaktoren durch ungesunde Verhaltenswei-
ten mit einem zusätzlichen Stressmanagement- sen (vor allem Rauchen, Übergewicht, fettreiche
bzw. Entspannungstraining im Vergleich zu den Ernährung, Stresserleben und Bewegungsmangel)
Kontrollgruppen mit Standardtherapie signifikant sowie Belastungen von verschiedenen psychosozi-
stärker ihre Risikoverhaltensweisen veränderten, alen Einflussvariablen zusammenwirken und zum
was sich in einem signifikant geringeren Mortali- Teil auch konfundiert sind. Das sog. Typ-A-Ver-
tätsrisiko, weniger Reinfarkten sowie in einer stär- haltensmuster als Ganzes stellt keinen alleinigen
keren Reduktion von Gewicht, Blutdruck und Se- Risikofaktor mehr dar, möglicherweise aber Teil-
rumcholsterin widerspiegelte. Keine Unterschiede aspekte, wie z. B. eine feindselige Einstellung. Als
konnten dagegen bezüglich Angst und Depression sehr wichtige psychosoziale Einflussfaktoren er-
festgestellt werden. Auch wenn in beiden Meta- wiesen sich besonders depressive Verarbeitungs-
analysen die Wirksamkeit von kognitiv-verhaltens- prozesse sowie depressive Gefühlszustände. Da die
Literatur
85 7

Depression sowohl für die Entstehung als auch für tients with coronary artery disease. American Journal of
den weiteren Erkrankungsverlauf äußerst relevant Cardiology, 78, 613-617.
Barefoot, J. C., Brummett, B. H., Clapp-Channing, N. E., Siegler, I.
ist, empfiehlt sich eine frühestmögliche therapeu-
C., Vitaliano, P. P., Williams, R. B. & Mark, D. B. (2000).
tische Intervention. Protektive Einflussfaktoren auf Moderators of the effect of social support on depressive
den Krankheitsverlauf sind eine positiv erlebte so- symptoms in cardiac patients. American Journal of Car-
ziale Unterstützung sowie eine befriedigende Paar- diology, 86(4), 438–442.
beziehung. In der Behandlung kardiologischer Er- Barth, J. & Bengel, J. (2003). Interventionen zur Raucherent-
wöhnung bei kardiovaskulären Erkrankungen – Darstel-
krankungen kommen neben pharmakologischen
lung der Maßnahmen und Stand der Evaluation. In:
auch verschiedene psychosoziale Interventionen J. Jordan, B. Bardé, A. M. Zeiher (Hrsg). Statuskonferenz
zum Einsatz, wobei sich die Wirkungsweise einzel- Psychokardiologie. Band 6. Frankfurt: VAS Verlag.
ner Therapiebausteine aufgrund des Gesamtpakets Ben-Zur, H., Rappaport, B., Ammar, R., & Uretzky, G. (2000).
nur schwer abschätzen lässt. Programme zur Rau- Coping strategies, life style changes and pessimism after
open-heart surgery. Health and Social Work, 25(3), 201–
cherentwöhnung, zur Übergewichtsreduktion und
210.
Bewegungstherapien (z. B. Koronarsportgruppen Berkman, L. F., Blumenthal, J., Burg, M., Carney, R. M., Catellier, D.,
nach dem Herzinfarkt) haben sich als durchaus Cowan, M. J., Czajkowski, S.M., De Busk, R., Hosking, J., Jaffe,
wirksam erwiesen, Rehabilitation und Prävention A., Kaufmann, P.G., Mitchell, P., Norman, J., Powell, L.H.,
kardiologischer Erkrankungen ergänzen sich hier Raczynski, J.M. & Schneiderman, N. (2003). Effects of
treating depression and low perceived social support on
wirksam gegenseitig.
clinical events after myocardial infarction: the Enhancing
Als wichtige Themen und Desiderata psycho- Recovery in Coronary Heart Disease Patients (ENRICHD)
kardiologischer Forschung erscheinen vor allem: Randomized Trial.[comment]. The Journal of the American
1. die effektive Gestaltung und Motivierung Ge- Medical Association (Jama), 28, 23, 3106-3116.
sunder für Präventionsmaßnahmen, Bräutigam, W. & Christian, P. (1976). Psychosomatische Medizin.
Stuttgart: Thieme.
2. die Partizipation in der Therapieentscheidung
Brummett, B. H., Babyak, M. A., Mark, D. C., Williams, R. B., Siegler,
und Verbesserung der Compliance bei den in- I. C., Clapp-Channing, N. & Barefoot, J. C. (2002). Predictors
dizierten diagnostischen und therapeutischen of smoking cessation in patients with diagnosis of coro-
Maßnahmen sowie schließlich nary artery disease. Journal of Cardiopulmonary Rehabili-
3. die Erweiterung und Verbesserung rehabilita- tation, 22(3), 143–147.
Bunker, S. J., Colquhoun, D. M., Esler, M. D., Hickie, I. B., Hunt, D.,
tiver Ansätze (vor allem zusätzlich im ambu-
Jelinek, V. M., Oldenburg, B. F., Peach, H. G., Ruth, D., Tennant,
lanten Setting). C. C. & Tonkin, A. M. (2003). »Stress« and coronary heart
disease: psychosocial risk factors. The Medical Journal of
Australia, 178(6), 272–276.
Bunzel, Brigitta & Läderach-Hofman, Kurt (2000). Solid organ
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8

Psychoonkologie – auf dem Weg


zu einem neuen Common Sense?
F. Schulz-Kindermann

8.1 Frühere Ansätze eines Common Sense in der Psycho-


onkologie – 92

8.2 Ein neuer Common Sense in der Psychoonkologie:


Die Orientierung an systematischer Bedarfsanalyse und deren
kontrollierte Umsetzung in die klinische Praxis – 95
8.2.1 Identifikation des Bedarfs in der Vorbereitungs- und der Akutphase
einer Knochenmarkstransplantation (KMT) – 96
8.2.2 Entwicklung von Behandlungsleitlinien für die Vorbereitungs-
und Akutphase – 96
8.2.3 Identifikation des Bedarfs in der Nachsorgephase – 97
8.2.4 Entwicklung von Behandlungsleitlinien für die Nachsorge – 98

8.3 Zusammenfassung – 98

Literatur – 99
92 Kapitel 8 · Psychoonkologie – auf dem Weg zu einem neuen Common Sense?

 keitsmerkmale mit Häufungen von Krebsinziden-


zen vorliegen (Schwartz 2001).
Mit »Common Sense« kann zweierlei gemeint sein: In den 80-er Jahren bestimmte das Coping-
Gesunder Menschenverstand oder das, worauf sich Konzept die Psychoonkologie. Bereits früh wurden
eine Mehrheit als gemeinsame Grundlage einigen Belastungen, denen Patienten z. B. in chemothera-
kann. In unserem Zusammenhang wird Letzteres peutischer Behandlung ausgesetzt sind, beschrie-
diskutiert, ohne zu vernachlässigen, dass Ersteres ben (Sutherland et al. 1952). Doch erst durch die
nicht ausgeschlossen werden soll. Beim Nachden- Entwicklung eines Modells, das die subjektive
ken über den Stand der Psychoonkologie, den Verarbeitung von schweren Stressoren und die
»state of the art«, fällt auf, dass Grundzüge dessen, Pufferfunktion von Ressourcen (wie sozialer Un-
womit sich Psychoonkologie heute beschäftigt terstützung) konzeptualisiert, konnten hypothe-
und wozu sie substanziell beizutragen hat, nicht sengeleitete Untersuchungen zum Coping von Krebs-
einfach zu erkennen sind. Zu vielfältig und unüber- patienten durchgeführt werden. Das von Richard
sichtlich ist die Themenreihe. Hier offenbart sich Lazarus entworfene (Lazarus u. Folkman 1984) und
eine Stärke der Psychoonkologie, die zugleich ihre von Susan Folkman weiterentwickelte Coping-
große Schwäche ist: Die Psychoonkologie wendet Modell (Folkman 1997) bestimmte jahrzehntelang
psychologische Erkenntnisse auf die Onkologie den empirischen Diskurs in der Psychoonkologie.
8 (und Hämatologie) an – sie kann dabei prinzipiell Krebs wird darin als etwas vom Betroffenen Unter-
alle Erkenntnisse anwenden und ist in der Regel scheidbares angesehen, an das es sich anzupassen
nicht an therapeutische oder wissenschaftliche gilt (Greer u. Watson 1987). Das Ziel ist eine mehr
Schulen gebunden. Die große Schwäche liegt in oder weniger gelungene Adaptation an Krebser-
einer gewissen Beliebigkeit, mit der Hypothesen krankung und -behandlung. Wesentliche Einfluss-
aus verschiedenen Theoriegebäuden ausgewählt faktoren dabei sind die personalen, entwicklungs-
und auf psychoonkologische Fragen angewendet bezogenen und interpersonalen Bedingungen.
werden. Rowland (1989) schlug ein Modell vor, das prüf-
Nach einer Phase zunehmender Vielfalt und bare Hypothesen ableiten lässt, einen einheitlichen
eben auch drohender Beliebigkeit entsteht eine Grad der Differenziertheit enthält und auf weni-
neue Art »Common Sense«: Ein Common Sense, der gen, zusammenhängenden psychologischen Theo-
sich weniger aus aktuell diskutierten psycholo- rien basiert. Zunächst legte sie drei umfassende
gischen Modellen, als einer rigoroseren, anwen- Untersuchungsbereiche fest, nämlich den soziokul-
dungsorientierten Methodik ableitet und sich auch turellen, den medizinischen und den individuell
am gesundheitspolitischen Diskurs orientiert. psychologischen Kontext. Vor diesem Hintergrund
beeinflussen drei Sets individueller, patientenbe-
zogener Variablen die psychische Anpassung an
Krebs: Die Entwicklungsstufe, bezogen auf lebens-
8.1 Frühere Ansätze eines Common zyklusbezogene Aufgaben, der intrapersonale Stil,
Sense in der Psychoonkologie bezogen auf Erfahrung, Persönlichkeit und Co-
ping-Stil, sowie die interpersonalen Ressourcen
Bevor überhaupt das Fach »Psychoonkologie« de- und Unterstützungsstrukturen.
finiert und gestaltet wurde, beschäftigten sich psy- Auf dieser Grundlage können Belastungsmerk-
chologische Arbeiten zu Krebs vor allem mit Kor- male unterschiedlicher Settings, die Belastung ver-
relationen zwischen Krebsentstehung und Persön- schiedener Populationen (z. B. Patienten, Angehö-
lichkeit sowie einem psychosomatischen Konzept rige, Personal) sowie Bewältigungsstile und -fertig-
der Onkogenese (Kowall 1955). Dabei wurde v. a. die keiten studiert werden.
Melancholie als zentrale Krebsursache betrachtet. In den 90-er Jahren erschienen »Coping« und
Diese Zusammenhänge werden bis heute uner- »Adaptation« nur noch als zwei Themen von vie-
müdlich diskutiert, obwohl keine überzeugenden len. Die Psychoonkologie war auf der Suche nach
Daten für die Verknüpfung bestimmter Persönlich- einem neuen Gebäude. Dabei sollte die Konzentra-
8.1 · Frühere Ansätze eines Common Sense in der Psychoonkologie
93 8

tion auf eine Mikroebene Erfolg versprechend sein: die im Folgenden skizzierten Entwicklungen nach-
In der Konzentration auf die Psychoneuroimmu- zuvollziehen:
nologie (Andersen et al. 1994) mit ihrer Verknüp- ▬ 1989 der Einfluss von Krebs auf Patienten und
fung körperlicher und geistiger Prozesse kündigte ihr Umfeld – ein klares Ursache-Wirkungsver-
sich die Rückkehr zu einer psychosomatischen Per- hältnis.
spektive an. Die Assoziation »Stress – Immunsys- ▬ 1998 eine Aufteilung in zwei Perspektiven: In
temschwächung – Krebs« schien verlockend ein- einer psychosozialen Perspektive Reaktionen
fach zu sein. Ein bekanntes Beispiel zu diesem Zu- der Patienten und deren Angehöriger; in einer
sammenhang lieferte die Arbeitsgruppe von David psychobiologischen Perspektive psychologi-
Spiegel in Stanford: In den 70ern beschäftigte sie sche, soziale und verhaltensbezogene Faktoren,
sich mit intensivierten Gruppentherapieprogram- die den Krebsverlauf beeinflussen (»The psy-
men für Patientinnen mit metastasiertem Brust- chological, social, and behavioral issues that
krebs. Ziel dieser Arbeiten war ausschließlich die influence morbidity and mortality«, Holland
Verbesserung der psychosozialen Befindlichkeit 1998).
und Palliation. Ende der 80er überprüfte Spiegels ▬ Der dritte Trend, der sich abzeichnet, ist der der
Gruppe die Sterberegister der ehemaligen Patien- Krankheitsbeeinflussung durch psychosoziale
tinnen und den Zusammenhang zwischen Grup- Faktoren.
penteilnahme und Überlebenszeit (Spiegel et al.
1989). Fawzy (Fawzy et al. 1993) kam etwa zur sel- Zu den krebsbeeinflussenden Faktoren gehören
ben Zeit auf die Idee, die Auswirkungen einer vor allem, wie in der ersten Phase der Beschäfti-
Kurztherapie auf immunologische Parameter zu gung mit diesen Fragen, Persönlichkeitsfaktoren,
prüfen. Beide nahmen einen Trend auf, der von Stress und andere immunmodulierende psychi-
außen auf sie zukam: Die Beschäftigung mit dem sche Befindlichkeiten, wie Depressivität. Watson
Immunsystem beherrschte die wissenschaftliche und Greer kommentieren diese Diskussion so: »The
Diskussion; wieder erreichte ein Trend die Psycho- scientific community is no closer in establishing
onkologie. the validity of the cancer prone personality than
In einer ersten Zusammenschau des Faches was Hippokrates some 2000 years ago« (Watson u.
Psychoonkologie entwarfen Jimmie Holland und Greer 1998). Hier sticht besonders die Auseinan-
Julia Rowland ein theoretisch fundiertes Rahmen- dersetzung mit den spektakulären Ergebnissen von
konzept dieser Disziplin (Holland u. Rowland 1989), Spiegel et al. (1989) und Fawzy et al. (1993) hervor,
aufbauend auf entwicklungspsychologischen, ver- die bis heute anhält und die Scientific Community
haltensmedizinischen und copingtheoretischen An- beschäftigt. Dabei stehen sich mittlerweile zwei
sätzen. Das zuletzt erschienene Handbuch Psycho- Lager gegenüber: Das eine, das diesen Ergebnissen
onkologie von Holland (1998) hingegen gliedert größte Bedeutung beimisst und derartigen Studien
sich in fast 100 Themen im Schnittfeld der Psycho- wegweisende Impulse für die Entwicklung der Psy-
onkologie; dabei sind zentrale, wie Prävention und choonkologie attestiert. – Und wirklich, wann wäre
Interventionsformen, aber auch marginale, wie es denkbar gewesen, dass eine psychologische Stu-
»Hämatopoetische Dyskrasien« oder Meditation. die mit zwei mal 35 Patienten, die fast alle verstor-
Alternative Behandlungen wurden in medizini- ben waren, im Lancet veröffentlicht und eine derart
scher und psychosozialer Hinsicht (Kunsttherapie) starke weltweite Beachtung erfährt? Neben der
aufgenommen, seltene psychische Folgeerschei- empirischen Rezeption hat hier eine Art »Kultur-
nungen von Krebs, wie posttraumatische Belas- revolution psychoonkologischer Forschung« statt-
tungsstörungen und wichtige allgemeine Themen, gefunden: Bis dahin wurde die Möglichkeit der
wie Medizinethik, komplettieren das Bild. Verlängerung des Lebens durch psychologische
Was aber ist nun das Spezifische der Psycho- Methoden nicht in der breiten (wissenschaftlichen)
onkologie? Wenn wir uns die Definitionen von Psy- Öffentlichkeit diskutiert.
choonkologie in den Handbüchern Hollands aus Auf der anderen Seite hält die Kritik an einer
den Jahren 1989 und 1998 vor Augen führen, so sind vereinfachenden Adaptation psychoneuroimmu-
94 Kapitel 8 · Psychoonkologie – auf dem Weg zu einem neuen Common Sense?

nologischer Modelle an. Nach wie vor gilt, auf jeden some conditions may well be affected by psy-
Fall für die frühen Arbeiten, dass die untersuchten chosocial factors such that cancer is more or
Vergleichsgruppen sehr klein waren und nicht die less likely to occur in them than in others.
in der medizinischen Forschung allgemein übli-
chen Powerstatistiken eingesetzt wurden. Bernie Die »Schlacht« um die Wahrheit der psychologi-
Fox untersuchte akribisch die Hypothese, dass schen Krebsbeeinflussung tobt seitdem relativ un-
Spiegels Patientinnen in der Interventionsgruppe gebrochen weiter (Spiegel 2001). Es gibt aber auch
nicht länger, sondern im Gegenteil kürzer überleb- Psychoonkologen, die sich an dieser Schlacht nicht
ten, verglichen mit der damals im südlichen Kali- beteiligen, die sie möglicherweise langweilt, weil
fornien geltenden durchschnittlichen Überlebens- sie z. T. eher psychoonkologischem Entertainment
zeit bei Brustkrebspatientinnen mit metastasierter als ernsthafter empirischer psychosozialer For-
Erkrankung (Fox 1998). schung entspricht. Zu diesen gehören Susan Folk-
Die in den 90-er Jahren publizierten Arbeiten man und Steven Greer (2000), die eine Diskussion
wiesen zudem eine große Vielfalt dessen auf, was anlässlich des Weltpsychoonkologiekongresses in
wohl unter »Psychotherapie bei Krebspatienten« Hamburg 1998 zum Anlass nehmen, sich über
zu verstehen ist. Keine der durchgeführten Studien eine psychoonkologische Metatheorie und deren
formulierte a priori Hypothesen darüber, welche Anwendung in der Praxis auszutauschen. Sie
8 Maßnahmen wohl besonders gut geeignet wären, schreiben:
den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen.
Mehr noch, die meisten Arbeiten bestanden zu- In an ideal world, psychological theory, empiri-
nächst darauf, dieses Ziel definitiv nicht ange- cal research and clinical practice would influ-
strebt zu haben, sondern es quasi als »Abfallpro- ence each other in a dynamic process. Theory
dukt« entdeckt zu haben. would guide research, the findings of research
Andererseits wurden schon früh Zusammen- would inform theory, and each would influence
hänge zwischen dem Immunsystem, psychothera- and be influenced by clinical practice.
peutischen Interventionen und Krankheitsverläu-
fen hergestellt (Kiecolt-Glaser et al. 2002). Die ein- Folkman (Folkman u. Greer 2000) wünscht sich
fache Formel »Stress unterdrückt das Immunsystem vor allem eine Rückkehr der psychoonkologischen
– unterdrückte Immunfunktionen fördern Krebs – Forschung zum Copingansatz. Doch ihr erweiter-
psychische Probleme sind nichts anderes als Stress tes Coping-Modell, das sie bei dieser Gelegenheit
– Psychotherapie kann psychische Probleme beein- diskutiert, ist geeignet, viele psychologische Aspek-
flussen, also kann sie auch Krebs günstig beeinflus- te, die einen Einfluss auf die individuelle Auseinan-
sen« hat bis in die heutigen Tage Konjunktur. Der dersetzung mit der Krebserkrankung ausüben
Psychoneuroimmunologe Bovbjerg (Bovbjerg u. könnten, zu integrieren. Ein Begriff, der hier wie in
Valdimarsdottir 1998) betont, dass es darauf an- vielen weiteren Arbeiten auftaucht, ist »meaning«:
kommt, wie die möglichen Wechselwirkungen Die Bedeutung und vor allem die Veränderung der
moderiert werden – präzise Erkenntnisse hierzu Bedeutung von Erkrankungs- und Behandlungs-
bewegen sich aber noch auf dem Niveau der Grund- prozessen für den Lebensverlauf der Patienten. Da-
lagenforschung. bei macht Susan Folkman die Psychoonkologie auf
Was den Einfluss psychosozialer Faktoren auf ihre Ergebnisse aus der Arbeit mit AIDS-Patienten
die Krebserkrankung betrifft, so fasst Fox (1998, und ihren Partnern aufmerksam. Diese zeigen,
S 122) zusammen: dass »meaning based coping« auch bei schwersten
Belastungen mittel- und langfristig zu positiven
The position seems fairly firm for a few factors, Emotionen und zu einer Unterstützung des Be-
namely that there is no influence, but the posi- wältigungsprozesses führen kann (Folkman et al.
tion seems quite unclear in the remainder … 1997).
Some people, for some cancer types, under

8.2 · Ein neuer Common Sense in der Psychoonkologie
95 8
8.2 Ein neuer Common Sense in der stammen, scheinen hier deutlich geeigneter zu
Psychoonkologie: Die Orientierung sein.
an systematischer Bedarfsanalyse Ein beispielhaftes Feld, das für das hier vor-
und deren kontrollierte Umsetzung geschlagene Vorgehen stellvertretend stehen soll,
in die klinische Praxis ist das der Knochenmarktransplantation (KMT).
Dieses wird hier erstens aus dem schlichten
Von diesem Ideal eines planvollen, harmonischen Grund herangezogen, dass der Autor sich seit vie-
Austauschs von Theorie, Forschung und Praxis sind len Jahren klinisch und empirisch in diesem Raum
wir, wie Folkman und Greer (2000) selbst einge- bewegt und zweitens, weil die Situation von KMT-
stehen, weit entfernt. Wie aber könnte der neue Patienten wiederholt als die einer »Laborsitua-
Common Sense der Psychoonkologie aussehen? – tion« (Syrjala et al. 1993) beschrieben wurde:
Eine moderne Übereinkunft über förderliche oder Die Betroffenen sind extremen Belastungen aus-
hinderliche Aspekte psychoonkologischer Erkennt- gesetzt, die aber vielfach vorhersehbar sind, in
nis kann nach Ansicht des Verfassers nur durch eine nahezu programmierter Weise auf sie zukom-
Konzentration auf gesicherte Evidenz und eine men und im Prinzip jeden Patienten objektiv
qualifizierte Umsetzung dieser Evidenz in den kli- gleichermaßen treffen. Die individuellen Reak-
nischen Alltag erreicht werden. Die Aufgabe besteht tionen auf diese Belastungen indes fallen ausge-
also darin, eine rigorose psychoonkologische Me- sprochen unterschiedlich aus – psychologische
thodik festzulegen, mit der Fragen aus der Praxis Faktoren, die dazu beitragen, können studiert
mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und theore- werden.
tischen Modellen verbunden werden könnten. Kurz skizziert durchlaufen Patienten mit malig-
Ein Vorgehen, das auch die psychosoziale For- nen hämatopoetischen Erkrankungen, wie Leukä-
schung und Praxis zunehmend bestimmt, ist eines, mien und Lymphomen, mehrere Behandlungs-
das vom National Breast Cancer Center Australiens phasen, wenn sie eine allogene KMT zu überstehen
in folgenden Schritten beschrieben wird (Redman haben (Schulz-Kindermann et al. 1998): Sie werden
et al. 2003): auf die Behandlung vorbereitet, und ein geeigneter
Spender, entweder aus der Familie oder unver-
wandt, muss gefunden werden. Sie werden »kondi-
Implementierungsprozess tioniert«, d. h. zumeist mit einer höchstdosierten,
1. Identifikation des Bedarfs »supraletalen« Chemo- und/oder Strahlentherapie
2. Forschungsreview über mehrere Tage behandelt, und bekommen an-
3. Entwicklung von Behandlungsleitlinien schließend – nachdem das Knochenmark und da-
4. Implementierung der Behandlungs- mit das blutbildende und das Immunsystem voll-
leitlinien ständig zerstört wurden, die gespendeten Blut-
5. Qualitätssicherung stammzellen transfundiert. Anschließend haben
sie eine etwa zweiwöchige Phase extremer Infekt-
anfälligkeit mit heftigen Schleimhautschmerzen zu
Dieser Ablauf erscheint schon deswegen sinnvoll, überstehen, bis die neuen Leukozyten und eine neue
weil er mit der Identifikation des Bedarfs beginnt. Immunkompetenz gebildet werden. Daran schließt
Zu häufig, so erscheint es beim Rückblick auf bis- sich eine mehrmonatige Phase an, in der unklar ist,
herige Entwicklungsstränge der Psychoonkologie, ob die Giftigkeit der Hochdosistherapie und die Ge-
wurden Interventionen von außen, etwa aus der fährlichkeit des ungezügelten Immunsystems über-
allgemeinen oder der klinischen Psychologie an die wunden werden können. Dies alles in der Hoffnung,
Behandlungssettings herangetragen. So sind etwa dass die Grunderkrankung geheilt werden kann –
Versuche, bestimmte Coping-Stile bei Krebspa- eine andere Prämisse, als bei den meisten anderen
tienten gezielt zu fördern, nur sehr begrenzt von Krebsbehandlungen gegeben ist.
Nutzen gewesen. Impulse, die unmittelbar aus dem Eine Vielzahl von Fragestellungen ist im Be-
Erlebens- und Behandlungsumfeld der Patienten reich der KMT untersucht worden:
96 Kapitel 8 · Psychoonkologie – auf dem Weg zu einem neuen Common Sense?

▬ die Auswahl der Spender und deren Befindlich- auf konkrete Eingriffe oder Vorgänge, wie notwen-
keit vor und nach erfolgter Spende (Switzer et dige Knochenmarkpunktionen oder heftige Ent-
al. 1997, 1998), zündungen der Schleimhäute, richtende Distress
▬ die Frage einer psychologischen Kontraindika- kann sehr ausgeprägt und bei bis zu 30% der Pa-
tion gegen eine KMT (Futterman et al. 1991), tienten vorhanden sein (Baker et al.1997, Rodrigue
▬ die Bedeutung von Familienfunktionen auf den et al.1993, Molassiotis et al.1996). Diese Stressbe-
psychologischen Verlauf der KMT (Zabora et lastung steigert sich weiter in der Akutphase der
al. 1992), Behandlung und wird ergänzt durch tatsächlich
▬ die Entwicklung psychosexueller Funktionen erlebte stärkste Behandlungsnebenwirkungen, die
im Gefolge dieser Behandlung (Molassiotis et mit Fieber und neurologisch-psychiatrischen Stö-
al. 1996), rungen bis hin zum Delir einhergehen können.
▬ die Bedeutung angemessener Aufklärung vor Zwei Studien, die am weltgrößten Transplanta-
KMT (Futterman et al. 1996), tionszentrum in Seattle durchgeführt wurden, be-
▬ die psychischen Auswirkungen extremer Ne- legen eindeutig die positive, additive Wirksamkeit
benwirkungen wie Schmerzen und Übelkeit in von Entspannungs- und Imaginationsmethoden
der Akutphase und deren psychotherapeuti- auf die Schmerzlinderung (Syrjala et al. 1992, 1995).
sche Behandlung (Syrjala et al. 1992, 1995), Zwei eigene randomisierte, prospektive Therapie-
8 ▬ Fragen der akuten und der Langzeitrehabilita- vergleichsstudien mit N = 63 und N = 36 Patienten
tion und schließlich Langzeitfolgen dieser Be- in Hamburg und Kiel replizieren diese Befunde
handlung auf die Lebensqualität (Weis et al. 1998; zum Teil und ergänzen sie um Hinweise auf eine
Ahles et al. 1996; Smith, Redd u. Peyser 1999). differenzielle Indikation für aktive und rezeptive
musiktherapeutische Interventionen in der Akut-
Viele dieser Arbeiten konzentrieren sich auf Pro- phase (Hasenbring et al. 1999). Eine Metaanalyse
bleme, mit denen KMT-Patienten, ihre Angehöri- der Effektivität von Entspannung und Imagination
gen, die Spender oder die Behandlungsteams un- zur Beeinflussung behandlungsbezogener Symp-
mittelbar konfrontiert werden. Zusammen mit den tome und zur Verbesserung psychischer Befind-
von den Betroffenen selbst formulierten Anliegen lichkeit belegt signifikant positive Effekte für
können so der Bedarf definiert und entsprechende Schmerz, Übelkeit, und Erbrechen, sowie für De-
Maßnahmen implementiert werden. Die zentrale pressivität, Anspannung und allgemeine Stimmung
Problematik, die alle am KMT-Prozess Beteiligten (Lübbert et al. 2001).
beschäftigt, ist dabei die Notwendigkeit einer Prädiktoranalysen unterstützen die Bedeutung
zweifachen Adaptation: An die lebensbedrohliche eines bio-psychosozialen Modells körperlicher
Grunderkrankung und gleichzeitig an die u. U. und psychosozialer Befindlichkeit in allen Pha-
ebenso bedrohliche Behandlung. sen der Behandlung (Syrjala et al. 1995; Schulz-
Im Folgenden werden Phasen der KMT kor- Kindermann et al. 2002). Neben biomedizinischen
respondierend mit den Schritten des oben vorge- Faktoren ist vor allem der KMT-spezifische Be-
stellten Implementierungsprozesses dargestellt. handlungsstress vor Aufnahme hochsignifikanter
Prädiktor für Mundschmerzen und psychische Be-
findlichkeit in der Akutphase.
8.2.1 Identifikation des Bedarfs
in der Vorbereitungs-
und der Akutphase einer Knochen- 8.2.2 Entwicklung von Behandlungs-
markstransplantation (KMT) leitlinien für die Vorbereitungs-
und Akutphase
Mehrere Autoren beschreiben die bereits vor Be-
handlungsbeginn bestehende außerordentliche Diese Ergebnisse veranlassen uns, der psycholo-
Belastung von Menschen, die eine KMT vor sich gischen Vorbereitung der Patienten an unserem
haben: Der auf die Behandlung bezogene und sich Transplantationszentrum eine noch größere Be-
8.2 · Ein neuer Common Sense in der Psychoonkologie
97 8

deutung beizumessen: Vor der Aufnahme auf die Lebensqualität massiv eingeschränkt und auch
Station werden regelhaft Entspannungs- und Ima- nach einem Jahr noch weit von dem Normalmaß
ginationsverfahren eingeübt. In diesen Vorberei- entfernt ist. Auch hinsichtlich der kognitiven Funk-
tungssitzungen werden die Behandlungsschritte tionen zeigen sich in der Selbstbeurteilung der
imaginativ vorgestellt sowie hypnotherapeutische Patienten deutliche Einschränkungen. Einige Ar-
Schmerzbeeinflussungstechniken erprobt. Das so- beiten belegen im Querschnittsdesign, dass neuro-
ziale Umfeld der Patienten und insbesondere der psychologische Spätfolgen, insbesondere bei den
»ständige Begleiter« während der Akutphase wer- ganzkörperbestrahlten Patienten, zu beobachten
den aktiv einbezogen. Gemeinsam mit einem sind. Van Dam et al. (1998) beobachteten eine sig-
EU-Projekt zur Beratung der Kinder körperlich nifikante Erhöhung neurotoxischer Effekte von
kranker Eltern (Children of Somatically Ill Parents Hochdosis- gegenüber Standardchemotherapie bei
– »COSIP«) wird zudem ein Beratungs- und Beglei- Brustkrebspatientinnen in adjuvanter Behandlung.
tungsangebot für die minderjährigen Kinder der Bemerkenswert sind hier die wiederholt beschrie-
Patienten etabliert und evaluiert. Ebenfalls vor Be- benen fehlenden bzw. negativen Korrelationen
ginn der eigentlichen Akutphase erfolgt eine um- zwischen »objektiv« belegten kognitiven Proble-
fassende Sozialberatung mit Einleitung ggf. not- men bei fehlender subjektiver Entsprechung und
wendiger Maßnahmen. In einem Patientenseminar, andererseits der subjektiven Einschätzung derarti-
das von allen an der Behandlung beteiligten Team- ger Defizite bei fehlender Objektivierungsmöglich-
mitgliedern gestaltet wird, werden die Behand- keit (Schagen et al. 2002). Im Bereich der KMT ha-
lungsphasen und Unterstützungsmöglichkeiten ben wir es, wie häufig im psychoonkologischen
detailliert vorgestellt; ehemalige Patienten berich- Bereich, mit einer multifaktoriellen Bedingtheit
ten hier über ihren Weg durch die KMT. Die Kon- inklusive kognitiver, emotionaler und körperlicher
taktaufnahme zu ehemaligen Patienten wird aktiv Faktoren zu tun. Unsere Erhebung der Fälle klini-
gefördert und Selbsthilfeangebote an die KMT- scher Depression, gemessen mit dem Beck-Depres-
Kandidaten herangetragen. sions-Inventar (BDI), zeigt, dass der weitaus größte
Während der Akutphase werden allen Patien- Teil der Patienten diesbezüglich nicht betroffen ist.
ten edukative, übende und supportive Interventio- Andererseits zeigt sich im Verlauf, dass die Ge-
nen angeboten, mit fester Vereinbarung von bis zu samtzahl der von Depressionen Betroffenen doch
4 psychotherapeutischen Kontakten pro Woche. In auf über 40% steigt, davon in der Entlassungsphase
dieser Zeit werden die vor Aufnahme trainierten der Akutbehandlung fast 20% mit deutlichen bis
Schmerz- und Befindlichkeitsmodifikationen wei- schweren Depressionen. Als Prädiktoren für das
ter ausgebaut und angewendet. Ausmaß der Depressivität fanden wir – neben der
»Depression bei Aufnahme« und weiblichem Ge-
schlecht – als dritten signifikanten Prädiktor man-
8.2.3 Identifikation des Bedarfs gelnde soziale Unterstützung; mit diesen drei Fak-
in der Nachsorgephase toren konnten über 60% der Depressionsvarianz
im BDI aufgeklärt werden.
Die Nachsorgephase ist in der KMT teilweise ex- Ein anderes wichtiges Problem, das in letzter
trem prolongiert. Der Aufbau des neuen Immun- Zeit zunehmend Beachtung in der Psychoonkolo-
systems nimmt bis zu zwei Jahre in Anspruch, so- gie und auch in der KMT findet, ist das Auftreten
dass die Patienten in dieser Zeit sehr infektanfällig posttraumatischer Belastungsstörungen (PTSD),
sind. Monate und z. T. Jahre nach Behandlungsende auch lange Zeit nach einer KMT, bei einem Pro-
klagt ein Teil der KMT-Patienten über substanziel- zentsatz von bis zu 19% der KMT-Patienten. So hat-
le Einschränkungen der Lebensqualität, insbeson- ten von den 111 von Smith, Redd u. DuHamel (1999)
dere über Konzentrationsschwierigkeiten (Ahles et untersuchten KMT-Patienten, die durchschnittlich
al. 1996). Unsere eigenen Ergebnisse zur Lebens- 4 Jahre nach dem Eingriff befragt wurden, 13% eine
qualität, gemessen mit dem EORTC-Quality-of- aktuell bestehende posttraumatische Belastungs-
Life-Questionnaire, zeigen, dass z. B. die globale störung. Andrykowski et al. (1998) ermittelten als
98 Kapitel 8 · Psychoonkologie – auf dem Weg zu einem neuen Common Sense?

signifikante Prädiktoren für eine PTSD nach einer Bezogen auf die Nachsorge von PTSD-Betroffe-
KMT neben dem Abstand zum Behandlungsende nen steht zunächst die frühzeitige Identifikation
und geringerer sozialer Unterstützung vor allem von Vulnerabilitäten für die Entwicklung von Be-
die Häufigkeit bereits vor der Krebsdiagnose auf- lastungsstörungen im Vordergrund. Dies impliziert
getretener traumatischer Ereignisse. die genaue Analyse prämorbid sowie im bisherigen
In einem eigenen Ansatz wollen wir in Ham- Behandlungsverlauf aufgetretener schwerer Belas-
burg alle 600 überlebenden transplantierten Pa- tungen und deren mehr oder weniger geglückte
tienten auf das Vorliegen einer PTSD hin unter- Verarbeitung. Bereits in der Prä-Transplantations-
suchen und die Prävalenz PTSD-assoziierter und phase können einschneidende und möglicherweise
anderer psychischer Symptome bestimmen. We- traumaassoziierte Erlebnisse, wie schwere Schmerz-
sentlich erscheint ferner die Evaluation biomedi- episoden oder Befundmitteilungen, angesprochen
zinischer und soziodemographischer Prädiktoren. und bearbeitet werden. Schließlich können indi-
Schließlich soll eine qualitative Analyse biographi- viduelle psychotherapeutische Angebote für PTSD-
scher Typen über Interviews realisiert werden, um Patienten nach einer KMT, etwa im Sinne des kog-
erste explorative Hinweise auf weitere aufklärende nitiv-behavioralen Programmes der Gruppe um
Faktoren dafür zu finden, dass einige Patienten ein Bill Redd und Katherine DuHamel an der Mont-
derart schweres Störungsbild entwickeln, der weit- Sinai Medical School in New York, zur Anwendung
8 aus größte Teil – trotz »objektiv« gleicher Behand- kommen (DuHamel 2000).
lungsbedingungen – jedoch nicht.

8.3 Zusammenfassung
8.2.4 Entwicklung von Behandlungs-
leitlinien für die Nachsorge Diese kurze Konzentration auf einen möglichen
neuen Common Sense in der Psychoonkologie
Zunächst unterstreichen einige der Befunde aus der skizzierte eine Entwicklung von einer an vorherr-
Nachsorgephase, dass, ebenso wie für die Akutpha- schenden psychologischen Theorien und Trends
se der Behandlung, auch hier präventiven Maßnah- orientierten Disziplin hin zu einem Fach, das sich
men eine große Bedeutung beizumessen ist: Posi- rigorosen Forschungs- und Praxismethoden stellt.
tive soziale Unterstützung kann eine wichtige Puf- Krebspatienten in verschiedenen Settings, wie Be-
ferfunktion bezüglich der Entwicklung depressiver ratungsstellen, Akut- oder Rehabilitationskliniken,
Stimmungszustände haben (Ramm 2002). Für das profitieren von einem schulenübergreifenden psy-
psychosoziale Behandlungsprogramm bedeutet chotherapeutischen Ansatz. Verfahren aus der Ver-
dies, von Anfang an nicht nur die Patienten selbst, haltenstherapie wurden ebenso in die Versorgung
sondern auch deren Begleiter, einschließlich deren integriert, wie humanistische oder psychodynami-
sozialer Hintergründe, im Blick zu haben. Bei einer sche Ansätze. Eine evaluierte psychoonkologische
mehrmonatigen, nicht selten mehrjährigen, Be- Praxis kann sich aber nicht auf die sinnvolle An-
handlungszeit kann es zu Burnout-Symptomatik wendung etablierter Verfahren beschränken. Psy-
bei den Unterstützern kommen; dies möglicherwei- choonkologische Forschung wiederum kann nicht
se gerade in einer Phase, in der auch den Patienten nur in der Rekapitulation aktueller klinisch-psy-
»die Luft ausgeht« und sie auf externe Motivierung chologischer Anregungen bestehen. Ausgangspunkt
angewiesen sind (Schulz-Kindermann 2001). für sinnvolle psychoonkologische Fragestellungen
Hinsichtlich der Etablierung von Behandlungs- und einen neuen Common Sense in diesem Fach
leitlinien etablieren wir bezogen auf die Nachsor- sollte vielmehr die Identifikation des Bedarfs im
ge von neurotoxischen Effekten ein an die KMT- klinischen Setting sein.
Ambulanz angegliedertes neuropsychologisches Für einen Bereich »objektiv« extremer Belas-
Screening; ggf. werden Patienten an geeignete neu- tungen, die bei den Betroffenen in nicht wenigen
ropsychologische Rehabilitationseinrichtungen im Fällen zeitlebens anhalten können, konnte gezeigt
ambulanten und stationären Sektor überwiesen. werden, dass empirische Beobachtungen diese Be-
Literatur
99 8

lastungen für alle Behandlungsphasen – Vorberei- DuHamel, K. (2000). Trauma-focused intervention after bone
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9

Transplantationspsychologie
K.-H. Schulz, U. Koch

9.1 Der Spender – 103


9.1.1 Organspendebereitschaft – 103
9.1.2 Lebendspende – 106

9.2 Der Empfänger – 108


9.2.1 Prä-, peri- und postoperative psychosoziale Probleme – 108
9.2.2 Lebensqualitätsstudien – 108
9.2.3 Risikogruppen – 112
9.2.4 Compliance – 112
9.2.5 Berufliche Reintegration – 113

9.3 Ausblick – 114

Literatur – 114
102 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

 Neben Herz, Leber und Niere werden heute


eine Reihe weiterer Organe und Gewebe transplan-
Der Begriff »Transplantationspsychologie« bezeich- tiert – außer den angeführten Organen die Lunge,
net das Spektrum der im Zusammenhang mit die Bauchspeicheldrüse und die Nebenschilddrüse,
chirurgischen Organtransplantationen auftreten- weiterhin Gewebe wie die Augenhornhaut, Gelen-
den psychologischen Fragestellungen, verwende- ke, Knochen, Knorpel, Haut und Blutgefäße sowie
ten psychologischen Methoden (wissenschaftliche, – bisher experimentell – Extremitäten. Die Über-
diagnostische und interventionelle) sowie erarbei- tragung von Blut, Zell- und Plasmafraktionen sowie
teten psychologischen Erkenntnisse. Fragestellun- von Knochenmark gehört außerdem in das Spek-
gen ergeben sich hinsichtlich der Organbereitstel- trum transplantationsmedizinischer Therapien. Die-
lung und -allokation, im Rahmen der präoperativen ses Kapitel befasst sich jedoch nur mit den psycho-
Evaluation, Diagnostik und Betreuung, der Proble- logischen Aspekten von Organtransplantationen.
me der perioperativen Phase (z. B. der Intensivme- Bis 2003 sind in Deutschland 70.463 Trans-
dizin) sowie des postoperativen Verlaufs. plantationen durchgeführt worden (alle statisti-
Die Idee, pathologisch veränderte Organe schen Angaben zur Organspende und Transplan-
durch funktionsfähige zu ersetzen, ist keinesfalls tation  vgl. Deutsche Stiftung Organtransplanta-
erst im 20. Jahrhundert entstanden. Im Gegenteil, tion, www.dso.de). Mit einer Häufigkeit von 48.927
der Gedanke einer Transplantation von Organen, nimmt die Nierentransplantation (NTX) den weit-
Geweben oder Gliedmaßen geht weit in die Ge- aus größten Teil ein, gefolgt von der Lebertrans-
schichte der Menschheit zurück. Indische Chirurgen plantation (LTX, 10.090), der Herz- (HTX, 7.865), der
9 berichten bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. in einem Pankreas- (1.932) und der Lungentransplantation
Hindutext über Techniken der nasalen Rekonstruk- (1.649). Im Jahr 2003 wurden in Deutschland ins-
tion durch autologe Hautlappen, welche den heu- gesamt 4.175 Transplantationen durchgeführt,
tigen Methoden der plastischen Chirurgie ähneln. darunter 2.516 NTX, 855 LTX, 393 HTX, 212 Lungen-
Im zweiten Jahrhundert wird das Konzept des the- und 191 Pankreastransplantationen. Der Bedarf an
rapeutischen Organersatzes das erste Mal in alten Transplantationen wird für die angeführten Organe
chinesischen Texten beschrieben. Die Legende von pro Jahr insgesamt auf mindestens die doppelte
Kosmas und Damian aus dem 3. Jahrhundert be- Anzahl geschätzt, bei zunehmend steigenden Pa-
richtet, wie die beiden arabischen Ärzte ein gangrä- tientenzahlen auf den Wartelisten. So warteten im
nöses Bein eines Adligen amputierten und durch Jahre 2003 ca. 10.000 Patienten auf eine NTX. Die
das gesunde Bein eines am gleichen Tag gestorbe- postoperativen Überlebensquoten liegen nach ei-
nen schwarzen Gladiators ersetzten. nem Jahr bei den Organen Herz, Niere, Leber und
Seit 1872 wurden die ersten erfolgreichen Pankreas über 80%, die Fünfjahresquoten etwa bei
Cornea-Transplantationen durchgeführt, ab 1925 60–70%. Je nach Transplantationszentrum, zugrun-
gehörte diese Methode schon zu den anerkannten de liegender Erkrankung und Grad der medizini-
Therapien. Die Phase der experimentellen Organ- schen Dringlichkeit, ob z. B. eine Transplantation
transplantation begann zu Anfang dieses Jahrhun- elektiv oder als Notfall durchgeführt wurde, fallen
derts, als Ullmann 1902 in Wien Nieren bei Hunden die Erfolgsquoten, bemessen an der Überlebens-
übertrug. Neben Abstoßungsreaktionen kam es je- zeit, nach einem und fünf Jahren noch deutlich bes-
doch in diesen experimentellen Operationen an ser aus und liegen bei bis zu 90%.
den Gefäßnähten ständig zu Thrombosen. Die Wei- Heute besteht das Haupthindernis für die
terentwicklung medizinisch-chirurgischer Techni- Durchführung von Transplantationen meistens
ken – wie z. B. die Entdeckung der Blutgruppen, die nicht mehr in deren technischer Realisierung, der
Technik der Gefäßanastomose und die Immunsup- chirurgischen Mortalität oder der Abstoßungs-
pression – verhalfen der Transplantationsmedizin problematik, sondern in der begrenzten Anzahl von
im letzten Drittel des 20 Jahrhunderts schließlich Spenderorganen im Verhältnis zur Anzahl der Pa-
zum Durchbruch. tienten, denen durch eine Transplantation geholfen
▼ ▼
9.1 · Der Spender
103 9

werden könnte. Die Morbidität und Mortalität nach Fall wird weiter unterteilt, je nachdem, ob eine Do-
Transplantation ist zudem oft eine Folge der zu lan- kumentation oder Kenntnis des Willens des Ver-
gen Wartezeit und der konsekutiven Multimorbidi- storbenen vorliegt oder nicht. Im Folgenden soll
tät zum Zeitpunkt der Transplantation. Am ehesten diese Einteilung übernommen werden.
repräsentieren die Wartelisten für die NTX die Diver-
genz zwischen Wartenden und durchgeführten Die individuelle Entscheidung
Transplantationen, da hier die Möglichkeit der Dia- zur Organspende
lyse gegeben ist. Bei der Lebertransplantation sind Bezüglich der individuellen Entscheidung stellen
Sterberaten von 15% auf der Warteliste keine Aus- die persönlichen Überzeugungen (religiöse und
nahme (Eurotransplant Annual Report 1998). kulturelle Aspekte, Wissen, Altruismus und Nor-
Im Folgenden werden transplantationspsy- men) die Basis für die Einstellung dar. Diese Über-
chologische Probleme und Ergebnisse zunächst in zeugungen enthalten wahrgenommene Vorteile
Bezug auf die Spenderproblematik dargestellt (z. B. anderen helfen), Nachteile (z. B. die eigene Fa-
(Organspendebereitschaft und Lebendspende) milie belasten oder verärgern) und Konsequenzen
und daran anschließend die Empfängerseite näher (z. B. Auseinandersetzung mit der eigenen Sterb-
beleuchtet. lichkeit) der Entscheidung, Organspender zu wer-
den. Hierbei gibt es in jedem Bereich förderliche
und negative Einflüsse.

9.1 Der Spender Wissen. In einer Studie an insgesamt 481 Studenten


sowie einer Zufallsstichprobe von 465 Einwohnern
9.1.1 Organspendebereitschaft einer Kleinstadt untersuchten Horton und Horton
(1990) den Zusammenhang von transplantations-
In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 800.000 spezifischem Wissen und der Einstellung zur Or-
Menschen. Davon sind ca. 40.000 (5%) als poten- ganspende. Sie fanden zwar einen hohen Grad an
tielle Organspender zu betrachten (Organe nicht Informiertheit bezüglich des Mangels an Organen
pathogen verändert, Blutkreislauf erhalten). Davon sowie der Effektivität von Transplantationen und
machen traumatisch bedingte Todesursachen we- der Notwendigkeit einer Zustimmung durch den
niger als 30% aus. Der Anteil der über 65-jährigen Verstorbenen oder seine Angehörigen, allerdings
Spender beträgt heute ca. 16%, der 55–64-jährigen offenbarten sich in anderen Bereichen deutliche
20%. Im Jahre 2001 wurden von den Krankenhäu- Wissenslücken. Dazu gehörten »falsche« Überzeu-
sern von den 40.000 potentiellen Organspendern gungen, wie Ablehnung der Organspende durch
nur 5% (1996 Patienten) auch gemeldet. 54% dieser Religionen (obwohl die christlichen Religionen
Organspenden konnten realisiert werden. Annä- ebenso wie Hinduismus, Buddhismus, Islam und
hernd 40% davon kamen aufgrund der Ablehnung der jüdische Glauben offiziell die Organspende als
der Organentnahme durch die Angehörigen der Akt der Nächstenliebe befürworten), Unkenntnis
Verstorbenen nicht zustande. des Hirntodkonzeptes (ca. 80% gaben an, bei einem
Welche Beweggründe sprechen für oder gegen potentiellen Spender müsse Kreislaufversagen vor-
die Entscheidung, Organspender zu werden bzw. liegen) sowie Unsicherheit bezüglich des Spende-
die Organentnahme bei einem Angehörigen frei- ausweises (73% glaubten, dieser sei nur bei einer
zugeben? Radecki und Jaccard (1997) unterschei- offiziellen Registrierung durch das Gesundheits-
den zwei verschiedene Typen der Entscheidung zur ministerium gültig). Ein insgesamt gutes Wissen
Spende: Zum einen nennen sie die persönliche Ent- war signifikant mit einer positiven Einstellung,
scheidung (»individual decision«), nach dem eige- dem Besitz eines Spendeausweises sowie der Be-
nen Tode seine Organe zur Spende freizugeben. Ein reitschaft, die eigenen Organe sowie die Organe
davon unterschiedlicher Prozess läuft bei der Zu- naher Angehöriger zu spenden, korreliert. Wissens-
stimmung der Angehörigen (»consent decision«) lücken in den drei genannten Bereichen (religiöse
zur Organspende des Verstorbenen ab. Im letzteren Überzeugungen, Hirntodkonzept, Spendeausweis)
104 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

hingegen hatten einen signifikant negativen Ein- und Qualität der Argumente. Im Gegensatz dazu
fluss. nehmen Personen, die nur eine geringe Involviert-
Ängste bezüglich der Transplantation wurden heit aufweisen, Informationen »peripher« wahr. Sie
in vielen Studien nachgewiesen (Gold et al. 2001): achten weniger auf den Inhalt einer Information
So finden sich die Befürchtungen, Organe würden als auf »periphere« Reize, wie Attraktivität des
vor dem eigentlichen Tod entnommen, der Tod »Senders« u. ä. Diese Art der Informationsverar-
werde voreilig erklärt, lebenserhaltende Maschi- beitung wird mit weniger persistenten Einstellun-
nen blieben unnötig lange angeschaltet, der Körper gen in Zusammenhang gebracht und sagt zukünf-
würde durch die Organentnahme stark entstellt, tiges Verhalten nicht vorher.
der Verstorbene könne bei der Organentnahme Die Bedeutung der Involviertheit in das Thema
Schmerzen erleiden, es sei möglich, sich vom Hirn- zeigt sich auch in der 1999 durch die Bundeszentra-
tod zu erholen, als potentieller Spender erhielte le für gesundheitliche Aufklärung in Auftrag gege-
man keine optimale intensivmedizinische Versor- bene Umfrage (Forsa 1999). Mit steigender Aus-
gung. einandersetzung mit dem Thema stieg der Pro-
Peters et al. (1996) untersuchten in einer quali- zentsatz positiv eingestellter Personen, während
tativen Studie in den USA Unterschiede zwischen der Anteil negativ eingestellter sank. Auch der An-
Personen, die sich auf die Frage »Sind Sie Organ- teil Unentschiedener war bei den stark Involvierten
spender?« positiv äußerten (»donors«) und Perso- um ein Vielfaches kleiner als bei denjenigen, die
nen, die diese Frage verneinten (»non-donors«). sich bislang kaum mit dem Thema auseinander-
Dazu wurden Gruppendiskussionen durchgeführt gesetzt hatten. Diese Phänomene sind sowohl bei
9 und diese später geratet (insgesamt 51 »donors« der aktiven (»Ich bin mit der Organentnahme nach
und 51 gematchte »non-donors«). In den Non-do- meinem Tod einverstanden«) als auch bei der
nor-Gruppen zeigten sich ein starkes Misstrauen passiven Akzeptanz (»Ich stehe der Organspende
gegenüber der Transplantationsmedizin, speziell generell positiv gegenüber«) der Organspende zu
bezüglich der Gerechtigkeit der Organverteilung, beobachten.
sowie Zweifel am Nutzen der Transplantation für Cacioppo und Gardener (1993) weisen darauf
den Empfänger. Des Weiteren akzeptierten die hin, dass die Einstellung zur Organspende kein ein-
»non-donors« weniger das Hirntodkonzept. Beide dimensionales Konstrukt, sondern vielmehr durch
Gruppen hingegen lehnten finanzielle Spendenan- die Interaktion zweier voneinander unabhängiger
reize für die Hinterbliebenen sowie eine Wider- Dimensionen bedingt ist. Auf der einen Seite steht
spruchlösung ab und wünschten sich mehr Infor- die sog. »Prodonation«, die im Wesentlichen durch
mationen zum Thema. Falsche Einschätzungen persönliche Zufriedenheit, Glauben an den hu-
sind nicht nur negativ mit einer zustimmenden manitären Nutzen der Organspende sowie durch
Haltung zur Organspende korreliert (z. B. Peters Gefühle von Stolz, ein Spender zu sein, geprägt
et al. 1996; Horton u. Horton 1990), in anderen Stu- werden. Im Gegensatz dazu wird die negative Di-
dien konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass mension (»Antidonation«) bestimmt durch ver-
eine Verbesserung des Wissens zu einer positiveren schiedene Ängste. In Befragungen bildet man
Einstellung führen kann (Schulz et al. 2000). meistens nur den Aspekt der Prodonation ab. Eine
Bei der Bildung der Einstellung zur Organspen- Handlung in Richtung Organspende (z. B. Besor-
de spielt auch die Stärke der Auseinandersetzung gen und Unterschreiben des Ausweises) setzt aller-
mit dem Thema (»Involviertheit«, Skumanich u. dings nicht nur eine hohe Ausprägung der Dimen-
Kintsfather 1996) eine wesentliche Rolle. Je nach sion »Prodonation«, sondern auch eine geringe
Grad der Involviertheit wird eine eingehende In- »Antidonation« voraus. Es konnte gezeigt werden,
formation mehr oder weniger stark kognitiv elabo- dass im Falle einer starken Ausprägung auf beiden
riert (d. h. verarbeitet und ausgewertet). Stark in Dimensionen die negative Dimension den Aus-
das Thema involvierte Personen achten bei der schlag gibt (Parisi u. Katz 1986).
Verarbeitung einer themenrelevanten Information Darüber hinaus besteht eine große Unsicher-
auf zentrale Aspekte der Nachricht, wie z. B. Inhalt heit darüber, wie der Ausweis zu beziehen ist und
9.1 · Der Spender
105 9

ausgefüllt werden soll (Forsa, 1999). 58% der Be- oder negativ verbunden sein. Eine wichtige me-
fragten gaben an, nicht zu wissen, wo und wie man diierende Rolle spielt der Grad der Involviertheit in
einen Spendeausweis beziehen kann. Wie effektiv das Thema. Eine im Resultat positive Einstellung
die freie Verteilung von Spendeausweisen sein zur Organspende bildet sich allerdings nur in dem
kann, zeigt die Studie von Sanner et al. (1995): Al- Fall, wenn eine stark ausgeprägte »Prodonation«
lein durch die Versendung von Spendeausweisen vorliegt, während die »Antidonation« gering aus-
konnte in einer Region in Schweden die Zahl der geprägt ist. Eine hohe »Antidonation« hingegen
Träger eines Ausweises um nahezu das Dreifache hemmt die Ausbildung einer positiven Einstellung
gesteigert werden; ein Effekt, der auch durch eine (gestrichelter Pfeil). Ob die Einstellung letztendlich
zusätzliche öffentliche Kampagne nicht wesentlich auch in ein entsprechendes Verhalten umgesetzt
erhöht werden konnte. wird, hängt von der Umsetzbarkeit der Entschei-
Als Beweggründe für die Organspende werden dung ab.
angegeben:
▬ die persönliche Erfahrung mit dem Thema Or- Zustimmung der nächsten Angehörigen
ganspende durch einen Freund oder Familien- zur Spende
angehörigen, der transplantiert wurde, Zur Praxis in Deutschland und anderen Ländern
▬ eine altruistische Grundhaltung, ein Interesse, gehört es, dass die Angehörigen eines potentiellen
anderen Gutes zu tun bzw. etwas Gutes für die Organspenders immer um ihre Zustimmung zur
Menschheit zu tun, Entnahme gebeten werden, unabhängig davon, ob
▬ eine positive Berichterstattungen der Medien ein Spendeausweis vorliegt.
oder Vorträge, Grundsätzlich lassen sich zwei Szenarien für
▬ die Vorstellung, durch die Organspende nach die Entscheidung der Angehörigen unterscheiden:
dem Tod weiter zu leben. a) der Wunsch des Verstorbenen ist bekannt,
b) der Wunsch ist nicht bekannt.
Entwicklung eines integrierten Modells
⊡ Abbildung 9.1 veranschaulicht ein integriertes In diesen Situationen spielen unterschiedliche Fak-
Modell aus den oben vorgestellten theoretischen toren bei der Entscheidung der Angehörigen eine
Ansätzen zur Organspendebereitschaft (indivi- Rolle.
duelle Entscheidung). Während ein hohes Maß an Ist die Einstellung des Verstorbenen bekannt,
Altruismus und transplantationsspezifischem Wis- so wird die Entscheidung der Angehörigen in den
sen positiv mit hohen Ausprägungen der »Prodo- meisten Fällen von dieser Vorgabe bestimmt. Wei-
nation« assoziiert ist, führen Fehleinschätzungen terhin spielen die Zufriedenheit mit der emotiona-
und Ängste zu verstärkter »Antidonation«. Kultu- len Unterstützung und medizinischen Arbeit des
relle oder religiöse Überzeugungen können je nach Intensivpersonals, die Verarbeitung des Todes des
ihrem Inhalt mit den beiden Dimensionen positiv Angehörigen (»death coping«) und die Fähigkeit,

⊡ Abb. 9.1. Modell der individuellen Einstellung zur Organspende und deren Umsetzung
106 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

in dieser Situation eine Entscheidung zu treffen, fellos trägt der Spender bei dieser Operation keinen
eine Rolle. körperlich-gesundheitlichen Vorteil davon, son-
Für den Fall, dass den Familienmitgliedern der dern er gefährdet seine Gesundheit für das Leben
Wunsch des Verstorbenen unbekannt ist, wirken des Empfängers. So liegt in der Gefährdung eines
eine Reihe weiterer Faktoren auf die Entscheidung gesunden Spenders mit dem Ziel der Verbesserung
ein. Neben den eigenen Überzeugungen und Wer- der Lebensqualität des Empfängers ein ethisches
ten (analog zum Modell der individuellen Ent- Problem der Lebendspende; dabei stimmen Be-
scheidung: Ängste, religiöse und kulturelle Aspek- fürworter und Gegner darin überein, dass das
te, Wissen, Altruismus und Normen) kommen hier Risiko, an den Komplikationen der Operationen
weitere drei Aspekte hinzu. Zum einen versucht zu versterben, und sei es noch so gering, bei je-
die Familie, anhand zugeschriebener Einstellun- der Lebendspende grundsätzlich gegeben und zu
gen den Wunsch des Verstorbenen nachzuempfin- bedenken ist. Der Aufklärung über die Risiken
den. Dies geschieht aufgrund von Informationen der Operation wird daher eine besondere Bedeu-
bezüglich der religiösen Zugehörigkeit des Verstor- tung zugemessen. Ein weiteres Problem der Le-
benen oder seiner Einstellung zur Medizin sowie bendspende stellt die Beurteilung der Freiwillig-
seiner angenommenen Bereitschaft, anderen zu keit dar.
helfen. Von Bedeutung sind weiterhin Einstellun- Singer et al. (1989) geben drei Faktoren an, die
gen der Angehörigen gegenüber der Medizin. Dazu die freiwillige Entscheidungsfindung des Spenders
gehören die Erfahrungen mit dem Intensivperso- einschränken können:
nal während der medizinischen Behandlung sowie ▬ Der Spender kann sich gezwungen fühlen zu
9 das Verständnis der Zusammenhänge, die mit spenden, weil der Empfänger andernfalls ster-
der Organentnahme und dem Hirntodkonzept zu ben würde. Ein Verpflichtungsgefühl kann –
tun haben. Die von der Familie wahrgenommene insbesondere im Falle von Eltern, die für ihr
emotionale Unterstützung fließt ebenfalls mit ein. Kind spenden – schwer von einem Zwang un-
Ebenso wie bei einer Entscheidung mit Kenntnis terschieden werden. Eigler (1997, S. 1395) betont
des Willens des Verstorbenen spielen auch hier in- jedoch, »… dass gerade in dieser Konstellation
dividuelle Unterschiede eine Rolle. Je nachdem, wie ein natürliches Verhalten zu sehen und die da-
gut die Angehörigen die Todesnachricht und ihre bei begrenzte Freiwilligkeit unter den besonde-
Trauer bewältigen können (»death coping«) und ren Umständen auch zu akzeptieren ist«.
wie weit sie in dieser schweren Situation in der ▬ Der zweite Faktor, der die Entscheidung des
Lage sind, eine Entscheidung zu treffen (»decision Spenders beeinflussen kann, ist der äußere
coping«), wird die Zustimmung zur Organspende Druck, der durch die Familie und das medizini-
mehr oder weniger wahrscheinlich gegeben (Gold sche Personal auf den Spender einwirkt.
et al. 2001). ▬ Drittens beeinflusst die Dringlichkeit der Situa-
tion bezüglich des Gesundheitszustandes des
Empfängers die Entscheidungsfindung. Die
9.1.2 Lebendspende Autoren gehen davon aus, dass durch die Aus-
wahl von Empfängern, deren gesundheitlicher
Der Anteil der Lebendspenden an den durchge- Zustand keine sofortige Operation verlangt,
führten NTX und LTX steigt seit Mitte der 90er und durch eine zweiwöchige Frist, in welcher
Jahre in Deutschland stetig an. Betrug der Anteil an der Spender seinen Entschluss überdenken
Lebendspenden der Niere 1995 noch 3,9%, so lag er und ändern kann, dieser Druck reduziert
2001 bei 16,3%. Ähnliches gilt für die Teilleber- wird.
Lebendspende: 1995: 1,5%; 2001: 12,5% der durch-
geführten LTX. Ist der potentielle Spender zu einer Lebendspende
Die Durchführung einer Lebendspende wider- bereit, werden alle nötigen medizinischen Unter-
spricht der Motivation des Arztes, den gesundheit- suchungen und eine psychologische Evaluation
lichen Interessen seines Patienten zu dienen. Zwei- durchgeführt. Nur ca. 20–30% der evaluierten Le-
9.1 · Der Spender
107 9

bendspender werden schließlich operiert. Aus ▬ In dem moralischen Entscheidungsmodell


psychosozialen Gründen werden dabei 10% der wird sich der potentielle Spender zuerst der
Spender ausgeschlossen. Ausschlussgründe sind Auswirkungen seiner Handlungsweise auf die
▬ zu starke präoperative Angst/starke Ambiva- Befindlichkeit des potentiellen Empfängers
lenz, bewusst. In einer zweiten Stufe schreibt er sich
▬ zu erwartende schwerwiegende berufliche oder selbst Verantwortung dafür zu, um schließlich
finanzielle Probleme nach der Lebendspende, Rollenverpflichtung anzunehmen oder abzu-
▬ Zweifel an der Freiwilligkeit der Einverständ- lehnen.
niserklärung, ▬ Im Modell der schrittweisen Entscheidung
▬ instabile Beziehungen/Zweifel an »persönlicher wird zuerst das Problem identifiziert, dann
Nähe«, tritt eine Wartezeit ein mit der Erwartung, die
▬ psychiatrische Auffälligkeiten/Sucht/psychi- Angelegenheit werde sich von selbst lösen. In
sche Instabilität, einem dritten Schritt wird dann eine Entschei-
▬ finanzielle Abhängigkeit. dung in der Erkenntnis getroffen, dass eine
Entscheidungsfindung nicht aufschiebbar ist.
Grundlage der Beurteilung eines Lebendspenders In den meisten Fällen erfolgt die Entscheidung
bildet dabei ein psychodiagnostisches Interview, des Spenders nach dem moralischen Modell.
welches folgende Themenbereiche abdeckt:
▬ Berufliche Situation/ökonomische Abhängig- Simmons und Klein (1972) beschreiben Entschei-
keit, dungsfindungsprozesse in der Familie. Familien-
▬ Kognitive Voraussetzungen/Informiertheit mitglieder wegen einer Lebendspende anzuspre-
(Erkrankung des Empfängers, Risiken/Kompli- chen oder dem Empfänger eine ablehnende Ent-
kationen der Operation, eigene Krankheitsge- scheidung mitzuteilen, nachdem man gefragt wurde,
schichte), wird als besonders schwierig empfunden. Die
▬ Entscheidungsprozess/Freiwilligkeit, leichteste Entscheidungssituation ist die Spende
▬ Beziehung zum Spender/Emotionale Verbun- von Eltern für ihre Kinder. Die Entscheidungsfin-
denheit, dung wird komplizierter, wenn andere Verwandte
▬ Familiensituation/Soziale Unterstützung, als Spender in Betracht gezogen werden. Dabei
▬ Erwartungen, insbes. Dankbarkeitserwartun- kann es zu Loyalitätskonflikten zwischen der ak-
gen, tuellen und der Ursprungsfamilie kommen.
▬ Schuldgefühle, Als emotionale Reaktionen des Spenders auf
▬ Entschiedenheit/Ambivalenz/Angst, eine gelungene Spendeoperation wurde ein gestei-
▬ psychische Belastbarkeit, Belastungsverarbei- gertes Selbstwertgefühl beschrieben. Der Spender
tung, fühlt sich durch die Gesundung des Empfängers
▬ psychiatrische Symptome und Vorerkrankun- belohnt. Es stellen sich jedoch auch depressive
gen, Reaktionen ein, besonders, wenn nach der Opera-
▬ psychologischer Betreuungsbedarf/Inanspruch- tion ein Aufmerksamkeitswechsel der Angehöri-
nahmebereitschaft. gen und des betreuenden Personals auf den Emp-
fänger geschieht. Der Spender muss sich auch mit
Entscheidungprozesse Zukunftsängsten auseinandersetzen und bedauert
Koch et al. (1997) geben einen Überblick über Ent- evtl. gar die Spende, da er über gesundheitliche
scheidungsprozesse zur Lebendorganspende: Nachteile besorgt ist. Im Falle eines adversen Ope-
▬ Nach dem rationalen Modell verläuft der Ent- rationsverlaufs beim Empfänger erhöht sich der
scheidungsprozess in mehreren Stufen, wobei Anteil depressiver Reaktionen beim Spender. Trotz-
zuerst das Problem identifiziert wird; anschlie- dem würden 95% der Spender wieder spenden.
ßend werden relevante Informationen gesam- Als emotionale Reaktionen beim Empfänger
melt und Handlungsalternativen erstellt, und treten Schuldgefühle gegenüber dem Spender und
schließlich wird eine Entscheidung gefällt. Sorge um sein Wohlergehen, Ärgergefühle gegen-
108 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

über nicht bereiten Spendern und die Auseinan- die für die meisten Patienten jedoch ebenfalls eine
dersetzung mit imaginierten oder realen »Besitzer- starke Belastung darstellt. In ⊡ Tabelle 9.1 sind der
gefühlen« seitens des Spenders auf. Es kann auch Krankheitsverlauf einer chronischen Lebererkran-
zu Beziehungsproblemen im Spender-Empfänger- kung, die dazu parallel verlaufenden psychischen
Paar kommen. Anpassungsreaktionen des Patienten und entspre-
chende medizinpsychologische Aufgaben darge-
stellt.
9.2 Der Empfänger ⊡ Abbildung 9.2 gibt eine Übersicht über den
Krankheits- und Behandlungsablauf bei Nieren-
9.2.1 Prä-, peri- und postoperative transplantationspatienten in den damit verbunde-
psychosoziale Probleme nen Behandlungsstufen und -maßnahmen, evtl.
auftretenden medizinischen Komplikationen einer-
Ebenso wie körperliche Veränderungen, bestim- seits und den psychischen Belastungen und Reak-
men auch Gefühle, Vorstellungen und soziale Ver- tionen, die diesen Verlauf begleiten, andererseits.
änderungen die Symptomatik chronischer Erkran-
kungen mit. Diese sind kein Epiphänomen oder
sekundär, sondern gehören genauso zum Krank- 9.2.2 Lebensqualitätsstudien
heitsbild, wie veränderte Blutwerte oder körper-
liche Symptome. Der Prozess der wachsenden Er- Seit den späten 80-er Jahren mit Einführung geeig-
kenntnis, chronisch krank zu sein, von den ersten neter psychometrischer Methoden wird systema-
9 Symptomen über die Diagnosestellung bis hin tisch untersucht, inwieweit Transplantationen über
zur Akzeptanz eines Lebens mit chronischer die Lebensrettung hinaus die Lebensqualität (LQ)
Krankheit, ist begleitet von tiefen emotionalen der Patienten beeinflussen. Der Begriff gesund-
Krisen. Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosig- heitsbezogene Lebensqualität bezieht sich auf das
keit, Angst, Hoffnung und Zuversicht sowie Aggres- Ausmaß, in welchem das gewohnte oder erwartete
sivität wechseln in nicht vorhersehbarer Weise und körperliche, emotionale und soziale Wohlbefinden
sind Ausdruck der graduellen Anpassung an die durch eine chronische Krankheit oder deren Be-
Erkrankung. Aktive, passive und verleugnende Be- handlung beeinträchtigt wird.
wältigungsstile werden eingesetzt, wobei die Funk- In einer Metaanalyse erfassten Bravata et al.
tionalität der Bewältigung weniger in der Wahl des (1999) 49 zwischen 1966 und 1998 publizierte Stu-
einzelnen Bewältigungsmechanismus selbst zum dien zur LQ nach LTX. Insgesamt wurde in diesen
Ausdruck kommt, als vielmehr in dem jeweils fle- 49 Studien die LQ von 3.576 lebertransplantierten
xiblen und angemessenen Einsatz. So kann Ver- Patienten im Mittel 28 Monate nach einer LTX er-
leugnung nach Eröffnung der Diagnose durchaus fasst. Die Analyse zeigte insgesamt eine deutliche
funktional sein, um sich graduell an die Situation, postoperative Zunahme der LQ. Sowohl in der
todkrank zu sein, anpassen zu können. Begleitet Fremdeinschätzung der körperlichen Funktions-
wird dieser intrapsychische Prozess von der zuneh- fähigkeit (Karnofsky-Index; ⊡ Abb. 9.3) wie auch
menden Aufgabe persönlicher Autonomie und so- hinsichtlich psychosozialer Variablen (⊡ Abb. 9.4).
zialer Rollen in Beruf und Familie. Die weit überwiegende Mehrzahl der Studien
Im Terminalstadium der chronischen Erkran- zur Transplantation von Leber, Herz, Lunge, Pank-
kung muss sich der Patient unabhängig von der reas und Niere stimmt in ihren Ergebnissen darin
Grunderkrankung und dem zu transplantierenden überein, dass durch eine Organtransplantation eine
Organ mit seiner begrenzten Lebenserwartung Ausprägung an Lebensqualität erreicht werden
und der notwendigen Transplantation auseinan- kann, die dem präoperativen Krankheitsstadium
dersetzen. Im Falle einer chronischen oder akuten überlegen ist und postoperativ häufig auf dem
Nierenerkrankung besteht – anders als im Falle Niveau der Normalbevölkerung liegt (Schulz et al.
von Leber- und Herztransplantationen – die Mög- 2002). Sowohl prospektive Längsschnittstudien
lichkeit der Lebensverlängerung durch die Dialyse, wie auch Querschnittstudien mit z. T. großen Stich-
9.2 · Der Empfänger
109 9

⊡ Tabelle 9.1. Phasentypischer Verlauf einer chronischen Lebererkrankung vor und nach der Transplantation,
Krankheitsbewältigung des Patienten und medizinpsychologische Aufgaben

Krankheitsverlauf Psychische Reaktionen und Aufgaben Medizinpsychologische Aufgaben


der Krankheitsbewältigung
Erste Symptome:
Ikterus Anpassung an die Krise supportive Therapie zur Förderung
Pruritus Versuch der Aufrechterhaltung persön- der Krankheitsverarbeitung
Schwächegefühl licher Autonomie Krisenintervention bei psychischer
Enzephalopathie Bedeutungszuschreibung (Subjektive Dekompensation
Blutungen (Ösophagusvarizen) Krankheitstheorie) Förderung der Compliance und des
Aszites Akzeptieren von veränderten Rollen Krankheitsverständnisses
Diagnose: in Beruf und Familie Beratung der Familie
chronische Lebererkrankung Setzen neuer Lebensinhalte und -ziele bei innerfamiliären Konflikten Hilfe
Leben mit chronischer Erkrankung: zur Entwicklung eines neuen Rollen-
kontinuierliche Symptome verständnisses
häufige Arztbesuche und Vermittlung von Selbsthilfegruppen
Krankenhausaufenthalte
medizinische Therapie
Präterminales Stadium:
Evaluation zur Transplantation Schockreaktion psychologische Evaluation
Warteliste Umgang mit Todesangst Hilfe beim Umgang mit Angst,
Entscheidungskonflikt Trauer und Aggressivität
präoperative Angst Unterstützung der Entscheidungs-
Hilf- und Hoffnungslosigkeit findung und der Compliance
(Aufgeben vs. Kämpfen) Familiengespräche
Ungewissheit
Transplantation
Durchgangssyndrome (Intensivstation) Bearbeitung der Durchgangs-
Angst vor Fehlfunktion und Organverlust syndrome und der Integration
Integration des neuen Organs des neuen Organs
Ermutigung bei somatischen Krisen
Postoperative Phase:
Rekonvaleszenz Rejektionsängste Bearbeitung der Ängste
Neue medizinische Therapien; Angst vor Infektionen Förderung der Compliance
Immunsuppression Compliance und der Neuanpassung
Komplikationen Neuanpassung Krisenintervention
Retransplantation bei Organversagen: supportive Therapie
 Hoffnungslosigkeit
 Depressivität
 Schuldgefühle
 erhöhte Angst vor Retransplantation
und Organversagen

proben stützen diese Aussage. Darüber hinaus er- Einschränkend muss berücksichtigt werden,
geben sich organspezifische Probleme, die Einfluss dass besonders früh-postoperativ die Patienten
auf die Lebensqualität nach einer Transplantation ihre Lebenssituation euphorisch verklärt einschät-
nehmen können: spezifische Komplikationen, die zen können und eine große Dankbarkeit gegen-
immunsuppressive Behandlung und ihre teils über dem sie behandelnden Team verspüren. Auch
unerwünschten Wirkungen, Komorbidität und der ein Kontrasteffekt in dem Sinne, dass der post-
Krankheitsverlauf vor und nach der Transplanta- operative Zustand aus Sicht des präoperativ im
tion. allgemeinen sehr schlechten Zustandes beurteilt
110 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

⊡ Abb. 9.2. Psychische Probleme im Umfeld der Nierentransplantation


9.2 · Der Empfänger
111 9

Auch Lebertransplantationen bei Kindern er-


zielen, gemessen an Kriterien der erzielten post-
operativen Lebensqualität, gute Erfolge. Was die
intellektuellen Funktionen transplantierter Kinder
angeht, so zeigt sich zwar eine postoperative Ver-
besserung, doch bleiben, abhängig von der zugrun-
de liegenden Erkrankung, ihrer Dauer und dem
Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Transplanta-
tion, auch kognitive Defizite erhalten (Schulz et al.
2003).
Mit dem Fortschreiten der Transplantations-
medizin und der Entwicklung innovativer Techni-
ken wird die Erforschung der LQ in der Transplan-
tationsmedizin eine ständige Aufgabe bleiben, um
neue Behandlungsformen in ihren Auswirkungen
⊡ Abb. 9.3. Ergebnisse einer Metaanalyse (7 Studien mit auf und durch die Patienten beurteilen zu können.
745 Patienten) zu Veränderungen der körperlichen Funktions- Ein weiteres Ziel dieses Forschungsansatzes wird es
fähigkeit nach Lebertransplantation (LTX): Fremdbeschreibung zukünftig sein, diejenigen Gruppen von Patienten
mittels des Karnofsky-Index. (Bravata et al. 1999)
zu identifizieren, die eine geringere oder keine Ver-
besserung ihrer LQ aufweisen, um medizinpsycho-
wird, könnte bei der Beantwortung der Fragen logische Interventionen zu entwickeln, die genau
zur Lebensqualität eine Rolle spielen und so zu diesen Patienten helfen können.
einer Überschätzung führen. Allerdings zeigen In einer vergleichenden Studie von transplan-
die Ergebnisse, dass auch langfristig postope- tierten Patienten (N = 245) bestimmen Whiting et
rativ die guten Resultate erhalten bleiben, was al. (1999) folgende Determinanten der LQ: Beschäf-
eher für die Validität der erhaltenen Ergebnisse tigungsstatus nach OP, Bildungsniveau, Alter, Fa-
spricht un d weniger für deren wesentliche Beein- milienstand, Dauer der postoperativen Zeit, die
flussung durch eine Wahrnehmungsverzerrung Entwicklung eines Diabetes durch die immunsup-
und durch Antworten im Sinne sozialer Erwünscht- pressive Therapie und die Intensität der Glukokor-
heit. tikoidtherapie.

Psychologische Gesundheit negative Studienergebnisse


positive Studienergebnisse
Soziale Funktionen

Körperliche Funktionen

Sexualität

Alltagsaktivitäten

Allg LQ

–10 0 10 20

Anzahl der Studien


⊡ Abb. 9.4. Ergebnisse einer Metaanalyse (49 Studien mit 3.576 Patienten) zur Lebensqualität nach Lebertransplantation:
Selbstbeschreibung. (Bravata et al. 1999)
112 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

9.2.3 Risikogruppen den kann, und die psychologischen Erhebungen


zur Rückfälligkeit stimmten hochgradig überein.
Als besondere Patientengruppe unter den Leber- Selbst unter Berücksichtigung jeglichen Kon-
transplantationspatienten können die Patienten sums liegen die Rezidivquoten nach Lebertrans-
mit einer äthyltoxischen Zirrhose angesehen wer- plantation weit unter denjenigen, wie sie z. B. nach
den. Es ist heute nach wie vor umstritten, ob diese einer stationären Entwöhnungstherapie ausfallen.
Patienten für eine Lebertransplantation in Frage Eine Metaanalyse von 44 methodisch soliden
kommen sollten, da ihnen oft ein »Selbstverschul- Studien zur Wirksamkeit der Therapie bei Alko-
den« angelastet wird (Neuberger et al. 2002). holabhängigen (Süß 1995) ergibt eine Erfolgs-
Die hepatotoxische Schädigung ist bei gleicher quote zwischen 34–48% Abstinenten (Minimal-
aufgenommener Alkoholmenge von Patient zu Pa- bzw. Maximalschätzung) in Katamnesen zwischen
tient äußerst unterschiedlich. Nur bei weniger als sechs Monaten und vier Jahren. Zusätzlich können
15% der 21–30 Jahre lang alkoholabhängigen Pa- noch zwischen 6 und 22% »Gebesserte« gewertet
tienten kommt es zur Ausbildung einer Zirrhose. werden.
Als mögliche Gründe werden eine genetische Prä- Die geringeren Rückfallquoten nach Leber-
disposition sowie Ernährungseinflüsse und Le- transplantation hängen zusammen mit einem
bensstilfaktoren angeführt. Sowohl die Prädisposi- strikten Selektionsprotokoll bei Alkoholabhängi-
tion zur Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit gen. Das Protokoll beinhaltet folgende Kriterien:
wie auch die Prädisposition, darunter eine Leber- ▬ sechs Monate lange, kontrollierte Abstinenz,
zirrhose zu entwickeln, sind also zu einem großen ▬ Überprüfung der Abstinenz durch Blutunter-
9 Teil genetisch determiniert. suchungen in zufälliger Abfolge,
In 44 Studien mit 2.194 Patienten zur Fragestel- ▬ effektive Unterstützung durch die Familie und
lung des postoperativen Verlaufs von Patienten mit ein soziales Netzwerk,
äthyltoxischer Zirrhose ergibt sich eine Rezidiv- ▬ Krankheitseinsicht und Compliance,
quote von 22%, wenn jeglicher, auch einmaliger ▬ eine hohe Veränderungsmotivation,
Konsum als Rückfall gewertet wird (Schulz 2001). ▬ Vorhandensein von Ersatzaktivitäten zum
Die Rezidivraten variieren jedoch beträchtlich zwi- Suchtverhalten,
schen den Zentren (0–95%, Md = 20%). Dies könn- ▬ Hoffnung/Zuversicht/Selbstachtung,
te eine Konsequenz der Selektion der Patienten, der ▬ negative Konsequenzen durch das soziale Um-
postoperativ eingesetzten katamnestischen Unter- feld des Patienten bei Alkoholkonsum.
suchungsmethoden sowie der Art und Qualität der
postoperativen Betreuung der Patienten sein.
Dies wird anschaulich demonstriert durch eine 9.2.4 Compliance
Studie von Berlakovich et al. (2000). Zwischen 1988
und 1998 wurden 168 Patienten mit äthyltoxischer Der Begriff Compliance bezieht sich auf die Befol-
Zirrhose in dem beschriebenen Zentrum trans- gung ärztlicher Anordnungen durch den Patienten.
plantiert. 118 dieser Patienten nahmen an der Stu- Während der paternalistische Begriff der Compli-
die teil. 34 wurden zwischen 1988 und 1993 trans- ance dem Patienten ein schuldhaftes Verhalten zu-
plantiert, als eine präoperative psychologische schreibt, beschreibt der neu eingeführte Begriff der
Evaluation noch nicht durchgeführt wurde (Grup- Concordance das »… Unvermögen von Arzt und
pe 1). Die übrigen, nach 1993 transplantierten, Pa- Patient, zu einem Einverständnis zu kommen …«
tienten wurden präoperativ psychologisch evalu- (Bunzel u. Laederach-Hofmann 2000). Dieser Be-
iert (Gruppe 2). Das mittlere Follow-up in dieser griff hat sich bisher jedoch in der Literatur nicht
Studie beträgt 53,7 Monate (s = 38,9; range = 9–179). durchsetzen können. Deshalb wird hier der Begriff
Während die Rückfallquote in der Gruppe 1 31% Compliance beibehalten.
betrug, lag die der Gruppe 2 bei 5%. Die Bestim- Im Rahmen der Transplantationspsychologie
mung eines Blutparameters, mit dessen Hilfe noch bezieht sich der Begriff auf die Medikamentenein-
14 Tage zurückliegender Konsum festgestellt wer- nahme, die Einhaltung von Ambulanzterminen,
9.2 · Der Empfänger
113 9

die Befolgung von Ratschlägen zur Lebensführung Die Wahrscheinlichkeit für Non-Compliance steigt
(Diät, Bewegung, »Genussmittel«) und auf die so- dabei mit Zunahme vorliegender Risikofaktoren
fortige Mitteilung körperlicher Störungen. Schät- an (Dew et al. 1996): Liegt sie bei 0–1 Risikofaktoren
zungen von Non-Complianceraten liegen in der noch bei 30%, so steigt sie bei 2–3 Risikofaktoren
Hypertoniebehandlung bei 50–70%, in der Psycho- auf 50% und bei mehr als 4 auf 80% an. Bei Herz-
sebehandlung bei 50–60%, bei der Behandlung des und Nierentransplantationspatienten ist ein hoher
Asthma mit Inhalationssteroiden bei 40% und Zusammenhang zwischen Compliancestörungen
selbst bei therapeutischen Maßnahmen, bei denen und Abstoßungskrisen festgestellt worden. Bei Nie-
ein hohes Eigeninteresse zu vermuten ist, wie bei rentransplantationen gelten Compliancestörungen
der Hormontherapie bei Infertilität, noch bei als eine der Hauptursachen für Organverlust. In
25%. Nach Schätzungen aus Großbritannien (Royal einer Studie zur Non-Compliance bei Nierentrans-
Pharmaceutical Society of Great Britain 1996) wer- plantierten (Rovelli et al. 1989) wurde dieser Zu-
den 30% der Gesundheitskosten durch diese hohen sammenhang eindrücklich demonstriert: 260 Nie-
Non-Complianceraten verursacht. rentransplantierte konnten in 213 Patienten, die
Bei Transplantationspatienten hat Non-Com- den Anweisungen der Ärzte nachkamen und 47,
pliance Organabstoßung, Organverlust oder gar bei denen dies nicht der Fall war, eingeteilt werden.
den Tod des Patienten zur Folge. Schätzungen der Die Abstoßungs- oder Todesrate lag in der ersten
Non-Compliance bei Transplantationspatienten Gruppe bei 18% (38 Patienten) während sie in der
liegen zwischen 20 und 50% mit der höchsten Rate zweiten Gruppe bei 91% (n = 43) lag.
bei den Nierentransplantierten (De Geest et al.
1995). Als Risikofaktoren für Non-Compliance wur-
den folgende Variablen bestimmt: 9.2.5 Berufliche Reintegration
▬ Alter
 Adoleszenz Als ein Ziel der Organtransplantation kann auch
 hohes Alter die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit durch den
▬ Ausmaß präoperativer Non-Compliance Patienten erachtet werden. In deutlichem Gegen-
 Einhaltung von Terminen satz zur guten medizinischen Rehabilitation von
 Durchführung von Untersuchungen Transplantationspatienten steht jedoch die Situa-
 präoperative Medikamenteneinnahme tion bezüglich der beruflichen Reintegration: Nur
 Alkoholkonsum 28% der nierentransplantierten Patienten im be-
 Rauchen rufsfähigen Alter gehen einer Vollzeitbeschäfti-
 Einhaltung von Diätvorschriften gung nach, weitere 10% einer Teilzeitbeschäfti-
▬ intrapsychische Variablen gung. 50% der Patienten sind vorzeitig berentet.
 hohe Ängstlichkeit Als Hauptgründe für die Nichtberufstätigkeit wer-
 Ärger/Feindseligkeit den der gegenwärtige wahrgenommene gesund-
 Verleugnung heitliche Zustand, die Unsicherheit durch mögliche
 unrealistische Erwartungen an die post- Komplikationen und das »Ausgelastetsein« durch
operative Zeit andere Tätigkeiten sowie die problematische Ar-
▬ bestehende psychosoziale Belastungen beitsmarktsituation genannt. Dabei hat sich die
▬ mangelnde soziale Unterstützung berufliche Situation durch die Transplantation nur
▬ psychiatrische Erkrankungen/Persönlichkeits- geringfügig verändert. Die genauere Betrachtung
störungen (insbes. Depression, Borderline-Stö- der Veränderungen des beruflichen Status zeigt
rung) hier, dass nach der Nierentransplantation weiter-
▬ Substanzabhängigkeit hin 31% unverändert berufstätig geblieben sind,
▬ Qualität der Arzt-Patient-Beziehung 7% sind wieder ins Berufsleben eingetreten, und
▬ Komplexität der Medikation: Art, Anzahl und gleichzeitig haben 6% nach der Nierentransplan-
Frequenz tation eine vorher ausgeübte Berufstätigkeit auf-
▬ Dauer des postoperativen Zeitraums gegeben. Beziehen die Patienten vor ihrer Trans-
114 Kapitel 9 · Transplantationspsychologie

plantation eine einer Erwerbsunfähigkeitsrente ersatz geprägt sein. Hier können ethische und auch
vergleichbare Leistung, so nehmen nach der Trans- Akzeptanz-/Tolerierungsprobleme (interaktionel-
plantation nur 16% wieder eine Berufstätigkeit auf. le und intrapsychische Probleme) die Folge sein,
Von denjenigen, welche vorher keine Erwerbsunfä- woraus neue Aufgaben für die medizinpsychologi-
higkeitsrente bezogen haben, arbeiten 83% (Matas sche Betreuung der Patienten erwachsen.
et al. 1996). Die psychoneuroimmunologische Forschung
In 14 Studien zur Fragestellung der beruflichen geht u. a. der Frage nach, inwieweit immunolo-
Reintegration von Patienten nach Leber- oder gische Funktionen konditionierbar sind (Buske-
Herztransplantationen, die zwischen 1992 und 1999 Kirschbaum u. Hellhammer 1997; Stockhorst u.
durchgeführt wurden, liegen die Prozentsätze der Klosterhalfen 1997). In Bezug auf die Transplanta-
Wiederaufnahme der Berufstätigkeit zwischen 24 tionsmedizin sind in diesem Zusammenhang Stu-
und 69% (Ewers u. Schulz 2003). Insgesamt kom- dien von Interesse, welche die Möglichkeit der Im-
men die Studien zu dem Schluss, dass mehr Patien- munsuppression durch klassische Konditionierung
ten eine Berufstätigkeit aufnehmen könnten als demonstrieren. Die nach Transplantationen not-
dies faktisch der Fall ist. Die Arbeitenden zeigen wendige medikamentöse Immunsuppression be-
dabei eine deutlich bessere Lebensqualität als die sitzt zahlreiche – auch psychische und neurolo-
nicht Arbeitenden. Werden die transplantierten Pa- gische – Nebenwirkungen. In Tierexperimenten
tienten in voll bzw. Teilzeit arbeitende, aus krank- wurde gezeigt, dass immunsuppressive Effekte des
heitsbedingten Gründen nicht arbeitende und auf- hauptsächlich in der Transplantationsmedizin ein-
grund unspezifischer Gründe nicht arbeitende gesetzten Immunsuppressivums (Cyclosporin A)
9 eingeteilt, so zeigen die beiden Untergruppen nicht mittels eines gustatorischen Stimulus konditioniert
Arbeitender eine deutlich erhöhte Depressivität, werden können. Die Interleukin-2- und Interferon-
die aus unspezifischen Gründen nicht Arbeitenden gamma-Synthese von Zellen der Milz war bei den
darüber hinaus auch eine erhöhte Ängstlichkeit konditionierten Versuchstieren im Vergleich zu
(Ewers u. Schulz 2003). Als Gründe für die Nicht- nicht konditionierten erniedrigt und die Überle-
wiederaufnahme der Berufstätigkeit kristallisier- benszeit allogener, heterotop transplantierter Her-
ten sich die Wahrnehmung eines subjektiv schlech- zen verlängerte sich (Exton et al. 1998, 1999; Goebel
ten Gesundheitszustandes, ein Gefühl der »körper- et al. 2002). Nach sympathischer Denervierung der
lichen Schwäche« bzw. der Überforderung, die Milz wurden die konditionierten Effekte komplett
Angst vor Verlust der Erwerbsunfähigkeitsrente, aufgehoben, was auf eine Vermittlung über das
die Dauer der Arbeitslosigkeit vor bzw. nach TX, sympathische Nervensystem hinweist. Ziel solcher
ein geringer Bildungsstand sowie ein höheres Le- Grundlagenstudien könnte es sein, mittels der An-
bensalter heraus. wendung von Konditionierungsparadigmen in der
klinischen Routine geringere Dosierungen der Im-
munsuppressiva zu ermöglichen und damit die
9.3 Ausblick postoperative Behandlung der Transplantationspa-
tienten zu verbessern.
Eine weitere Ausdehnung der Indikationen für
Transplantationen bei weiter knapper werdenden
Ressourcen zeichnet sich bereits ab. Die Folge ist Literatur
eine »Rationierung« mit der Erfordernis, diagnos-
tische Entscheidungskriterien auch aus dem psy- Berlakovich, G., Langer, F., Freundorfer, E., Windhager, T., Ro-
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9
10

Entwicklungen der medizinischen


Psychologie: Neuroprothesen
für neurologische Erkrankungen
U. Strehl, T. Hinterberger, R. Veit und N. Birbaumer

10.1 Die Methode: Training zur Selbstregulation


von Hirnpotentialen – 118

10.2 Warum langsame Potentiale? – 119


10.2.1 Hard- und Software – 119
10.2.2 Anwendungsbeispiel: Therapie fokaler Epilepsien – 120
10.2.3 Anwendungsbeispiel: Therapie von Aufmerksamkeitsstörungen – 121
10.2.4 Anwendungsbeispiel: Kommunikation – 123

10.3 Quo vadis – medizinische Psychologie? – 124

Literatur – 124

Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Christoph-Dornier-


Stiftung für Klinische Psychologie und aus dem AKF-Programm der Medizinischen Fakultät.
118 Kapitel 10 · Entwicklungen der medizinischen Psychologie: Neuroprothesen für neurologische Erkrankungen

 10.1 Die Methode:


Training zur Selbstregulation
Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der von Hirnpotentialen
Mensch seine Organe – die motorischen wie die
sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Wenn im Unterschied zu den eingangs genannten
Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräf- Hilfsmitteln zum Ersatz von defekten oder fehlen-
te zur Verfügung, die er wie Muskeln in beliebige den Körperfunktionen nicht auf Implantate oder
Richtungen schicken kann. …Der Mensch ist so- externe Stimulatoren zurückgegriffen werden soll,
zusagen eine Art Prothesengott geworden, recht besteht alternativ die Möglichkeit, Aspekte der Ge-
großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, hirntätigkeit zu instrumentalisieren, sei es zur Ver-
aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen änderung spezifischer pathologischer Zustände,
ihm gelegentlich noch viel zu schaffen (Freud 1930, sei es als Ersatz für fehlende motorische Efferen-
S. 450 f.). zen. Diese unter dem Begriff des Hirn-Computer-
Interface (auch »brain computer interface« oder
Als Freud diesen Text geschrieben hat, hat er wahr- BCI genannt) eingeführte Methode basiert auf den
scheinlich nicht (einmal im Traum) daran gedacht, Prinzipien des Biofeedbacks. Die Rückmeldung
dass er hiermit zukünftige Tätigkeitsfelder psycho- körpereigener Signale in einem Paradigma des
logischer Forscher und Therapeuten berührt. Tat- operanten Konditionierens führt dazu, dass Pro-
sächlich war bislang die Entwicklung von Neuro- banden lernen können, diese Körperfunktionen zu
prothesen, die von außen eine defekte Sensorik beeinflussen (Rief u. Birbaumer 2000). Von den
ersetzen (Cochlea-Implantate, Retina-Implantate, grundsätzlich zur Verfügung stehenden Messgrö-
implantierte Mikrosysteme zur bedarfsgerechten ßen der Hirntätigkeit, wie sekundäre Reaktionen
10 Ausschüttung von Medikamenten, Harntraktsimu- des Zentralnervensystems als Folge der Nerventä-
latoren für Querschnittsgelähmte), der medizini- tigkeit (Hautleitfähigkeit, Hirndurchblutung), die
schen Grundlagen- und Anwendungsforschung Aktivität einzelner Neurone sowie Magnetfelder
vorbehalten. Unter Anwendung psychologischer und Spannungsveränderungen der elektrischen
Kenntnis um die Gesetze des assoziativen Lernens Potentiale (Elektroenzephalogramm, EEG), wurden
im Rahmen von Biofeedback-Anordnungen ist es aus pragmatischen Gründen (leicht ableitbar, gute
gelungen, weitere »Schranken für die Leistung« auf- Zeitauflösung) bislang vor allem letztere verwen-
zuheben oder zu umgehen. Dieser Beitrag stellt det. Zukünftig werden auch Methoden des Bio-
verschiedene Beispiele hierfür vor. Es werden unter- feedbacks von Hirndurchblutung und Magnet-
schiedliche Anwendungen vorgestellt, mit deren feldern (funktionelle Kernspintomographie, fMRI
Hilfe Patienten lernen können, ihre Hirntätigkeit ge- und Magnetenzephalographie, MEG) für Biofeed-
zielt zur Beeinflussung neurologischer Symptome backtrainings in Anwendung kommen, jedoch
(Epilepsien; Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts- steht die Lösung einer Vielzahl technischer Proble-
störungen) oder sogar als Mittel zur Kommunika- me hier noch im Mittelpunkt der Forschungsbe-
tion nach Ausfall der Motorik einzusetzen.1 Am mühungen.
Ende des Beitrags finden sich Überlegungen zu den Bei Betrachtung der verschiedenen Kompo-
Konsequenzen für das Selbstverständnis der medi- nenten des EEG lassen sich die Signale des Spon-
zinischen Psychologie. tan-EEG von den ereigniskorrelierten Potentialen
unterscheiden. Die in ⊡ Abb. 10.1 dargestellte Glie-
derung verdeutlicht die unterschiedlichen Para-
meter für Rückmeldungsparadigmen.
Seit den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts
1
beschäftigen sich EEG-Feedbackstudien mit der
Dabei wird deutlich werden, dass es sich hierbei genau ge-
nommen nicht um Prothesen (= Ersatz für fehlende Teile des
Möglichkeit, durch eine Veränderung im spek-
Körpers) handelt, sondern um Orthesen, die der Verände- tralen Bereich epileptische Anfälle zu behandeln
rung oder dem Ersatz von Körperfunktionen dienen. (z. B. sensomotorischer Rhythmus: Sterman u.
10.2 · Warum langsame Potentiale?
119 10

setzung der Erregbarkeitsschwelle einher und sind


für die Planung und Mobilisierung zielgerichteten
Verhaltens notwendig, während eine Potentialver-
schiebung in den positiven Bereich eine Anhebung
von Erregungsschwellen bedeutet und in Ruhezu-
ständen oder bei andauernden kognitiven Aufga-
ben (Verbrauch der Mobilisierung) zu beobachten
ist. Die Nutzung dieser EEG-Phänomene bietet sich
aus verschiedenen Gründen an: Zum einen lassen
⊡ Abb. 10.1. Komponenten des Elektroenzephalogramms sich diese Potentiale bei allen Menschen unter un-
(EEG); MMN = mismatch negativity; CNV = contingent nega-
terschiedlichen Bedingungen ableiten, zum ande-
tive variation
ren hat sich in einer Reihe von Studien gezeigt, dass
Kinder (Siniatchkin et al. 2000), gesunde Erwach-
Friar 1972; α-Rhythmus: Kaplan 1975; individuell sene (Birbaumer et al. 1981) und Patienten mit fo-
zugeschnittenes Training nach Spektralanalysen: kalen Epilepsien Selbstkontrolle über die LP erwer-
Sterman 1996). Auch für Kinder (und zunehmend ben können (Rockstroh et al. 1993).
Erwachsene) mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-
Hyperaktivitätsstörung wurde ein spektrales Feed-
backtraining entwickelt (Lubar et al. 1995). Für eine 10.2.1 Hard- und Software
ausführlichere Darstellung der Anwendungen und
einer Würdigung dieser Ansätze wird auf Strehl Die technische Ausstattung für die Rückmeldung
(2000) verwiesen. Noch am Anfang der Entwick- der langsamen Potentiale ist in ⊡ Abb. 10.2 wieder-
lung steht ein Programm zur Unterdrückung epi- gegeben. Die Schnittstelle für eine Umgebungs-
leptischer »spikes« (Schröder et al. 2002). Für den kontrolle ist fakultativ; sie wird benötigt, wenn die
Bereich der ereigniskorrelierten Potentiale wurden langsamen Potentiale für Zwecke der Kommunika-
die frühen bis mittelspäten Komponenten vor al- tion verwendet werden (s. u.). Für diese Konfigura-
lem im Zusammenhang mit Fragestellungen der tion aus dem Labor des Instituts für Medizinische
kognitiven Reizverarbeitung (Rösler 1984) unter- Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Uni-
sucht. Der Einsatz für Biofeedbackanordnungen, versität Tübingen wurde eine eigene Software, das
wie im Fall der N 100 für die Schmerzverarbeitung sog. Thought Translation Device (TTD), entwickelt
(Miltner et al. 1988), ist eher die Ausnahme. Andere und liegt inzwischen in der Version 3 vor (Hinter-
Entwicklungen hingegen beziehen sich auf die Er- berger et al. 2003). Inzwischen gibt es auch kom-
forschung der Selbstkontrolle der langsamen Po- merziell erhältliche Konfigurationen für Hard- und
tentiale (LP), worauf im Folgenden ausführlich Software.
eingegangen werden soll. Der Patient/Proband sitzt in bequemer Haltung
auf einem Stuhl vor einem Monitor. Das EEG wird
mit einer oder mehreren Elektroden von der
10.2 Warum langsame Potentiale? Schädeloberfläche abgeleitet. Elektroden an den
Mastoiden, auf den Ohrläppchen oder an anderen
Langsame kortikale Potentiale sind Veränderun- Stellen des Kopfes dienen als Referenz. Zur Arte-
gen des EEG, die zwischen einigen hundert Millise- faktkontrolle werden Augenbewegungen und die
kunden bis hin zu mehreren Sekunden andauern. Atmung erfasst. Auf dem Monitor sieht der Pro-
Damit sind sie langsamer als die Oszillationen des band in vielen Durchgängen, die jeweils etwa 8 Se-
Spontan-EEG. Diese Potentiale verschieben das kunden dauern, seine Aufgabe: Entweder soll er
EEG in eine elektrisch negative oder positive Rich- seine langsamen Potentiale »negativieren«, also
tung und spiegeln das Ausmaß der Erregung aus- die Erregbarkeitsschwelle absenken, oder aber
gedehnter neuronaler Zellverbände wider. Negative »positivieren«, was einer Erhöhung der Schwelle
Potentialverschiebungen gehen mit einer Herab- entspricht. Als Feedback dient ein »Ball«, der je
120 Kapitel 10 · Entwicklungen der medizinischen Psychologie: Neuroprothesen für neurologische Erkrankungen

⊡ Abb. 10.2. Technische Ausstattung


für ein EEG-Feedback. (Mit freundlicher
Genehmigung von Hinterberger et al.
2000)

nach Aufgabe in Richtung des oberen oder un- den Verlauf des Potentials im gegebenen Durch-
teren Rands des Bildschirms gebracht werden muss gang erhielten. Diese sog. Transferdurchgänge sol-
(⊡ Abb. 10.5). Alternativ zum Ball kann auch eine len die Umsetzung des Gelernten im Alltag ermög-
Tonfolge gewählt werden. Negativierungs- und Po- lichen, in dem ja kein externes Feedback zur Verfü-
sitivierungaufgaben wechseln sich in zufälliger gung steht. In dieser kontrollierten Studie konnte
Reihenfolge ab. Nähere Informationen zur Berech- gezeigt werden, dass Patienten die Hirnkontrolle
nung des Feedbacks sowie zu Online- und Offline- nach einem Training von 35 Sitzungen erwerben
Korrekturen von Artefakten finden sich u. a. in können. Aus ⊡ Abb. 10.3 wird ersichtlich, dass diese
Hinterberger et al. (2000). Fähigkeit ein halbes Jahr nach Ende des Trainings
sogar noch besser ausgeprägt ist.
Gleichzeitig wurde eine statistisch signifikante
10.2.2 Anwendungsbeispiel: Verringerung der Anfälle nachgewiesen, die in ei-
10 Therapie fokaler Epilepsien ner Kontrollgruppe, die ein Feedback der Atmung
erhielt, nicht erreicht wurde. Die Untersuchung
Epilepsien sind häufig wiederkehrende, anfalls- der Fähigkeit zur Selbsteinschätzung der Selbst-
artig auftretende exzessive Erregungszustände von kontrolle ist geeignet, den Erhalt und die Verbesse-
Teilen des Gehirns oder des gesamten Gehirns. Un- rung der Fähigkeit weit über das Ende des Trainings
abhängig von den vielfältigen Erscheinungsformen hinaus zu erklären. Wie Kotchoubey und Mitar-
und Ursachen einer Epilepsie geht einem Anfall beiter (2002) zeigen konnten, haben die Patienten
eine gesteigerte neuronale Erregbarkeit voraus. In im Verlauf der Trainingssitzungen kontinuierlich
Tierversuchen (Caspers et al. 1984), aber auch mit die Fähigkeit, ihre Leistung einzuschätzen, verbes-
Hilfe von Tiefenelektroden beim Menschen (Ikeda sert. Dabei entwickelte sich zunächst die Fähigkeit
et al. 1996), konnte gezeigt werden, dass epilepti- zur Selbstkontrolle, die im Mittel bereits in der 15.
schen Anfällen starke Negativierungen vorausge- Sitzung ihr Optimum erreichte, während sich die
hen, während nach Abklingen eines Anfalls diesel- Selbsteinschätzung später entwickelte und sich bis
ben Potentiale positiv werden. Ein Training zur zum Ende des Trainings weiter verbesserte.
Selbstkontrolle der langsamen Potentiale, insbe- In einer Pilotstudie (Strehl et al. eingereicht)
sondere bei therapieresistenten Patienten mit foka- wurde ferner der Versuch unternommen, Hirn-
len Epilepsien, dient daher dazu, dass die Patienten areale zu identifizieren, die aktiviert oder deak-
lernen, die Erregung und vor allem die Hemmung tiviert sind, während Patienten negative oder po-
des neuronalen Geschehens selbst zu beeinflussen. sitive langsame Potentiale generieren. Für fünf
Eine erste Studie hierzu von Rockstroh und Mitar- Patienten, die in der Lage sind, mit großer Zuver-
beitern (1993) wurde von Kotchoubey und Mitar- lässigkeit die Potentiale in die gewünschte Rich-
beitern (2001) in einem verhaltensmedizinischen tung zu verschieben, wurde mit Hilfe der funk-
Paradigma wiederholt. In Erweiterung des oben tionellen Kernspintomographie gezeigt, dass ein
beschriebenen Feedbacktrainings hatten die Patien- enger Zusammenhang zwischen elektrokortikaler
ten auch Trainingsdurchgänge zu absolvieren, in und hämodynamischer Aktivität des Gehirns be-
denen sie keine unmittelbare Rückmeldung über steht.
10.2 · Warum langsame Potentiale?
121 10
– Negativierungsaufgabe
4 µV
+ Positivierungsaufgabe

Trainingsbeginn Ende des Trainings 6 Monate danach

feedback

transfer

0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8
sec sec sec
⊡ Abb. 10.3. Selbstkontrolle der langsamen Potentiale – Ergebnisse aus dem Training von 34 Patienten mit fokaler Epilepsie

Während die Patienten die Aufgabe hatten, Dieses Training stellt nicht nur eine wichtige
negative Potentiale zu erzeugen, waren gegenüber Ergänzung für die Behandlung von Patienten dar,
einer Kontrollbedingung vornehmlich Hirnre- denen mit den herkömmlichen Angeboten der me-
gionen aktiviert, die bei Aufmerksamkeit (ante- dizinischen Behandlung nicht geholfen werden
riores Zingulum, insulärer Kortex) und motori- kann. Eine Ausweitung auf andere Patientengrup-
schen Prozessen (supplementärmotorisches Areal) pen ist vorstellbar. Gleichzeitig ist es auch eine
eine Rolle spielen. Deaktivierungen waren wäh- Alternative zu den üblichen, volkswirtschaftlich
rend dieser Aufgabe nur auf den medialen prä- hohe Kosten verursachenden, stationären Aufent-
frontalen Kortex konzentriert. Unter der Positi- halten zur Medikamentenumstellung oder zu chir-
vierungsbedingung hingegen zeigten sich aus- urgischen Eingriffen.
gedehnte Deaktivierungen in sensomotorischen
Arealen, im medialen präfrontalen Kortex sowie
im Parietal- und Temporallappen. Aktivierungen 10.2.3 Anwendungsbeispiel: Therapie
gegenüber einer passiven Beobachtungsbedingung von Aufmerksamkeitsstörungen
konnten nicht ausgemacht werden. Deshalb wer-
den in ⊡ Abb. 10.4a die beiden Aufgaben gemein- Eine neue Anwendung der Selbstkontrolle der LP
sam dargestellt. wird von unserer Arbeitsgruppe z. Z. für den Be-
Zusammen mit der Beobachtung einer Deakti- reich der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-
vierung im mediodorsalen Thalamus und in den störung (ADHS) erprobt. Die konstituierenden
Temporallappen (⊡ Abb. 10.4b) unterstützen diese Hauptmerkmale dieses Syndroms sind »Unauf-
Befunde die Hypothese, dass die Selbstkontrolle merksamkeit«, »Hyperaktivität« und »Impulsivi-
eine konditionierte Hemmung neuronaler Aktivi- tät«. Die sich daraus ergebenden Subtypen der
tät ermöglicht und auf diesem Wege zu einer Ver- »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung«
ringerung der Häufigkeit von Anfällen führt. Hier- werden wie folgt klassifiziert: Beim sog. Mischtyp
bei ist von besonderem Interesse, dass die Studie an werden die Merkmale Unaufmerksamkeit und
Patienten mit Temporallappenepilepsien durchge- Hyperaktivität-Impulsivität beobachtet, beim Typ
führt wurde. »Hyperaktivitäts- und Impulsivitätsstörung« liegt
122 Kapitel 10 · Entwicklungen der medizinischen Psychologie: Neuroprothesen für neurologische Erkrankungen

10

b
⊡ Abb. 10.4. a Aktivierte kortikale Areale während der Nega- eines volumenstandardisierten Gehirns. Die Deaktivierungen
tivierungs- und deaktivierte kortikale Areale während der im medialen präfrontalen Kortex waren unter beiden Aufga-
Positivierungsaufgabe bei fünf Patienten. Schwarz markierte benbedingungen vorhanden und sind schraffiert dargestellt.
Areale kennzeichnen Aktivierungen, weiß dargestellte Regio- b Deaktivierungen im mediodorsalen Thalamus sowie im
nen Deaktivierungen, jeweils projiziert auf die Oberfläche Temporallappen während der Positivierungsaufgabe

der Schwerpunkt auf den hyperaktiv-impulsiven die Einführung einer geeigneten Kontrollbedin-
Symptomen und beim Typ »Aufmerksamkeits- gung, die es erlaubt, den »wahren« Wirkmechanis-
störung« sind die unaufmerksamen Merkmale von mus von unspezifischen Aspekten des Trainings,
klinischer Bedeutung. Ohne hier auf die Über- wie Umgang mit einem Computer oder längeres
legungen zur Pathogenese einzugehen (Barkley Stillsitzen, zu unterscheiden. Mit dem oben be-
1998), ist der Anknüpfungspunkt für uns die Hypo- schriebenen TTD ist es jetzt möglich, zumindest
these einer Untererregung vor allem in sensomoto- ein einfach blindes Design zur Evaluation des Feed-
rischen, frontalen und fronto-zentralen Hirnarea- backtrainings zu realisieren: Eine Gruppe erhält
len. Wie Nash (2000) in einem Überblicksartikel ein Training der oszillatorischen Gehirnaktivität,
berichtet, wurden auch hier seit den 70-er Jahren die andere Gruppe ein Training der LP. Auf dem
des letzten Jahrhunderts zahlreiche Studien vorge- Bildschirm werden die Aufgaben gleich dargestellt,
legt, die mit dem Feedback der oszillatorischen weder für Eltern noch Kinder ist die unterschied-
Schwankungen Verbesserungen bei kognitiven liche Zielsetzung erkennbar. Während die eine
Leistungen und im Verhalten nachweisen. Aller- Gruppe lernen soll, zwischen der langsamen Theta-
dings sind die methodischen Schwächen vielfältig. und der schnelleren Beta-Aktivität zu unterschei-
Eine dem Feedback immanente Schwierigkeit ist den und letztere vermehrt zu produzieren, soll die
10.2 · Warum langsame Potentiale?
123 10

andere Gruppe mit dem Training der langsamen 10.2.4 Anwendungsbeispiel:


Potentiale lernen, das Gehirn eher phasisch zu Kommunikation
erregen, indem es gezielt durch Negativierungen
die Erregbarkeitsschwelle absenkt. In einer ersten Gedanken werden durch neuronale Prozesse gene-
Pilotstudie wurde zunächst untersucht, inwieweit riert, aber motorisch zum Ausdruck gebracht. Pa-
Kinder mit ADHS überhaupt in der Lage sind, die tienten, die aufgrund schwerer neurologischer
Selbstkontrolle der LP zu erwerben. Rockstroh und Schädigungen nicht mehr auf die muskuläre Ver-
Mitarbeiter (1990) konnten in einem Vergleich zwi- mittlung ihrer Gedanken, Wünsche und Emotio-
schen Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen nen zurückgreifen können, bezeichnet man als
in der Aufmerksamkeit (nach Urteil der Lehrer) »locked-in«. Eine häufige Ursache hierfür ist die
zeigen, dass die Kinder mit Problemen in der Auf- amyotrophe Lateralsklerose, eine fortschreitende
merksamkeit neben einer niedrigeren späten Kom- Lähmung, bei der durch die Degeneration des ers-
ponente der CNV (»contingent negative variation«) ten und zweiten Motoneurons im Endstadium bei
eine reduzierte P 300, vermehrte Theta-Aktivität intakten kognitiven Funktionen die gesamte Will-
und weniger Aktivität im Bereich von 10–12 Hertz kürmotorik inklusive der Atmung ausfällt. Für
aufwiesen. Trotz dieser verschiedenen Hinweise diese Patienten eine Schnittstelle für die direkte
auf Beeinträchtigungen in der Antizipation und Kommunikation zwischen Gehirn und Computer
Verarbeitung von Reizen lernten auch diese Kinder, zu entwickeln, ist das wohl ehrgeizigste Ziel bei der
die langsamen Potentiale zu regulieren. Sie waren Entwicklung von nichtinvasiven Neuroprothesen.
aber nicht in der Lage, unter Transferbedingungen Während in den oben genannten Beispielen die
(also ohne Feedback) die LP zu regulieren. Erste Selbstregulation der langsamen Potentiale patho-
Ergebnisse unserer Pilotstudie (Strehl et al. 2004) logische Zustände beeinflussen soll, dient sie in
bestätigen letzteren Befund tendenziell. Gleichzei- diesem Fall als »Ersatzsprache«. Die Patienten wer-
tig zeigte sich, dass das Training in beiden Gruppen den in einem ersten Schritt über Monate mit der
u. a. zu einer signifikanten Verringerung der hyper- Zielsetzung trainiert, Negativierungen oder Posi-
aktiven und impulsiven Symptome sowie zu einer tivierungen möglichst zuverlässig herzustellen,
signifikanten Verbesserung der Aufmerksamkeits- um dann die langsamen Potentiale gezielt zur
leistung und des IQ führte. Nach Abschluss der Auswahl von Buchstaben und Worten einzusetzen
derzeit laufenden Studie mit je 20 Kindern pro (⊡ Abb. 10.5).
Trainingsbedingungen und nach Vorliegen der Auf diese Weise können nicht nur Briefe ver-
Daten aus einer Nachuntersuchung sechs Monate fasst werden, auch die Navigation im Internet wird
nach Ende des Trainings werden Aussagen über die ermöglicht, wenn der Zugang so aufbereitet ist,
Stabilität der Effekte und die Bedeutung der Trans-
ferleistung für eine Verbesserung der Symptomatik
möglich sein.
Sollte sich erweisen, dass die Selbstregulation
von Parametern der Hirntätigkeit die Symptomatik
reduziert, stünde auch hier, ähnlich wie bei den Epi-
lepsien, eine Alternative oder zumindest Ergänzung
zur herkömmlichen medikamentösen Behandlung
mit Stimulantien zur Verfügung. Dies erscheint im
Fall von ADHS besonders wichtig, da wegen der Ne-
benwirkungen sowie der noch nicht sicher zu be-
antwortenden Frage nach möglichen Spätschäden
bei vielen Eltern (und Kindern) die Akzeptanz einer
medikamentösen Therapie gering ist.
⊡ Abb. 10.5. Verfassen von Texten mit Hilfe der langsamen
Potentiale
124 Kapitel 10 · Entwicklungen der medizinischen Psychologie: Neuroprothesen für neurologische Erkrankungen

dass der Patient mit Hilfe seiner Hirnpotentiale logisch-propädeutisches Fach wie andere Fächer
eine Auswahl treffen kann (Hinterberger et al. des vorklinischen Studienabschnitts, indem sie die
2000). psychophysiologischen Grundlagen für die Diag-
Die Entwicklung eines derartigen Angebots für nose und Behandlung ausgewählter Krankheiten
Locked-in-Patienten löst nicht nur in den Medien, vermittelt.
sondern auch bei behandelnden Ärzten, den Kran-
ken selbst und ihren Bezugspersonen heftige Kon-
troversen aus. So würden die meisten Patienten
Literatur
sich nicht beatmen lassen, wenn sie dies entschei-
den können – in der Annahme, dass ein Leben mit
Barkley, R.A. (1998). Attention Deficit Hyperactivity Disorder.
künstlicher Beatmung nicht mehr lebenswert sei. 2. Aufl. New York: Guilford.
Begleitende Untersuchungen, die im Rahmen un- Birbaumer, N.; Elbert, T.; Rockstroh, B. & Lutzenberger,W.(1981).
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ner konnte nachgewiesen werden, dass die Patien-
Ghanayim, N., Lang, P. J. & Birbaumer, N. (2000). James-Lange,
ten zwar mit dem zunehmenden Ausmaß ihrer somatic markers, and other antiques. Psychophysiology,
Behinderung depressiver werden, sich aber insge- 37(1), S42.
10 samt signifikant von Patienten mit einer »major Hinterberger, T., Mellinger, J. & Birbaumer, N. (2003). The
depression« unterscheiden. Die depressiven Ver- Thought Translation Device: Structure of a multimodal
brain-computer communication system. Proceedings of
stimmungen nehmen mit zunehmender Dauer seit
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peutischer Kompetenz unter Einbeziehung natur- Kotchoubey, B., Strehl, U., Uhlmann, C., Holzapfel, S., König, M.,
Fröscher, W., Blankenhorn, V. & Birbaumer, N. (2001). Modi-
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Sterman, M. B. & Friar, L. (1972). Suppression of seizures in
epileptic following sensorimotor EEG feedback training.
Electroencephalography and Clinical Neurophysiology, 33,
89–95
Strehl, U. (2000). Neurofeedback. Psychomed 14(1), 11–17.
Strehl, U., Leins, U., Danzer, N., Hinterberger, T., Schlottke, P. F.
(2004). EEG-Feedback für Kinder mit einer Aufmerksam-
keitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – erste
Ergebnisse aus einer randomisierten, kontrollierten Pilot-
studie. Kindheit und Entwicklung, 13 (3), 180 – 189.
11

Psychotraumatologie – Grundlagen
und Anwendungen in medizinischen
Disziplinen1
T. Zöllner, A. Maercker

11.1 Die Psychotraumatologie – ein neues Stressfolgenparadigma


und neu definierte Störungsbilder – 128

11.2 Erweiterungen des PTB-Konzepts auf lebensbedrohliche


Erkrankungen – 130

11.3 Sekundär oder berufsbedingt Traumatisierte als weitere Risiko-


gruppen – 133

11.4 Prävention und Interventionen für Hochrisikogruppen – 134

11.5 Potenzen und Grenzen der Psychotraumatologie in medizinischen


Kontexten – 135

Literatur – 136

1
Der Beitrag ist eine veränderte und erweiterte Fassung des Einleitungskapitels von Maercker und Ehlert (2001)
des Jahrbuchs für Medizinische Psychologie 20
128 Kapitel 11 · Psychotraumatologie – Grundlagen und Anwendungen in medizinischen Disziplinen

 den Mittelpunkt gestellt, die selbst ein auslösendes


Trauma für die Entwicklung von PTB darstellen kön-
Die Beobachtung, dass extreme, traumatische Er- nen. Danach werden Untersuchungsansätze zur
eignisse extreme psychologische Reaktionen her- berufsbedingten oder sekundären Traumatisierung
vorrufen, ist schon alt und wurde beispielsweise von Einsatzkräften und helfenden Berufen skizziert.
bereits bei den Römern und Griechen in ihren Abschließend werden Implikationen dieser Neu-
Annalen kriegerischer Auseinandersetzungen er- entwicklungen und konzeptuellen Neuorientie-
wähnt. Im 20. Jahrhundert wurde im Gefolge der rung auf die medizinischen Grundlagen- und An-
beiden Weltkriege eine Reihe von Bezeichnungen wendungsdisziplinen diskutiert, wobei auch kri-
solcher Störungen geprägt, wie Kriegs- oder Ge- tisch hinterfragt wird, ob Teilaspekte des neuen
fechtsneurose oder Granatenschock (»shell shock«) Forschungszweiges der Psychotraumatologie teil-
(Babington 1997). Doch erst 1980 nahm die Ameri- weise schon zu einer Mode geworden sind.
kanische Psychiatrische Gesellschaft in das maß- Dieses Kapitel kann keine umfassende Darstel-
gebliche Klassifikationssystem für psychische Stö- lung der Psychotraumatologie bzw. der posttrau-
rungen, das »Diagnostic and Statistical Manual of matischen Belastungsstörung liefern. Deshalb soll
Diseases – 3. Fassung« (DSM-III), ein neues krank- an dieser Stelle zur Vertiefung auf inzwischen
heitswertiges Syndrom auf, anhand dessen die vorliegende deutschsprachige Überblickswerke
psychischen Folgen extremer Belastungserlebnisse (Ehlers 1999; Fischer u. Riedesser 2003; Maercker
beschrieben werden. Das als posttraumatische Be- 2003 a, b) oder englischsprachige Fachliteratur
lastungsstörung (Abkürzung: PTB; engl.: »post trau- (Horowitz 1997; Van der Kolk et al. 1996; Wilson u.
matic stress disorder«, PTSD) bezeichnete Störungs- Keane 1997) verwiesen werden.
bild wird mittlerweile intensiv erforscht. Im ersten
Jahrzehnt nach der Einführung dieser Diagnose
standen die Folgen traumatischer Ereignisse wie
11 Krieg, sexuelle Übergriffe, kriminelle Gewalt und 11.1 Die Psychotraumatologie –
Naturkatastrophen im Mittelpunkt des Forschungs- ein neues Stressfolgenparadigma
interesses. Im letzten Jahrzehnt erweiterte sich das und neu definierte Störungsbilder
Forschungsspektrum auch auf Untersuchungen zu
weiteren Traumata, wie lebensbedrohliche oder Als Psychotraumatologie wird heute das Gebiet de-
extrem beeinträchtigende Erkrankungen sowie zu finiert, in dem die psychischen Folgen von extrem
den sog. berufsbedingten Traumata bei Rettungs- belastenden und/oder lebensbedrohlichen Ereig-
und Intensivstationspersonal, Polizei und Feuer- nissen beschrieben und untersucht werden. Im Ge-
wehr. gensatz zu den physiologischen Stressfolgen, die,
Die enorme Weiterentwicklung der Psychotrau- beginnend beispielsweise mit Selyes allgemeinem
matologie – als der allgemeinen Lehre psychischer Adaptationssyndrom (1956), seit vielen Jahrzehn-
Traumafolgen – hat dazu beigetragen, das Feld der ten bereits untersucht und in den letzten Jahren
möglichen Relevanz des Störungsbildes stark zu durch moderne Untersuchungsmethoden zuneh-
vergrößern. Auch für die Anwendungsfelder der mend differenziert beschrieben werden (Zusam-
Medizin jenseits von Psychiatrie und Psychothera- menfassungen der neurobiologischen Grundla-
pie scheint diese Entwicklung einen relevanten Er- genforschung z. B. Ehlert et al. 1999), waren die
kenntniszuwachs zu erbringen. langfristigen psychologischen Folgen extrem be-
Dieser Beitrag über PTB und Traumata in ver- lastender Ereignisse ein noch lange unbearbeitetes
schiedenen medizinischen Kontexten beginnt mit Forschungsgebiet. Es waren eher die kurzfristigen
einem Überblick über relevante Entwicklungen in psychologischen Stressfolgen, die im Fokus des
der Psychotraumatologie. Anschließend wird die Forschungsinteresses lagen. So haben psycholo-
Erweiterung des Konzepts der PTB auf verschiede- gische Stress-Coping-Konzepte, wie das einflussrei-
ne körperliche Krankheiten und Behandlungen in che Modell von Lazarus und Folkman (1984), sich
▼ zwar anregend auf die Erforschung auch der nega-
11.1 · Die Psychotraumatologie – ein neues Stressfolgenparadigma
129 11

tiven, krankheitswertigen Folgen von extrem belas- Die Basis systematischer Untersuchungen zu die-
tenden Ereignissen ausgewirkt, waren aber oft nicht sem Störungskonzept sowie zu dem damit korres-
spezifisch genug, um den Teil der Patienten zu iden- pondierenden Konzept der komplexen posttrauma-
tifizieren, der eine weiterführende psychologische tischen Belastungsstörung (Herman 1992; Van der
Versorgung zur Wiederherstellung seines Wohlbe- Kolk et al. 1992) ist allerdings bisher zu gering, um
findens und seiner Lebensqualität benötigt. zu diesem Zeitpunkt eine abschließende Bewertung
Als Prototyp krankheitswertiger psychologi- dieser klinischen Störungskonzepte vorzunehmen.
scher Extrembelastungs- bzw. Traumafolgen – und Eine bisher bessere empirische Fundierung hat
damit als Prototyp eines neuen Stressfolgenpara- das Störungskonzept der akuten Belastungsstö-
digmas – kann die posttraumatische Belastungs- rung (ABS; engl.: »acute stress disorder«, ASD),
störung gelten (Horowitz 1997). Sie wurde als ein das 1994 in das DSM-IV aufgenommen wurde. Die-
psychologisches Zustandsbild beschrieben, bei se neue Diagnose wurde geschaffen, um eine akute
dem es nach einem traumatisierenden Ereignis Belastungsreaktion zu beschreiben, die unmittel-
zu typischen kognitiven, emotionalen, physiolo- bar im ersten Monat nach einem Trauma auftreten
gischen und verhaltensmäßigen Veränderungen kann und um diejenigen traumatisierten Personen
kommt. Zum Vorliegen einer posttraumatischen zu erfassen, die danach möglicherweise eine PTB
Belastungsstörung gehören Symptome aus 3 we- ausbilden. Die ABS-Diagnose unterscheidet sich
sentlichen Symptomclustern: von der PTB-Diagnose durch ihre Betonung der
1. Wiedererlebenssymptomatik (Intrusionen), Schock- bzw. dissoziativen Symptomatik und der
2. chronische körperliche Übererregung (Hyper- Beschränkung auf den Zeitraum des ersten Monats.
arousal) und Die ABS-Diagnose nach dem DSM-IV erfordert
3. kognitive sowie behaviorale Vermeidungssymp- folgende Kriterien:
tome bzw. emotionale Betäubung (Numbing). a) das Erlebnis eines traumatischen Ereignisses,
b) mindestens drei akute Dissoziationssymptome,
Zur präzisen Diagnostik sei an dieser Stelle auf c) mindestens ein Intrusionssymptom,
die operationalisierte Beschreibung im amerika- d) Anzeichen für Vermeidung,
nischen Klassifikationssystem DSM-IV (American e) Anzeichen von Hyperarousal sowie
Psychiatric Association 1994) bzw. auf die For- f) das Auftreten dieser Symptome zwischen zwei
schungskriterien des ICD-10 der Weltgesundheits- Tagen und vier Wochen nach dem Trauma.
organisation (Dilling et al 1991) verwiesen, welche
exzellente Grundlagen für eine präzise Störungs- Die psychopathologische Betonung der dissozia-
definition sind (Maercker 2003a). tiven Symptome ist jedoch bis heute umstritten ge-
blieben. Vorliegende Längsschnittstudien (vgl.
Weitere traumabedingte Stresssyndrome Überblick bei Bryant u. Harvey 1997; Marshall et al.
Die zunehmende Erforschung des PTB-Syndroms 1999) lassen nämlich darauf schließen, dass die
hat auch die Frage aufgeworfen, ob es noch weitere Anwendung der PTB-Kriterien in den ersten vier
Extremstresssyndrome gibt, die krankheitswertig Wochen nach einem Trauma besser die Rate der-
sind. In das ICD-10 der WHO (Dilling et al. 1991) jenigen Personen vorhersagt, die später eine PTB
wurde bereits eine »andauernde posttraumatische ausprägen werden, als das Vorliegen der spezifi-
Persönlichkeitsveränderung (F 62.0)« aufgenom- schen Dissoziationssymptome der ABS. Deshalb
men, die als eine nachfolgende Komplizierung der haben eine Reihe von Autoren vorgeschlagen, eben-
PTB beschrieben wurde. Sie ist u. a. durch folgende falls die PTB-Symptombereiche Intrusionen, Ver-
Merkmale gekennzeichnet: meidung und Hyperarousal als zentrale Störungs-
a) feindliche oder misstrauische Haltung der Welt prozesse zu konzeptualisieren. Nichtsdestotrotz
gegenüber, lässt sich feststellen, dass die operationalisierte Be-
b) Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit so- schreibung und Definition der akuten Belastungs-
wie störung einen stimulierenden Einfluss auf die Not-
c) Entfremdung. fallpsychologie bzw. Katastrophenmedizin hat.
130 Kapitel 11 · Psychotraumatologie – Grundlagen und Anwendungen in medizinischen Disziplinen

Ein wachsendes Forschungsinteresse erfährt in Annahme aufbaut. Erste Daten mit herzchirur-
den letzten Jahren ein drittes Störungsbild – die gischen Patienten bestätigen die neuformulierte
komplizierte oder traumatische Trauer. Obwohl Störungskonzeption.
dieses Störungsbild zzt. noch nicht in die gängigen Neben der posttraumatischen Belastungsstö-
Klassifikationssysteme aufgenommen wurde und rung haben die drei zuletzt skizzierten Störungs-
deshalb erst den Status einer Forschungsdiagnose bilder eine bisher schon nachgewiesene bzw. eine
besitzt, liegen in zunehmendem Maße Untersu- potentielle Bedeutung für medizinische Kontexte.
chungen dazu vor (Horowitz et al.1997; Maercker Von wesentlichem Erklärungswert für klinische
1999; Langner u. Maercker 2003; Prigerson et al. Probleme sind beispielsweise die zu allen Diagno-
1999). Unter komplizierter Trauer wird dabei eine sen gehörenden Vermeidungssymptome. Gedank-
anhaltende schwere Beeinträchtigung der psychi- liche wie auch verhaltensbezogene Vermeidungs-
schen Gesundheit nach dem Todesfall einer bedeut- symptome können neben zusätzlichem psychi-
samen Bezugsperson gesehen. Empirische Unter- schen Leiden zu erheblichen Behinderungen in der
suchungen haben gezeigt, dass hierbei ebenfalls die Bewältigung des Lebensalltags führen. Darüber
Intrusionen einen der Symptomkomplexe darstel- hinaus schließen die Vermeidungssymptome in
len, ebenso wie die Vermeidungssymptome (z. B. der Konsequenz auch die Nichtnutzung medizini-
Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die scher Dienstleistungen mit ein, was zu weiteren
an das Sterben erinnern). Über das notwendige Krankheitskomplikationen führen kann. Die Ge-
Vorliegen weiterer Symptomgruppen besteht noch fahr der Nichterkennung, Nichtbehandlung und
kein Konsensus. Horowitz et al. (1997) definieren damit der Störungschronifizierung geht außerdem
eine Gruppe von Fehlanpassungssymptomen (z. B. mit großen Kosten für die medizinischen und psy-
das Nichtentfernen der persönlichen Gegenstände chosozialen Versorgungssysteme einher (Solomon
des/der Verstorbenen), während Prigerson et al. u. Davidson 1997).
(1999) eine Symptomgruppe des Trennungsschmer- Darüber kann eine Chronifizierung der PTB
11 zes (z. B. Sehnsucht, Suche nach der/dem Ver- mit der Herausbildung »komorbider« körperlicher
storbenen) beschrieben haben. Die komplizierte Erkrankungen als Begleit- bzw. Folgeerkrankun-
Trauer kann sowohl nach äußerlich undramatisch gen einhergehen (Schnurr u. Jankowski 1999).
verlaufenden Todesfällen naher Bezugspersonen Shalev et al. (1990) sowie Shalev (2002) haben eine
vorkommen als auch nach im engeren Sinne trau- Reihe von Verbindungsgliedern in ihren Untersu-
matisch stattfindenden Todesfällen (z. B. bei Unfäl- chungen identifiziert, die zu diesen Folgen führen
len, Katastrophen). können. Vermittelnde Faktoren für den Zusam-
Die Anpassungsstörungen sind eine in der Pra- menhang zwischen Trauma und Belastung mit
xis oft benutzte Diagnosekategorie, um die psychi- einem Anstieg physiologischer Symptomatik, Mor-
schen Veränderungen nach einem gravierenden bidität und Mortalität umfassen dabei sowohl phy-
Lebensereignis zu beschreiben. Die psychopatho- siologische Dysfunktionen als auch gesundheits-
logische Konzeptualisierung dieser Diagnosekate- schädigende Verhaltensweisen.
gorie und die darauf zu begründende nosologische Im Folgenden soll jedoch die Richtung der Be-
Zuordnung sind allerdings noch völlig unzurei- trachtung genau umgedreht werden und die PTB
chend (Maercker et al. eingereicht). Eine Anpas- als Folge einer körperlichen Erkrankung im Fokus
sungsstörung ist eine klinisch ernst zu nehmende stehen.
Störung, da sie u. a. das Suizidalitätsrisiko erhöht.
Aufgrund paralleler Ergebnisse der Psychotrauma-
tologie kann angenommen werden, dass bei den 11.2 Erweiterungen des PTB-Konzepts
Anpassungsstörungen intrusive und Vermeidungs- auf lebensbedrohliche Erkrankungen
prozesse eine zentrale pathogenetische Rolle spie-
len (wie bei der PTB und der komplizierten Trauer). Die Definition des Traumakriteriums, wie es im
Maercker et al. (eingereicht) stellten einen neu kon- DSM-III-R konzeptualisiert war, schloss schwere
zipierten Diagnosevorschlag vor, der auf dieser Erkrankungen als auslösende Ereignisse einer
11.2 · Erweiterungen des PTB-Konzepts auf lebensbedrohliche Erkrankungen
131 11

posttraumatischen Reaktion aus. Dort war ein Uzark et al. 1992), Defibrillatorimplantationen
traumatisches Erlebnis charakterisiert durch das (Hamner et al. 1999), andere Herz-Lungen-Opera-
»Erleben einer Situation außerhalb des Bereiches tionen und komplizierte Geburten (Ballard et al.
normaler menschlicher Erfahrungen«. Die »Nor- 1995) untersucht. Ein dritter untersuchter Bereich
malität« im Sinne statistischer Häufigkeit von se- erstreckt sich auf die Eltern von krebskranken Kin-
xueller und physischer zwischenmenschlicher dern (Heiney et al. 1994; Kazak et al. 1998) bzw. die
Gewalt in allen Gesellschaften ließ diese Trauma- Partner von Krebskranken (Manne 1999) sowie die
definition unglücklich erscheinen. Aufgrund sol- Partner von herztransplantierten Patienten (Stuka
cher Überlegungen als auch durch den Umstand, et al. 1999).
dass man »die Diagnose einer lebensbedrohlichen Die genannten Autoren prüften bei den unter-
Krankheit« als potentiell traumatisierendes Erleb- suchten Patientenkollektiven das Vorhandensein
nis nicht weiter ausschließen wollte, erfolgte 1994 einer PTB anhand DSM-III-R- oder -IV-Krite-
im DSM-IV eine Revision. Die DSM-IV-Kriterien rien und konnten das systematische Auftreten
veränderten die Definition des Traumakriteriums der PTB-Symptomatik für diese Gruppen trauma-
wie folgt: tisierter Personen belegen. Aufgrund solcher Be-
funde schließen Baider und DeNour (1997, S. 346):
Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder »A new theoretical framework (has emerged) in
der Androhung des Todes, einer schweren Ver- which the concept of psychiatric morbidity in
letzung oder einer anderen Bedrohung der medical patients should be understood within the
körperlichen Unversehrtheit zu tun hat, oder context of PTSD.« Die Anwendung des PTB-Kon-
die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem zepts macht es möglich, die Diskrepanz zwischen
Tod, der Verletzung oder der Bedrohung der dem in der medizinischen Praxis oft festgestellten
körperlichen Unversehrtheit einer anderen Belastungsausmaß bei den Patienten und den frü-
Person zu tun hat, oder das Miterleben eines heren Forschungsbefunden, die eher ein sehr ge-
unerwarteten oder gewaltsamen Todes, schwe- ringes Ausmaß an Belastung bei den betroffenen
ren Leids oder Androhung des Todes oder einer Patienten dokumentierten, aufzuklären. Der Grund
Verletzung eines Familienmitgliedes oder einer für die Diskrepanz dürfte darin liegen, dass in die-
nahe stehenden Person. sen Untersuchungen nicht PTB-Symptome, son-
dern dysfunktionale Bewältigungsformen oder un-
Diese neue Definition hat zur Folge, dass eine Reihe spezifische Belastungssymptome erfasst wurden
von lebensbedrohlichen Erkrankungen nun als (Tjemsland et al. 1998). Unter diesem Blickwinkel
traumatische Ereignisse angesehen werden kön- lassen diese neueren Studienbefunde den Schluss
nen. zu, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die vormals
Die seitdem am häufigsten untersuchten Krank- ausschließliche Erhebung von unspezifischer Angst
heiten sind Myokardinfarkt (Bennett u. Brooke und Depression die Feststellung distinkter und an-
1999; Doerfler et al. 1994; Kutz et al. 1994; Neumann haltender Merkmale einer posttraumatischen Be-
1991; Van Driel u. Op den Velde 1995), Schlaganfall lastungsreaktion überdeckt hat.
(Sembi et al. 1998), Krebserkrankungen (Kelley et Gleichwohl ist festzuhalten, dass in der Mehr-
al. 1995; Pelcovitz et al. 1998), speziell Brustkrebs zahl der genannten Studien zur Prävalenz der PTB
(Alter et al. 1996; Andrykowski u. Cordova 1998; eher niedrige Prävalenzquoten für das Vollbild der
Andrykowski et al. 1998; Butler et al. 1999; Green et PTB bei den verschiedenen untersuchten Ziel-
al. 1998; Tjemsland et al. 1998), Verbrennungskrank- gruppen gefunden wurden, da mehrheitlich PTB-
heiten (Yu u. Dimsdale 1999) und AIDS (Kalichman Prävalenzen von unter 10% bis zu unter 20% und
u. Sikkema 1994; Kelly u. Raphael 1993; Nord 1998; nur ganz vereinzelt höhere Prävalenzen nachge-
Ouelette 1998). Darüber hinaus wurden die psychi- wiesen wurden. Es ist allerdings bei den Zahlenan-
schen Folgen medizinischer Behandlungen, wie gaben zu beachten, dass es sich bei den Studien
Knochenmarks- (Jacobsen et al. 1998; Stuber et al. bisher nicht um repräsentative Stichproben han-
1996) und Herztransplantationen (Dew et al. 1996; delte.
132 Kapitel 11 · Psychotraumatologie – Grundlagen und Anwendungen in medizinischen Disziplinen

Beginn des Krankheitsgeschehens schon lebensbe-


Bisher vorliegende Studien drohlich ist, liegt die unmittelbare »Todeserfah-
mit konsekutiven Patientensamples rung« bei der Mehrzahl der Krankheiten nicht in
 akutes Lungenversagen (Kapfhammer der unmittelbaren Anfangsphase, sondern im wei-
et al. 2001): 24% teren Verlauf der Erkrankung. Daher ist die Le-
 Herztransplantation (Dew et al. 1996: 16% bensbedrohung hier unspezifischer als bei den
 Herztransplantation (Köllner et al. 2002): unmittelbaren Erlebnissen einer Vergewaltigung,
2,4% einer Katastrophe oder eines schweren Verkehrs-
 Querschnittslähmung als Unfallfolge unfalls. Zusätzlich sind allerdings die Behandlun-
(Znoj et al. 2001): 10% gen einiger gravierender Krankheiten, z. B. chirur-
 hämatologisch-onkologische Patienten gische Operationen, allein für sich genommen
(Diedrich et al. 2001): 5,6% extrem belastend und können als unmittelbare
 krebskranke Kinder (Kazak et al. 1998): 1,6% »Todeserfahrung« erlebt werden.
Einem Teil der traumatisierenden Krankheiten
liegt zudem ein »Informationstrauma« (»informa-
Die bisher gefundenen PTB-Prävalenzen im Be- tion stressor«, Green et al. 1994) zugrunde, d. h. die
reich körperlicher Krankheiten und Behandlungen Bedrohung entsteht bei der Vermittlung einer In-
entsprechen in ihrer relativ niedrigen Höhe etwa formation. Beispielsweise bewirkt bei Patientinnen
denen, die bei schweren Verkehrsunfällen vorzu- mit einem Mammakarzinom die Erstmitteilung, an
finden sind; d. h. eine PTB-Symptomatik ist nicht dieser Krebsart erkrankt zu sein, einen traumati-
der Regelfall, sondern qualifiziert eine Untergrup- schen Stress. Dies trifft auch auf den Bereich der
pe der Betroffenen, bei denen jedoch therapeuti- Aufklärung über individuelle genetische Risiken
scher Handlungsbedarf besteht. zu, z. B. im Fall der Chorea-Huntington-Erkran-
Generell lassen sich bei lebensbedrohlichen Er- kung. In diesem Fall liegt die Bedrohung in der In-
11 krankungen als traumatisierende Erlebnisse zwei formation, ein hohes Risiko für einen frühzeitigen
fundamentale Unterschiede diskutieren, bezüglich Tod zu haben. Dies bedeutet, dass sich die Intru-
derer sie sich von traditionellen Traumata (gemäß sionen über die Bedrohung nicht in Form von Er-
DSM-IV oder ICD-10) unterscheiden: Zum Ersten innerungen an zurückliegende Ereignisse, wie z. B.
stammt die Bedrohung durch diese Ereignisse den genauen Moment der Eröffnung, an einer
nicht aus der äußeren Umwelt, wie z. B. bei Verge- Krebserkrankung zu leiden, äußern, sondern viel-
waltigung, Katastrophen, Folter, Verfolgung und mehr in zukunftsorientierten Sorgen (Ruminatio-
Verkehrsunfällen. Sie entsteht vielmehr internal, nen) über den Wiederausbruch, die Manifestation
sodass die Bedrohung und die betroffene Person körperlicher Probleme oder den Tod. Eine Reihe
voneinander nicht getrennt werden können. Da- von Untersuchungen, z. B. bei Brustkrebspatientin-
durch wird die Erfahrung qualitativ eine andere nen (Andrykowski et al. 1998; Green et al. 1998),
als bei von außen eintretender Bedrohung (Green konnten zeigen, dass diese Zukunftsbedrohung
et al. 1997). eine starke individuelle Belastung erzeugte, zu der
Zweitens besteht die Belastung weniger in der wiederkehrende Gedanken (im Sinne von Intru-
Erinnerung an die überstandene Lebensgefahr, sionen) und Vermeidung gehörten. Trotzdem bil-
also die Vergangenheit, als vielmehr in einer zu- dete sich eine PTB nur bei einer geringen Anzahl
künftigen Bedrohung durch ein Krankheitsrezidiv, von Patienten (unter 10%) heraus.
das schwerwiegender als die derzeitige Krankheits- Festzuhalten bleibt aufgrund der bisherigen
phase sein oder einen letalen Ausgang nehmen Befundlage, dass die Anwendung des PTB-Kon-
kann. Hier liegt der Unterschied zu den mehr tra- zepts auf lebensbedrohliche Erkrankungen und
ditionellen Traumata in der zukünftigen anstelle medizinische Behandlungen für eine substantielle
der zurückliegenden Bedrohung. Mit Ausnahme Gruppe der Betroffenen eine adäquate Erfassung
solcher Krankheiten wie Myokardinfarkt, Schlag- ihrer Belastungssymptomatik erlaubt, auch wenn
anfall oder akuter Leukämie, bei denen der akute es einige Unterschiede zu den »klassischen« Trau-
11.3 · Sekundär oder berufsbedingt Traumatisierte als weitere Risikogruppen
133 11

mata bei PTB (wie Kriegseinwirkungen, Gewalt, Helfen oder den Versuch, einer traumatisierten
Naturkatastrophen) gibt. oder leidenden Person Beistand zu leisten, ent-
Gemeinsam ist der Forschung zu »klassischen« stehen.
und medizinischen Traumata jedoch das Problem In der Forschungsliteratur hat sich dabei eine
der Erfassung der PTB-Prävalenz. In der Untersu- Gleichsetzung der Begriffe »sekundäre« oder »be-
chung ganz verschiedener Populationen traumati- rufsbedingte« Traumatisierung durchgesetzt, d. h.
sierter Personen hat sich immer wieder gezeigt, der Begriff wurde auf den Bereich der professionel-
dass die Prävalenz von PTB in den jeweiligen Stu- len Helfer beschränkt. In der Fachliteratur haben
dien möglicherweise unterschätzt wird (Wilson u. sich als weitere Synonyme »indirekte Traumatisie-
Keane 1997; Maercker 1998). Eine Ursache dafür rung«, »vicarius traumatization« und »compassion
liegt bereits in der Natur der PTB-Symptomatolo- fatigue« sowie – mit Bezug nur auf die Gruppe der
gie selbst: Die Weigerung, an einer Untersuchung Psychotherapeuten – »stellvertretende Traumati-
teilzunehmen, kann bei vielen Personen dadurch sierung« eingebürgert.
begründet sein, dass sie generell nicht über das Zunächst fand der Personenkreis der sekundär
Trauma sprechen möchten, was als ein Zeichen für traumatisierten Menschen in der Forschung keine
ein Vermeidungssymptom bzw. eine undiagnosti- Beachtung. Dies änderte sich erst durch die wieder-
zierte PTB interpretiert werden kann (McGrath holte klinische Beobachtung, dass Personen, die im
1999). Das würde bedeuten, dass diejenigen Perso- ständigen intensiven Kontakt zu Traumatisierten
nen, die an einer Studie nicht teilnehmen, ein hö- stehen, selbst beginnen können, traumatypische
heres Risiko für PTB aufweisen und möglicher- Symptome auszubilden (Figley 1995; Reinhard u.
weise die stärkste Symptomatik aufweisen. Dieses Maercker 2003). Für die Entstehung einer sekundä-
Problem der möglichen Unterschätzung der tat- ren PTB wird neben einer Überschreitung der je-
sächlichen PTB-Prävalenzen aufgrund posttrau- weiligen individuellen Belastbarkeit dem emotio-
matischer Vermeidung der Studienteilnahme be- nalen Mitgefühl mit dem Traumaopfer eine zen-
trifft auch weitere Gruppen von Traumatisierten, trale Rolle zugeschrieben. Dieses Mitgefühl kann
insbesondere auch die im nächsten Abschnitt ge- durch die Identifizierung mit der traumatisierten
nannten Risikogruppen. Person entstehen, insbesondere dann, wenn das
Traumaopfer Ähnlichkeit mit der eigenen Person
oder einem nahe stehenden Menschen aufweist.
11.3 Sekundär oder Als besonders pathogener Faktor für Einsatz- und
berufsbedingt Traumatisierte Rettungskräfte gelten Katastropheneinsätze, z. B.
als weitere Risikogruppen bei Flugzeugabstürzen, Zugunglücken, Naturge-
waltereignissen oder anderen Großschadensfällen.
Der Begriff der sekundären Traumatisierung ist Verschiedene Untersuchungen weisen zudem da-
ebenfalls vergleichsweise jung. Er geht zurück auf rauf hin, dass dabei speziell Kindernotfälle und
Figley (1995), der die PTB definitorisch in die pri- Todesfälle von Kindern als besonders belastend
märe und die sekundäre traumatische Belastungs- erlebt werden (Bengel 2003).
störung unterteilte. Die Grundannahme dieser be- Bei Einsatz- und Rettungspersonal sowie ande-
grifflichen Differenzierung beruht darauf, dass ein ren Risikoberufen treten allerdings nach potentiell
Trauma sowohl direkt als auch indirekt erlebt wer- traumatisierenden Erlebnissen bei weitem nicht
den kann. Im Unterschied zur primären PTB, die zwangsläufig posttraumatische Belastungsreaktio-
direkt mit der Konfrontation einer betroffenen Per- nen auf, wie klinische Erfahrungen und vorliegen-
son mit traumatischer Belastung assoziiert ist, wird de Untersuchungen zeigen. Alexander (1993) hat
eine sekundäre PTB oder sekundäre Traumatisie- schon früh auf effektive Mittel zur Verhinderung
rung durch eine Belastung definiert, die durch das psychischer Fehlanpassungen, wie einer PTB, nach
Wissen über ein traumatisches Ereignis ausgelöst emotional stark belastenden Einsätzen hingewie-
wird, das einer anderen Person widerfährt oder sen. Als weitere Erklärung für das vergleichsweise
widerfahren ist. Diese Belastung kann durch das geringe Vorkommen von PTB in berufsbedingten
134 Kapitel 11 · Psychotraumatologie – Grundlagen und Anwendungen in medizinischen Disziplinen

Risikogruppen kann eine spezifische Stressimmu- psychologischen Aus- und Fortbildung sollten zur
nisierung bzw. Habituation an die traumatischen Stärkung der Schutzfaktoren (u. a. kollegiale und
Reize angenommen werden. Diese Personengrup- familiäre Unterstützung, Bewältigungsstrategien,
pen sind täglich Notfallsituationen ausgesetzt, so- körperliche Fitness) sowie zum Abbau der Risiko-
dass sie möglicherweise mit der Zeit lernen, diese faktoren (u. a. Verleugnung von Belastungen, Niko-
Ereignisse kognitiv als berufliche Anforderungen tin- und Alkoholkonsum, inadäquate Ernährung)
zu verarbeiten. Eine derartige kognitive Verarbei- befähigen. Eine Evaluationsstudie zu diesem um-
tung ist ein Beispiel für einen psychologischen Re- fassenderen Ansatz liegt noch nicht vor.
silienzfaktor (Widerstandsfaktor), der dazu führt,
dass trotz extremer Belastungen ein adaptiver Zu- Debriefings (Nachbesprechungen)
stand (z. B. Wohlbefinden, Gesundheit) wiederer- und Einsatznachsorge
reicht wird (Maercker 1998). Traditionell werden Einsatzkräfte nach einer erleb-
Nach verschiedenen Untersuchungen bilden ten Krisensituation durch Nachbesprechungen in
bis zu 20% der jeweiligen Berufsgruppe nach be- Gruppen oder im Einzelsetting, die von einem psy-
rufsbedingter Traumatisierung eine PTB aus. Tee- chologisch geschulten Experten durchgeführt wer-
gen (2001) fand sogar PTB-Prävalenzen zwischen den, unterstützt (sog. Debriefing; Bengel 2004. Die
30–40% bei Rettungsdiensten und Personal in bekanntesten Interventionsprogramme der Ein-
der Intensivpflege. Für diese Betroffenen werden satznachsorge entwarfen Mitchell und Everly (1998)
selbstredend spezifische Hilfs- und Interventions- mit ihrem breit angelegten »critical incident stress
programme dringend benötigt. management« (CISM) und dessen bekanntestem
Element, dem »critical incident stress debriefing«
(CISD).
11.4 Prävention und Interventionen Das strukturierte Debriefing (CISD) bzw. die
für Hochrisikogruppen Einsatznachbesprechung besteht aus einer einzel-
11 nen Besprechung, die im Normalfall zwei bis drei
Seit kurzem werden für berufliche Hochrisikogrup- Stunden dauern kann. Diese folgt einer festen
pen (z. B. Einsatzkräfte der Polizei, des Rettungs- Struktur mit sieben Phasen:
dienstes, der Feuerwehr) spezifische psychologische 1. Einführung,
Präventionsprogramme entwickelt, deren abschlie- 2. Fakten-Phase,
ßende Nutzenbewertung allerdings noch offen ist 3. Gedanken-Phase: Äußern der belastenden Ge-
(Übersicht bei Maercker u. Barth 2003). Ziel eines danken während des Einsatzes,
Programms von Wagner et al. (2001) war es, Kom- 4. Reaktions- bzw. Gefühlsphase: Äußern der
petenzen zu vermitteln, die eine adäquate Bewäl- schlimmsten Ereignisse während des Einsatzes,
tigung zukünftiger Traumata gewährleisten. Es um- 5. Auswirkungssphase: Äußern der an sich selbst
fasste Elemente wie Psychoedukation, Erlernen von festgestellten Veränderungen,
Entspannungstechniken, Stressprovokation mittels 6. Information über die typischen posttraumati-
wiederholter Filmrepräsentation (über Großscha- schen Symptome,
densfälle) sowie präventive Nachbesprechung. In 7. Abschluss.
einem Experimental-Kontrollgruppen-Design wur-
de dieses Programm bei Feuerwehrleuten durchge- Im Regelfall sollten diese Debriefings durch Hin-
führt. Im Ergebnis zeigten sich nicht die gewünsch- weise auf die Bedeutung der sozialen Unterstüt-
ten Verbesserungen, sondern Verschlechterungen zung und auf nachfolgende Betreuungsangebote
bei der Experimentalgruppe im Sinne einer erhöh- psychologischer und psychiatrischer Dienste vor
ten posttraumatischen Belastungssymptomatik. Ort ergänzt werden.
Bengel (2003) schlägt für die primäre Präventi- Während die umfassenderen CISMs bisher
on bei Hochrisikogruppen zwei Arten von Maß- noch nicht untersucht wurden, liegen zum CISD/
nahmen vor: psychologische Aus- und Fortbildung strukturierten Debriefing mehrere randomisierte
sowie begleitende Supervision. Die Inhalte der Kontrollgruppenstudien vor (Mayou et al. 2000;
11.5 · Potenzen und Grenzen der Psychotraumatologie in medizinischen Kontexten
135 11

Rose et al. 1999, 2003). Diese ergeben folgendes 2. progressive Muskelrelaxation,


Bild: Die subjektive Akzeptanz und die Bewertung 3. In-sensu-Exposition mit den traumatischen
von Debriefings durch die Teilnehmer ist sehr hoch, Erinnerungen (Abschn. 11.5),
sie werden überwiegend als entlastend und hilf- 4. kognitive Restrukturierung von angstbezoge-
reich erlebt. Auf die Ausbildung einer späteren nen Überzeugungen,
PTB-Symptomatik haben einzeln durchgeführte 5. graduierte In-vivo-Konfrontation mit vermie-
Debriefing-Sitzungen jedoch im Mittel keine bzw. denen Situationen.
eine negative Wirkung. Negative Wirkung bedeu-
tet, dass Personen, die der CISD-Interventions- Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (unterstüt-
gruppe zugeordnet waren, zum Teil einen Sensibi- zende Beratung) verbesserten sich die Störungs-
lisierungsprozess zeigten, der mit einer erhöhten parameter in der Behandlungsgruppe signifikant.
PTB-Symptomausprägung einherging. Diese Be- Dieser Effekt war auch nach 6 Monaten stabil.
fundlage hat eine Kontroverse ausgelöst, in der es
um die Frage geht, was Inhalt einer Einsatznach-
sorge sein sollte und unter welchen Bedingungen 11.5 Potenzen und Grenzen
Debriefings angezeigt sind. der Psychotraumatologie
in medizinischen Kontexten
Psychotherapeutische Frühinterventionen
Es liegen zwei Therapieprogramme zur Behand- Die bisherigen Ausführungen haben deutlich ge-
lung der unmittelbaren posttraumatischen Symp- macht, dass die Prävalenz der PTB nach Erkran-
tomatik bzw. akuten Belastungsstörung (s. o.) vor. kungen, medizinischen Behandlungen und bei
Foa et al. (1995) entwickelten ein Behandlungsan- Risikogruppen berufsbedingter Hilfseinsätze mög-
gebot für Vergewaltigungs- und Überfallopfer, das licherweise stark unterschätzt bzw. bisher verkannt
vier Sitzungen umfasste und 6–21 Tage nach dem wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es zwin-
Trauma begonnen wurde. Es bestand aus gend, über den Einsatz zielgerichteter Interven-
1. einem gefühlsinduzierendem Gespräch über tionsmöglichkeiten nachzudenken.
das Trauma, Die Personen, bei denen eine PTB übersehen
2. dem Vermitteln von Informationen über übli- wurde, weisen eine Anzahl von psychosozialen
che Traumareaktionen (sog. Psychoedukation), Komplikationen sowie eine Reihe weiterer medizi-
3. einer Diskussion über Schuld und Schamge- nischer Erkrankungsrisiken auf. Ungünstig wirkt
fühle, die das Trauma begleiten, sich dabei insbesondere der Umstand aus, dass eine
4. einer Präsentation von Bewältigungsfertigkei- PTB-Symptomatik häufig mit einer Nichtnutzung
ten, einschließlich eines Selbstsicherheitstrai- medizinischer Hilfsangebote verbunden ist (Shalev
nings und dem Erlernen von Gedankenstopp- 2002). Personen mit einer PTB sind sehr selten
techniken. direkte, aktive Hilfesuchende. Sie vermeiden viel-
mehr alle möglichen Kontexte, die mit psychologi-
Die PTB-Symptomatik in der Interventionsgruppe scher Traumabehandlung oder -beratung assozi-
verbesserte sich bei 70% der Teilnehmer im Ver- iert sind (z. B. Peer-support-Angebote, Pieper u.
gleich zu 10% der Teilnehmer in der Kontrollgrup- Maercker 1999). An dieser Stelle sind kreative
pe, wobei die Gruppenunterschiede über einen 5- Lösungen gesucht, um gerade diese Personen so-
Monatszeitraum stabil blieben. wie deren Angehörige und Bezugspersonen mit
Bryant et al. (1998) entwickelten ein Behand- effektiven Maßnahmen zu erreichen. Deswegen ist
lungsangebot fürVerkehrsunfall- oder zivile Gewalt- der interventions- bzw. therapiebezogene Zweig
opfer, dass in fünf Sitzungen stattfand und inner- der Psychotraumatologie von anhaltender Wich-
halb der ersten zwei Wochen nach dem Trauma tigkeit. Hier geht es insbesondere darum, nach-
begann. Bestandteile waren: gewiesene effektive Präventions- und Interven-
1. Psychoedukation über übliche Traumareak- tionsstrategien zu entwickeln, die eine erste Ge-
tionen, neration gut gemeinter, aber oft nicht zweifelsfrei
136 Kapitel 11 · Psychotraumatologie – Grundlagen und Anwendungen in medizinischen Disziplinen

wirksamer Methoden (z. B. »critical incident stress auch zu der Ausbildung anderer psychischer Stö-
debriefing«, CISD, Mitchell et al. 1996) ersetzen rungen als der PTB führen können, sodass ein ein-
müssen. seitiges Suchen nach PTB-Symptomatik ebenfalls
Bisher wurde fast ausschließlich über die Po- unangebracht wäre.
tenzen der Psychotraumatologie geschrieben. Möglicherweise wird die Psychotraumatologie
Welche Begrenzungen lassen sich abschließend in Bezug auf Forschungs- und Anwendungsfelder
resümieren? Bei den meisten neuen und anwen- zunehmende Differenzierungen erfahren, zu de-
dungsbezogenen Entwicklungen der Medizin und nen die – oben skizzierten – weiteren Diagnosen,
Psychologie gibt es durch deren »Modischwerden« wie die akute Belastungsstörung und die kompli-
die Gefahr des inflationären Gebrauchs neuer Kon- zierte Trauer, aber auch die Wiedereinbeziehung
zepte. – Anzeichen dafür gibt es auch in den hier anderer Störungen, wie Angststörungen, spezifi-
skizzierten Bereichen der Psychotraumatologie. sche Phobien und depressive Syndrome, gehören.
Zum einen scheint es eine Überinklusivität in Be- Dies sollte zu verbesserten Diagnosestrategien und
zug darauf zu geben, was als ein traumatisches effektiveren Interventionsmöglichkeiten in Bezug
Ereignis angesehen wird. Beispielsweise wurden auf die psychische Symptomatik nach traumati-
vereinzelt weitere Erkrankungen, die nicht mit schen Erlebnissen führen. Eine wünschenswerte
einer direkten Lebensgefahr einhergehen, wie Entwicklung wäre zudem, wenn dieses stetig wach-
psychotische Erkrankungen (Shaw et al. 1997) oder sende und differenzierter werdende Wissen um
die berufliche Mobbing-Konstellation (Leymann traumabedingte Stressreaktionen weiteren Ein-
1990), als traumatische Ereignisse im Sinne der gang auch in die nichtpsychiatrischen medizini-
PTB-Definition verwendet und damit die spezi- schen Disziplinen fände. Dies würde dazu führen,
fische Grundannahme des Konzepts außer acht dass zukünftig bei gegebener Indikation psycho-
gelassen. Zum anderen hat sich im klinischen logisch-psychiatrische und medizinische Maß-
Gebrauch des PTB-Konzepts teilweise eine auto- nahmen noch besser ineinander greifen und eine
11 matische Gleichsetzung des Erlebens eines trauma- Behandlung für betroffene Patienten zu einem um-
tischen Ereignisses mit dem Vorliegen einer PTB fassenden integrativ-psychosomatischen Behand-
eingebürgert. Dabei wird übersehen, dass erst das lungsprogramm optimiert werden könnte.
Vorliegen einer bestimmten Symptomkonstella-
tion (s. o.) zur Diagnose einer PTB qualifiziert. Die
Definitionen dieser Symptomkonstellationen (im Literatur
DSM-IV oder ICD-10) erfordern dabei das gleich-
zeitige Auftreten mehrerer verschiedener Sympto- Alexander, D. A. (1993). Stress among police body handlers.
me, d. h. nicht jedes Einzelsymptom steht schon für British Journal of psychiatry, 163, 806–808.
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wert partieller bzw. subklinischer posttrauma-
137–143.
tischer Belastungsstörungen lässt sich derzeit American Psychiatric Association (1994). Diagnostic and statis-
noch nicht abschließend bewerten (Schützwohl u. tical manual of mental disorders. (4th ed.). Washington:
Maercker 1999). In diesem Zusammenhang ist auf American psychiatric Association.
die Ergebnisse epidemiologischer Studien zu ver- Andrykowski, M. A. & Cordova, M. J. (1998). Factors associated
with PTSD symptoms following treatment for breast can-
weisen: Denen zufolge zieht kein einziges Trauma
cer: A test of the Andersen Model. Journal of Traumatic
in 100% der Fälle eine PTB nach sich, und manche Stress, 11, 189–203.
Traumata, wie Verkehrsunfälle und Naturkatastro- Andrykowski, M. A., Cordova, M. J., Studts, J. L. & Miller, T. W.
phen, führen regelmäßig nur in weniger als 10% der (1998). Posttraumatic stress disorder after treatment for
Fälle zu einer PTB. Dagegen gehen Traumata durch breast cancer: prevalence of diagnosis and use of the
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Vergewaltigungen oder Kriegserlebnisse in der
instrument. Journal of Consulting and Clinical Psychology,
Regel mit PTB-Prävalenzen von ca. 50% einher 66, 586–590.
(Kessler et al. 1995; Maercker 1997). Des Weiteren ist Babington, A. (1997). Shell-Shock. A history of the changing
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12

Chronisch kranke Kinder und Jugendliche:


Die (Neu)Entdeckung des Struwwel-
peters durch die verhaltenspädiatrische
Forschung?
W.-D. Gerber, G. Gerber-von Müller

12.1 Epidemiologische und psychosoziale Aspekte chronischer


Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – 142

12.2 Ein verhaltenspädiatrisches Modell der Migräne? – 144


12.2.1 Kindliche Migräne: vererbt und/oder gelernt? – 144
12.2.2 Migräne als cerebrale Reizverarbeitungsstörung – 145

12.3 Vom Modell zur verhaltenspädiatrische Behandlung – 147

Literatur – 151
142 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

 lich unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper-


aktivitätsstörung (ADHS), also einer von vielen
Der heute 17-jährige Thorben wurde in unserer ver- chronischen Erkrankungen im Kindes- und Ju-
haltensmedizinischen Ambulanz von seinen Eltern gendalter. Nach einer Befragung bei 17.110 Kindern
aufgrund der Veranlassung des Jugendgerichtes durch das National Health Interview Survey on
vorgestellt. Thorben wurde wegen Drogenhandels Child Health« (NHIS) sollen 31% der Kinder und
verhaftet und erhielt die Aussicht, von einer Haft- Jugendlichen unter 18 Jahren mindestens eine
strafe befreit zu werden, wenn er sich in eine psy- chronische Erkrankung aufweisen, wobei 19 ver-
chotherapeutische Behandlung begeben würde. schiedene Störungsbilder vorgegeben waren. Am
Im Erstgespräch zeigte sich Thorben zunächst sehr häufigsten traten respiratorische Allergien (10%),
motiviert, wobei schnell deutlich wurde, dass es ihm Ohrenentzündungen (8%) und Asthma (5%) auf.
schwer fiel, sich ausreichend gut anzupassen. Die Aufgrund verschiedener neuerer Untersuchungen
Eltern berichteten, dass Thorben von Geburt an zur Epidemiologie von Krankheiten im Kindesalter
lebhaft gewesen sei und bereits im Kindergarten konnte festgestellt werden, dass fast 50% aller be-
erhebliche soziale Probleme gehabt habe. Im Alter fragten Schulkinder unter chronisch-rezidivieren-
von 7 Jahren sei von ihrem Kinderarzt die Diagnose den Kopfschmerzen leiden (Abu-Arefeh u. Russel
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstö- 1994; Bille 1962, 1997; Sillanpäa u. Anttila 1996). In
rung) festgestellt worden. Mit 11 Jahren sei ihr Sohn der sog. »Gläsernen Studie« in Schleswig Holstein
aus der Schule ausgeschlossen worden. Danach wurde herausgefunden, dass Kopfschmerzen die
habe er das Medikament Ritalin erhalten und sei häufigsten Beschwerden sind, aufgrund derer Kin-
in ein Internat gekommen. Mit 14 Jahren habe er der den Schulunterricht versäumen. Ca. 10% der
einen ersten Diebstahl begangen und mit 16 Jahren Kinder und Jugendlichen sind dauerhaft beein-
sei er wegen Körperverletzung angeklagt worden. trächtigt, weil sie unter einer chronischen Erkran-
In der Begutachtung stellten wir eine schwere Per- kung leiden. Darüber hinaus zeigte sich, dass bei
sönlichkeitsstörung (dissoziale Persönlichkeit) bei 30% der 12–16-jährigen Kinder »psychosomati-
zugrunde liegender ADHS fest. Thorben wurde nie- sche« Beschwerden, wie Asthma, Kopfschmerzen,
mals psychotherapeutisch betreut. Er lehnte eine ADHS, Epilepsie u. a. vorliegen (Warschburger
12 entsprechende Behandlung zum Zeitpunkt der 2000). Vergleichsweise selten, jedoch nicht minder
Begutachtung ab und akzeptierte die 6-monatige dramatisch in ihrem Verlauf, sind Krebserkran-
Inhaftierung. kungen (2 von 1000 Kindern), Diabetes (0,14%)
und Epilepsien (0,19%). Die epidemiologischen
Zahlen entsprechen auch dem Publikationsstand:
Über 20.000 Publikationen finden sich zum kind-
12.1 Epidemiologische und psychosoziale lichen Asthma, 6.150 zum ADHS, 4.100 zum kind-
Aspekte chronischer Erkrankungen lichen Kopfschmerz und immerhin noch 1.300 Ar-
bei Kindern und Jugendlichen beiten zu den atopischen Störungen.
Die Anzahl der Kinder mit chronischen gesund-
Thorben ist ein typisches Beispiel eines ungünsti- heitlichen Beeinträchtigungen an Regelschulen
gen Krankheitsverlaufes eines Jugendlichen, wobei nimmt zu. So auch der Bedarf an Informationen sei-
die zugrunde liegende Erkrankung des Kindes tens der Eltern und Lehrer. Viele Kinder unter 10 Jah-
nicht erkannt wurde und in der Folge schwere Stö- ren nehmen bereits regelmäßig Medikamente (z. B.
rungen des Sozialverhaltens und Delinquenz auf- Schmerzmittel) ein (Gerber et al. 1988). Schulschwie-
traten. Auch wenn dieser Fall sehr speziell ist, so rigkeiten und eine ungünstige körperliche, psychi-
können generell die Folgen chronischer Erkran- sche – insbesondere auch soziale – Entwicklung, die
kungen im Kindes- und Jugendalter aus psycho- in vielen Fällen zu einer lebenslang eingeschränkten
sozialer und gesundheitsökonomischer Sicht als Lebensqualität führen, sind anzunehmen.
sehr erheblich angesehen werden. Fast jeder zweite Sind somit chronische Erkrankungen im Kin-
straffällig gewordene Jugendliche leidet ursprüng- desalter Tribute unseres heutigen modernen Zeit-
12.1 · Epidemiologische und psychosoziale Aspekte chronischer Erkrankungen
143 12

alters? Dem ist sicherlich nicht so. Erkrankungen, 3


wie z. B. die Migräne, sind bereits 5.000 Jahre v. Chr.
2,5 **
in Ägypten auf Papyrusrollen beschrieben worden. *
**
Und selbst Verhaltensauffälligkeiten, wie die von
Thorben, erinnern uns an die Beschreibungen des 2
Frankfurter Kinderarztes Dr. Hoffmann, der in sei- Gesunde
nem Struwwelpeter vielfältige Erkrankungen, wie 1,5
Diabetes
z. B. die Anorexia nervosa (Suppenkaspar), ADHS
(Zappelphillip) oder auch oppositionelle Störun- 1
gen (der böse Friederich) beschrieb. Und bereits
Hoffmann verstand sein Buch als Aufklärungsbuch, 0,5
wenn er 1893 schreibt:
0
Mit moralischen Vorschriften zumal weiss es

rn
le

ts
nd

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hu

te
(das Kind) gar nichts anzufangen. Die Mah-

se
eu
El
Sc

Fr
nung: sei reinlich! Sei vorsichtig mit dem
⊡ Abb. 12.1. Vergleich von Diabetes-Kindern und Gesunden
Feuerzeug und lass es liegen! Sei folgsam ! – das
hinsichtlich sozialer Einschränkungen; *p<0.05, **p<0.01.
alles sind leere Worte für das Kind. Aber das (Aus Seiffge-Krenke et al. 1996)
Abbild des Schmutzfinken, des brennenden
Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen,
das Anschauen allein erklärt sich selbst und fluss auf die mentale und emotionale Befindlich-
belehrt. keit des Kindes sowie dessen Leistungsfähigkeit
speziell im schulischen Bereich. Krankenhaus-
Heute, 150 Jahre nach der Ersterscheinung des aufenthalte, zahlreiche ambulante Kontakte mit
Struwwelpeters sind die beschriebenen sozialen Ärzten, aber auch häufig von früher Kindheit an
Vorgänge brandaktuell, wenn wir uns die fremden- zeitaufwendige Behandlungen (z. B. Ergotherapie)
feindlichen Geschehnisse, aber auch die zahlrei- führen dazu, dass die Kinder und Jugendlichen
chen Berichte von jugendlichen Amokläufern in zunehmend zermürbt und in ihrer allgemeinen Le-
den letzten Jahren vergegenwärtigen. bensqualität deutlich beeinträchtigt sind (Warsch-
Die psychosoziale Situation der betroffenen burger 2000). ⊡ Abbildung 12.1 zeigt die psycho-
Kinder ist geprägt durch zahlreiche körperliche sozialen Folgen bei Kindern, die unter Diabetes
und soziale Einschränkungen. Ein Kind mit einer leiden, im Vergleich zu gesunden. Dabei wird deut-
Lebensmittelallergie lebt in ständiger Angst, etwas lich, dass kranke Kinder insbesondere in der
zu essen, von dem es Bauchschmerzen, Durchfall Schule, Freizeit und im persönlichen Umfeld Ein-
oder Atemnot bekommt. Einem Kind mit Diabetes schränkungen hinnehmen müssen (Seiffge-Krenke
drohen Krämpfe und Ohnmachten oder Schmer- et al. 1996).
zen beim täglichen Spritzen. Bestimmte soziale Gerade aus diesem Grund hat sich die medizi-
Aktivitäten und Spiele sind dem Epilepsiekind nisch-psychologische Forschung in Deutschland
untersagt. Das Kind mit Neurodermitis befürchtet in den letzten 20 Jahren vorwiegend mit der
ständig, dass es einen Juckanfall bekommt und Krankheitsverarbeitung und -bewältigung bei
dass jemand abweisend reagiert, wenn er die ent- Kindern und Jugendlichen beschäftigt (Brähler et
zündeten, schuppigen Hautstellen entdeckt. Chro- al. 1990). Ausgehend von entwicklungspsychologi-
nische Erkrankungen im Kindesalter sind durch schen Überlegungen wurden etwa Untersuchungen
die Langwierigkeit im Verlauf und die Unsicherheit zum Schmerzerleben von Kindern sowie Unter-
in der Vorhersage bezüglich der Wiederherstellung suchungen der Körperfunktionen und Krankheit
des Gesundheitszustandes gekennzeichnet (Seiffge- durchgeführt (Maxin u. Smith 1990). Die Krank-
Krenke et al. 1996). Viele chronische Erkrankungen heitsverarbeitung der Kinder im Hinblick auf ihre
im Kindesalter haben einen sehr ausgeprägten Ein- chronische Erkrankung ist, ebenso wie bei Erwach-
144 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

senen, von der Schwere der Erkrankung, der Stig- 12.2 Ein verhaltenspädiatrisches Modell
matisierung, der aktuellen Belastung (Schmerzen, der Migräne?
Immobilität), dem Grad der Vorhersagbarkeit im
Verlauf und den Möglichkeiten zur aktiven Krank- 12.2.1 Kindliche Migräne:
heitsbeeinflussung abhängig. Anders als bei Er- vererbt und/oder gelernt?
wachsenen ist die Krankheitsbewältigung von Kin-
dern stark von dem Einfluss der Eltern abhängig. Obwohl die Migräne seit über 4.000 Jahren be-
So wurde in vielen Untersuchungen belegt, dass kannt und beschrieben ist, ist die eigentliche Ursa-
als Ursachen für Anpassung wie Fehlanpassung che der Erkrankung nicht bekannt. Die letzten 20
das Modellverhalten der Eltern, deren spezifische Jahre haben allerdings für die Pathophysiologie der
Krankheitsbewältigungsstrategien, aber insbeson- Migräneattacke bedeutsame neue Erkenntnisse er-
dere auch lernpsychologisch relevante (operante) bracht. Danach wird die Migräneattacke als eine
Mechanismen (z. B. Überbehütung) von großer Be- neurovaskuläre Störung, die auf neurogene Ent-
deutung sind. Darüber hinaus hängt die Krank- zündungsstörungen zurückgeführt werden kann,
heitsverarbeitung und -bewältigung bei Kindern, beschrieben. Es wird allgemein angenommen, dass
anders als bei Erwachsenen, besonders auch von die Migränesymptomatik womöglich auf einer
deren Alter, Entwicklungsstand und von familiärer genetisch bedingten Störung des Hirnstammes
Einbindung ab (Warschburger 2000). beruht, wobei neuere Arbeiten eine Calziumionen-
Komplexe biopsychosoziale Modelle und ent- kanal-Erkrankung vermuten (May et al. 1995). Al-
sprechende empirische Untersuchungen zur Ent- lerdings konnten Mutationen auf dem Calciumka-
stehung und zum Verlauf chronischer Erkrankun- nal-Gen auf Chromosom 19p13 lediglich bei einer
gen im Kindes- und Jugendalter sind innerhalb der sehr seltenen kindlichen Migräneerkrankung,
medizinischen Psychologie eher selten. So findet nämlich der familiär-hemiplegischen Migräne,
die Verhaltenspädiatrie in der medizinischen Psy- sicher nachgewiesen werden. Interviews mit Mi-
chologie bislang kaum Beachtung. Entsprechend gränepatienten konnten eine hohe Familienbelastet-
der Definition von Russo und Varni (1982) ist Ver- heit bei etwa 60–90% der Migränepatienten aufzei-
haltenspädiatrie (»behavioral pediatrics«) gen. Zwillingsstudien fanden eine höhere Konkor-
12 danz bei monozygoten (ca. 50%) im Vergleich zu
die Repräsentanz der interdisziplinären Inte- dizygoten (ca. 14%) Zwillingen, wobei damit deut-
gration biobehavioraler Medizin und Pädiatrie, lich wird, dass kein einfacher Mendelscher Erbgang
wobei die Betonung auf einer multidimensio- mit vollständiger Penetranz (100%) zugrunde ge-
nalen und ganzheitlichen Betrachtungsweise legt werden kann (Haan et al. 1997).
zur Diagnostik, Prävention, Behandlung und Neuere Untersuchungen italienischer Arbeits-
Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen gruppen konnten feststellen, dass bei der Migräne
liegt. ein angeborenes vermindertes neuronales mito-
chondriales Energiereservedefizit vorliegt (Mon-
Im Sinne einer modernen Verhaltenspädiatrie soll- tagna 2000). Dieses Defizit könnte womöglich die
te die empirische Forschung schwerpunktmäßig häufig bei Migränekindern beobachteten Verhal-
auf die Erarbeitung integrativer neurobiopsycho- tensauffälligkeiten erklären, da spezifische Verhal-
logischer Modelle zur Entstehung und Aufrecht- tensmuster wie Hypersensitivität damit verbunden
erhaltung von chronischen Erkrankungen im Kin- sein können. Verschiedene Arbeitsgruppen (z. B.
des- und Jugendalter liegen. Im Folgenden möch- Del Bene 1982) zeigten, dass sich Migränekinder
ten wir anhand einer chronischen Erkrankung, von gesunden Kindern in bestimmten Verhaltens-
nämlich der Migräneerkrankung, beispielhaft ei- merkmalen deutlich unterscheiden. Bei Migräne-
gene Forschungsbefunde skizzieren und in Mo- kindern konnten bereits vor dem Ausbruch der
dellvorstellungen integrieren. Erkrankung erhebliche Stimmungsschwankungen,
vegetative – insbesondere abdominelle – Beschwer-
den, Hyperaktivität, Schlafstörungen und zykli-
12.2 · Ein verhaltenspädiatrisches Modell der Migräne?
145 12

sches Erbrechen nachgewiesen werden. Anderer-


8 Migräneanfall
seits zeigen Beschreibungen von Eltern von Migrä-

Verlauf der CNV-Habituation über 5 Blöcke


7
nekindern, dass diese sich im Vergleich zu ihren
6
gesunden Geschwistern deutlich unterschieden

hinweg (lineare Regression)


5
(Gerber et al. 2001). Migränekinder werden danach
4
als hypersensibel, hyperaktiv, ehrgeizig, ängstlich,
3
aber auch neugierig und kreativ beschrieben. Auf-
2
fällig dabei ist, dass die Kinder (wie auch Erwach-
1
sene) vermehrt Lust an einer gesteigerten moto-
0
rischen und kognitiven Aktivität verspüren (Eus-
–1
tressempfindung). –2
–3
–4 n = 6 5 7
12.2.2 Migräne als cerebrale 5 7 15 6 7 5 5
–5
Reizverarbeitungsstörung –5 –4 –3 –2 –1 attack 1 2 3 4
Tage vom und bis zum Anfall
Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe um Jean ⊡ Abb. 12.2. Migräneperiodizität (siehe Erläuterung im Text)
Schoenen in Belgien stellten wir uns die Frage, ob
die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten auf
eine biologische bzw. zentralnervöse Störung bei nente als noradrenerges Korrelat und die späte
Migränekindern und -erwachsenen zurückgeführt Komponente als dopaminerges Korrelat anzusehen
werden können. Die hierzu durchgeführten Unter- ist (Gerber u. Schoenen 1998).
suchungen basieren auf dem neurophysiologischen Eine weitere Besonderheit der Migräneerkran-
Paradigma der sog. »contingent negative varia- kung ist die sog. CNV-Periodizität. Die Migräne-
tion« (CNV). Bei der CNV handelt es sich um ein attacken treten in der Regel periodisch (z. B. alle
langsames Hirnpotential, das nach einem Warnreiz 14 Tage) auf. Durch Zufall konnten wir entdecken,
und einem imperativen Reiz auftritt (⊡ Abb. 12.2). dass die Höhe der kortikalen Aufmerksamkeitsbe-
Die neurophysiologischen Untersuchungen lassen reitschaft, d. h. der CNV-Amplitude, abhängig ist
sich am einfachsten durch folgende Beispiele erklä- vom Zeitpunkt der Nähe zur Migräneattacke. Wir
ren: Wenn ein Autofahrer vor einer roten Ampel stellten unmittelbar vor der Migräneattacke (z. B.
steht, erwartet er vielleicht, dass die Ampel grün ein bis zwei Tage vor der Attacke) die höchste kor-
wird. Zwischen diesen Phasen entwickelt sich in tikale Aktivierung fest, die dann während der Mi-
unserem Gehirn eine kortikale Aufmerksamkeits- gräneattacke zusammenbrach. Es zeigte sich im
bereitschaft, die sich neurophysiologisch abbilden weiteren Verlauf, dass von Tag zu Tag ein langsa-
lässt. Im Labor erhalten Patienten und Versuchs- mer Aufbau der CNV-Amplitude erfolgt, um dann
personen in ca. 40 Durchgängen zunächst ein akus- schließlich erneut zu einem bestimmten Zeitpunkt
tisches Warnsignal, dem nach 3 Sekunden ein zwei- in einer erneuten Migräneattacke zusammenzu-
tes imperatives akustisches Signal folgt, wobei die brechen (Kropp u. Gerber 1998). Klinische Beobach-
Versuchspersonen angehalten werden, bei einem tungen und Befragungen von Kindern und Erwach-
hohem Ton einen Knopf zu drücken bzw. bei einem senen konnten zeigen, dass spezifische Auslöser
tiefen Ton nicht zu reagieren. (wie Nahrungsmittel, Stress) einen Anfall triggern
Die CNV-Studien erbrachten überraschende können. Auch euphorische Empfindungen, die zu
Ergebnisse. Migränepatienten (Kinder und Er- einer Zunahme der Reizselbststimulation führen
wachsene) reagierten in den Experimenten mit sowie Heißhungerattacken, sind von besonderer
einer deutlich erhöhten kortikalen Aktivierung, Bedeutung. Olds und Milner konnten bereits 1954
verglichen mit Gesunden und Spannungskopf- feststellen, dass die kortikale Selbststimulation im
schmerzpatienten. Tierexperimentelle Untersu- Septum mit einer dopaminergen Aktivierung ein-
chungen weisen darauf hin, dass die frühe Kompo- hergeht. Daher nehmen wir an, dass durch die Akti-
146 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

vierung dopaminerger Strukturen im Gehirn eine nen zwischen Eltern und Migränekindern ergeben
Selbststimulation erfolgt und somit die Migräne als sich deutliche Auffälligkeiten. In einer Untersu-
produktive Maßnahme zum Schutz des Gehirns chung mit Müttern und Vätern und dem migräne-
fungiert. Die dopaminerge Aktivierung lässt sich kranken Kind sowie dessen Geschwister wurden in
auch in den späten Komponenten der CNV-Ampli- einer Stresssituation die Interaktionen zwischen
tuden feststellen. Offensichtlich neigen Migräne- den Paaren untersucht und auf Video aufgezeich-
patienten dazu, eine Homöostase herzustellen und net. Dabei erhielten jeweils Vater und Kind sowie
durch die Einleitung einer Migräneattacke letztend- Mutter und Kind die Aufgabe, eine Hälfte eines
lich den überreizten Hirnstamm zu entlasten. Puzzles zusammenzubauen, wobei die Eltern an-
Ein weiteres spezifisches Merkmal von erwach- gehalten waren, nicht selbst aktiv in den Prozess
senen Migränepatienten ist, dass sie auf die darge- motorisch einzugreifen. Sie konnten lediglich ver-
botenen Reize im CNV-Experiment nicht habituie- bale Hilfestellungen geben. Die Auswertungen der
ren (gewöhnen) und sich dadurch deutlich von Videoaufzeichnungen erbrachten eindeutig, dass
gesunden Versuchspersonen unterscheiden. In ei- in den Migränefamilien die Eltern ihren Migräne-
genen Untersuchungen mit Migränefamilien konn- kindern gegenüber – im Vergleich zu den gesunden
ten wir feststellen, dass Migränekinder durchweg Geschwistern – zu einem eher selbstständigkeits-
ähnliche kortikale Muster zeigen, wie ihre ebenfalls hemmenden Verhalten neigen (Gerber et al. 2001).
an Migräne leidenden Eltern. Allerdings fanden Migränekinder werden dabei häufiger bestraft, un-
wir überraschenderweise, dass sich gesunde und terbrochen und verbessert. Generell kann man das
kranke Kinder etwa bis zur Pupertät in ihrer Verhalten der gesunden Geschwister in der Familie
Habituationsgeschwindigkeit nicht unterschieden kennzeichnen als ein aktives, selbständiges Ar-
(Kropp et al. 1999). Nach dieser Altersphase ergab beitsverhalten ohne häufiges Rückfragen durch die
sich eine Normalisierung der Habituation bei den Eltern. Wir konnten darüber hinaus feststellen,
gesunden Kindern, nicht jedoch bei den Migräne- dass die Störung der Habituation der CNV um so
kindern. Wir vermuten, dass dieses Phänomen ent- ausgeprägter und die Neurotizismuswerte bei den
weder auf eine Hirnreifungsstörung oder auf spe- Migränekindern um so höher waren, je mehr
zifische Lernmechanismen hinweisen könnte. Kontrolle und selbstständigkeitshemmende Ver-
12 Neben diesen neurophysiologischen und bio- haltensweisen Migränekinder seitens ihrer Eltern
logischen Mechanismen, die womöglich genetisch erlebten (Siniatchkin u. Gerber 2001).
determiniert sind, lassen sich darüber hinaus aber Die geschilderten empirische Befunde weisen
auch psychosoziale Auffälligkeiten wissenschaft- auf ein komplexes Modell bei der Migräneerkran-
lich nachweisen. Insbesondere in den Interaktio- kung hin (⊡ Abb. 12.3). Ausgehend von einem wo-

⊡ Abb. 12.3. Verhaltensmedizinisches


Modell der Ätiopathogenese der
Migräne. (? = empirisch noch nicht
belegt; ! = empirisch belegt)
12.3 · Vom Modell zur verhaltenspädiatrische Behandlung
147 12

möglich angeborenen neuronalen mitochondria- den Eltern einerseits lernpsychologisch ungünsti-


len Energiereservedefizit könnte von Geburt an ge Erziehungspraktiken aufzeigen und diese durch
eine erhöhte Vulnerabilität bzgl. der kortikalen gezielte verhaltensnahe Übungen (Rollenspiele)
Hypersensitivität und Reizverarbeitungsstörung verändern. So konnte gezeigt werden, dass spezifi-
vorliegen. Die Homoöstase wird vermutlich durch sche Elterntrainingsprogramme, speziell in Kom-
eine extreme biologische und/oder psychologische bination mit der verhaltensmedizinischen Behand-
kortikale Überstimulation gestört, es kommt zum lung des Kindes, sehr effizient sind. ⊡ Tabelle 12.1
ersten Migräneanfall. Die Interaktionsbeobachtun- gibt eine Übersicht über die derzeitigen verhaltens-
gen der Eltern in den Familien weisen darauf hin, medizinischen Behandlungsprogramme bei ent-
dass ungünstige Erziehungsverhaltensmuster ur- sprechenden Krankheitsbildern.
sächlich oder auch als Folge der Hypersensitivität Ein Beispiel für ein solches verhaltenspädia-
der Kinder zu einer Verschärfung der Reizüber- trisches Programm ist das von uns entwickelte
empfindlichkeitsproblematik führen. Das Wechsel- Kopfschmerz-Eltern/Kindschulungsprogramm
und Zusammenspiel zwischen vermutlich gene- MIPAS-KIEL (MIgränePAtientenSeminar-KIEL; für
tisch determinierten biologischen Vorgängen und Kinder und Eltern), das einen umfassenden Eduka-
psychosoziale Faktoren lässt sich somit in einem tionsbaustein mit einbezieht, der u. a. auf die Be-
verhaltenspädiatrischen Modell darstellen. antwortung folgender Fragen abzielt (Gerber u.
Gerber-von Müller 2002):
▬ Was sind Kopfschmerzen und unter welchen
12.3 Vom Modell zur verhaltens- Kopfschmerzen leidet mein Kind?
pädiatrische Behandlung ▬ Was sind die möglichen Ursachen von Kopf-
schmerzen?
In den letzten Jahren wurden speziell aus dem ver- ▬ Was läuft während einer Migräne ab?
haltensmedizinischen Forschungsansatz heraus ▬ Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei
zahlreiche Behandlungsprogramme für Kinder mit Kopfschmerzen?
chronischen Krankheiten und deren Eltern ent- ▬ Welche Rolle spielen Medikamente?
wickelt. Mehreren Programmen gemeinsam ist die ▬ Was können wir und mein Kind selbst tun?
Einbeziehung der Eltern in den Behandlungspro-
zess des Kindes. Neben Edukation (Information) Die Erläuterung der ätiopathogenetischen Zusam-
werden in manchen Verfahren, wie z. B. in dem menhänge (z. B. der Migräne) soll dazu dienen,
Trainingsprogramm von Döpfner et al. (2002) zur womöglich vorliegende Fehlattributionen von El-
Behandlung von ADHS-Kindern (sog. Thop-Pro- tern (Kopfschmerz hängt vom Wetter ab) zu korri-
gramm), auch Elemente des Elterntrainings mit gieren. Im Vordergrund stehen dabei die zentrale
einbezogen. Ein spezifisches Elterntraining soll Reizverarbeitungsstörung bei der Migräne und

⊡ Tabelle 12.1. Ausgewählte Trainingsprogramme für chronisch kranke Kinder

Autoren Zielgruppe Methoden/Medien


Döpfner et al. (1998) ADHS Kindertraining
Elterntraining
Lauth u. Schlottke (2002) ADHS Kindertraining (Aufmerksamkeit)
Niebel (1999) Neurodermitis Kinder- und Elterntraining mit Videofilm
Scheewe et al. (1997) Neurodermitis Kinder/Jugendliche/Eltern
Gerber u. Gerber- von Müller (2003) Kopfschmerzen Eltern- und Kindertraining
Deneke u. Kröner-Herwig (2000) Kopfschmerzen Kindertraining
Petermann et al. (1993) Asthma Kinder-/Jugendlichentraining
148 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

⊡ Tabelle 12.2. Ablauf und Inhalte der Kopfschmerz-Elternschulung (MIPAS-KIEL)

Sitzung-Nr. Ziel Inhalte Medien


1. Screening – Befunderläuterung; Motivation Interaktionsvideo zeigen; Kopf- Video; Befunde
Einzelberatung zur Elternschulung überprüfen schmerztagebücher ausgeben
2. erste Gruppen- Kopfschmerzen meines Kindes gegenseitige Exploration zum kind- Flipchart; Klassifikations-
sitzung erkennen lernen lichen Kopfschmerz; Besprechung schemata
3. zweite Kopfschmerzen meines Kindes Wissen über Kopfschmerzen Flipchart; Folien zur
Gruppensitzung verstehen lernen; Ursachen sammeln; Erklärung der Pathophysiologie;
erkennen Ätiopathogenese durch Trainer; Pathogenese
Reiztagebücher ausgeben
4. dritte Gruppen- elterliche Rolle beim Kopf- Interaktionsvideo analysieren; Flipchart;
sitzung schmerz erkennen; Veränderung selbstständigkeitsfördernde Video; Mann-im-Ohr-
von Erziehungspraktiken Methoden einüben System; Selbstreflexions-
bögen
5. vierte Gruppen- Stressabhängigkeit bzw. Reiz- gegenseitige Exploration von Flipchart; Körperwahr-
sitzung verarbeitungsprozesse erken- Reizbedingungen und Sinnesmo- nehmungsbogen
nen; Analyse von Bedingungen dalitäten; Induktion von Reizen
(z. B. Telefon) und Körperwahrneh-
mung; 10 Tipps
6. fünfte Gruppen- Entspannungstechniken Durchführung des PMR mit den Entspannungsthermo-
sitzung für mein Kind kennen lernen Eltern; differentielle und konditio- meter
nierte Entspannung
7. sechste Anleitung zum Reizverarbei- Identifikation von Stresssituationen Videogerät, Tonband;
Gruppensitzung tungs-/Stressbewältigungs- und Reizbedingungen im kind- rote Klebepunkte
training im Elternhaus lichen Alltag; Gegenkonditionie-
rung; Habituationstraining
8. siebte Gruppen- wann und ob Medikamente? medikamentöse Behandlung; Kirschsaft; Pfefferminzöl
sitzung Möglichkeiten der Schmerz- Schmerzbewältigungstechniken

12 9. achte Gruppen-
bewältigung
Überprüfung der Lernziele; einzelne Elterntrainingsinhalte Flipchart
sitzung Alltagstransfer nochmals durchsprechen; alltags-
relevante Umsetzung besprechen

die Muskel-Stress-Beziehung beim Spannungs- dere auch allgemeine gesundheitsrelevante The-


kopfschmerz. Wichtig ist es, die jeweils individuel- men im Vordergrund. So wird etwa auf schlafhy-
len funktionalen Bedingungen des kindlichen gienische und ernährungsspezifische Aspekte ein-
Kopfschmerzes gemeinsam mit den Eltern zu gegangen (Bruni et al. 1999). MIPAS-KIEL geht
erarbeiten. Aufgrund der Komplexität des Kopf- jedoch über den rein edukativen Charakter hinaus,
schmerzgeschehens lässt sich eine umfassende da die Eltern die im Kinder-/Jugendlichentraining
Edukation der Eltern nicht in einem einmaligen einbezogenen Übungen ebenfalls kennen lernen
Beratungsgespräch verwirklichen. Vielmehr sollte und üben sollen. Damit soll erreicht werden, dass
parallel zur Behandlung der Kinder bzw. Jugend- die Eltern angeleitet werden, die Übungen auch
lichen (s. u.) eine systematische Elternschulung zu Hause durchzuführen. Ein besonderer Schwer-
(MIPAS-KIEL-Programm) durchgeführt werden. punkt liegt in der Selbstreflexion eigener Erzie-
⊡ Tabelle 12.2 gibt einen Überblick über die Inhalte hungseinstellungen und -praktiken. Wir haben
einer Kopfschmerz-Elternschulung. oben gesehen, dass bei Migränefamilien ein selbst-
Die Elternschulung ist fester Bestandteil der ständigkeitshemmendes Erziehungsverhalten vor-
verhaltensmedizinischen Interventionen. Neben liegt. Im MIPAS-KIEL werden daher auf der Basis
ätiopathogenetischen Aspekten stehen insbeson- von Videointeraktionen spezifische lernpsycho-
12.3 · Vom Modell zur verhaltenspädiatrische Behandlung
149 12

logisch relevante Elternverhaltensmuster identifi- schmerzgesellschaft orientieren (Evers et al. 2001).


ziert und im Training günstige Muster erprobt (z. B. Es ist unbedingt wichtig, die Eltern darauf hin-
für ruhiges und selbstständiges Verhalten loben). zuweisen, dass eine medizinische Abklärung der
Zum anderen bildet das Reizverarbeitungstrai- kindlichen Kopfschmerzen und eine evtl. erfor-
ning (Migräne) bzw. Stressbewältigungstraining derliche medikamentöse Behandlung nur in Ab-
(Spannungskopfschmerz) im MIPAS-KIEL einen stimmung mit dem Arzt erfolgen darf.
besonderen Schwerpunkt (s. u.). Es ist wichtig, dass Verhaltensmedizinische Interventionstechni-
die mit den Kindern erarbeiteten Trainingsinhalte ken, wie das Reizverarbeitungstraining (RVT), das
und Problemlösestrategien (z. B. sich beim Com- Stressbewältigungstraining (SBT), das Schmerz-
puterspiel zu entspannen) von den Eltern im Alltag bewältigungs- bzw. -immunisierungstraining (SIT)
unterstützt, ggf. auch überprüft und modifiziert und das Biofeedbacktraining (EMG; Neurofeed-
werden. Eine umfassende Darstellung der Möglich- back, thermales Feedback) wurden systematisch
keiten der Eltern im Umgang mit ihren Kindern auf der Grundlage der oben beschriebenen ätio-
findet sich in unserem Elternratgeber (Gerber u. pathogenetischen Befunde und durch die Berück-
Gerber-von Müller 2003). sichtigung lernpsychologischer Mechanismen ent-
Für den betreuenden Therapeuten ist von Be- wickelt. Im Folgenden werden die verschiedenen
deutung, dass Eltern von Kindern mit Kopfschmer- Interventionstechniken kurz dargestellt.
zen in der Regel an der »Heilung« der Kopfschmer-
zen interessiert sind, wobei meist der Kopfschmerz Das Reizverarbeitungstraining
im Vordergrund steht. Daher ist es besonders wich- Das von uns entwickelte Reizarbeitungstraining
tig, die elterliche Aufmerksamkeit auf die funktio- (RVT) wurde explizit für Kinder und Jugendliche
nalen Bedingungen des kindlichen Kopfschmerzes entwickelt, die unter Migräne leiden. Es handelt
zu lenken und ihnen z. B. zu verdeutlichen, dass die sich dabei um ein Gruppentraining mit ca. 6–8 Kin-
Migräneerkrankung nicht der Migräneanfall per dern. Die Sitzungszahl richtet sich nach den indi-
se, sondern eine Erkrankung des Gehirns darstellt, viduellen diagnostischen Gegebenheiten und um-
wobei psychosoziale Mechanismen eine zentrale fasst ca. 15 Doppelstunden (90 Minuten). Das RVT
Rolle einnehmen. Dies bezieht sich auch auf die wird in drei Schritten durchgeführt. Im ersten
Verwendung von Medikamenten. Nach unseren Er- Schritt lernen die Kinder externe und interne Reize
hebungen werden bereits bei 84% der Kinder bis zu identifizieren, die bei ihnen spezifische Körper-
zum 12. Lebensjahr Medikamente (zumeist Para- reaktionen bewirken (z. B. Herzklopfen etc). Dabei
cetamol und Acetylsalicylsäure) verwendet, die werden in dem Training durch die reale Konfronta-
meist von den Eltern selbst ohne ärztliche Abstim- tion relevanter Sinnesmodalitäten (visuell, auditiv,
mung an das Kind weiter gegeben werden (Gerber Geruch etc) die kindlichen Körperreaktionen er-
et al. 1988). Für viele Eltern ist es schwierig zu ak- fragt (Gerber 1998, 2001; Gerber u. Gerber-von
zeptieren, dass die Migräne eine Erkrankung des Müller 2003). So wird z. B. den Kindern ein Aus-
Gehirns ist und womöglich lebenslänglich ablaufen schnitt aus einem schnellen und lauten Musikclip
kann. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass durch vorgespielt und nach ihren Körperempfindungen
das frühzeitige Erlernen einer adäquaten Lebens- gefragt. Die Kinder führen gemeinsam mit ihren
führung Chronifizierungsprozesse vermieden wer- Eltern neben dem Kopfschmerztagebuch ein Reiz-
den können. tagebuch, um körperbezogene Reize im Alltag zu
Die medikamentöse akute und prophylaktische identifizieren. Anschließend lernen die Kinder die
Behandlung des kindlichen Kopfschmerzes sollte Anwendung von Entspannungstechniken (PMR,
insbesondere bis zum 12. Lebensjahr die Ausnahme Atemtechniken).
sein und nur dann erwogen werden, wenn nicht- Im dritten Schritt werden die Kinder nun ge-
medikamentöse, vor allem verhaltensmedizinische stuft und systematisch mit den identifizierten Rei-
Verfahren, nicht ausreichend effizient sind. Die zen konfrontiert (z. B. Entspannen beim Lärm,
medikamentöse Behandlung sollte sich an den beim PC-Spiel etc.). Das Ziel ist es daher nicht, dass
Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopf- die Kinder ungünstige Reize vermeiden, sondern
150 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

lernen, sich diesen zu stellen (Habituationstrai- Biofeedbacktechniken


ning). Neben den externen Reizen lernen die Kin- Unter Biofeedback werden Verfahren verstanden,
der im RVT auch emotional-kognitive Prozesse bei denen autonome und zentrale Prozesse, die
(z. B. Angst vor dem Versagen in Klassenarbeiten normalerweise der bewussten Wahrnehmung ent-
etc.) zu identifizieren und zu bewältigen. Das Ver- zogen sind, visuell oder akustisch sicht- bzw. hör-
halten der Migränekinder und -jugendlichen ist bar gemacht und rückgemeldet werden. Durch die
oftmals durch ein selbstüberforderndes und ausge- neue Computergeneration ist es möglich gewor-
prägtes leistungsorientiertes Verhalten geprägt. In den, ereigniskorrelierte und langsame Hirnpoten-
einem Selbstsicherheits- und Selbstständigkeits- tiale abzuleiten und sie relativ zeitnah dem Proban-
training (Training der sozialen Kompetenz) lernen den über einen Bildschirm zurückzumelden. Das
die Kinder eine Neubewertung dieser Überzeugun- Neurofeedback ist eine neue Biofeedbacktechnik,
gen und ein selbstsicheres Verhalten. Besonders mit der die »contingent negative variation« (CNV)
diese Therapieelemente werden durch die Eltern- dem Kopfschmerzpatienten zurückgemeldet wird.
schulung ergänzt. Es zielt darauf ab, die erhöhte kortikale Aufmerk-
samkeitsbereitschaft systematisch zu senken (d. h.
Schmerzimmunisierungsverfahren (SIT) hier die Amplituden zu senken). In einer ersten
Schmerzimmunisierungsverfahren werden häufig Studie konnten wir bei Kindern, die unter Migräne
den kognitiv-behavioralen Behandlungsansät- litten, eine hochsignifikante Abnahme der Kopf-
zen zugerechnet. In dem Trainingsprogramm von schmerzhäufigkeit erreichen (Siniatchkin et al.
McGrath (1987) wird im 5. Baustein Schmerzimmu- 2000). Besonders das thermale Biofeedbacktrai-
nisierung mit Kindern geübt, wobei 4 Stadien un- ning hat sich bei kindlichem Kopfschmerz, insbe-
terschieden werden. Im Stadium 1 wird eine Vor- sondere in Verbindung mit Relaxationstraining als
bereitung auf den beginnenden Schmerz mit der äußerst effektiv erwiesen (Hermann et al. 1998).
Vorstellung des Schmerzes eingeführt. Stadium 2 Auch wenn Biofeedbackverfahren in der psycho-
bezieht sich auf das eigentliche Schmerzcoping mit therapeutischen Praxis nur einen geringen Stellen-
Imaginationsübungen. Stadium 3 richtet sich auf wert haben, so scheinen sie gerade beim kindlichen
kritische Momente während der Kopfschmerzatta- Kopfschmerz ein ökonomisches und effektives Ver-
12 cke und Stadium 4 beinhaltet Selbstverstärkung fahren zu sein (Kröner-Herwig et al. 1998).
(sich selbst loben). Vor diesem Hintergrund und Insgesamt gesehen besteht kein Zweifel daran,
unter Berücksichtigung lernpsychologischer Me- dass verhaltenspädiatrische Behandlungsstrate-
chanismen (klassische Konditionierung) führen gien bei kindlichen Kopfschmerzen, aber auch bei
wir mit den Kindern im Rahmen des Eltern-Kind- zahlreichen anderen chronischen Erkrankungen,
Schulungsprogramms MIPAS-KIEL ein systemati- äußerst effektiv sind. Allerdings könnte die Wirk-
sches Schmerzbewältigungsprogramm zur akuten samkeit dieser Verfahren noch gesteigert werden,
Kupierung eines Kopfschmerzanfalls durch (Ger- wenn die (neuro)biopsychosozialen Grundlagen
ber u. Gerber-von Müeller 2003). Die Koppelung dieser Erkrankungen noch näher erforscht würden
der Einnahme von Medikamenten bzw. schmerz- und sich daraus (speziell aus den äthiopathogene-
lindernden Ölen und Massage mit Imaginations- tischen Modellen) Therapieziele und -strategien
techniken dient der Schmerzlinderung und -be- ableiten ließen, wie dies z. B. beim Reizverarbei-
freiung. Während die Kinder und Jugendlichen in tungstraining bei der Migräneerkrankung deutlich
der Therapie ihre Kopfschmerzattacken vorspielen geworden ist. Verhaltenspädiatrische bzw. psycho-
und die Copingstrategien anwenden, üben auch therapeutische Maßnahmen können zudem die
ihre Eltern im Rollenspiel während der Eltern- Krankheitsbewältigung des Kindes und dessen El-
schulung und anschließend zur Unterstützung tern fördern und insbesondere unter präventivem
direkt mit dem Kind während einer Kopfschmerz- Aspekt auch den Chronifizierungsprozess mancher
attacke. Erkrankungen in seinem Verlauf günstig beein-
flussen können. Die möglichst frühzeitige Betreu-
ung von Kindern und Jugendlichen mit chroni-
Literatur
151 12

schen Erkrankungen kann somit neben der Ver- Gerber, W. D., Stephani, U., Kirsch, E., Kropp, P. & Siniatchkin, M.
besserung der Lebensqualität der Kinder auch zu (2002). Slow cortical potentials in migraine families are
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schen Lage führen. Gerade auch in dem letztge- Haan, J., Terwindt, G. M. & Ferrari, M. D. (1997). Genetics in mi-
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dizinischen Psychologie erhalten. Die Neuentde- prophylactic pharmacological intervention studies of
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ckung des Struwwelpeters stünde dem Fach medi-
239–256.
zinische Psychologie somit gut. Kröner-Herwig, B., Mohn, U. & Pothmann, R. (1998). Compari-
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152 Kapitel 12 · Chronisch kranke Kinder und Jugendliche: Die (Neu)Entdeckung des Struwwelpeters

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12
13

Medizinpsychologische Implikationen
der Telemedizin
S. Schmidt, U. Koch

13.1 Telemedizin als innovatives Feld in der medizinischen


Versorgung – 154

13.2 Hemmende Einflüsse auf die telemedizinischen


Entwicklungen – 155

13.3 Medizinpsychologische Aspekte der Telemedizin – 156

13.4 Ausgewählte psychosoziale Anwendungsfelder


der Telemedizin – 158
13.4.1 Veränderte Formen der Informationsverarbeitung und Bedeutung
für den diagnostischen Prozess und die Arzt-Patient-Kommuni-
kation – 158
13.4.2 Distanzkommunikation in der Telemedizin und Einfluss
auf die Arzt-Patient-Kommunikation – 159
13.4.3 Telemedizin in der psychotherapeutischen Versorgung – 160
13.4.4 Telemedizin und Überwachung/Monitoring von Patienten – 162
13.4.5 Telemedizin bei invasiven Eingriffen: Telechirurgie – 162
13.4.6 Psychosoziale Aspekte der Nutzung des Internets in der medizinischen
Versorgung – 163
13.4.7 Neue elektronische Techniken im Verwaltungsmanagement – 164

13.5 Diskussion – 164

Literatur – 165
154 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

13.1 Telemedizin als innovatives Feld Ärzten, bzw. zwischen Anbietern von Gesundheits-
in der medizinischen Versorgung diensten und deren Rezipienten (Balas et al. 1997;
Bashur 1998).
Die Einführung von Telekommunikationstechno- Die Telemedizin ist zwar als eigenständige
logien in die Medizin hat in den letzten zwei Jahr- Disziplin definiert, weist allerdings eine hohe
zehnten zur Entwicklung einer Vielzahl neuer Heterogenität auf, in dem sie (a) eine Vielzahl an
Techniken und Anwendungsformen in vielen Be- technologischen Komponenten, (b) eine Vielzahl
reichen von Diagnostik und Therapie sowie auch von Anwendungsfeldern und (c) eine Vielzahl von
in der Administration und Fortbildung geführt. Anwendungsformen umfasst (⊡ Tabelle 13.1).
Ihren Anstoß haben diese Technologien durch Die medialen Telematikkomponenten umfas-
das Aufkommen bildgebender Verfahren und des sen eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Verfahren,
Internets sowie durch die zunehmende Tendenz angefangen von Gesundheitsportalen im Internet,
zur Bildung medizinischer Kompetenz- und Ex- über elektronische Patientenakten, Krankenhaus-
pertenberatungszentren erfahren. Diese technolo- informationssysteme bis hin zur Medizinrobotik.
gischen Entwicklungen werden heute als eigen- Schon jetzt ist es in vielen Einrichtungen möglich,
ständige Disziplinen der Gesundheitstelematik verschlüsselte Laborberichte per E-Mail zu versen-
und Telemedizin geführt. Der allgemeinere Begriff den, digitalisierte Röntgenbilder unter verschiede-
Gesundheitstelematik – im europäischen Raum als nen Kliniken auszutauschen, Teleoperationen
»ehealth« benannt – beschreibt die Anwendung durchzuführen, einen Fachspezialisten als Konsili-
von Telekommunikations- und Informationstech- ararzt einzubeziehen, eine Fernbefundung von
nologien auf das Gesundheitswesen (Telematik = Röntgen- oder Ultraschallbildern in einem Kom-
Telekommunikation + Informatik; Dietzel 2001). petenzzentrum bzw. Fernüberwachungen von
Die Gesundheitstelematik bezieht sich sowohl auf Messungen im häuslichen Umfeld durchzuführen.
administrative Prozesse als auch auf Wissensver- Andere Formen der Telemedizin befinden sich
mittlung und Behandlungsverfahren. Unter dem noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium,
Stichwort Telemedizin werden sämtliche Verfah- so z. B. die Telechirurgie und Medizinrobotik, wel-
ren subsumiert, medizinische Daten, d. h. Texte, che Formen der Chirurgie darstellen, bei denen der
Tabellen, Befunde sowie Bilder über große Arzt nicht direkt am Patienten arbeitet, sondern
Entfernungen hinweg elektronisch auszutauschen über Teleroboter den Körper visualisiert und ma-
13 bzw. zu versenden, um eine diagnostische oder nipuliert. Die Etablierung der Telemedizin variiert
therapeutische Interaktion zu ermöglichen. Die ferner in Abhängigkeit von der Region, z. B. stellen
Telemedizin unterstützt damit die Überwindung telemedizinische Versorgungsformen in weitläufi-
der räumlichen Trennung zwischen Arzt und gen, dünn besiedelten Regionen z. T. die einzige
Patient oder zwischen mehreren behandelnden medizinische Versorgungsform in bestimmten Be-

⊡ Tabelle 13.1. Technologische Komponenten, Anwendungsformen und -felder der Telemedizin

Technologische Komponenten Anwendungsform Anwendungsfelder


für Professionelle
Gesundheitsportale Telediagnostik Telepathologie
multimediale Behandlungsunterlagen Telekonsultation Teleradiologie
Telekonferenzen Telebehandlung Telepsychiatrie/-psychotherapie
Krankenhausinformationssysteme Teleoperation Teledermatologie
Expertenberatungssysteme Telemetrie Telechirurgie
elektronische Patientenakte (EPA)
elektronisches Rezept
E-Mail
13.2 · Hemmende Einflüsse auf die telemedizinischen Entwicklungen
155 13

reichen dar. So ist beispielsweise die Implementie- Beziehung verändern und neue Arbeitsanforderun-
rung der Telemedizin in Russland oder Norwegen gen bestehen. Barrieren, die der Einführung ent-
stark vorangetrieben. gegenstehen, sowie kritische Stimmen sind sehr
Die Telemedizin hat sich in den einzelnen me- vielschichtig. Einerseits sind diese struktureller,
dizinischen Fachgebieten bereits vielfach wissen- finanzieller und organisatorischer Natur. Da für die
schaftlich als eigenständige Spezialdisziplin etab- Mehrzahl der telemedizinischen Anwendungen
liert (z. B. Teledermatologie), wobei die Entstehung bisher keine Abrechnungsmöglichkeiten gegeben
der Vielzahl an Teledisziplinen und Anwendungs- sind, und da die Anwendungen darüber hinaus in
formen, wie in ⊡ Tabelle 13.1 angedeutet, etwas vielen Fällen nur »Insellösungen« darstellen, die in
inflationär anmutet. starkem Maße durch technologische Innovationen
Von den medizinischen Disziplinen, welche die bestimmt sind, werden sie derzeit nur von einigen
Telemedizin bisher eingeführt haben, liegen die enthusiastischen Befürworten der Telemedizin an-
Felder mit einem traditionell hohen Anteil an Bild- gewandt. Andererseits scheint die Akzeptanz der
verarbeitung weit oben, so z. B. die Pathologie, Ra- Telemedizin durch Professionelle und Patienten
diologie oder Dermatologie, was sich auch in der ein bedeutsamer Mediator bei der Einführung der
Zahl an Studien zur Thematik widerspiegelt (er- Telemedizin zu sein.
mittelt in einer Medline-Recherche des Zeitraums Die bisherige Rezeption der Telemedizin durch
1980–2001). Allerdings haben sich auch neben die- die Gesellschaft ist dementsprechend polarisiert
sen Feldern, in denen primär telediagnostische verlaufen. Von Professionellen wird beispielsweise
Anwendungen eingesetzt werden, auch Felder mit entgegengebracht, dass die Telemedizin eine
einer stärkeren Versorgungsorientierung entwi- Technologie der Kommunikations- und Unter-
ckelt, so die Kardiologie oder Chirurgie, zudem haltungsindustrie sei und damit traditionelle me-
auch die psychotherapeutische und psychiatrische dizinische Expertise gefährde, zum Teil sogar zu
Versorgung. Prinzipiell kann festgestellt werden, einer »Lifestyle-Medizin« permutieren ließe. Die
dass es wohl kaum eine Fachdisziplin gibt, in der gesellschaftliche Kritik bezieht sich mehr auf die
die Telemedizin noch keine Neuentwicklungen zunehmende Technisierung der Medizin (Geißler
hervorgebracht hat. 1997; Lupton 1997; Elston 1997). Kritiker wenden
ein, dass die Telemedizin für einen Trend der
Medizin steht, welcher einerseits Bedarf und
13.2 Hemmende Einflüsse auf die Erwartungen auf immer neuere medizinische
telemedizinischen Entwicklungen Behandlungsmethoden und Interventionen schafft,
der andererseits das Misstrauen bezüglich der
Im Gegensatz zum hohen technologischen Ent- Komplexität der professionellen und kommerziellen
wicklungsstand der Telematik steht die Implemen- Interessen, die mit diesen technologischen Ent-
tation der Anwendungen in Deutschland zumin- wicklungen verknüpft sind, artikuliert. So wird
dest partiell hinter ihren Möglichkeiten zurück befürchtet, dass der Optimismus, mit dem diese
(Bestandsaufnahme der Roland Berger & Partner Methoden entwickelt und implementiert werden,
Unternehmensberatung 1997; Jacob 2000). Sjogren die tägliche klinische Praxis mit der besonderen
und Mitarbeiter (2001) haben die Anreize und Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung marginali-
Hindernisse in der Implementation der Telemedizin siere (Lupton 1997; Elston 1997). Geißler (1997, S. 4)
in Schweden im Rahmen einer Evaluationsstudie vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung,
untersucht und kommen zu dem Schluss, dass die dass die »spartanisch anmutende Verordnung
Telemedizin essentielle Veränderungen in der ärztlichen Sprachgebrauchs« in der Telemedizin
Versorgungssituation mit sich bringt. Hierbei der Erhaltung der Autorität des Arztes diene und
bestanden nicht nur Befürchtungen auf Seiten der dass diese nicht ohne Grund in die beginnende
Professionellen, dass sich Versorgungs- und Über- Hochphase naturwissenschaftlichen Handelns und
weisungsstrukturen ändern, sondern ebenfalls, Denkens und der rasanten Technisierung der Medi-
dass sich die Hierarchien in der Arzt-Patient- zin falle sowie dem Arzt ganz andere Möglichkeiten
156 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

eröffne, »Autorität zu konstituieren«, als das Ge- mediale Komponente in die Arzt-Patient-Be-
spräch. Solche Äußerungen stehen für die Furcht ziehung einführt, etwa durch das Internet, die
vor einer interessengeleiteten Etablierung der Videoanlage oder den Medizinroboter. Die
Telemedizin und vor dem Propagieren einer Hal- Anwendung von Hochtechnologien ist hierbei
tung, die sich mehr an der »menschenfernen«, kein Novum. Neu ist jedoch die Tatsache, dass
»machbarkeitsorientierten« Hightech-Medizin als die Technologie die Kommunikation oder die
an der patientenorientierten dialogischen Medi- Interaktion zwischen Arzt und Patient mediiert
zin orientiert. Geißler (1997) erwähnt, dass Hoch- bzw. ersetzt. Die Einführung dieser technologi-
technologie- und dialogische Medizin in einer schen Komponente hat weit reichende Konse-
Art Scherenbewegung auseinander gehen und quenzen: So sind z. B. basale Prozesse der Infor-
spricht sogar vom Verschwinden der dialogischen mationsverarbeitung betroffen. Der diagnos-
Medizin. tische Prozess in der Telemedizin, z. B. der
Telekonsultation, unterscheidet sich in der Art
und der Qualität der Informationen von der
13.3 Medizinpsychologische Aspekte konventionellen Diagnostik dadurch, dass Arzt
der Telemedizin und Patient nicht in unmittelbarer diagnos-
tischer Interaktion stehen, sondern entweder
Diese Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern akustische Signale oder visuelle Behandlungs-
der Telemedizin lässt unter anderem darauf schlie- unterlagen übertragen werden oder sogar eine
ßen, dass die Telemedizin tief greifende Verände- interaktive Konsultation per Videoübertragung
rungen für die medizinische Versorgung und die eingesetzt wird. Dies bedeutet, dass Erkran-
Arzt-Patient-Beziehung mit sich bringt. Dieses ist kungszeichen und Behandlungsunterlagen
auf zentrale Veränderungen der telemedizinischen nicht am Körper des Patienten und unter kom-
im Vergleich zur konventionellen Versorgung zu- munikativer Unterstützung, sondern außerhalb
rückzuführen. Die Veränderungen, die sich in der des herkömmlichen Kontextes von Diagnostik
Tele- im Vergleich zur konventionellen Medizin er- und Therapie stattfinden. Die Dekontextuali-
geben und die medizinpsychologische Forschungs- sierung der diagnostischen und Behandlungs-
felder aufwerfen, werden im Folgenden an drei informationen ist ein zentrales Charakteris-
zentralen Implikationen skizziert: tikum der Hochtechnologiemedizin, die sich
13 1. Zunächst impliziert die Definition der Teleme- einer medialen Übertragung mittels Kommu-
dizin bereits, dass die Telematik – wenn auch nikations- und Informationstechnologien be-
bei den einzelnen Anwendungen in Art und dient.
Ausmaß unterschiedlich – die Distanz in der 3. Eine dritte Implikation ergibt sich daraus, dass
Arzt-Patient-Beziehung verändert. Das Para- die Telemedizin das Thema Vertraulichkeit von
doxon der Telemedizin besteht hierbei darin, Informationen und deren Schutz sowohl auf
dass sie das Ziel der Überbrückung von geo- gesellschaftlicher, individueller, als auch auf
graphischen Distanzen zur Optimierung der der Ebene der Arzt-Patient-Beziehung berührt,
Behandlungsqualität besitzt, allerdings gleich- wenn, wie im Falle der elektronischen medialen
zeitig eine Distanz im Kontakt zwischen Arzt Patientenakte, die Telematikanwendung der
und Patient herstellt, dies jedoch auf einer Erfassung, Speicherung und – sofern der Pa-
kommunikativen Ebene. Es stellt sich die Frage, tient zustimmt – Weiterleitung von Patienten-
ob diese Distanz einen Einfluss auf die Arzt- daten dient. Auf gesellschaftlicher Ebene kann
Patient-Kommunikation besitzt, und wenn ja, dies zu einer Gefährdung von Grundrechten,
in welchen spezifischen Kontexten diese Ein- auf individueller Ebene zu einer Verunsiche-
flüsse von Relevanz sind und wie sie sich über- rung des Patienten und auf der Ebene der Arzt-
brücken lassen. Patient-Beziehung zu Misstrauen führen.
2. Die zweite Implikation ergibt sich daraus, dass
die Telemedizin eine technologische bzw.
13.3 · Medizinpsychologische Aspekte der Telemedizin
157 13

Befürchtungen, die sich aus den erweiterten


Möglichkeiten, vielfältigste Patientendaten durch Ausgewählte medizinpsychologische
neue Speichermedien über verschiedene Behand- Forschungsfelder der Telemedizin


lungsepisoden und Settings verfügbar zu machen,  Mensch-Maschine-Interaktion

Arzt-Patient-Beziehung
ergeben, sind oftmals unter dem Stichwort »Glä-  Informationsverarbeitung
serner Patient« symbolisiert worden. Mittler-  Arzt-Patient-Kommunikation
weile zeichnet sich der Trend ab, dass die Be-  Arzt-, Patientenrolle
fürchtungen vor einer zu großen Transparenz  Hierarchien in der medizinischen
von Daten nicht nur auf Seiten der Patienten, Entscheidungsfindung
sondern auch auf Seiten der Professionellen  Normen ärztlichen Handelns
vorhanden sind, sodass man an dieser Stelle  Angst/wahrgenommene Sicherheit
ebenfalls die Metapher des »Gläsernen Arztes«  Compliance
einführen könnte.
Anhand dieser generellen Implikationen der
Telemedizin wird die Breite der psychosozialen Prinzipiell ist davon auszugehen, dass sowohl
Thematiken, die durch die Telemedizin berührt Behandlungskontext als auch die Anwendungsform
sind, deutlich. Medizinpsychologische Felder der der Telemedizin einen Einfluss auf psychosoziale
Telemedizin werden in der folgenden Übersicht Dimensionen besitzen. Allerdings kann davon aus-
dargestellt.An der Abteilung für Medizinische gegangen werden, dass die telemedizinischen An-
Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg- wendungen in ihrem Einfluss auf zugrunde lie-
Eppendorf subsumieren wir die vielfältigen The- gende psychosoziale Dimensionen variieren. So
menfelder unter dem Leitthema der Arzt-Patient- lässt sich am Beispiel des Einflusses der Telemedizin
Beziehung, da die Thematiken entweder aus auf Emotionen verdeutlichen, dass die Telemedizin
diesem Gebiet entstammen oder letztendlich – wie durch die Art der durch die Technologie impli-
z. B. die veränderte Informationsverarbeitung im zierten Kontrolle jeweils einen speziellen Einfluss
diagnostischen Prozess – auf diese Beziehung auf Aspekte der Angst auf Seiten von Professionel-
zurückwirken. Schließlich ist es die Arzt-Patient- len im Gesundheitssystem und Patienten ausübt
Beziehung und -kommunikation, die einen zen- (⊡ Abb. 13.1).
tralen Bestandteil des Behandlungsprozesses aus- Im Folgenden sollen exemplarisch wichtige
macht. psychosoziale Grundlagenfelder und einige ange-

⊡ Abb. 13.1. Die Abbildung zeigt am Beispiel von emotionalen Folgen der Telematik, welche Wirkungsmechanismen einzelne
Applikationen potentiell besitzen (1. Zeile) und welchen Einfluss diese auf Arzt und Patient besitzen könnten (2. Zeile)
158 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

wandte Gebiete, für die die Medizinpsychologie nungskanäle, wurde hier jedoch eine höhere Kom-
wesentliche Beiträge liefern könnte, dargestellt plexitätsstufe erreicht. Die hohe Zahl an visuellen
werden. Informationseinheiten, bedingt durch große Auf-
zeichnungsfrequenzen, finden sich bei vielen
neuen Medizintechniken: So ist beispielsweise auch
13.4 Ausgewählte psychosoziale bei nicht vom Patienten steuerbaren, kontinuier-
Anwendungsfelder der Telemedizin lich messenden Langzeit-EKG-Eventrecordern –
ebenfalls aus dem Feld der Kardiologie stammend
13.4.1 Veränderte Formen der Informations- – die Frequenz der Aufzeichnungen sehr hoch. Bei
verarbeitung und Bedeutung der Kapselendoskopie, einer Innovation aus dem
für den diagnostischen Prozess und Bereich der Endoskopie (Iddan et al. 2000), werden
die Arzt-Patient-Kommunikation pro gastroenterologischer Untersuchung, mit Hilfe
einer mikroskopisch kleinen Kamera, ca. 50.000
Die Übertragung der diagnostischen und thera- Bilder erzeugt. Die Mikrokamera wird dabei in
peutischen Informationen unterscheidet sich im Form einer Pille vom Patienten oral aufgenommen.
Vergleich zu herkömmlichen Formen von Diag- Für den diagnostischen Prozess bedeutet das: Der
nostik und Therapie sowohl hinsichtlich der Qua- Arzt muss innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens
lität der Informationen (z. B. der involvierten eine extrem hohe Zahl visueller Informations-
Kommunikations- sowie Sinneskanäle), als auch einheiten analysieren.
hinsichtlich der Quantität, also des Umfangs des Empirische Hinweise für kognitive Prozesse,
Informationsaustausches. Der diagnostische Pro- die in der Telediagnostik wirksam werden, gibt es
zess in der Telemedizin, z. B. der Telekonsultation, schon aus der frühen Forschung zu kognitiven Pro-
unterscheidet sich in der Art und der Qualität der zessen der Informationsverarbeitung. So ist z. B.
Informationen von der konventionellen Diagnos- bekannt, dass die visuelle Wiedererinnernsfähig-
tik dadurch, dass Arzt und Patient nicht in un- keit relativ schnell zu erlernen ist (Standing 1973;
mittelbarer diagnostischer Interaktion stehen, Anderson 2000). Allerdings ist bisher unklar, wie
sondern entweder akustische Signale oder visuelle sich der Lernverlauf in der Telediagnostik darstellt
Behandlungsunterlagen übertragen werden oder und welche Faktoren den Lernerfolg determinie-
sogar eine interaktive Konsultation per Videoüber- ren. Erste Hinweise für kognitionspsychologische
13 tragung eingesetzt wird. Dies bedeutet, dass Er- Aspekte der telediagnostischen Informationsver-
krankungszeichen und Behandlungsunterlagen arbeitung liefert eine Untersuchung von Patel et al.
nicht am Körper des Patienten und unter kommu- (2000, 2001a). Diese haben in mehreren konseku-
nikativer Unterstützung, sondern außerhalb des tiven Studien an Patienten mit Diabetes geprüft, ob
herkömmlichen Kontextes von Diagnostik und textgebundene patientenbezogene Informationen,
Therapie stattfinden. Die Art der Informations- die narrativ eingebunden waren, kognitiv anders
übertragung – dies betrifft nicht allein die Qualität, verarbeitet werden als computergestützte Informa-
sondern auch die Quantität der übertragenen In- tionen, die in ihrer Präsentation an eine Maske
formationen – variiert in Abhängigkeit von der gebunden waren. Ein Ergebnis der entsprechenden
Telematikanwendung. Besonders umfangreiche experimentellen Studien war, dass die per Computer
Datenmengen, die von medizinischen Fachkräften dargebotenen Informationen mehr in Form von
analysiert werden müssen, fallen in vielen Berei- diskreten Einzelinformationen, textgebundene
chen des »home care monitoring« an, ebenso in Patienteninformationen jedoch mehr als zusam-
hochtechnologischen Medizinfeldern, wie der An- menhängende, ganzheitliche Repräsentation ver-
ästhesiologie, die bereits in der Vergangenheit in arbeitet wurden. Dieser Effekt zeigte sich über
starkem Maße durch Medizintechnik und Infor- Verhaltensratings einer Videodokumentation kon-
mationstechnologie geprägt waren. Durch die sekutiver Arzt-Patient-Gespräche.
technischen Innovationen der jüngeren Zeit, Zwei prinzipielle Fragen, die sich ergeben, be-
beispielsweise die Einführung multipler Aufzeich- ziehen sich darauf, wie die diagnostische Güte (z. B.
13.4 · Ausgewählte psychosoziale Anwendungsfelder der Telemedizin
159 13

Trefferquote) in der telemedizinischen Diagnostik ist insbesondere die Unterscheidung zwischen ku-
ist und welchen mediierenden Effekt motivationale rativ/klinischen und psychosozialen/interperso-
Faktoren auslösen. Hierbei wären sowohl förder- nellen Funktionen des ärztlichen Gesprächs – auch
liche als auch hemmende Wirkungsrichtungen als sog. »cure-care« Dichotomie bezeichnet (Dona-
denkbar. bedian 1980; Roter et al. 1987; Roter 1989) – von
Relevanz. Kurative Funktionen des ärztlichen Ge-
sprächs einerseits und psychosoziale Funktionen
13.4.2 Distanzkommunikation andererseits besitzen eine prognostische Bedeu-
in der Tele medizin und Einfluss tung im Hinblick auf jeweils unterschiedliche As-
auf die Arzt-Patient-Kommunikation pekte der Qualität des Behandlungsergebnisses.
Während die kurative Komponente sich z. B. auf
Ein generelles Ziel von Telekonsultationen ist es, die diagnostische, technisch-informationelle Be-
medizinische Expertise auch in entlegene oder handlungsqualität sowie das Ergebnis der Behand-
dünn besiedelte Gebiete zu bringen sowie die zeit- lung, z. B. Gesundheitszustand, Mortalität, bezieht,
lichen und informationellen Vorteile einer unmit- hat sich die psychosoziale Komponente in der Vor-
telbaren Expertenkonsultation zu nutzen. Der An- hersage der Patientenzufriedenheit, der Compli-
wendungsbereich der Telekonsultationen umfasst ance, des Verständnisses von Behandlungsinforma-
zwar auch Beratungen via Telekommunikation, tionen, des subjektiven Gesundheitszustands sowie
allerdings primär Konsultationen, bei denen per der psychiatrischen Morbidität als bedeutsam er-
Videoübertragung ein Spezialist konsultiert und in wiesen (Ong et al. 1995). Im bisherigen Diskurs und
der Regel ein Dreiergespräch zwischen behandeln- in der Forschung zur Behandlungsqualität der Te-
dem Arzt, Spezialist und Patient geführt wird. Hier- lemedizin ist primär die kurative oder technisch/
bei stellt sich die Frage, ob eine Anamnese per informationelle Komponente aufgegriffen worden
Videoübertragung möglich ist, wie die Reaktionen – z. B. die Frage, ob die Telemedizin zu einem bes-
von Patient und Arzt auf diese Form der Übertra- seren Ergebnis bzgl. Diagnostik und Behandlung
gung ausfallen und wie sich die Dreierinteraktion führt (Grisgby et al. 1995). Was die psychosozialen
gestaltet. Eine besondere Variante der Telekonsul- Funktionen des ärztlichen Gespräches betrifft, so
tation stellt die Telepsychiatrie dar, weil hierbei die stellen sich in der Telemedizin die Fragen,
therapeutische Funktion im Arzt-Patient-Gespräch a) inwiefern psychosoziale Funktionen des ärztli-
einen elementaren Bestandteil der Behandlung chen Gesprächs ihre Wirkung über Distanz und
ausmacht und sich die Frage ergibt, ob diese ihren bei indirekter, medialer Übertragung von Ge-
Einfluss auf medialem Wege entfalten kann. sprächsinhalten entfalten können und
In der Theorienbildung und Forschung zur b) ob kurativ-klinische Funktionen des ärztlichen
Arzt-Patient-Beziehung, eines der zentralsten und Gesprächs keinen Qualitätseinbußen unterlie-
traditionsreichsten Gebiete der Medizinpsycholo- gen, wenn die unmittelbaren psychosozialen,
gie (Ong et al. 1995; Von Troschke 2001), wurde ge- stützenden Funktionen fehlen.
rade den unmittelbaren kommunikativen und psy-
chosozialen Funktionen des ärztlichen Gesprächs Die überwiegende Mehrzahl der empirischen
eine primäre Bedeutung in der medizinischen Ver- Studien, die psychosoziale Parameter einschlossen,
sorgung beigemessen (Roter u. Hall 1992). Es stellt bezog sich auf Untersuchungen zu Telekonsul-
sich die Frage, ob die Telemedizin die Arzt-Patient- tationen, Studien zur Telepsychiatrie inbegriffen.
Beziehung fördert oder beeinträchtigt und ob die Unter den Studien zu Telekonsultationen über-
Telemedizin einen Einfluss auf die Qualität der wiegen Studien, in denen das Urteil eines externen
Arzt-Patient-Kommunikation besitzt. Aufgrund Fachkollegen eingeholt wurde und eine Videoüber-
der Vielfalt ihrer Anwendungsbereiche dürfte die tragung von Patientenaufnahmen stattfand.
Telemedizin hierbei für viele verschiedene Ebenen Exemplarisch für eine Telekonsultation zwi-
des komplexen Feldes der Arzt-Patient-Beziehung schen Ärzten/Fachpersonal eines Allgemeinkran-
von Relevanz sein. Bei der Diskussion dieser Frage kenhauses und Fachspezialisten einer Spezialklinik
160 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

ist eine Untersuchung von Gustke et al. (2000): schirm, positive Emotionen (z. B. Neugierde) und
Diese untersuchten die telemedizinische Kommu- das persönliche, von Patienten und Ärzten glei-
nikation zwischen Fachkrankenschwestern von chermaßen beschriebene hohe Wohlbefinden mit
acht Krankenhäusern in North Carolina und Fach- der telemedizinischen Beratung. Kategorien, in
ärzten verschiedener Disziplinen einer Universi- denen stärker negative Aspekte aufgezeigt wurden,
tätsklinik in Ost Carolina.. Die Telekonsultationen bezogen sich auf das Fehlen des Körperkontakts,
wurden mit einem Kurzfragebogen unmittelbar den Mangel an nonverbalen Informationen sowie
nach der Konsultation und in einem Follow-up, auf unangenehme Gefühle in Bezug auf die Video-
sowohl von den Patienten als auch den Fachkran- aufnahme und die Videoqualität selbst (letzteres
kenschwestern, beurteilt. Die meisten Patienten bezog sich in der Regel auf das Arzturteil). Auch die
gaben an, dass sie adäquat mit dem Facharzt (99%) Bedrohung der Vertraulichkeit persönlicher Infor-
kommunizierten, sich wohl fühlten, weil der Arzt mationen und der geringe Gesprächsanteil der Pa-
ihre Probleme verstand (98%), sowie keine Schwie- tienten zählen zu den Nachteilen der Anwendung,
rigkeiten hatten, den Arzt zu hören (93%) oder zu auch wenn diese nur vereinzelt erfasst wurden.
sehen (98%). Die Schwestern und Patienten waren
der Ansicht, Video erleichtere die Behandlung
(99%). Insgesamt zeigte sich, dass die Mehrzahl der 13.4.3 Telemedizin in der psycho-
Patienten die körperliche Untersuchung als aversiv therapeutischen Versorgung
erlebte, auch wenn diese sich nicht selbst auf dem
Bildschirm (96%) sahen; 98% waren jedoch ins- Das Internet hat mittlerweile auch in den Feldern
gesamt zufrieden. Nur 4,3% der Patienen sagten, der Psychotherapie und Psychosomatik eine Fülle
sie hätten bei persönlichem Kontakt eine bessere an Hilfsangeboten bereitgestellt. Es gibt bereits
Behandlung erfahren (35% waren nicht sicher) und eine Vielzahl an Studien, die E-Mails etc. als sup-
nur 9,2% bevorzugten explizit, den Arzt das nächste portive Unterstützung oder Nachsorge einsetzen,
Mal persönlich zu sehen (31% waren nicht sicher). bzw. textbasierte, computervermittelte Informa-
Dieser Frage haben sich Miller (2001) und in tion einsetzten. Internetbasierte Interventionen
einer erweiterten sowie modifizierten Replika- sind bisher am häufigsten bei Patienten mit Ess-
tionsübersicht Schmidt und Koch (2002) gewidmet. und Angststörungen eingesetzt worden.
Hierbei wurden alle Studien zur Arzt-Patient-Kom- Auch im Rahmen von Telekonsultationen stel-
13 munikation systematisch recherchiert, die einbe- len psychiatrische Konsultationen die häufigste
zogenen Variablen des Gesprächsverhaltens iden- Form dar; wobei hier qualitative Studien überwie-
tifziert und in verschiedene Kategorien (affektive, gen. In der Mehrzahl der Studien zur Telepsychia-
kognitive, formale) kategorisiert. Dabei wurde ins- trie wird auf die prinzipielle Nutzungsmöglichkeit
gesamt aufsummiert, ob Patienten und Professio- dieser Technologie in der Psychiatrie und Psycho-
nelle die Telekonsultation positiver, negativer oder therapie hingewiesen. Die Arbeitsgruppe um Street
unverändert zu konventionellen Konsultationen (2000) hat z. B. über zwei Jahre 26 Telefonberatun-
erlebten (⊡ Tabelle 13.2). Diese vereinfachende gen zwischen Fachpsychiatern, Allgemeinärzten
Auswertung wurde aus dem Grunde gewählt, da die und Patienten inhaltsanalytisch ausgewertet. Hier-
eingesetzten Skalen sehr schlechte psychometri- bei zeigte sich, dass insgesamt sehr wenige Telefon-
sche Kennwerte und Verteilungseigenschaften auf- konferenzen im Dreiergespräch geführt wurden
weisen. und ein Schwerpunkt des Gesprächs auf die Kom-
Insgesamt wird an der Übersicht deutlich, dass munikation zwischen Facharzt und Patient fiel und
in Untersuchungen zur Telekonsultation im Durch- das Gespräch insgesamt vom konsultierten Fach-
schnitt eher positive Aspekte dieser Kommunika- spezialisten geleitet bzw. dominiert wurde. Quanti-
tionsform identifiziert wurden. Diese bezogen sich tativ gesehen lagen insgesamt nur 23% des Ge-
insbesondere auf die wahrgenommene Effektivität sprächsanteils beim Patienten, 45% beim Spezia-
der Kommunikation, die Anwesenheit multipler listen und 34% beim Hausarzt. In Bezug auf die
Behandler, die Selbsterkenntnis auf dem Bild- spezifische Kategorie »Mitteilen von Informationen«
13.4 · Ausgewählte psychosoziale Anwendungsfelder der Telemedizin
161 13

⊡ Tabelle 13.2. Vorkommen positiver und negativer Hinweise im Rahmen telemedizinischer Telekonsultationen
in Abhängigkeit von Kommunikationsebenen. (Modifiziert und erweitert nach Miller 2001)

Ebene der Kommunikation Dimension Positive Aspekte Negative Aspekte


Affektive Kategorien Wohlbefinden des Patienten 12 1
Wohlbefinden des Arztes 10 0
Arzt-Patient-Beziehung 8 0
Verständnis des Patienten 3 1
Verständnis des Arztes 6 4
Entwicklung des Gesprächs 6 3
Verlegenheit 6 6
Angst/Ängstlichkeit/Nervosität 5 2
Einbeziehung des Patienten 6 2
Sonstige Affekte 12 5
Kognitive Bewertung Effektivität der Kommunikation 19 2
formaler Gesprächsaspekte Fragenanteil der Patienten 2 3
Fragenanteil des Arztes/der Fachkraft 2 2
Erklärungen der Patienten 6 3
Erklärungen des Arztes 5 0
Länge des Kontakts 3 2
Audioqualität 10 3
Videoqualität 8 8
nonverbales Verhalten 6 12
Fehlen von Körperkontakt 6 6
Selbsterkenntnis auf dem Bildschirm 11 4
Anwesenheit multipler Behandler 14 2
Inkonsistenz der Behandler 1
Aspekte der Vertraulichkeit Datenschutz 3 3
Vertraulichkeit 1 4
Informationelle Selbstbestimmtheit 1

Anmerkung: Das Vorkommen positiver bzw. negativer Aspekte wurde aufsummiert, wenn diese Aspekte überhaupt in
den Studien zum Vorschein kamen, und nicht in der relativen Ausprägungsintensität bewertet.

lagen 55% der Gesprächsanteile beim Facharzt, nur Übertragung von Sprache und Bild und leichte Ver-
17% beim Patienten. Die Patienten waren am zerrungen in der Übertragung wirkten im Hinblick
wenigsten aktiv, machten die wenigsten Bemer- auf die Entwicklung des Gesprächs behindernd.
kungen, stellten die wenigsten Fragen und erhielten Die Kommunikation emotionaler Inhalte schien
am wenigsten Informationen. hingegen zu funktionieren, es sei denn, technische
In einer Einzelfallstudie einer 10-stündigen, je- Schwierigkeiten traten auf.
weils 60 bis 90 Minuten dauernden Behandlung In einer neueren ethnographischen Studie zur
mit einem transsexuellen Patienten haben Gosh et Telepsychiatrie haben May et al. (2001) die Abwehr-
al. (1997) auf die prinzipielle Nutzungsmöglichkeit haltung von Psychiatern gegenüber der Telemedi-
der interaktiven Videoübertragung verwiesen, ha- zin untersucht, indem sie Transkripte von Video-
ben aber auch eine Vielzahl von Problemen iden- behandlungen eines Telepsychiatrieprojektes und
tifiziert: Die therapeutische Beziehung entwickelte anschließende Interviews inhaltsanalytisch aus-
sich nicht wie gewohnt; dem Therapeut missfiel es werteten. Als primärer Einwand gegen die Tele-
z. B., dass sich die Körpersprache via Video nicht psychiatrie nannten die Psychiater, dass die pro-
wie gewohnt einsetzen ließ und dass er keine sup- fessionelle psychotherapeutische Arbeit nicht unter
portiven Gesten (z. B. Reichen eines Taschentu- der Voraussetzung eines medial übermittelten,
ches) vermitteln konnte. Eine Verzögerung der distanzierten Arzt-Patient-Kontakts zu vermitteln
162 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

sei. Dies führte insgesamt zur Ablehnung der wurden. Hauptanwendungsgebiete dieser Pro-
Implementation der telemedizinischen Konsulta- gramme liegen in der Diabetologie, der Dialyse, der
tionsform bei den beteiligten Psychiatern. Kardiologie und der Allergologie (Asthma) und
Im Hinblick auf die psychotherapeutische Te- der Überwachung von Hochrisikoschwangerschaf-
lesupervision haben Gammon et al. (1998) in einer ten. Es existieren bisher nur zwei Studien, die den
qualitativen Studie zur videoübertragenden Super- Effekt der Methoden auf die Compliance des Pa-
vision von 6 Ausbildungskandidaten festgestellt, tienten überprüft haben, eine aus dem Bereich der
dass diese nur dann zufrieden stellend funktio- Kardiologie (Artinian et al. 2001) und eine aus der
nierte, wenn Supervisor und Kandidat sich zuvor Behandlung des Asthma bronchiale (Finkelstein et
getroffen und bereits eine Arbeitsbeziehung aufge- al. 2000). Beide kommen zu dem Schluss, dass die
baut hatten. Fernüberwachung höchstwahrscheinlich keine
nachteiligen, sondern positive Effekte auf die Com-
pliance ausübt. Artinian et al. (2001) identifizierten
13.4.4 Telemedizin und Überwachung/ in der Stichprobe afrikanisch-amerikanischer Pa-
Monitoring von Patienten tienten mit Bluthochdruck positive Effekte in der
Telemonitoring-Gruppe im Vergleich zur Versor-
Telemonitoring besitzt das Ziel der Krankheits- gung durch Krankenschwestern, allerdings nur an
überwachung in der Medizin, sei es, dass medizi- einer kleinen Stichprobe mit marginalen Effekten.
nische Abläufe in Institutionen, sei es dass eine Hintergrund der Studie war die These, dass be-
Fernüberwachung medizinischer Werte von Patien- stimmte Populationen, die medizinisch häufig un-
ten vorgenommen wird. Insbesondere für chronisch terversorgt sind, besonders vom Telemonitoring
erkrankte Menschen werden Vorteile vor allem in profitieren könnten; verschiedene kulturelle und
der »tele home care« bzw. der mobilen Patienten- sozioökonomische Gruppen wurden bisher aller-
überwachung gesehen, welche es ermöglicht, Kör- dings noch nicht vergleichend untersucht.
perfunktionsdaten (z. B. physiologische Messwerte) Dawson et al. (1999) haben in einer Stichprobe
kontinuierlich zu überwachen, ohne dass hierzu von Patientinnen mit Hochrisikoschwangerschaf-
ein Krankenhausaufenthalt erforderlich wäre. Dis- ten Hausüberwachungsprogramme (»home care«)
kutiert wird der Einsatz von Monitoring-Systemen untersucht, wobei die Interventionsgruppe Haus-
einerseits in der Versorgung von Hochrisikopa- besuche inklusive eines Telemonitorings der feta-
13 tienten, andererseits auch als Lifestyle-Medizin. len Herzrate erhielt und mit einer Kontrollstich-
Zielperspektive dieser Anwendung besteht in probe mit konventioneller Behandlung und Ge-
einer Erhöhung der Sicherheit der Patienten sowie burtshilfe verglichen wurde. Die Ergebnisse zeigten
einer besseren Versorgung. Risiken ergeben sich keine Unterschiede zwischen beiden Interven-
z. B. daraus, dass ein Patient, dem vermittelt wird, tionsgruppen hinsichtlich psychosozialer Para-
dass er kontinuierlich überwacht werden muss, meter auf, z. B. war das Angstniveau in beiden
sich als besonders »risikobehaftet« wahrnehmen Gruppen hoch. Die Home-care-Intervention wurde
könnte. Ferner könnten Ängste vor einem fehler- jedoch von den Patientinnen als praktikabler be-
haften Umgang mit der Technologie bzw. vor der wertet. Aspekte der klinischen Versorgung unter-
fehlenden Rückversicherung durch den Arzt ent- schieden sich kaum zwischen den Gruppen.
stehen. Prinzipiell führt das Angebot von Überwa-
chungssystemen zu einer Veränderung der Versor-
gungsstruktur und der Arzt-Patient-Beziehung, da 13.4.5 Telemedizin bei invasiven Eingriffen:
Teile der »ärztlichen Kompetenz« an den Patienten Telechirurgie
abgegeben werden.
In Bezug auf das Telemonitoring zeichnet sich Eine Innovation, die in den Medien sehr kritisch
die empirische Befundlage derzeit dadurch aus, diskutiert wurde, betrifft die Medizinrobotik bzw.
dass verschiedene Home-care-Programme in Hin- die Telechirurgie, da bei diesen Anwendungen in-
blick auf Anwendbarkeit und Akzeptanz geprüft vasive Eingriffe technisch vermittelt werden. Die
13.4 · Ausgewählte psychosoziale Anwendungsfelder der Telemedizin
163 13

Telechirurgie umfasst ferngesteuerte Operationen, einem Arzt-Patient-Gespräch zu vermitteln sind


bei denen der Chirurg räumlich vom Patienten ge- und können somit das medizinische Wissen des
trennt ist und der Eingriff durch vom Arzt ge- Patienten erhöhen. Es ist mittlerweile gut belegt,
steuerte Teleroboter bzw. auch durch nicht spe- dass die Nutzung dieser Systeme sehr ausgeprägt
zialisierte Ärzte erfolgt. Ziel dieser Anwendung ist (Eysenbach u. Diepgen 1999), wobei Nutzer sich
ist es, chirurgische Expertise auch für Patienten durch eine Reihe von psychosozialen und sozio-
bereitzustellen, die sonst »nicht erreichbar« wären, demographischen Charakteristika auszuzeichnen
oder an Orte des Körpers zu gelangen, die für den scheinen. Ebenfalls ist die nutzerorientierte Aufbe-
Menschen nicht erreichbar sind. Hierbei wird tra- reitung von Gesundheitsdiensten im Internet ein
ditionell ärztliches Handwerk an die Maschine mittlerweile gut beforschtes Feld (Eysenbach u. Ja-
oder an einen auf diesem Fachgebiet nicht spezia- dad 2001), wobei hier vielmehr textgestalterische
lisierten Kollegen delegiert. Misstrauen, Ängste Aspekte im Rahmen der Motivation von spezifi-
und Gefühle der Entfremdung können dadurch schen Zielgruppen eine Rolle spielen.
entstehen, dass der fachlich kompetente Arzt zum Über den Einfluss von Gesundheitsportalen,
Zeitpunkt eines invasiven Eingriffs nicht am Ope- d. h. Patienteninformationssystemen im Internet,
rationsort bzw. dem Körper des Patienten präsent auf die Arzt-Patient-Beziehung gibt es bisher nur
ist. Ferner ist die Indikation dieser Operation dem implizite Hinweise. Chen und Siu (2001) haben Pa-
Patienten schwer zu kommunizieren, denn obwohl tienten mit Krebserkrankungen, denen verschiede-
die Vorteile von Teleoperationen in einer hohen ne Informationsmöglichkeiten (u. a. Patienten-
Präzision gesehen werden, sind der Anwendung informationssysteme für Patienten mit Krebs-
durch die Individualität der menschlichen Anato- erkrankungen) nahe gelegt wurden, zwei Wochen
mie Grenzen gesetzt. Hierdurch erforderliche Risi- poststationär zu der Inanspruchnahme und der
koeinschätzungen können nur schwer vom Patien- Zufriedenheit mit verschiedenen Informations-
ten nachvollzogen werden. Psychosoziale Studien quellen befragt. Es wurde ebenfalls das Urteil der
existieren zu diesem Gebiet noch nicht. Onkologen erfasst. 50% der Patienten gaben an, das
Internet als Informationsquelle zu nutzen, wovon
ca. die Hälfte die identifizierten Informationen
13.4.6 Psychosoziale Aspekte der Nutzung als relevant, präzise, ausgewogen und informativ
des Internets in der medizinischen einschätzten. Prädiktoren für die Nutzung des
Versorgung Internets waren Englisch als Muttersprache (es
handelte sich um eine kanadische Studie), Zu-
Internetbasierte Patienteninformationssysteme, gangsmöglichkeiten zum Internet sowie die Inan-
z. T. auch als Gesundheitsportale bezeichnet, infor- spruchnahme alternativer Therapieverfahren. Die
mieren über Ätiologie, Diagnostik und Therapie Ärzte verwiesen darauf, dass die im Internet dar-
spezifischer Erkrankungen in patientengerechter gebotenen Informationen schwer zu interpretieren
Weise und vermitteln z. T. Hilfsangebote. Dabei seien. Weder Ärzte noch Patienten glaubten, dass
existieren mittlerweile Informationssysteme über Informationen aus Gesundheitsportalen die Arzt-
eine Vielzahl von somatischen Erkrankungen und Patient-Beziehung beeinflussen würden. Im Gegen-
psychischen Störungen. In Bezug auf die Qualität satz hierzu hat Whitehead (2000) am Beispiel der
der Informationen unterliegen diese unterschied- Hormonersatztherapie dargestellt, wie verun-
lichen, teils evidenzbasierten Prüfkriterien. Gegen- sichert Patientinnen durch publizierte negative
wärtig werden die Vorteile von Gesundheitsportalen Nachrichten werden und vermutete hierüber nicht
in einer Stärkung der Partizipation bzw. der Mit- unbedeutende Konsequenzen für den Arzt, denn
entscheidung der Patienten am medizinischen dieser muss Vorteile und Risiken von Behand-
Entscheidungsprozess gesehen.Gesundheitsportale lungsmethoden abwägen, um keinen »Respekt-
versetzen den Patienten in die Lage, sich medizi- verlust« zu riskieren.
nische Informationen in höherer Quantität und
Komplexität zu beschaffen, als normalerweise in
164 Kapitel 13 · Medizinpsychologische Implikationen der Telemedizin

13.4.7 Neue elektronische Techniken Patient-Beziehung. Auf kognitiver Ebene besteht


im Verwaltungsmanagement die Gefahr, dass die Informationen – sei es, dass der
Patient sie aus Gesundheitsportalen, sei es dass der
In den letzten Jahren sind eine Reihe von Systemen Arzt diese aus elektronischen Patientenakten ge-
entwickelt worden, die in der Veraltung von Patien- wonnen hat – nicht verifiziert werden. Auf der Ebe-
tendaten unterstützend sein können, so z. B. die ne der Arzt-Patient-Beziehung kann die Nutzung
elektronische Patientenakte, das elektronische Re- von Gesundheitsportalen die Befürchtung der Ver-
zept und der elektronische Arztausweis. Fragen der schiebung von Hierarchien evozieren sowie das
Implementierung werden derzeit diskutiert. Die beiderseitige Wissen um Informationen, die nor-
elektronische Patientenakte dient der lokalen oder malerweise dem Arzt bzw. dem Patienten zu eigen
zentralen Verwaltung und Archivierung von ver- sind, zu gegenseitigem Misstrauen führen.
teilten Patientendaten bzw. der Sicherung von Pa-
tientendaten aus verschiedenen Behandlungs-
episoden und ist mit Bildarchiven etc. verknüpfbar. 13.5 Diskussion
Neben der individuellen Patientenbehandlung
können die Daten ebenfalls in Gesundheitssystemen Ziel dieser Übersicht war es, die medizinpsycholo-
oder auch in der Gesundheitsberichtserstattungen gischen Implikationen der Telemedizin aufzuzei-
genutzt werden. Im Rahmen der Arzt-Patient- gen. Obwohl nur exemplarische Fragestellungen
Beziehung könnte der Arzt durch die Nutzung der und Anwendungsfelder herausgegriffen wurden,
lokalen oder der (derzeit rechtlich nicht legitimier- wird hierbei nicht nur die prinzipielle Breite der
ten) zentralen Sicherung von Patientendaten mehr Ansätze deutlich, sondern zudem die Vielzahl an
Wissen über die Krankengeschichte des Patienten psychosozialen Feldern, die direkt oder indirekt
in Erfahrung bringen, als er aus dem persönlichen durch die neuen Technologien betroffen sind. Kri-
Arzt-Patient-Kontakt ziehen kann. tische Stimmen gegenüber der Telemedizin weisen
Über den Einfluss der integrierten elektroni- auf die Gefahr hin, dass die Entwicklung aus der
schen Krankenakten, der Patientenchipkarte, dem Wirtschaft, der Unterhaltungstechnologie kommt
elektronischen Rezept oder der Patienten-CD- und einerseits zu einer weiteren Technisierung der
ROM, auf der spezifische medizinische Daten, z. B. Medizin führt, andererseits sich primär auf einen
Röntgenbefunde, auf einer CD zwecks Verfügbar- potentiellen Lifestyle Aspekt der Medizin beziehen
13 keit für Patient und weiterführende behandelnde dürfte.
Ärzte abgespeichert werden, gibt es aufgrund der In bisherigen Studien sind psychosoziale As-
Neuheit dieser Anwendungen und der derzeit teil- pekte häufig nur als Sekundäraspekt in die Unter-
weise ungeklärten rechtlichen Situation auch kaum suchung eingeschlossen worden und weisen hier-
Studien psychosozialen Inhalts. Aus kognitions- bei zum Teil eine methodische unzureichende
psychologischen Studien ist bekannt, dass auf Pa- Qualität auf. Dennoch werfen bisherige Studien be-
pier verabreichte Patientendaten vermutlich eher reits vielfältige Thematiken auf, die auf einschnei-
in einer narrativen Struktur, die über Computer dende Veränderungen in der Arzt-Patient-Bezie-
dargebotenen Informationen eher in Form diskre- hung in der Tele- im Vergleich zur konventionellen
ter Items abgespeichert werden; der Arzt-Patient- Medizin hinweisen. In den Studien, die psychoso-
Dialog bezog sich dementsprechend in der Gruppe ziale Aspekte einschlossen, zeigten sich dement-
mit Rezeption elektronischer Patientenunterlagen sprechend auch Diskrepanzen in der Wahrnehmung
stärker auf Details, in der Gruppe mit konventio- zwischen Professionellen und Patienten. Im Gegen-
nellen Papierunterlagen stärker auf den Gesamt- satz zu den Patienten haben Ärzte im Rahmen von
eindruck (Patel et al. 2000). Telekonsultationen z. B. mehrfach allein technische
Prinzipiell birgt die Inanspruchnahme elektro- Aspekte der Videoübertragung, z. B. Übertragungs-
nischer Informationsquellen – sowohl die des Pa- verzögerungen, Bildqualität etc., bewertet (z. B.
tienten als auch die des Arztes – eine Reihe von Aarnio et al. 1999). Auch wenn von Seiten der Ärzte
Risiken, z. B. Misstrauen auf der Ebene der Arzt- eher Vorbehalte gegenüber der Telemedizin ge-
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165 13

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14

Psychologie in der Zahnmedizin


J. Margraf-Stiksrud

14.1 Psychologische und verhaltensmedizinische Aspekte von


Erkrankungen in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – 168
14.1.1 Entstehung von Erkrankungen: Parafunktionen – 169
14.1.2 Verlauf von Erkrankungen: Parodontitis und Stress – 171
14.1.3 Therapie von Erkrankungen: Gesichtstumore – 172
14.1.4 Psychosomatische Reaktionen – 173

14.2 Die zahnärztliche Behandlungssituation – 175


14.2.1 Zahnbehandlungsangst – 176
14.2.2 Compliance – 178
14.2.3 Zahnärztliche Gesprächsführung – 179
14.2.4 Stressbewältigung: die berufliche Situation des Zahnarztes – 181

14.3 Prävention und Gesundheitsförderung – 183


14.3.1 Prävention – 183
14.3.2 Gesundheitsförderung – 184

14.4 Ausblick – 185

Literatur – 186
168 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

 gie systematisiert wurden1. Dies soll es erleichtern,


zahnmedizinische Themen als integrale Bestand-
Psychologie in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkun- teile einer medizinischen Psychologie in einem
de hat eine lange Tradition. Bereits in den 20er- und Ausbildungsangebot stärker zu berücksichtigen,
30er-Jahren des letzten Jahrhunderts beschäftigten das künftig auch von Zahnmedizinern angefragt
sich (Zahn-)Mediziner in Deutschland mit psycho- werden wird. Zu Anfang wird ein Überblick über
logischen Aspekten zahnmedizinischer Erkrankun- psychologische und verhaltensmedizinische As-
gen, der Psychologie des Zahnarztes und des Pa- pekte von Erkrankungen in der Zahn-, Mund- und
tienten und der zahnärztlichen Behandlungssitua- Kieferheilkunde gegeben. Darauf folgt eine Ana-
tion (Huppmann u. Kramp 1995; Huppmann 1997). lyse der zahnärztlichen Behandlungssituation,
Gleichwohl spielten psychologische Themen in der schließlich werden die besonderen Perspektiven
Ausbildung junger Zahnärzte bisher eine eher klei- der Gesundheitsförderung und Krankheitsprä-
ne Rolle, wenn sie überhaupt angesprochen wur- vention in der Zahnmedizin vorgestellt.
den. Nach Ketterl (1986) ist »ein guter Zahnarzt
schon immer auch ein guter Psychologe« gewesen
– auch ohne besondere Ausbildung in Psychologie.
Ketterls selbstbewusste Überzeugung bezieht sich 14.1 Psychologische und verhaltens-
wohl auf eher praktische Fertigkeiten im Umgang medizinische Aspekte
mit den Patienten. Sie greift zu kurz, wenn eine fun- von Erkrankungen in der Zahn-,
dierte Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten mensch- Mund- und Kiefer heilkunde
lichen Erlebens und Verhaltens in den Bereichen
▬ Krankheitsentwicklung und -bewältigung, Die Auffassung, dass körperliche, psychische und
▬ Befolgungsverhalten und Kooperation bei soziale Faktoren beim Zustandekommen, beim
zahnärztlichen Maßnahmen, Verlauf und bei der Therapie von Erkrankungen
▬ Prävention von zahnmedizinischen Erkrankun- der Zähne, des Zahnhalteapparates, des Kiefers und
gen, des Gesichts zusammenwirken, erscheint Medizin-
▬ Gestaltung der Zahnarzt-Patient-Beziehung psychologen selbstverständlich und führt auch bei
und nicht zuletzt Zahnmedizinern zunehmend zu der Erkenntnis,
▬ Wahrnehmung und Ausübung der eigenen dass die Berücksichtigung psychischer und sozialer
zahnärztlichen Tätigkeit Variablen die »rein« medizinische (körperliche)
Arbeit optimieren kann. Typische Beispiele, bei
14 nötig ist, um die Qualität und den Erfolg der zahn- denen bereits Modelle und Daten zum besseren
ärztlichen Betreuung und Behandlung zu verbes- Verständnis der zahnmedizinischen Erkrankungen
sern. geführt haben, sind
In der unmittelbar bevorstehenden Erneuerung ▬ für den Bereich Entstehung von Erkrankungen:
der Approbationsordnung für Zahnmediziner wird Parafunktionen (Kiefergelenkbeschwerden,
auch die medizinische Psychologie und Soziologie Dysgnathien),
enthalten sein. Damit wird gewürdigt, dass eine ▬ für den Bereich Verlauf von Erkrankungen: Pa-
gute und sowohl für den Zahnarzt als auch für den rodontitis und Stress,
Patienten befriedigende Zusammenarbeit ohne die ▬ für den Bereich Therapie von Erkrankungen:
oben genannten Kenntnisse heute kaum noch Gesichtstumore.
möglich ist. In den letzten Jahrzehnten wurde durch
internationale, aber auch deutsche Forschung eine
beachtlich umfangreiche Basis einer zahnmedizini-
schen Psychologie erarbeitet. Im Folgenden werden 1
Viele der dargestellten empirischen Untersuchungen wur-
daraus Beispiele vorgestellt, die entlang der typi- den von Mitgliedern des Arbeitskreises Psychologie und
schen Themenfelder der medizinischen Psycholo- Zahnmedizin der Deutschen Gesellschaft für Medizinische
▼ Psychologie erarbeitet und bei Fachtagungen präsentiert.
14.1 · Psychologische und verhaltensmedizinische Aspekte von Erkrankungen
169 14

Daneben müssen sich auch Zahnmediziner mit Zahnfehlstellungen kommen, da dysfunktionaler


Beschwerden von Patienten auseinandersetzen, für Druck auf die Zähne ausgeübt wird, was besonders
die keine organischen Ursachen gefunden werden z. Z. des Gebisswachstums die gesunde Entwick-
können und die doch körperlichen Erkrankungen lung des Kiefers beeinträchtigen kann. Außerdem
gleichen. Solche psychosomatischen Reaktionen kann es wie auch bei okklusalen Parafunktionen
wurden besonders als Missempfindungen und durch die hohe Krafteinwirkung und Muskelbean-
Schmerzen im Gesichts-/Mundbereich und im Zu- spruchung zu Schmerzen kommen. Nonokklusale
sammenhang mit der Verwendung von zahnärzt- Parafunktionen sind auch das sog. Daumen- und
lichen Materialien, z. B. Amalgam und Prothesen, Fingerlutschen und das Nägelkauen. Bei diesen
untersucht. Hier lauten die Themen Verhaltensgewohnheiten, im kieferorthopädischen
▬ atypische Gesichtsschmerzen, Sprachgebrauch oft vereinfacht als »Habits« be-
▬ Mundschleimhautbrennen, zeichnet, werden eigene Körperteile bzw. Gegen-
▬ Amalgamallergie, stände (Beruhigungssauger, Bleistift) in den Mund
▬ Prothesenadaptation. geführt und mit hohem Kraftaufwand angesaugt
bzw. bekaut. Daher ist auch der Begriff »Daumen-
lutschen« eher irreführend, da hier nicht zum Aus-
14.1.1 Entstehung von Erkrankungen: druck kommt, wie intensiv (auch muskulär) Kinder
Parafunktionen diese Gewohnheit oft betreiben. Folgen solcher
Habits sind spezifische Dysgnathien, wie z. B. eine
Nach Kluge (2001, S. 98) sind orale Parafunktionen Frontzahnstufe, ein offener Biss oder ein lateraler
»…Bewegungsabläufe und Kontraktionsmuster Kreuzbiss.
bestimmter Muskelgruppen im Mund- und Kiefer- Obgleich unmittelbar einleuchtend erscheint,
bereich ohne physiologische Funktion, die stereo- dass die muskuläre Beanspruchung »ohne physio-
typ mehr oder weniger häufig und lang andauernd logische Funktion« zu den oben aufgeführten Be-
wiederholt werden«. Parafunktionen werden meist schwerden und Erkrankungen führen kann, ist der
ohne bewusste Steuerung durch den Patienten Weg von der Gewohnheit zur körperlichen Folge
ausgeführt. Für die Zahnmedizin relevant ist die nicht eindimensional und führt nicht nur in eine
Unterscheidung in okklusale und nonokklusale Richtung. Beim Versuch, die Frage zu klären, wa-
Parafunktionen, da diese zu jeweils verschiedenen rum es überhaupt zu Parafunktionen kommt, sind
Beeinträchtigungen der Zahngesundheit führen. neben psychologischen Deutungen auch Begrün-
Zu den okklusalen Parafunktionen gehören vor dungen der Patienten beachtet worden, dass sie
allem das Zusammenpressen der Zahnreihen und z. B. mit den Zähnen knirschen, weil eine »hervor-
das Zähneknirschen, wenn die zusammengepress- stehende Ecke« am Zahn sie störe. Solche »körper-
ten Zähne aufeinander bewegt werden (meist als lichen« Bedingungen als Erklärung für eine Para-
Bruxismus bezeichnet). Folgen dieser Parafunk- funktion wurden z. T. so favorisiert, dass aus-
tionen sind häufig Abrasionen des Zahnschmelzes schließlich medizinische Maßnahmen als ange-
mit charakteristischen Schlifffacetten, Schädigung messene Behandlung für eine Parafunktion und
des Parodonts und Lockerung der Zähne, Kieferge- der mit ihr verbundenen körperlichen Beschwer-
lenkbeschwerden (Gelenkknacken, eingeschränkte den angesehen wurden, also z. B. das Einschleifen
Mundöffnung), bis hin zu Schmerzen in Kopf und der Zähne, eine Anhebung des Bisses oder gar voll-
Kiefer (Schmerzdysfunktions-Syndrom). ständige kieferorthopädische bzw. chirurgische
Die nonokklusalen Parafunktionen umfassen Programme. Statt nur in diese eingleisige Richtung
Verhaltensgewohnheiten, die die Weichteile des zu denken, lassen sich die vorliegenden Daten zzt.
Mundes in Mitleidenschaft ziehen, also Zungen- am besten mit einem Regelkreismodell in Einklang
pressen und -beißen, Lippenpressen, -saugen und bringen (⊡ Abb. 14.1). Aus medizinischer Sicht wäre
-beißen und Wangensaugen und -beißen. Neben hier bei den vom Patienten berichteten Beschwer-
der potentiellen Schädigung des Gewebes kann es den anzusetzen. Statt jedoch ausschließlich orga-
bei andauernden und starken Bewegungen auch zu nische Ursachen im Blick zu haben, die entweder
170 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

⊡ Abb. 14.1. Regelkreismodell


Parafunktionen

direkt (asymmetrisches Kiefergelenk als Grund für belastungen (lifestress) (Sergl et al. 1997), Aggres-
Beschwerden) oder über den Umweg einer Para- sionshemmung (Koziol u. Margraf-Stiksrud 1990)
funktion (Frühkontakte) zur Erkrankung führen, oder eine depressive Grundstimmung (Selle et al.
berücksichtigt das Modell auch Befunde, nach de- 2000) ermittelt worden. In der internationalen For-
nen eine Parafunktion als Folge körperlicher Be- schung werden weitere Faktoren genannt (Ängst-
dingungen (Frühkontakt nach Füllungsbehand- lichkeit, soziale Beziehungen, z. B. Rugh et al. 1993).
lung) vorübergehend ausgeführt wird und adaptiv Problematisch bei der Ermittlung von relevanten
wirkt. Der Patient »gewöhnt« sich an die (verän- psychologischen Bedingungen sind einerseits die
derten) körperlichen Gegebenheiten und entwi- Trennung von Ursache und Wirkung, da Beschwer-
ckelt keine Beschwerden. Das Modell gibt auch den durch Parafunktionen ihrerseits Einfluss auf
Zusammenhängen Raum, nach denen Parafunk- psychologische Variablen haben können, und ande-
tionen nicht immer zu organischen Beschwerden rerseits eine genaue Diagnose der jeweils unter-
führen müssen. Viele Patienten suchen dann trotz suchten Parafunktion, da den gezeigten Verhaltens-
solcher oraler Gewohnheiten keinen Zahnarzt auf. mustern offenbar unterschiedliche psychische Kon-
Schließlich verweist die Darstellung auf die psy- stellationen zugrunde liegen (Knirschen vs. Pressen,
chologische Seite des Bedingungsgefüges, indem nur nächtliches vs. kontinuierliches Bruxieren etc.).
14 auch psychische Ursachen für die Ausführung von Für die Beibehaltung kindlicher Lutschgewohn-
Parafunktionen betrachtet werden. Dies ist am be- heiten bis ins frühe Jugendalter existieren unter-
reitwilligsten bei den nonokklusalen Parafunktio- schiedliche Erklärungsmodelle, wobei lernpsycho-
nen verfolgt worden, für die eine organische Ursa- logische Ansätze in Verbindung mit dispositionel-
che naturgemäß nicht feststellbar ist. len Variablen die überzeugendsten Belege liefern
Untersuchungsschwerpunkte bilden zum einen (Lauterbach 1989; zusammenfassend Margraf-
die Erforschung der psychologischen Bedingun- Stiksrud 2000).
gen, die zur Ausführung von Parafunktionen füh- Zum Nägelkauen bei Erwachsenen konnten
ren, zum anderen die Entwicklung von wirksamen Benz und Amelang (1998) zeigen, dass eine Reihe
Therapiebausteinen, die die Parafunktionen ein- von Persönlichkeitseigenschaften (Neurotizismus,
dämmen oder abstellen und dadurch zu einer Ent- Selbstaggressivität, orale Aggressivität, orale Be-
lastung des Kauapparates führen. friedigung durch Rauchen, Ängstlichkeit), nicht
Als psychologische Faktoren, die für die Entste- jedoch frühe Fütterungserfahrungen, Nägelkauer
hung von Parafunktionen (insbesondere Bruxis- von Nichtnägelkauern unterschieden. Die Autoren
mus) eine Rolle spielen könnten, sind z. B. eine dys- deuten Nägelkauen als habituierte Technik zur
funktionale Stressbewältigung (Künkel et al. 1992; Spannungsreduktion (ähnlich wie Daumenlutschen
Kluge et al. 1993), vor allem bei besonderen Lebens- im Kindesalter).
14.1 · Psychologische und verhaltensmedizinische Aspekte von Erkrankungen
171 14

Die Vielzahl der untersuchten Therapiean- als medizinpsychologische Aufgabe angesehen


sätze kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden (Abschn. 14.3).
und deren Wirksamkeit diskutiert werden. Einen Für den Verlauf und den Schweregrad der Par-
Überblick gibt Kluge (2001), wobei sie vor allem odontitis kann jedoch das Mundhygieneverhalten
die okklusalen Parafunktionen berücksichtigt. Die alleine keine ausreichende Erklärung liefern. Als
Ansätze umfassen zahnmedizinische Maßnahmen Risikofaktoren, die das Mundmilieu belasten und
(Schiene), physiotherapeutische Anwendungen, die Wachstumsbedingungen für Bakterien beein-
Biofeedback, Selbstbeobachtung, Gesprächsthe- flussen, sind vor allem Rauchen und bestimmte
rapie und Gruppentherapie zur Änderung dys- Ernähungsgewohnheiten (Bevorzugung weicher,
funktionaler Kognitionen und Stressbewältigungs- süßer und klebriger Nahrung) ermittelt worden.
techniken. Birner et al. (1994) führen auch Entspan- Auch systemische Erkrankungen, die auf eine ge-
nungstraining, massierte Übung, »habit reversal« schwächte Immunabwehr des Patienten hinweisen,
und hypnotische Ansätze auf. Für Habits wie Dau- können den Ausbruch einer Parodontitis bzw.
menlutschen und Nägelkauen existieren ähnliche deren Aufrechterhaltung begünstigen (Clarke u.
Kataloge, wobei Selbstbeobachtung und negative Hirsch 1995). Zusätzlich zu diesen Faktoren wird
Verstärkung hier im Vordergrund stehen. Die Stu- auch nach psychischen Bedingungen gesucht, die
dien weisen häufig ähnliche Probleme wie Thera- für die interindividuell so variablen Erscheinungs-
pieerfolgsstudien in anderen Bereichen auf (Kon- formen der Parodontitis verantwortlich sein könn-
trollgruppen, Langzeitbeobachtung, Kriterien für ten. Für die Bedeutung von subjektiver Belastung
Erfolg), belegen jedoch insgesamt die Relevanz durch Stress sprechen eine Reihe von zum Teil
psychologischer Faktoren bei der Entstehung von durch empirische Daten abgesicherte Annahmen
Parafunktionen und damit auch für die Entwick- (Deinzer u. Herforth 1997):
lung der oben aufgeführten körperlichen Be- ▬ Unter Stress verändern sich Mundhygiene, Er-
schwerden und Symptome. nährungsgewohnheiten und Nikotinkonsum
meist in Richtung ungesunder Verhaltensweisen.
▬ Stress ändert die Durchblutung des Parodonts
14.1.2 Verlauf von Erkrankungen: und reduziert den Speichelfluss.
Parodontitis und Stress ▬ Stress führt zu Veränderungen im Immunsys-
tem (Reduzierung von Immunglobulin A, ver-
Neben der Karieserkrankung ist die Parodontitis mehrte Freisetzung von Interleukin 1-beta).
(Entzündung des Zahnhalteapparates) im Er-
wachsenenalter Hauptursache für Zahnverlust. In einer prospektiven Studie an Medizinstudenten
Parodontitis entsteht durch bakterielle Plaque, die vor und nach dem Examen konnte Deinzer (2002)
sich meist infolge mangelhafter Mundhygiene am nachweisen, dass die Kombination der Bedingungen
Zahnfleischsaum bildet. Dies kann zunächst zu a) experimentell induzierter Gingivitis (durch aus-
einer Gingivitis (Zahnfleischentzündung) führen, bleibende Mundhygiene) und b) Examensstress zu
wobei sich je nach Ausmaß und Dauer der Plaque- erhöhten Werten von Interleukin 1-beta in der Sul-
besiedelung (bis in den subgingivalen Bereich kusflüssigkeit führten, während weder Examens-
hinein) ein Fortschreiten der Entzündung zum stress ohne veränderte Mundhygiene (ohne Gingi-
Parodont entwickelt, was wiederum Gewebeabbau vitis) noch die induzierte Gingivitis ohne Stress
und Zahnlockerung nach sich zieht. Die Plaque- diese Wirkung erzielte. Deinzer interpretiert diese
bildung ist eine notwendige, aber keine hinreichen- Befunde als Belege für die ursächliche Wirkung von
de Bedingung für die Entstehung einer Parodontitis: Stressoren bei der Entwicklung einer Parodontitis
Mangelnde Mundhygiene hat nicht zwingend eine (als Folge einer Gingivitis), wobei dieser Prozess
Entzündung zur Folge, aber eine optimale Mund- durch weitere Risikofaktoren kompliziert wird.
hygiene könnte Parodontitis wirksam verhindern. In einer Untersuchung von Brodala (2002), die
Insofern kann eine günstige Beeinflussung des Patienten im Verlauf einer Parodontalbehandlung
Mundhygieneverhaltens im Sinne der Prävention mehrfach untersuchte, erwies sich vor allem das
172 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

Nicht-Rauchen als entscheidend für den Heilungs- Die Situation von Tumorpatienten weist hierzu
erfolg, während Persönlichkeitsmerkmale wie zwei wichtige Unterschiede auf: a) Die Patienten
subjektive Stressbewältigungsstrategien oder Är- erfahren eine oft lebensbedrohliche Erkrankung
gerunterdrückung nicht mit unterschiedlichen und b) die häufig notwendigen operativen medizi-
Heilungsverläufen zusammenhingen. Tendentiell nischen Therapiemaßnahmen führen zu Beein-
zeigte sich ein Zusammenhang zu negativer Le- trächtigungen des körperlichen Zustands, vor al-
benseinstellung und pessimistischer Zukunftssicht. lem zu Versehrungen im Gesicht, die dramatisch
Dieser Befund ähnelt Ergebnissen aus der Untersu- sein können und nicht immer befriedigend durch
chung anderer Erkrankungen (bspw. Krebs, Herz- Epithesen ausgeglichen werden. Ästhetische Ein-
erkrankungen, Erholung nach Operationen) und bußen und Entstellungen im Gesicht – durch wel-
ließe sich mit den Annahmen von Scheier u. Carver che Umstände auch immer bedingt – besitzen spe-
(1993) in Verbindung bringen, wonach Optimismus zifische Bedeutung durch die Funktion des Gesichts
als generelle Lebensorientierung die aktive Bewäl- als Identitätsträger und Mittel zur sozialen Interak-
tigung einer Erkrankung unterstützt. Die Ergeb- tion und Kommunikation (Margraf-Stiksrud 1990,
nisse zur Rolle von Optimismus und anderer Per- 2001; Sergl 1992; Sergl et al. 2001). Daher stellt eine
sönlichkeitsfaktoren, z. B. Depressivität oder nega- medizinische Maßnahme, die diese zentralen Funk-
tiver Affektivität, für den Verlauf einer Parodontitis tionen beeinträchtigt, eine besondere Belastung
bedürfen jedoch der Replikation. für den Patienten dar. Die Verflechtung psychischer
Faktoren mit körperlicher Gesundheit wird beson-
ders deutlich, wenn Patienten aufgrund von Angst
14.1.3 Therapie von Erkrankungen: vor entstellenden Folgen einer Operation den not-
Gesichtstumore wendigen Eingriff zu lange hinausschieben.
Al-Khazraji und Schröder (2001) berichten
Die Therapie von Erkrankungen in der Zahn-, über vielfältige physische, psychische und soziale
Mund- und Kieferheilkunde geschieht in der Regel Belastungen, denen diese Patienten ausgesetzt sind.
im zahnärztlichen Behandlungsstuhl. Die mit die- Neben der kurzfristigeren Bewältigung der opera-
ser Behandlungsform verbundenen psychologi- tiven Eingriffe selbst ist vor allem die längerfristige
schen Besonderheiten werden im nächsten Ab- Umgangsweise mit den Folgen der Erkrankung für
schnitt (Analyse der zahnärztlichen Behandlungs- die Lebensqualität der Patienten entscheidend.
situation) krankheitsübergreifend abgehandelt. Al-Khazraji und Schröder (2001) sprechen vom
Bei der Therapie einiger Erkrankungen sind jedoch Beginn der psychosozialen Rehabilitation bereits
14 auch in der Zahnmedizin operative Eingriffe vor der Operation. In ihrer Studie an 128 Patienten
notwendig, die nicht ambulant und im üblichen konnten sie sechs verschiedene Typen (Gruppen)
zahnärztlichen Setting stattfinden können. Dies unterscheiden, die jeweils unterschiedlich mit
gilt z. B. für Korrekturen schwerwiegender Kiefer- den Belastungen durch Erkrankung und Therapie
fehlstellungen (Progenie) oder Missbildungen (Lip- umgehen. Am häufigsten in dieser Studie kamen
pen-Kiefer-Gaumenspalten) und in besonderer Personen mit punktuellem Beratungsbedarf vor
Weise für Tumore im Kiefer-/Gesichtsbereich. Die (Typ II, 32%), die ihre Situation insgesamt selbst-
Behandlung von Kieferfehlstellungen oder Miss- tätig und partiell erfolgreich bewältigten und nur
bildungen führt neben allen Belastungen, die die kurze und spezifische Hilfe brauchten. 19% der
medizinische Milderung solcher Normabweichun- Untersuchten gehörten zum Typ V, chronisch und
gen der äußeren Erscheinung mit sich bringt, in komplex belastete Patienten, bei denen ein rehabi-
den meisten Fällen zu einer objektiven und subjek- litationsbegleitender Beratungsbedarf bei nur
tiven Verbesserung des körperlichen Zustands. unspezifischem Symptombezug vorlag. Multiple
Einen Überblick zu den psychologischen Besonder- Belastungen mit starkem krankheitsspezifischem
heiten, die in der Arbeit mit solchen Patienten zu Symptombezug (Typ IV) kamen in 17% der Fälle
berücksichtigen sind, geben z. B. Margraf-Stiksrud vor. Immerhin 13% der Patienten konnten als er-
u. Fleischer-Peters (1996). folgreiche Bewältiger ohne Beratungsbedarf (Typ I)
14.1 · Psychologische und verhaltensmedizinische Aspekte von Erkrankungen
173 14

angesehen werden. 10% der Untersuchten wehr- die Bedeutung psychologischer Faktoren in allen
ten ihre Probleme ausdrücklich ab und zeigten Teilen des Krankheitsverlaufs auch durch deutsche
einen eher repressiven Informationsverarbeitungs- Studien gut aufgezeigt werden kann. Einen aktuel-
stil (Typ III). Patienten in einer akuten depressiv- len Überblick über weitere Beispiele und interna-
phobischen Krisensituation (Typ VI) bildeten die tionale Forschung gibt Albino (2002).
kleinste Gruppe (9%).
Aus der Zusammenfassung des Rehabilita-
tionsbedarfs der definierten, empirisch unter- 14.1.4 Psychosomatische Reaktionen
scheidbaren Typen ergibt sich eine »objektive«
Bedürftigkeit bei 45% der Patienten (durch ent- Atypische Gesichtsschmerzen
sprechende diagnostische Methoden ermittelt); und Burning-mouth-Syndrom
zusätzliche 32% zeigen einen punktuellen Rehabi- Bei der Diagnose atypischer Gesichtsschmerzen ist
litationsbedarf. Demgegenüber geben nur 25,7% eine sorgfältige Abgrenzung der Störung zum o. g.
der Patienten selbst einen solchen Bedarf an, Schmerz-Dysfunktions-Syndrom (der Schmerz ent-
58,1% sehen keine Notwendigkeit fachlicher Hilfe, steht durch Fehlbelastungen und Muskelverspan-
bei 16,2% sind die Angaben uneindeutig. Dabei ist nungen) und zu Neuralgien, Neuropathien und
die subjektive Bedürftigkeit der 6 Typen unter- Allergien wichtig (Nilges 2001). Nur wenn körper-
schiedlich (am häufigsten z. B. bei Typ VI). Die liche Ursachen eindeutig auszuschließen sind, ge-
Häufigkeit gewünschter Unterstützung entspricht hören die von den Patienten berichteten Schmerz-
etwa Befunden aus anderen Studien. Auch in der empfindungen im Gesicht zu den somatoformen
DÖSAK-Studie (Deutsch-Österreichisch-Schwei- Schmerzstörungen (ICD-10, F45). Typisch für Pa-
zerischer Arbeitskreis für Tumoren im Kiefer- und tienten mit solchen Störungen sind im Allgemeinen
Gesichtsbereich) mit 1.652 Patienten lag der Bera- eine Ablehnung psychischer Faktoren als Ursache
tungsbedarf bei 25%. Dabei waren für den Bedarf für die Schmerzen, ein starker Wunsch nach medizi-
nach Unterstützung vor allem Beeinträchtigungen nischer Behandlung und ein deutlich von Aufmerk-
des Aussehens, des Riechvermögens, der Fähigkeit samkeitssuche geprägtes Verhalten. Empirische Stu-
zu essen, zu schlucken und der Mundgeruch ver- dien zu dieser Störung beziehen sich meist auf
antwortlich (Kugler et al. 1996). Einzelfalldarstellungen (Forberger et al. 1990; Schar-
Al-Khazraji und Schröder (2001) schlagen für fenstein 1990). Egle (1990) betont, dass die Gruppe
die psychosoziale Unterstützung tumorerkrankter der Patienten mit psychogenen Schmerzen im
Patienten ein spezifisches, auf die ermittelten Typen Kiefer-/Gesichtsbereich sehr heterogen sei, da
bezogenes, Interventionsprogramm vor und bezie- unterschiedliche Störungen zugrunde liegen kön-
hen hierbei auch Befunde aus internationalen Stu- nen. Dies zeigte sich auch in einer Untersuchung von
dien und Hilfsprogrammen mit ein (z. B. »changing Fichter u. Goebel (1990) an 134 stationären Schmerz-
faces«, Partridge 1990). Sie nennen 10 Interven- patienten, von denen 42 Schmerzen im Kopf/Gesicht/
tionsbereiche mit Beispielen für spezielle Maß- Mund angaben. Wegen der differentialdiagnostisch
nahmen, wobei zu den eher psychologischen Fak- bedeutenden Abgrenzung von körperlichen und
toren, auf die Einfluss genommen werden sollte, psychischen Krankheitsfaktoren und der Abhän-
insbesondere Ängste, Identitätsprobleme und Selbst- gigkeit wirksamer Therapieverfahren von einer
unsicherheit gehören. Auf die bei diesen Patienten möglichst exakten Diagnose ist bei der Behandlung
besondere Bedeutung der Selbstunsicherheit weist dieser Patienten eine enge interdisziplinäre Zusam-
auch Strittmatter (1997, zit. n. Al-Khazraji u. Schrö- menarbeit notwendig. Außerdem besteht auch ein
der 2001) hin. In einer Untersuchung an 93 Patien- dringender Forschungsbedarf zur Erprobung von
ten stellte er ein wesentlich häufigeres Auftreten bei psychologischen Therapiebausteinen, da die Be-
Patienten mit Tumoren im Gesichtsbereich als bei handlung bisher meist nur zahnmedizinische
Patienten mit Tumoren am Körper fest. Maßnahmen umfasste (Fabinger u. Fiedler 1996).
Parafunktionen, Parodontitis und Gesichtstu- Obgleich das (seltene) Beschwerdebild des Bur-
more sind Beispiele für Erkrankungen, an denen ning-mouth-Syndroms (Mundschleimhautbren-
174 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

nen, Zungenbrennen) medizinisch lange bekannt »amalgamängstliche« Patienten eine eher hetero-
und gut beschrieben ist (Surma et al. 1995), finden gene Gruppe darstellen (Gottwald et al. 2000).
sich zu Ätiologie und Behandlung wenige Daten. In Bailer et al. (2000) konnten neben einer Sensitivität
der Regel (von seltenen allergischen Reaktionen für die schädliche Wirkung des Amalgam bei ihrer
auf Speisen oder Materialien abgesehen) gibt es Untersuchungsgruppe insgesamt erhöhte allge-
keinen organischen Befund, der die Beschwerden meine Gefährdungskognitionen gegenüber Um-
erklären könnte. Durch Einzelfallstudien (Makuch weltbelastungen feststellen. Bei Döhrn u. Neuser
u. Richter 1997) lässt sich die Hypothese ableiten, (1998) zeigten die Amalgamsensitiven ein erhöhtes
dass die Symptomatik charakteristische Aspekte Bedürfnis nach Information. Wenn die Patienten
der somatoformen Störungen enthält, insbeson- ausgesondert werden, die tatsächlich eine Unverträg-
dere Aufmerksamkeitssuche und dysfunktionale, lichkeitsreaktion zeigen bzw. andere (körperliche)
somatische Reaktionen auf außergewöhnliche Le- Beeinträchtigungen besitzen, die ihre Beschwerden
bensbelastungen. erklären können, ähnelt die »vermeintliche« Un-
verträglichkeit der Patienten auf Amalgam einer
»Amalgamallergie« dentalmaterialbezogenen somatoformen Störung
Ende der 90er-Jahre wurde in der kritischen (Bailer et al. 1995), deren Entstehung und Aufrecht-
Öffentlichkeit vermehrt eine mögliche gesund- erhaltung durch das Modell in ⊡ Abb. 14.2 veran-
heitsschädliche Wirkung des Füllungsmaterials schaulicht wird.
Amalgam diskutiert. Dies führte zu einer ver-
stärkten Datensammlung, um einerseits die be- Prothesenadaptation
fürchteten (toxischen) Wirkungen des Materials zu Auch bei der Eingliederung von herausnehmbarem
überprüfen und andererseits eine Erklärung für und festsitzendem Zahnersatz berichten Patienten
die sprunghaft ansteigenden Berichte von Be- immer wieder von Beschwerden, die sie auf die
schwerden durch betroffene Patienten zu finden. Prothesen zurückführen.Anders als beim Amalgam
Als belegbare, allerdings eher in Einzelfällen auf- wird hier keine Vergiftung befürchtet, selten wird
tretende Konsequenzen einer Amalgamunverträg- eine allergische Reaktion auf das Prothesenmaterial
lichkeit können Kontaktallergien durch Bestandteile angeführt. Meist leiden die Patienten nach eigenen
des Amalgam, Mundschleimhautveränderungen Aussagen unter dem »schlechten Sitz«, Druckstel-
(Lichen ruber) oder Gewebeverfärbungen ange- len, unschönem Aussehen, aber auch Schmerzen
sehen werden (Gottwald et al. 2000; Döhrn u. (als Folge der vermeintlich schlechten Passung),
Neuser 1998). Die von den Patienten beklagten mitunter bis in andere Teile des Körpers aus-
14 Beschwerden beziehen sich jedoch auf strahlend (Rücken, Schulter, Arme). Druckstellen
▬ Müdigkeit, Mattigkeit, Schwächegefühl, oder mangelnde Passform sind selten auszuschlie-
▬ Schlafstörungen, Herzjagen, ßen, sodass in der Regel eine Nachbesserung der
▬ Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Prothese bzw. ein Entfernen von Druckstellen als
▬ Gewichtsverlust, Schwindelgefühl, Mundtro- erste Maßnahme durchgeführt wird. In den meisten
ckenheit, Fällen verläuft die Anpassung des Patienten an die
▬ Konzentrationsstörungen, katastrophisierende Prothese relativ problemlos. Nach evtl. nötigen,
Gedanken (Befürchtung, vergiftet zu sein). geringfügigen Nachbesserungen wird der Zahn-
ersatz bald nicht mehr als Fremdkörper im Mund
Eine Standardanordnung der durchgeführten empfunden und erfüllt seine Funktionen. Unter-
Untersuchungen vergleicht Patienten mit solchen suchungen belegen, dass sogar zahnmedizinisch
Beschwerden, die diese auf ihre Amalgamfüllungen mangelhafte Prothesen oft von Patienten ohne
zurückführen, mit anderen Patienten ohne Be- weiteres angenommen und zu ihrer Zufrieden-
schwerden, aber mit vergleichbarem organischen heit genutzt werden, sodass bei Problemen mit
Befund (Anzahl und Dauer von Amalgamfüllungen der Prothesenadaptation zwar die Mängelbeseiti-
im Mund, Quecksilberkonzentration im Körper). gung an erster Stelle stehen sollte, jedoch auch
Dabei zeigte sich, dass »amalgamsensitive« oder psychologische Faktoren den Gewöhnungspro-
14.2 · Die zahnärztliche Behandlungssituation
175 14

⊡ Abb. 14.2. Erklärungsmodell


»Amalgamallergie«. (Modifiziert
nach Bailer et al.1995)

zess beeinflussen und eine Adaptation behindern konnte keine Verbesserung der Situation durch die
können. Eingliederung von Implantaten erreicht werden.
Ein einheitliches Modell des Adaptationspro- Die Autoren interpretieren dies als weiteren Beleg
zesses existiert nicht. Neben einzelnen Fallbeispie- für die eher im psychischen Bereich liegenden
len, die extreme Varianten mangelnder Adaptation Gründe, die die Akzeptanz bei diesen Patienten
verdeutlichen (Anfertigen von 30 Totalprothesen, bestimmten. Dies weist darauf hin, dass auch bei
da der Patient immer wieder Probleme beklagt, implantologischen Behandlungsmethoden mit
Röckl u. Fabinger 1990), wird auch berichtet, dass Adaptationsproblemen gerechnet werden muss,
der Anteil der Patienten mit Beschwerden im Ver- wobei hierzu kaum Daten vorliegen und syste-
lauf von 5 Jahren von ca. 25% auf deutlich unter 5% matische Untersuchungen psychologischer Fakto-
zurückgeht (Wöstmann 1996). Folgende Faktoren ren bisher fehlen.
könnten einen Einfluss auf den Adaptationsprozess
ausüben (Schneller 1989):
▬ allgemeine Einstellungen zu Gesundheit und 14.2 Die zahnärztliche
Wert der eigenen Person; Behandlungssituation
▬ Erwartungen des Patienten an die Prothese be-
züglich Ästhetik und Funktion; In der Zahnmedizin betreut meist ein und derselbe
▬ aktuelle Lebenssituation, belastende Lebens- Arzt seine Patienten von Anfang (Beschwerde) bis
umstände; Ende (Nachsorge) und führt sämliche diagnos-
▬ soziale Unterstützung, soziales Netzwerk; tischen und therapeutischen Schritte selbst durch.
▬ körperliches und emotionales Befinden; Nur in seltenen Fällen ist eine Überweisung an eine
▬ Zahnarzt-Patient-Beziehung. Klinik oder gar ein stationärer Aufenthalt zur
Heilung notwendig. Zusätzliche diagnostische
Im Zusammenhang mit den verbesserten tech- Untersuchungen (z. B. Röntgen) nehmen die meis-
nischen Möglichkeiten zur Eingliederung von ten Zahnärzte in der eigenen Praxis vor oder sie
Zahnersatz durch die Methoden der Implantolo- sind in der Zahnmedizin nicht erforderlich (Blut-
gie erscheint eine Untersuchung von Kromminga untersuchungen). Konsiliarische Überweisungen
u. Buchholz (1992) interessant. Bei 13 Patienten an Fachärzte kommen ebenfalls eher selten vor
mit Unverträglichkeitsreaktionen auf Prothesen (Kieferorthopäden überweisen an Allgemeinzahn-
176 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

ärzte zur Extraktion von Zähnen, aber Allgemein- ▬ Auf Seiten des Zahnarztes:
zahnärzte führen durchaus auch kieferorthopä-  Patientenführung, vor allem Gesprächsfüh-
dische Behandlungen durch), spezielle (unter- rung und
stützende) Therapieformen, z. B. Physiotherapie,  Stressbewältigung.
Krankengymnastik, Kuren, Rehabilitationsbehand
lungen in Kliniken oder Psychotherapie stellen Zu diesen Bereichen existieren zahlreiche For-
Ausnahmen dar. Dies unterstreicht die besondere schungsergebnisse.
Beziehung, die zwischen Patient und Behandler in
der Zahnmedizin besteht. Hier ist ein Zahnarzt
oder eine Zahnärztin Ansprechpartner für alle 14.2.1 Zahnbehandlungsangst
Phasen der Erkrankung, vor allem wenn es sich um
langjährige »Hauszahnärzte« handelt, von denen Nicht zuletzt aufgrund ausgearbeiteter theoreti-
u. U. die ganze Familie versorgt wird. Dies kann scher Modelle und einem reichhaltigen Netzwerk
vom Patienten als angenehm empfunden werden, von Befunden zu Angst und Ängstlichkeit in der
wenn Vertrauen zum Behandler besteht und die (klinisch-)psychologischen Grundlagenforschung
Wahl der Praxis selbstbestimmt erfolgte. Belas- wurden in der Vergangenheit zu Entstehung,
tungen können auftreten, wenn der Patient nicht Ursachen, Verbreitung und Therapie von Angst vor
mit dem Arzt zufrieden ist, aber die Praxis nicht der zahnärztlichen Behandlung mehr Informatio-
gewechselt wird (aus räumlichen Gründen, aus nen zusammengetragen als zu allen anderen
Gewohnheit, weil die Eltern oder eigene Kinder die psychologischen Themen in der Zahnmedizin.
Praxiswahl bestimmen). Einen Überblick geben Margraf-Stiksrud (1996)
Das »Vertrauen« zum Behandler wird in der oder Jöhren u. Sartory (2002).
Zahnmedizin auch deshalb bedeutsam, weil die Zahnbehandlungsangst kann als intensives,
meisten Patienten die typische Therapieform (im unangenehmes Gefühl verstanden werden, das alle
Behandlungsstuhl liegend, durch die Arbeit im Gedanken und Handlungen auf eine vermeintliche
Mund in der Bewegung und der Sprache extrem oder tatsächliche Bedrohung im Zusammenhang
eingeschränkt) als ausgesprochen unkontrollier- mit Zahnarzt oder zahnärztlichem Personal, Be-
bar empfinden. Mit einem Besuch beim Zahnarzt handlungsablauf oder Behandlungsumständen
werden in der Regel Gefühle der Hilflosigkeit und richtet und Abwehr- und Alarmreaktionen im Kör-
des Ausgeliefertseins assoziiert. Es erfordert ein per wachruft. Bereits aus der eingangs angeführten
hohes Ausmaß an Selbstkontrolle, Einsicht in die Beschreibung der zahnärztlichen Behandlungs-
14 Notwendigkeit der Untersuchung und Behandlung situation geht hervor, dass hier zahlreiche poten-
und – im günstigen Fall – Sicherheit über die Kom- tielle Bedrohungen auftreten. Neben unangeneh-
petenz des Behandlers, wenn die Patienten sich bei men körperlichen Empfindungen und kognitiven
vollem Bewusstsein in liegender Position potentiell Befürchtungen ist der Schmerz durch zahnärzt-
gewebeschädigenden und invasiven Prozeduren liche Maßnahmen, vor allem durch bestimmte
unterziehen. Instrumente (Spritze, Bohrer), als unkonditionier-
In dieser störungsanfälligen, für Patient und ter Stimulus für das Auslösen einer Angstreaktion
Zahnarzt belastenden Situation ist eine Vielzahl verantwortlich. Zahnbehandlungsangst in ihren
von psychologischen Faktoren wirksam. Über verschiedenen Intensitätsgraden entsteht jedoch
all diejenigen hinaus, die immer bei einem engen nicht einfach durch eine einzelne Schmerzer-
Zusammentreffen von zwei oder drei Personen fahrung, sondern durch eine Interaktion von
eine Rolle spielen können, sind für das zahnärzt- Situationsbedingungen und Persönlichkeitsfak-
liche Setting folgende Faktoren besonders rele- toren. Dabei konnten durchaus traumatische
vant: (Schmerz-)Erlebnisse, aber auch familiäre Erfah-
▬ Auf Seiten des Patienten: rungen und Einstellungen, eine niedrige Schmerz-
 Angst und toleranz, hohe dispositionelle Ängstlichkeit und
 Compliance. geringe Bewältigungskompetenzen als bedeutsame
14.2 · Die zahnärztliche Behandlungssituation
177 14

Variablen für die Aufklärung ängstlicher Reaktio- Dental Cognitions Questionnaire, DCQ). Ein Bei-
nen nachgewiesen werden (Litt 1996). spiel für eine deutsche Skalenentwicklung stellt der
Untersuchungen zur Differentialdiagnose ord- Hierarchische Angstfragebogen (Jöhren 1999) dar,
nen Zahnbehandlungsangst den Ängsten vor phy- der für den Einsatz bei Erwachsenen gute Bewäh-
sischer Bedrohung zu. Sie geht jedoch nicht völlig rungsdaten zeigt. Für die Erfassung von Zahnbe-
in der Gruppe der Blut-Verletzungs-Spritzen-Pho- handlungsängstlichkeit im Kindesalter hat Mar-
bien auf (Locker et al. 1997; DeJongh et al. 1998). graf-Stiksrud (2003) einen Fragebogen vorgelegt,
Zahnbehandlungsangst enthält auch Elemente von dessen theoretisches Konzept auf das Facettenmo-
sozialer Angst, außerdem kann sie in Verbindung dell der Erfassung von Zahnbehandlungsangst von
mit anderen Beeinträchtigungen des Patienten auf- Stouthard et al. (1993) zurückgeht. In diesem Mo-
treten. Die als »Seattle-System« bekannt gewordene dell wird die Angstreaktion (bzw. die individuelle
Einteilung der Zahnbehandlungsangst in vier Ty- Ausprägung der Ängstlichkeit) als zusammenge-
pen (Milgrom et al. 1985) wurde mehrfach, z. T. mit setzt aus einer Zeitfacette (Nähe zum bedrohlichen
Modifikationen, bestätigt (Moore et al. 1991; Locker Ereignis), einer Situationsfacette (Art der durchge-
et al. 1999). führten Maßnahme) und einer Reaktionsfacette
Die Untersuchung von Angstreaktionen führte (Ebene, auf der ängstlich reagiert wird) angesehen.
zur Entwicklung zahlreicher diagnostischer Me- Der Fragebogen für Kinder zwischen 8–13 Jahren
thoden und Verfahren, um sowohl im Kindes- als liegt in einer Version mit Bildern, die die Zeitfacet-
auch im Erwachsenenalter Angst auf allen Manifes- te anschaulich darstellen, und einer Version im
tationsebenen (Lang 1993) zuverlässig und valide klassischen Itemlistenformat vor.
zu erfassen. Auch für Angstreaktionen beim Zahn- Aufbauend auf Modellen der Angstentstehung
arzt tritt die mangelhafte Kongruenz der Angst- und -bewältigung sind inzwischen vielfältige
äußerungsebenen auf. Daher gilt als Standard, Strategien zur Prävention, Abschwächung und
bei systematischen Untersuchungen Messverfah- Beseitigung von Zahnbehandlungsangst unter-
ren für alle Ebenen parallel einzusetzen (Glanz- sucht worden. Präventive Maßnahmen umfassen
mann 1989). Neben der Angst als unmittelbare eine ausreichende Information (Erleichterung ei-
Reaktion auf Elemente der Situation wird Zahn- ner angemessenen Einschätzung der Bedrohung)
behandlungsängstlichkeit auch als generalisierte auch schon im Kindesalter, frühzeitige Einführung
Tendenz, Zahnarztbesuche mit Angstgefühlen zu und Gewöhnung an die zahnärztliche Situation vor
erwarten und bei hohen Ausprägungen der Angst dem Auftreten von umfangreichem Behandlungs-
sogar ganz zu vermeiden, untersucht. Hier kann bedarf (Vermeidung einer Angstkonditionierung
Angst vor der Zahnbehandlung als spezifische durch schmerzhafte Prozeduren) und Sedierung
Phobie aufgefasst werden, die in der Regel zu durch Prämedikation oder Entspannungsverfah-
schwerwiegenden Einbußen der Gesundheit für ren (z. B. Hypnose).
den Betroffenen führt. Eine Abschwächung von Angstreaktionen beim
In der Vergangenheit wurden zahlreiche, inter- Zahnarzt ist für die Patienten wichtig und indiziert,
national genutzte und z. T. gut untersuchte diag- deren Angsterleben eine gute Kooperation bei
nostische Verfahren zur angemessenen Erfassung der Behandlung gefährdet, die jedoch nicht unter
unterschiedlicher Aspekte der Zahnbehandlungs- einer krankheitswertigen Störung leiden (vgl.
angst entwickelt. Im deutschsprachigen Raum exis- Seattle-System). Interventionen zielen hier auf eine
tieren demgegenüber kaum eigene Entwicklungen, Verbesserung der Bewältigungskompetenzen der
meist handelt es sich um Übersetzungen der eng- Patienten ab. Als erfolgreich sind Methoden be-
lischsprachigen Instrumente, für die deutsche Da- schrieben worden, die auf dem Konzept der syste-
ten spärlich sind. Normierungen fehlen bisher matischen Desensibilisierung aufbauen (Training
völlig (Tönnies u. Kleinknecht 2003 zum Dental von Entspannung). Da in der Behandlung jedoch
Fear Survey, DFS; Margraf-Stiksrud 2003 zur Den- nicht nur als bedrohlich bewertete, sondern auch
tal Anxiety Scale, DAS; Bach u. Margraf-Stiksrud tatsächlich unangenehme Empfindungen vorkom-
2002 zum Dental Anxiety Inventory, DAI und zum men können, basieren die meisten Therapiestudien
178 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

auf der Untersuchung der Vor- und Nachteile spe- Eine regelmäßige Medikamenteneinnahme (wich-
zifischer Copingstrategien zum Aushalten von tiges Kriterium für Compliance in vielen anderen
Schmerz u. ä., z. B. progressive Muskelrelaxation Bereichen der Medizin) ist in der Zahnmedizin nur
vs. Ablenkung bei Erwachsenen (Rohrmann et in Ausnahmefällen Hauptziel der Mitarbeit.
al. 2001), Entspannungsmusik bei Erwachsenen Zu Bedingungen für Compliance liegen Unter-
(Klages et al. 1998), Musik und Hörgeschichten bei suchungsergebnisse vor allem aus dem Bereich der
Kindern (Kalzua et al. 2002). Die Wirksamkeit der Kieferorthopädie vor, da hier die Kooperation des
Techniken wird meist mit einer Erhöhung der kog- meist kindlichen Patienten von entscheidender Be-
nitiven Kontrolle in der Situation erklärt. deutung für die Dauer und den Erfolg der Behand-
Bei der Behandlung von Patienten mit Zahn- lung ist (Bartsch u. Witt 2003). Die Befunde lassen
behandlungsangst, die die Kriterien für eine psy- sich entsprechend einem einfachen deskriptiven
chische Störung erfüllen, ist eine umfassende Modell gliedern, das rascher als komplexere Kon-
Diagnostik und mitunter mehr als eine direkt in zepte mit Aussagen über Ursache-Wirkungs-Bezie-
der Situation anwendbare Bewältigungsstrategie hungen einen Überblick über relevante Faktoren
als Hilfestellung nötig. Beispiele für die Behand- erlaubt, die Mitarbeitsverhalten (in der Kieferor-
lung von erwachsenen phobischen Patienten be- thopädie) bedingen (⊡ Abb. 14.3).
richten Thom et al. (2000). Die Autoren verglichen Im Modell werden soziale Bedingungen des
eine Expositionsbehandlung mit dem Nutzen von Patienten zusammengefasst, von denen sich ein
Benzodiazepin-Gaben und kommen zu dem vernachlässigender oder überprotektiver Erzie-
Schluss, dass eine fachgerechte psychotherapeuti- hungsstil der Eltern und deren ablehnende oder
sche Intervention erfolgreicher ist, da sie Zahnbe- skeptische Einstellung gegenüber der Behandlung
handlungsphobien beseitigen kann (den Patienten compliancereduzierend auswirken (Dausch-Neu-
ist auch langfristig der Besuch des Zahnarztes mann 1982), was ebenso für eine negative Einstel-
möglich), während die Medikation eher vorüberge- lung von Lehrern gegenüber »Zahnspangen« gilt
hende, eng auf eine spezielle Behandlung bezogene (Kraft 1982). Auch belastende Lebensereignisse
Besserung der Symptome bewirkt (weitere Bei- können (vorübergehend) die Bereitschaft der Kin-
spiele für Interventionsstudien vgl. Sergl u. Müller- der und Jugendlichen zur Kooperation mindern.
Fahlbusch 1989; Sergl et al. 1998). Die Überprüfung dispositioneller Unterschie-
de bei Kindern mit guter vs. geringer Compliance
erbrachte Risiken bei impulsivem Temperament,
14.2.2 Compliance geringer Leistungsmotivation, geringem Selbst-
14 wertgefühl, hoher Dominanz, fatalistischer Grund-
Die Bereitschaft des Patienten zur Mitarbeit bei haltung. Tendenziell zeigen mehr Jungen als Mäd-
medizinischen Behandlungsmaßnahmen kann in chen Mitarbeitsprobleme (Sergl u. Furk 1982, Sergl
der Zahnmedizin an folgenden Kriterien festgestellt et al. 1987). Keine systematischen Zusammenhänge
werden: konnten jedoch zwischen der Art der Dysgnathie
▬ Kooperation bei der Behandlung im Stuhl oder dem Alter der Kinder und der Bereitschaft
(Mund öffnen, Zustimmung zum Behandlungs- zur Kooperation festgestellt werden (Wilker et al.
plan); 1987).
▬ häusliche Zahnpflege und Gesundheitsvorsor- Bei den Merkmalen der Behandlung wirken
ge (z. B. Ernährungsgewohnheiten), insbeson- sich offenbar notwendige Extraktionen, eine starke
dere während spezieller Therapiephasen in Sprechbehinderung, eine lange Behandlungsdauer
der parodontologischen oder kieferorthopädi- und hohe Tragezeitanforderungen ungünstig auf
schen Behandlung; die Qualität der Mitarbeit aus (Huppmann et al.
▬ Tragezeit und Gerätepflege in der Kieferortho- 1986). Auch Aspekte der Zahnarzt-Patient-Bezie-
pädie; hung spielen eine Rolle: Ein distanzierter, kühler
▬ Tragen und Pflegen von Zahnersatz in der Pro- Behandlungsstil, häufiger Tadel, wenig Rückmel-
thetik. dung über den Behandlungsfortschritt und eine
14.2 · Die zahnärztliche Behandlungssituation
179 14

⊡ Abb. 14.3. Compliance in der Kieferorthopädie

geringe Anpassung des Behandlungsablaufs an die ▬ Motivierung der Kinder durch affektive und
individuelle Lebenssituation des Kindes beein- informierende Zuwendung.
trächtigen die Motivation der Kinder und Jugend-
lichen und treten häufiger bei solchen auf, die eine Bartsch et al. (1998) weisen auf die zentrale Rolle
schlechte Mitarbeit zeigen (Sergl u. Furk 1982). der Informationsvermittlung im ärztlichen Ge-
Durch die Erkundung von Zusammenhängen spräch hin. An Konzepte der Verhaltensmodifika-
zwischen Merkmalen des Kindes und Merkmalen tion angelehnte Programme beziehen sich auf eine
der Behandlung mit der Compliance (entsprechend Kombination von Information, Behandlungsver-
den oben angeführten Verhaltenskriterien) kann trag und Verstärkung durch die Eltern und zeigen
keine Ursache-Wirkungs-Beziehung abgeleitet sich wirksamer als Einzelmaßnahmen (Gross et al.
werden (eine schlechte Mitarbeit der Kinder kann 1985). Insgesamt sprechen die Ergebnisse für eine
dem ungünstig wirkenden Tadel des Behandlers so weit als mögliche Anpassung der Behandlungs-
vorausgehen). Studien zur Wirksamkeit von Maß- anforderungen an die individuellen Besonderhei-
nahmen zur Verbesserung der Compliance legen ten des Kindes, wenn der Erfolg der Behandlung
eine Beeinflussbarkeit des Verhaltens durch Ände- von der Mitarbeit des Kindes abhängt. (Für Unter-
rungen der Behandlungsmerkmale jedoch nahe. suchungen zur Compliance in anderen Bereichen
Steigerungen von Mitarbeitsraten konnten nachge- der Zahnmedizin  vgl. Schneller u. Kühner 1989).
wiesen werden bei
▬ Anpassung der Tragezeitanforderungen und
der Art des Gerätes an die Möglichkeiten des 14.2.3 Zahnärztliche Gesprächsführung
Kindes, diese durchzuführen bzw. das Gerät an-
gemessen zu benutzen, Die zahnärztliche Tätigkeit ist nicht unbedingt eng
▬ Einbeziehung der Eltern zur Verhaltenskon- mit dem Bild der »sprechenden Medizin« verknüpft.
trolle, Dem Patienten ist es in weiten Teilen der Behandlung
180 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

unmöglich, mehr als unartikulierte Laute zur Kon- Gespräch als Exploration
versation beizutragen. Zahnärzte reden allenfalls Für die Nutzung des Gesprächs als Informations-
als »Begleitunterhaltung« zu ihrer Arbeit im Mund quelle benötigt der Zahnarzt nicht nur fachliche
des Patienten. Dennoch ist eine angemessene Ge- Kenntnisse über Symptomatik und Ätiologie von
sprächsführung mit dem Patienten auch in der Erkrankungen, er sollte auch vielfältige Kommu-
Zahnmedizin für den Behandlungserfolg von zen- nikationsfertigkeiten (Zuhören, Fragen stellen,
traler Bedeutung. Wie auch in anderen Bereichen Beobachten) besitzen. Notwendige Informationen
zwischenmenschlicher Kommunikation erfüllt das in kurzer Zeit zu wichtigen Themen zu erhalten,
Gespräch hier drei wichtige Funktionen: macht ein kontrolliertes Gesprächsverhalten
a) Es hat die Aufgabe, den Patienten zu informie- erforderlich. Hier wird es nicht dem Zufall oder
ren. dem Patienten überlassen, ob Themen zur Sprache
b) In einer systematischen Exploration kann der kommen, die für eine angemessene Behandlung
Zahnarzt relevante diagnostische Daten sam- zentral sind. Hilfsmittel können Anamnesefrage-
meln. bögen sein, die schriftlich vorliegen und vom Pa-
c) Durch affektive Anteile wirkt das Gespräch be- tienten vor einem Gespräch ausgefüllt werden.
ziehungsstiftend und -fördernd, was für die Wenn Informationen eingeholt werden müssen,
Vermeidung von Angst und die Verbesserung die nicht nur zur Klärung einer Beschwerde oder
der Compliance grundlegend ist. der Diagnose einer Erkrankung gebraucht werden,
sondern persönliche Eigenheiten des Patienten
Zunächst werden die drei Funktionen kurz be- betreffen (z. B. Behandlungsängstlichkeit), tritt der
schrieben, anschließend Untersuchungsergebnisse Beziehungsaspekt stärker in den Vordergrund als
zu ihrer Bedeutung für die zahnärztliche Tätigkeit die rein sachbezogene Exploration.
aufgeführt.
Gespräch als Beziehungsaufbau
Gespräch als Information Nicht nur nonverbale Signale, äußere Erscheinung
Angemessene Aufklärung und Information wird und die Handlungsweise des Zahnarztes vermit-
als »Technik« in vielen Bereichen zwischenmensch- teln dem Patienten einen Eindruck von dessen
licher Kommunikation benötigt und beschrieben, »Haltung« dem Patienten gegenüber. Wie wichtig
wobei übergreifende Grundprinzipien auch für das Gesprächsverhalten des Behandlers ist, wird
den zahnärztlichen Bereich gelten. Dazu zählen aus Untersuchungen deutlich, die die Gründe für
Gliederung/Strukturierung der Information, Menge die Arztwahl beleuchten. Die Patienten geben
14 der Information, Wiederholung wichtiger Anteile, erwartungsgemäß an, dass sie ihren Zahnarzt vor
didaktische Unterstützung durch Anschauungs- allem nach fachlicher Kompetenz auswählen. Wenn
material. Eine sachgerechte Verwendung solcher geprüft wird, wie Patienten fachliche Kompetenz
Strategien kann bei der zahnärztlichen Behandlung beurteilen, erscheinen überwiegend Kriterien, die
präventiv wirken, wenn Patienten durch mangelnde die kommunikativen Fähigkeiten des Zahnarztes
oder falsche Information die Bedrohung durch den betreffen. Wie die im nächsten Abschnitt angeführ-
Eingriff nicht richtig einschätzen können (Angst) ten Untersuchungen zeigen, reichen sachliche Qua-
oder die Bedeutung ihrer »Rolle« bei der Anwen- litäten der Gesprächsführung für eine angemessene
dung eines kieferorthopädischen Gerätes oder Motivierung des Patienten, für die Bewältigung
einer Prothese nicht erkennen (Compliance). Infor- schwieriger Behandlungssituationen (Schmerz,
mationsvermittlung ist besonders zu Beginn einer Angst) und für die Vermittlung von »Werten« (gute
Behandlung notwendig, wenn der Patient Maß- Zahnpflege, gesunde Ernährung) nicht aus – ohne
nahmen zustimmen soll – evtl. auch den Kosten, positive affektive Ausgestaltung des Gesprächs
die damit auf ihn zukommen. Patienten, die sich zu werden die Informationen seitens des Patienten
einem zahngesundheitlichen Thema beraten lassen schlecht behalten und ungern gegeben.
wollen, erwarten von ihrem Zahnarzt, dass er dazu
in verständlicher Weise Informationen geben kann.
14.2 · Die zahnärztliche Behandlungssituation
181 14
Dimensionen zahnärztlichen zu systematischen Wechselwirkungen müssen wei-
Gesprächsverhaltens terhin Daten gesammelt werden. Die Relevanz der
Bereits 1990 prüften Schneller et al. die Qualität Qualität der Informationsvermittlung und affek-
und den Erfolg der Mundgesundheitsberatung tiv-beziehungsfördernder Aspekte im Gespräch
durch Zahnärzte mit Hilfe einer Analyse von 87 wird durchgängig deutlich und scheint umfassen-
Videosequenzen. Sie konnten 8 Dimensionen er- de Einflüsse auf Patientenzufriedenheit, Behalten
mitteln, hinsichtlich derer das Gesprächsverhalten von Informationen, Behandlungserfolg und Ein-
der Zahnärzte unterscheidbar war und deren Aus- stellung zur eigenen Mundgesundheit zu besitzen
prägung Patientenzufriedenheit und Bereitschaft (Witt u. Bartsch 1996). Insofern stellt sachgerechte
zur Mitarbeit bestimmte. Diese gehören eher zu Gesprächsführung auch in der zahnärztlichen Be-
Wissensvermittlung (Dimensionen Strukturierung, handlung das wichtigste Instrument zur Patienten-
Verständlichkeit, Prägnanz, Medienunterstützung) führung dar.
oder zur sozial-emotionalen Grundhaltung (Di-
mensionen Einbindung des Patienten, Verstärkung,
Umgang mit Problemsituationen, Eigenbeteiligung 14.2.4 Stressbewältigung: die berufliche
des Patienten). Klages et al. (1991) analysierten 69 Situation des Zahnarztes
Tonbandaufzeichnungen vom Kommunikations-
verhalten des Zahnarztes bei kieferorthopädischen Anlass zu psychologischer Forschung in der Zahn-
Behandlungen. Sie fanden, dass die Patientenreak- medizin gibt nicht nur die Situation des Patienten
tionen »Offenheit« und »Beteiligung« mit den Ver- oder seine Beziehung zum Behandler. Auch den
haltensweisen »Geduld«, »Aktivität«, »Vermeiden Besonderheiten des zahnärztlichen Berufes wurde
von Unterbrechungen« und »Dominanz« des Zahn- in entsprechenden Untersuchungen nachgegangen.
arztes zusammenhingen. Fabinger und Röckl (1991) Dabei interessierten die spezifischen Belastungs-
beschränkten sich auf Videoaufnahmen von Erst- faktoren der beruflichen Tätigkeit am Behand-
kontakten zwischen Zahnarzt und Patient (n = 22). lungsstuhl und damit zusammenhängend die Ana-
Ähnlich wie Schneller et al. (1990) fanden sie neben lyse von Anforderungen und Qualifizierungsbedarf.
einer Kategorie »Behandlung« (Rahmenbedingun- Auch Studien- und Berufsmotive für diese Variante
gen wie Gesamtatmosphäre, Routine ja/nein, ver- medizinischer Tätigkeit und, in Gegenüberstellung
bale Anteile insgesamt, Integration der Assistenz) dazu, das »Image« des zahnärztlichen Berufes in
die Kategorien »Gesprächsstil« (Inhalt, Tonfall, der Öffentlichkeit wurden thematisiert.
Mimik/Gestik), »Haltung« (Empathie, Selbstkon- Micheelis (1984) ermittelte drei hauptsächliche
gruenz, Wertschätzung) und »Interaktionsstil« Belastungsfaktoren, die die zahnärztliche Arbeit
(Einfluss und Aktivität, Emotionale Zuwendung, charakterisieren: Konzentrative Anspannung bei
Kooperativität, Rationalität). Bartsch et al. (1998) feinmotorisch anspruchsvoller Tätigkeit in sensib-
nutzten für ihre Analyse den größten Datenpool: len Körperregionen, unerwartete und unvorher-
60 Videosequenzen aus kieferorthopädischen sehbare Reaktionen insbesondere ängstlicher Pa-
Erstberatungen und 56 Sequenzen aus Kinder- tienten, körperliche Belastung durch einseitige
behandlungen lieferten 6 Faktoren zahnärztlicher Körperhaltung. Die Reduzierung körperlicher Be-
Gesprächsführung: Informationsvermittlung, so- anspruchung durch eine ergonomisch verbesserte
zial-emotionale Atmosphäre, Vorbereitung auf die Praxiseinrichtung ist Thema arbeitspsychologisch
Schritte der Behandlung, Förderung der Teilnahme und arbeitsmedizinisch ausgerichteter Untersu-
der Patienten, Beruhigung und Ablenkung, Ver- chungen. Die für die Arbeit nötige Konzentration
mittlung zeitlicher Kontrolle. und mitunter schwierige Patienten stellen jedoch
Die Ergebnisse wurden unter unterschiedlichen Anforderungen dar, die nur durch entsprechende
Bedingungen »im Feld« gewonnen, nicht immer Kompetenzen des Zahnarztes bewältigt werden
wurden die Wirkungen auf die Patienten mit den können. Von Quast (1996) befragte 473 in eigener
gleichen Kriterien erhoben. Daher ist eine zusam- Praxis tätige Zahnärzte zu subjektiv bedeutsamen
menfassende Bewertung der Ergebnisse schwierig, Ursachen für Stress. In absteigender Rangordnung
182 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

wurden Kinderbehandlung, chirurgische Eingriffe, Frage, ob Zahnärzte sich in ihren beruflichen Er-
Langzeitsitzungen, Patientenängste, Extraktionen wartungen und Zielen und hinsichtlich ihrer Mo-
und Turbinengeräusche genannt. Als Rahmenbe- tive, dieses Studium aufzunehmen, von anderen
dingungen, die ihrer Meinung nach zu beruflichem Ärzten oder Berufsgruppen unterscheiden. Beruf-
Stress beitragen, wurden Belastungen im Privatle- liche Ziele bzw. Studienmotive sind in der Gruppe
ben, Überlastung bei der Arbeit, finanzieller Druck, der Zahnärzte relativ stabil über die letzten Jahr-
Belastung in sozialen Situationen, Einschränkung zehnte. Bereits Schmalfuß (1972) stellte bei Berufs-
durch andere und mangelnde Anerkennung im Be- tätigen und Studierenden Faktoren fest, die auch
ruf angeführt. heute noch als relevant angegeben werden: Selb-
Neben den körperlichen Beanspruchungen ständiges Arbeiten, anderen helfen/Krankheiten
werden also immer wieder zwischenmenschliche heilen, technisches und handwerkliches Geschick
Situationen genannt, die Belastungserleben indu- einsetzen und finanzielle Sicherheit sind die rang-
zieren (ähnlich auch Kreyer 1990, 1992, 1993 bei höchsten Motive, die Margraf-Stiksrud (1993) bzw.
österreichischen Zahnärzten oder Heim u. Augus- Wiek u. Margraf-Stiksrud (1997) bei 537 Zahnme-
tiny 1988 in der Schweiz). Möglicherweise steht die- dizinstudenten (Kohorten der Jahre 1988 bis 1996)
se Erfahrung in Zusammenhang mit dem Wunsch, fanden. Während das »Hilfemotiv« für medizini-
in der Ausbildung gerade im Bereich »Umgang mit sche Berufe typisch und meist auf den höchsten
Menschen« (und den sich daraus ergebenden Kon- Rangplätzen zu finden ist (Windolf 1992), rangiert
flikten) mehr Kompetenzen zu erwerben und so die Bedeutung handwerklicher und technischer
auf die Schwierigkeiten im Berufsleben besser vor- Aspekte nur bei Zahnärzten durchgängig hoch.
bereitet zu sein (Makuch et al. 2001 befragten dazu Auch selbständiges Arbeiten finden Zahnärzte
962 und Huppmann u. Windels 1990 271 angehende wichtiger als andere Mediziner. Zentrale Aspekte
Zahnmediziner). Die von den Zahnärzten angege- der zahnärztlichen Berufstätigkeit passen offenbar
benen subjektiven Belastungen ließen sich auch zu den Erwartungen und Wünschen angehender
durch physiologische Daten belegen. Groß et al. Zahnärzte. Als Grund für berufliche Belastung oder
(2001) stellten signifikante Anstiege von Speichel- Unzufriedenheit kommen daher eher die oben ge-
cortisol, Herzfrequenz und Hautleitwert des Be- nannten spezifischen situativen Bedingungen oder
handlers (n = 19) bei als »schwierig« eingeschätz- Lücken in der Qualität der Ausbildung in Frage, als
ten Patienten fest. Von Quast (1996) fand in seiner eine mangelnde Passung zwischen beruflichen Er-
Untersuchung signifikant ausgeprägtere Stressre- wartungen und Berufsalltag. Zahnärzte sind in der
aktionen (nachlassende Leistungsfähigkeit, nicht Regel mit ihrem Beruf trotz häufigen Stresserle-
14 abschalten können, sich Sorgen machen, sich bens ebenso zufrieden wie es die Patienten mit
schwach fühlen, Muskelverspannungen) bei Zahn- ihrem Zahnarzt sind: In groß angelegten Befragun-
ärzten im Vergleich zu Ärzten (n = 1.570), die wie- gen prüfen Zahnärzte immer wieder ihr »Image« in
derum stärkere Reaktionen zeigten als nichtärzt- der Öffentlichkeit (bspw. durch das Allensbacher
liche Selbständige. Demoskopieinstitut, Zahnärztliche Mitteilungen
Frühere Untersuchungen stellten häufig eine 2002). Während die meisten Patienten mit ihrem
bei Zahnmedizinern besonders hohe Rate an psy- eigenen Zahnarzt sehr zufrieden sind, fällt das
chosomatischen Beschwerden (»Burnout«, Sergl Bild des »Zahnarztes im Allgemeinen« meist etwas
2001), psychischen Erkrankungen oder gar Selbst- negativer aus (Liddell u. May 1984). Spekulatio-
mord fest (Baemayr u. Feuerlein 1986; McComb nen darüber, warum Zahnärzten immer wieder
1997). Schwierig dürfte der Nachweis werden, in- negative Eigenschaften (Aggressivität, Geldgier)
wiefern Aspekte der beruflichen Belastung selbst zugeschrieben werden, sind häufig, wissenschaft-
für solche Häufungen verantwortlich waren und lich jedoch schwer zu überprüfen. Eine kontrol-
welche Rahmenbedingungen der Tätigkeit diese lierte Studie an 200 erwachsenen Personen dazu
Bedingungen verschärften (z. B. finanzielle Belas- legten Sergl et al. (2001) vor. Diese konnte das ne-
tungen, Doppelbelastung durch Beruf und Fami- gative Heterostereotyp der Zahnärzte nicht bestä-
lie). Interessant in diesem Zusammenhang ist die tigen.
14.3 · Prävention und Gesundheitsförderung
183 14
14.3 Prävention und Jugendliche, die sich hinsichtlich Alter oder Bil-
Gesundheitsförderung dungsvoraussetzungen ähnlich sind und mit ähn-
lichen Strategien angesprochen werden können
Wenn es um die Erhaltung und Förderung der (Kindergarten, Schule). Die Effektivität von grup-
Gesundheit, nicht nur um die Behandlung von penprophylaktischen Programmen kann durch die
Erkrankungen geht, überschneiden sich die Inte- Berücksichtigung der jeweiligen psychologischen
ressen und Aufgaben der Medizinpsychologie mit Besonderheiten dieser Gruppen gesteigert werden,
denen der Gesundheitspsychologie. Vor allem im insbesondere was die kognitiven Voraussetzungen
Bereich primärer Prävention sind typischerweise zur Informationsaufnahme und die motorischen
nicht nur Patienten und Zahnärzte (allenfalls noch und motivationalen Bedingungen für die Aus-
Angehörige) Interaktionspartner, sondern die Ziel- übung neuen Verhaltens angeht. Hierbei stehen
gruppe psychologischer Betrachtungen sind alle pädagogische und entwicklungspsychologische
potentiellen Patienten,also die Gesamtbevölkerung. Prinzipien im Vordergrund (Künkel 2003) ( vgl.
Für die Erhaltung der Gesundheit sorgen dabei auch Abschn. 14.3.2 und die Ausführungen in Ab-
nicht nur Ärzte oder Psychologen, sondern eine schn. 14.2.2 zur Compliance).
Vielzahl von Personen in pädagogischen oder Besonders in der Individualprophylaxe, deren
anderen öffentlichen Einrichtungen, zu deren Auf- Methoden am besten an die persönlichen Lebens-
gaben die Weitergabe von gesundheitsbezogener bedingungen des (potentiellen) Patienten ange-
Information und die Kontrolle von Gesundheits- passt werden können, sind Kenntnisse über Grund-
verhalten gehören. lagen der Verhaltensänderung entscheidend, um
gesundheitsförderliches Verhalten anzuregen und
zu stabilisieren (Weinstein et al. 1989). Individual-
14.3.1 Prävention prophylaxe bei Erwachsenen findet fast ausschließ-
lich in der zahnärztlichen Praxis durch den Zahn-
Ziele von Präventions- und Prophylaxeprogrammen arzt oder ausgebildete Prophylaxeassistentinnen
in der Zahnmedizin sind seit vielen Jahren die sog. statt. Obgleich allgemeine Modelle der Verhaltens-
»vier Säulen der Prophylaxe«. Dazu gehören eine änderung und Motivierung (Basler 1992; Keller et
optimale Mundhygiene, gesunde Ernährung, Fluo- al. 2001) in der Zahnmedizin angewendet und emp-
ridierung der Zähne und regelmäßige Zahnarzt- fohlen werden, existieren kaum systematische Un-
besuche (Bartsch u. Bauch 1992). In all diesen tersuchungen zu deren Wirksamkeit im deutsch-
Bereichen ist für eine Zielerreichung (Zahnge- sprachigen Raum. Allerdings wurden einzelne
sundheit) spezifisches Verhalten des Einzelnen Aspekte des Verhaltensänderungsprozesses bei den
erforderlich. Präventions- und Prophylaxepro- »Prophylaxesäulen« Mundhygiene und regelmä-
gramme haben zur Aufgabe, dieses Verhalten zu ßige Zahnarztbesuche betrachtet.
fördern oder aufzubauen und zu stabilisieren. In Die Einstellung zur Mundhygiene spielt eine
der Zahnmedizin können neben der Individual- Rolle für die Absichtsbildung zur Verhaltensände-
prophylaxe, die meist in der zahnärztlichen Praxis rung oder -verbesserung. Hierzu wurden Studien
durchgeführt wird, die Gruppenprophylaxe und sowohl mit besonderen Patientengruppen durch-
die Kollektivprophylaxe (Magri 1989) unterschieden geführt (Schwangere: Willershausen-Zoennchen et
werden.Kollektive Prophylaxe umfasst Maßnahmen, al. 1999; Jugendliche: Hetzer 1990; Uhlich u. Hetzer
die keine Mitarbeit einzelner Personen verlangen 1998; ältere Menschen: Makuch et al. 1997), als auch
(z. B. Trinkwasserfluoridierung) und von Institu- bezüglich spezieller Hygienemaßnahmen (Zahn-
tionen oder politischen Entscheidungsträgern bürste: Willershausen u. Gunst 2001). Dabei zeigte
angeordnet werden. Solche Programme sind für sich für alle Untersuchungsgruppen, dass die Ak-
psychologische Fragestellungen nur indirekt rele- zeptanz oder Ablehnung von Mundhygienemaß-
vant, da sie keinen Verhaltensspielraum für den nahmen durch den Informationsstand der Be-
Einzelnen lassen. In der Gruppenprophylaxe sind troffenen moderiert wurde. Meist zeigten sich
Personen zusammengefasst, meist Kinder und Informationsdefizite, die die Erwartungen der
184 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

Zahnärzte übertrafen. Für die Wahl oder Ableh- Jugendlichen (Pieper 2001) auf der einen Seite und
nung von Hygienemitteln (Zahnbürste, Zahnseide) geringen Verbesserungen und schlechter Ansprech-
zeigte sich die »Information« durch Werbung als barkeit einer kleineren, heterogenen Gruppe, sog.
wichtigster Einflussfaktor. Solche Informationen Risikopatienten, auf der anderen Seite.
wurden besser erinnert und für wahrer gehalten als Dieser Aspekt führte in der letzten Zeit zur An-
Aussagen von Zahnärzten oder Prophylaxeperso- passung von Präventionskonzepten an Eigenschaf-
nal, obwohl sie z. T. sachlich vereinfachend oder ten dieser Risikogruppen. Bereits Staehle u. Kier-
falsch waren. mayr (1990) unterschieden »Problemgruppen«
Einige Untersuchungen widmeten sich der hinsichtlich der Besonderheiten in deren Le-
Frage, welche Bedingungen für eine regelmäßige bensumständen, wobei bei manchen Patienten
Inanspruchnahme von Kontrollen und Vorsorge- auch mehrere, die Prophylaxearbeit erschwerende,
maßnahmen durch den Zahnarzt verantwortlich Bedingungen zusammenkommen können. Staehle
sind. Neben soziodemografischen Faktoren (sozio- u. Kiermayr (1990) berücksichtigen in ihrem Mo-
ökonomischer Status und Kosten der Leistungen, dell körperliche, geistige, seelische und soziale Be-
Rieger et al. 1999) und Zahnbehandlungsangst lastungen. Um die Effektivität von Präventions-
spielt die Zufriedenheit mit der zahnärztlichen Be- maßnahmen bei diesen Patienten günstig zu beein-
ratung eine wichtige Rolle für die Aufrechterhal- flussen, ist die Entwicklung von Konzepten nötig,
tung regelmäßiger Besuche. Zur Überprüfung der die den spezifischen Bedarf durch interdisziplinäre
Patientenzufriedenheit entwickelte Strippel (1997) Zusammenarbeit ermitteln. Als Beispiel einer (so-
die Zahnmedizinische Zufriedenheitsskala (ZZS) zialen) Risikogruppe können Migranten angesehen
und erprobte sie bei 370 erwachsenen Probanden werden, für deren angemessene zahnmedizinische
(Versicherte einer Krankenkasse). Die Ergebnisse Versorgung es nicht ausreicht, die oben genannten
zeigten zwar überwiegend »zufriedene« Patienten, vier Zielbereiche (»Säulen«) der Prophylaxe anzu-
insbesondere mit Zugänglichkeit, Behandlungs- streben. Vielmehr müssten zunächst Hindernisse
und Praxisatmosphäre und medizinisch-techni- erkundet (und ausgeräumt) werden, die für diese
scher Qualität der Behandlung, allerdings bestand Gruppe spezifisch sind. Dazu gehören
hinsichtlich Informationsvermittlung, Schmerzen ▬ kulturelle Gepflogenheiten, die u. U. in Konflikt
und Wartezeit eher Unzufriedenheit und damit ein mit hiesigen Zielen und Werten stehen (Ge-
Verbesserungsbedarf. Wolf u. Rosenberger (2001) sundheit und Religion),
stellten mithilfe des Fragebogens zur Patientenzu- ▬ Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsange-
friedenheit (ZUF-8) in einer für zahnmedizinische bote in der neuen Umgebung,
14 Patienten modifizierten Form einen Zusammen- ▬ die fremdsprachlichen Kompetenzen bei Perso-
hang der Zufriedenheit bei Asylbewerbern mit der nen, die Prophylaxe anbieten bzw. die Deutsch-
Behandlung durch einen Zahnarzt aus dem Her- kenntnisse bei den Betroffenen (Schneller et al.
kunftsland fest. 2001 geben eine Übersicht über dieses Thema).
Aus den Studien ist vorläufig zweierlei abzulei-
ten: Zum einen liegt die Annahme nahe, dass für Dieses Beispiel weist auf die Notwendigkeit einer
Präventionsmaßnahmen im Bereich der Gruppen- engen Zusammenarbeit zwischen sozialmedizini-
prophylaxe, aber auch bei der Individualprophyla- schen oder medizinsoziologischen Experten mit
xe, eine angemessene Informationsvermittlung Medizinpsychologen hin.
nach wie vor entscheidend ist und ein entsprechen-
der Bedarf trotz aller bisheriger Aufklärungsstrate-
gien besteht. Dies unterstreicht die in Abschn. 14.2.3 14.3.2 Gesundheitsförderung
erläuterte Bedeutung von Gesprächsführungskom-
petenzen des Zahnarztes. Zum anderen ergibt sich Strategien der Gesundheitsförderung berücksich-
eine Diskrepanz zwischen Erreichbarkeit und tigen nicht nur psychologische, sondern auch
Fortschritten in der Zahngesundheit von großen soziale, finanzielle oder historische Bedingungen,
Bevölkerungsgruppen, insbesondere Kindern und unter denen Menschen gesundheitsbezogenes Ver-
14.4 · Ausblick
185 14

halten zeigen. Ein wichtiger Teilaspekt der Gesund- und Zahnmedizinern in den letzten Jahrzehnten
heitsförderung besteht in der Schaffung von Lern- hat so oft interessante und wichtige Ergebnisse
möglichkeiten, um Verhaltensweisen aufzubauen erbracht, dass die Nützlichkeit psychologischer
bzw. zu verändern, welche die Gesundheit erhalten Modelle für die Zahnmedizin ebenso wenig be-
und Gesundheitsrisiken vermeiden. Dies geschieht zweifelt werden kann wie die oft reizvolle Möglich-
vornehmlich im Rahmen der Gesundheitserziehung keit, psychologische Konzepte und Perspektiven an
in Kindergarten und Schule bei der Gruppenpro- Beispielen aus der Zahnmedizin zu überprüfen.
phylaxe, aber auch in den einzelnen Familien im Während Habermas u. Rosemeier (1988) den
Sinne der Individualprophylaxe. Für die Zahn- Themenkatalog einer »Dentalpsychologie« eher
gesundheit ist die Vermittlung von Wissen (richtige programmatisch aus Überblicksdarstellungen und
Pflege, richtige Ernährung) und von Fertigkeiten vorwiegend englischsprachiger Literatur ableiteten,
und Kompetenzen (Zahnputztechnik, Organisation kann nach 15 Jahren für viele der dort angespro-
und Durchführung des Zahnarztbesuchs) wichtig. chenen Gebiete inzwischen auch auf eine solide
Mit dem Aufbau von stabilen Gewohnheiten wird Basis deutscher Untersuchungsbefunde verwiesen
meist eine entsprechend positive Einstellung zur werden. Bei folgenden Themen besteht allerdings
Mundgesundheit gefördert. nach wie vor eher ein Mangel an einschlägiger
Die Berücksichtigung psychologischer Grund- Konzeptbildung und Datensammlung, wenn auch
lagen bei der Durchführung von Maßnahmen zur vereinzelt Ansätze dazu existieren:
Gesundheitserziehung kann zu einer bedeutsamen ▬ psychologische Aspekte der zahnärztlichen Be-
Steigerung ihrer Wirkung beitragen. In zahlreichen handlung spezieller Patientengruppen, z. B. alte
Untersuchungen (Makuch 1993; Makuch u. Lorenz- Menschen, Kinder, behinderte Patienten;
son 1992,) konnte für die Gruppe der Vorschulkin- ▬ Rolle psychischer Auffälligkeiten und Störun-
der nachgewiesen werden, dass traditionell einge- gen bei der zahnärztlichen Behandlung (Ess-
setzte verbale Instruktionsmethoden, selbst unter störungen, depressive Patienten, Drogenab-
Einsatz von Anschauungsmaterial, weniger effi- hängigkeit);
zient waren als spielerische Verfahren, die Lernin- ▬ Kompetenzerweiterung von Zahnärzten im Be-
halte systematisch auf den kognitiven, motorischen reich psychotherapeutischer Methoden (Hyp-
und emotionalen Entwicklungsstand der Kinder nose,Verfahren zur Entspannung und Schmerz-
abstimmen. Die Wirksamkeit der Strategien wurde reduktion);
anhand des Wissenszuwachses der Kinder, ihrer ▬ Arbeitsplatz Praxis: Mitarbeiterführung, Mit-
fremdeingeschätzten Putztechnik und der tatsäch- arbeiterauswahl, ergonomische Praxisgestal-
lichen Zahngesundheit (Oralhygieneindex) fest- tung.
gestellt. Obgleich für viele Altersstufen Empfeh-
lungen für die Durchführung einer »Zahngesund- Aufgabe für die Zukunft ist mehr als nur der
heitserziehung« (Bartsch u. Bauch 1992) existieren, beharrliche Hinweis auf die Relevanz dieser und
steht eine, diesen Untersuchungen bei Kindergar- der im Überblick angeführten Themen für eine
tenkindern vergleichbare, systematische Wirk- Qualitätssteigerung in der Zahnheilkunde, auch
samkeitsprüfung der einzelnen Maßnahmen noch wenn dieser gerade von den Zahnärzten selbst zzt.
aus. unterstützt wird und Aussagen der Psychologie
zu all diesen Themen nachgefragt werden. Die
Psychologie in der Zahnmedizin kann nur fruchtbar
14.4 Ausblick bleiben und sich weiterentwickeln, wenn nach der
Phase der Etablierung eine weitere interdisziplinäre
Psychologische Forschung in der Zahnmedizin Forschungsaktivität aufrechterhalten werden kann.
umfasst ein breites Themenspektrum und kann Dabei darf die »Dentalpsychologie« kein spezieller
Beispiele zu allen Bereichen der Medizinpsychologie Zweig sein, mit dem Themen beschrieben werden,
beitragen. Die Zusammenarbeit zwischen Psycho- um die sich Psychologen kümmern, wenn sie mit
logen (und anderen Verhaltenswissenschaftlern) Zahnärzten zusammenarbeiten. Medizinpsycho-
186 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

logie findet auch im medizinischen Teilfach »Zahn-, Entwicklung – ihr Menschenbild. S. 32–45. Göttingen: Ver-
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190 Kapitel 14 · Psychologie in der Zahnmedizin

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15

Ärztliche Gesprächsführung
U. Brucks-Wahl

15.1 Definition des ärztlichen Gesprächs – 192

15.2 Die Analyse des ärztlichen Gesprächs – Ergebnisse


und Perspektiven der Forschung – 193

15.3 Die Lehre ärztlicher Gesprächsführung – aktueller Stand


und Perspektiven – 199

15.4 Fazit – 200

Literatur – 200
192 Kapitel 15 · Ärztliche Gesprächsführung

 stellten fest, dass mehr theoretisch geleitete For-


schung wünschenswert sei, aber die vorliegenden
Die Geschichte des Arbeitskreises Ärztliche Ge- Ergebnisse ausreichen, um die Bedeutung der ärzt-
sprächsführung in der Deutschen Gesellschaft für lichen Gesprächsführung für die Zufriedenheit, die
Medizinische Psychologie (DGMP) beginnt 1979 Informiertheit und die Therapiebefolgung der Pa-
mit dem Workshop »Dialoganalyse klinischer Ge- tienten zu belegen. Die Arbeit der 90er-Jahre kon-
spräche«, initiiert von Sievers und Pfeiffer. Im No- zentrierte sich auf »communication skills«, mit dem
vember 1980 fasste die Mitgliederversammlung Ergebnis, dass didaktische Konzepte, Curricula und
der Gesellschaft für Medizinische Psychologie ei- multimediale Lehrwerke vorgelegt wurden.
nen Beschluss zur Einrichtung von ständigen Ar- Diese Entwicklung legt es nahe, auch die fol-
beitskreisen, in dessen Folge im Januar 1981 der gende Bestandsaufnahme der Forschung und der
ständige Arbeitskreis »Analyse ärztlicher Gesprä- Lehre nach dem Versuch einer Gegenstandsdefini-
che« mit W. Pfeiffer als Sprecher vorgestellt wurde. tion (Abschn. 15.1) in zwei Fragestellungen zu glie-
Er wirkte in dieser Funktion bis zu seiner Emeritie- dern:
rung im Frühjahr 1984. Nach Eva-Maria Relleke ▬ Ist die Annahme berechtigt, dass die Forschung
übernahmen 1990 Petra Löning und Ursula Brucks im Grundsatz als abgeschlossen gelten kann
die Leitung des Arbeitskreises »Ärztliche Gesprächs- (Abschn. 15.2)?
führung«. Mit dieser Wahl setzte der Arbeitskreis ▬ Wie ist der erreichte Stand der Lehre zu bewer-
die begonnene Zusammenarbeit zwischen Sprach- ten (Abschn. 15.3)?
wissenschaftlern und medizinischen Psychologen
fort.
Inhaltlich wurden zwei Themen regelmäßig be-
arbeitet: 15.1 Definition des ärztlichen Gesprächs
▬ die Didaktik der ärztlichen Gesprächsführung,
also Fragen danach, im Kontext welcher Fächer, Die Begriffe »ärztliches Gespräch«, »ärztliche
mit welchen Inhalten und Methoden, ärztliche Gesprächsführung«, »Arzt-Patient-Beziehung«,
Gesprächsführung unterrichtet werden kann, »doctor-patient-communication« werden weit-
▬ die interdisziplinäre Forschung, insbesondere gehend bedeutungsgleich und ohne genauere
die verschiedenen methodischen und inhalt- Definition verwendet, sodass Petra Löning (2001,
lichen Perspektiven, die die Analyse ärztlicher S. 1.578) zu dem Schluss gelangt: »Immer dann, wenn
bzw. klinischer Gesprächsführung strukturieren ein Arzt und ein Patient miteinander sprechen,
können. findet offensichtlich das ärztliche Gespräch statt.«
Versucht man, »rückwärts« aus der durchgeführten
Der Name des Arbeitskreises hat sich geändert von Forschung heraus eine Definition des ärztlichen
15 »Analyse ärztlicher Gespräche« zu »Ärztliche Ge- Gesprächs abzuleiten, wird der Mangel an lenkenden
sprächsführung«. Es ist nicht mehr zu rekonstruie- theoretischen Gesichtspunkten deutlich:
ren, wann dieser Namenswechsel stattfand, aber Hinsichtlich der untersuchten Situationen tre-
er erscheint symptomatisch für die Wendung zur ten zwei in den Vordergrund: die Visite im Kran-
Lehre. Er spiegelt auch wider, dass die großen For- kenhaus und die Sprechstunde des Arztes in der
schungsprojekte in Deutschland in den 70er- und ambulanten medizinischen Versorgung. Beide Si-
80er-Jahren durchgeführt wurden; danach hat die tuationen sind sehr unterschiedlich; dennoch
Forschung kaum noch Impulse durch größere För- hat das ärztliche Gespräch vergleichbare Aufgaben
derprogramme erhalten. und die Forschung erbringt teilweise durchaus ver-
Auch über die DGMP hinaus und selbst im in- gleichbare Ergebnisse. Weitere Orte des ärztlichen
ternationalen Maßstab ist diese Verschiebung zu Gesprächs, z. B. der Hausbesuch, die Notaufnahme
beobachten: Ende der 80er-Jahre war die Phase der oder der Rettungsdienst, sind weniger erforscht,
Bestandsaufnahme abgeschlossen. Hall et al. (1988) obwohl sie spezifische Anforderungen an den Arzt
▼ stellen.
15.2 · Die Analyse des ärztlichen Gesprächs – Ergebnisse und Perspektiven
193 15

Empirisch lassen sich ärztliche Gespräche auch risch: In natürlichen Settings werden Gespräche
hinsichtlich der Beteiligten unterscheiden. Der mithilfe passiv teilnehmender Beobachtung oder
soziale Status, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, mit Tonband oder Videokamera aufgezeichnet.
der kulturelle Hintergrund des Patienten sowie das Erst in Ansätzen – hauptsächlich im Rahmen der
Geschlecht beider Beteiligten haben einen Einfluss Lehrevaluation – erfolgt eine Überprüfung von
auf den Verlauf und die Ergebnisse des Gesprächs. vorher stattgefundenen Interventionen, sodass
Aus der nahezu fehlenden Forschung über die Rol- quasiexperimentelle Designs gewählt werden kön-
le von Dritten oder mehreren Beteiligten ergibt nen. Auch die Forschung in natürlichen Settings
sich indirekt ein Merkmal zur Definition des Arzt- ermöglicht jedoch Vergleiche, wenn eine Variation
Patient-Gesprächs: Für die Forschung – und auch der Bedingungen durchgeführt werden kann, z. B.
für die Lehre – handelt es sich um eine Zweiperso- der Vergleich von psychosomatisch ausgebildeten
nensituation. Ärzten, die auf einer entsprechend ausgerichteten
Ein weiterer differenzierender Gesichtspunkt Station arbeiten, mit Ärzten traditioneller Stationen
sind die Ziele oder Funktionen des Gesprächs. Hier oder die Auswertung des Materials nach verschie-
stand die Diagnostik über lange Zeit ganz klar im denen Patientenvariablen oder der internationale
Vordergrund. Teilweise wird Anamnese als Syno- Vergleich, der allerdings methodisch besonders
nym benutzt für das ärztliche Gespräch. Wiederum schwer zu realisieren ist (Van den Brink-Muinen et
eher aus praktischen als aus theoretischen Gründen al. 2000).
sind weitere Ziele genauer untersucht worden, ins- Ein weiterer, methodisch fruchtbarer Ansatz ist
besondere das Aufklärungsgespräch, die Diagnose- die Auswertung desselben Materials durch die An-
mitteilung, die Sicherung der Mitarbeit des Patien- gehörigen und mit den Fragestellungen verschie-
ten bei der Therapie, die Motivation zur Verhaltens- dener Disziplinen, insbesondere der Sprachwissen-
änderung, die Sterbebegleitung. Den Rahmen oder schaft, der Psychologie und der Medizin. In neues-
die Basis für die Erreichung dieser aufgabenbezoge- ter Zeit ist es die Diskussion zur Qualitätssicherung,
nen Ziele bildet der Beziehungsaufbau, der daher die zu einer neuen Beurteilung der Aufgaben und
ebenfalls zu den Zielen des Gesprächs gehört. Methoden ärztlicher Gesprächsführung beigetra-
Löning (2001) vermutet, dass die abstrakte Auf- gen hat.
fassung des ärztlichen Gesprächs – also ohne Dif-
ferenzierung nach Ort, Ziel, spezifischem Status
der Beteiligten usw. – vor allem durch den Wusch 15.2 Die Analyse des ärztlichen
vieler Autoren begründet ist, das ärztliche Gespräch Gesprächs – Ergebnisse
lehr- und lernbar zu machen. Die unklare und und Perspektiven der Forschung
abstrakte Definition des ärztlichen Gesprächs un-
terstellt zugleich, dass bereits bestimmte subjektive Bereits Talcott Parsons (1953) analysiert die Arzt-
Voraussetzungen – nämlich die Leistungsbereit- Patient-Beziehung von ihrer Funktion her: Das
schaft des Arztes und die vertrauensvolle Annahme ärztliche Gespräch sowie die gesamte Gestaltung
dieses Angebotes durch den Patienten – ausreichen, der Beziehung sind darauf angelegt, die Kranken-
um die Arzt-Patient-Beziehung zu konstituieren. rolle zu bestätigen (oder im selteneren Fall auch zu
Man könnte sogar sagen: Allein der Arzt bestimmt, verwerfen) und die aus der Krankenrolle resultie-
wann eine Situation den Charakter eines Arzt-Pa- rende Entbindung von alltäglichen Verpflichtungen
tient-Gesprächs annimmt, denn für die Patienten- zu legitimieren. Die ärztliche Behandlung hat zum
rolle ist die Selbstdefinition als Patient keine unab- Ziel, Gesundheit und Handlungsfähigkeit des Pa-
dingbare Voraussetzung. Dem liegt ein Berufsbild tienten wieder herzustellen, damit er seinen alltäg-
zugrunde, das Ärzten nahe legt, jederzeit und un- lichen Verpflichtungen wieder nachkommen kann.
abhängig von anwesenden Dritten »ärztlich« zu Parsons (1953) standen dabei die Überlegungen
handeln, wenn die Situation es verlangt. Sigmund Freuds über den sekundären Krankheits-
Methodisch arbeitet die Forschung zum ärzt- gewinn vor Augen; ihm war also bewusst, dass die
lichen Gespräch ganz überwiegend dokumenta- Aufgabe des Arztes ein Konfliktpotential bietet
194 Kapitel 15 · Ärztliche Gesprächsführung

(Gerhardt 1991). Der mögliche Widerstand des lichen Gesprächsführung vier Grundregeln ärzt-
Patienten gegen die schnelle Rückkehr zu den licher Gesprächsführung identifizieren, die nach-
alltäglichen Pflichten war für Parsons das wichtigste weislich Einfluss auf den Handlungserfolg haben.
Argument dafür, die ärztliche Tätigkeit nicht von Ärztliche Gesprächsführung nach diesen Regeln
der direkten Bezahlung durch den Patienten ab- senkt die Klagen von Patienten über Kunstfehler
hängig zu machen (Parsons 1953). und erhöht die Patientenzufriedenheit und die
Ganz in dieser Tradition untersuchte Milton Therapiebefolgung durch die Patienten. Der Nach-
Davis in einer der ersten empirischen Arbeiten den weis genügt den Kriterien einer »evidence based
Einfluss des ärztlichen Kommunikationsverhaltens medicine« so gut, wie es für medizinische Hand-
auf die Therapiebefolgung (Davis 1968). Weitere lungen verlangt wird. Aus Sicht der Autorinnen
Erfolgskriterien, neben der Therapiebefolgung, kann es daher keinen vernünftigen Zweifel mehr
sind in späteren Untersuchungen die Patientenzu- geben, dass Ärzte es als ihre Pflicht ansehen müs-
friedenheit und die richtig erinnerten Informatio- sen, nach diesen Grundsätzen zu arbeiten, wenn sie
nen, die der Arzt gegeben hat (Hall et al. 1988). Hall von sich behaupten wollen, auf dem gesicherten
et al. (1988) versuchen zugleich, die Ergebnisse ih- Stand der Erkenntnisse zu handeln. Diese Grund-
rer Metaanalyse von 41 Studien zu einem theoreti- regeln lauten:
schen Modell über die Beziehungen zwischen Arzt- 1. Patienten bzw. ihren Angehörigen eine aktive
verhalten und Erfolg auf Seiten des Patienten zu Rolle ermöglichen,
ordnen. Sie teilen sowohl das Arzt- als auch das Pa- 2. positive Gefühle fördern, Empathie und Unter-
tientenverhalten in aufgabenbezogene und bezie- stützung zeigen,
hungsorientierte Anteile – entsprechend der Un- 3. klare Informationen geben,
terscheidung in Aufgaben- und Mitarbeiterorien- 4. Einverständnis über Ziele herstellen (Stewart et
tierung, wie sie für das Führungsverhalten von al. 1999).
Managern vorgenommen wurde. Daraus resultiert
eine Vierfeldermatrix (⊡ Tabelle 15.1). Ihre Hypo- Es fällt auf, dass die Unterscheidung hinsichtlich
these, die sich durch die Studien, die in die Meta- Aufgaben- und Beziehungsorientierung hier nicht
analyse eingingen, stützen lässt, lautet: Die sozio- mehr vorzunehmen ist. Von technischer Kompe-
emotionale Unterstützung des Arztes steht nur mit tenz des Arztes ist keine Rede mehr. Andererseits
der Zufriedenheit der Patienten in einem Zusam- zeigen Formulierungen wie »aktive Rolle« und
menhang und beeinflusst die Aufgabenerfüllung »Einverständnis über Ziele«, dass die Anforderun-
der Patienten – Therapiebefolgung und Behalten gen an die inhaltliche Beteiligung des Patienten
der Informationen – nicht. höher geworden sind. Das veränderte Rollenver-
1999 konnten Stewart et al. mithilfe einer er- ständnis wird auch an Begriffswechseln deutlich:
neuten Metaanalyse von Untersuchungen zur ärzt- von »compliance« zu »adherence«, von »gathering
15

⊡ Tabelle 15.1. Mittlere Korrelationen zwischen Arztverhalten und Effekten auf das Patientenverhalten auf Basis einer
Metaanalyse von 41 Studien. (Hall et al. 1988, S. 669; Übersetzung U. B.)

Arzt Aufgabenorientierung: Beziehungsorientierung:


Informationen geben, Arbeitsbündnis aufbauen,
nachvollziehbare Fragen stellen, gute Atmosphäre herstellen,
Patient technische Kompetenz Empathie und Wertschätzung
Aufgabenorientierung: 0.21 0.06
Therapiebefolgung,
Behalten der Informationen
Beziehungsorientierung: 0.22 0.26
Zufriedenheit
15.2 · Die Analyse des ärztlichen Gesprächs – Ergebnisse und Perspektiven
195 15

data« zu »information exchange«. Während »com-


pliance« bedeutet, Regeln einzuhalten, die durch ⊡ Tabelle 15.2. Prioritäten von Patienten und Ärzten
andere oder durch Konvention gesetzt worden in Visiten

sind, meint »adherence« die Treue zu selbst gefass- Patientenanliegen Prioritäten


ten Überzeugungen. Nicht mehr die Autorität des des Personals
Arztes, sondern das aktive Verständnis und die Zu-
Zuwendung körperliche Untersuchung
stimmung zu einem Therapieplan sollen also den durch den Arzt des Patienten
Erfolg der Therapie sicherstellen. Dazu reicht es Aufklärung Einleitung und Überwa-
nicht, dass der Arzt Daten sammelt, die ihm eine chung diagnostischer
Diagnose ermöglichen, sondern dass er das Wissen Maßnahmen
und die Überlegungen einbezieht, über die der Pa- Beratung und Festlegung und Kontrolle
Unterstützung des Therapieplans
tient verfügt, und dass er die Ziele und die Lebens-
Wunsch, sich mitzu- Organisationsabsprachen
bedingungen des Patienten kennt. teilen und Einfluss und administrative
Mit Blick auf die nordamerikanische Forschung zu nehmen Aufgaben
ist daher der Schluss berechtigt, dass kein grundle-
gender Forschungsbedarf mehr gesehen wird. Da-
bei ist die These von Hall et al. (1988), technische
Kompetenz und Aufgabenorientierung des Arztes sener (1982, S. 18) stellte Patientenanliegen und
seien relevanter als die sozioemotionale Zuwen- Gesprächsziele des Personals gegenüber (⊡ Tabel-
dung zum Patienten, in der Folgezeit nicht vertieft, le 15.2) und kam zu dem Ergebnis: »Was dem
sondern zur Prämisse gemacht worden. Kommuni- Patienten am wichtigsten ist, ist dem Arzt am un-
kationskompetenz macht einen guten Arzt besser, wichtigsten.«
aber sie macht nicht aus einem schlechten einen Diese Kommunikationsstruktur hat Siegrist
guten Arzt. Die zweite Botschaft ist: Kommunika- (1982) als »asymmetrisch« bezeichnet, weil Ge-
tion basiert auf verständlichen Regeln und Techni- sprächshandlungen angewendet werden – wie das
ken; jeder kann sie erlernen (Buckman et al. 1998). Nichtbeachten von Fragen, ausweichende Antwor-
Für die Forschung ergibt sich daraus die vorrangi- ten, Vortäuschen von Unsicherheit, Schaffen von
ge Aufgabe, Lehre zu entwickeln und zu evaluieren. Zeitdruck –, die einen Dialog verhindern. Der Be-
Die Entwicklung der deutschsprachigen For- griff »Asymmetrie« kritisiert also das Fehlen dia-
schung verlief parallel: Es wurde und wird ein ähn- logischer Gerechtigkeit: Die Chancen, Fragen zu
licher Bedeutungswandel der Arzt-Patient-Bezie- stellen und vollständige Antworten zu erhalten,
hung sichtbar; die Lehre steht heute im Vorder- sind nicht gleich verteilt.
grund. Allerdings wird dieser Prozess von einer Bezogen auf die Ausgangsbeobachtung ver-
vergleichsweise höheren Skepsis hinsichtlich der weist das Motiv für Asymmetrie in den Visiten mit
praktischen Umsetzbarkeit begleitet. Die Gründe schwer kranken Patienten auf eine Schwäche: Der
dafür sind bereits in den ersten großen Forschungs- Arzt antizipiert medizinische Erfolglosigkeit und
projekten erkennbar. fürchtet sich vor der Angst und Verzweiflung des
In den 70er und 80er Jahren war es die Kritik Patienten, wenn er ihm seine Hilflosigkeit eingeste-
ärztlichen Verhaltens, die die Forschung anleitete. hen würde. Beispiele für asymmetrische Gesprächs-
So war der Ausgangspunkt für die groß angelegte techniken wurden jedoch auch in anderen Settings
Analyse der »Visitengespräche« (Köhle u. Raspe gefunden. So zeigt Ahrens (1979), dass das Erstge-
1982) die Beobachtung, dass Krankenhausärzte den spräch in der allgemeinmedizinischen Praxis ein
Fragen schwer kranker Patienten mit ungünstiger routinierter, vom Arzt bestimmter Suchvorgang
Prognose ausweichen und im Extremfall den Kon- nach der wahrscheinlichsten Diagnose ist, wobei
takt mit dem Patienten völlig vermeiden. Die de- der Patient kaum Zeit erhält, alle ihn beunruhi-
tailliert ausgewerteten Tonbandaufzeichnungen genden Beschwerden zu nennen. Niehoff (1976)
der Visitengespräche ließen die Visite als »verhin- beobachtete bei Allgemeinärzten der DDR, dass sie
derten Dialog« (Bliesener 1982) erscheinen. Blie- den psychosozialen Hintergrund von Erkrankun-
196 Kapitel 15 · Ärztliche Gesprächsführung

gen und Arztbesuchen zwar bemerken, aber nicht Geduld des Arztes – zufrieden oder sehr zufrie-
darauf eingehen und Gesundheitsberatung, wenn den sind, und dies, obwohl die Forschungs-
sie überhaupt stattfindet, auf allgemeine Hinweise befunde auf eine Reihe von Defiziten in der
beschränken. In mehreren Studien wird ein Ein- Kommunikation zwischen Ärzten und Patien-
fluss des sozialen bzw. des Bildungsstatus des Pa- ten hinweisen (Lecher et al. 2002). Handelt es
tienten sowie des Geschlechts festgestellt: Gesprä- sich um resignative Zufriedenheit? Oder sind
che mit Frauen und mit Menschen aus niedrigeren Zeitpunkt-Befragungen, besonders solange die
Bildungsschichten sind kürzer und verlaufen rou- Patienten noch im Krankenhaus sind, metho-
tinierter. Dies ist nur teilweise durch ein anderes disch einfach ungeeignet, um Entscheidungs-
Krankheitsspektrum zu erklären; eher ist ein Aus- prozesse von Patienten zu erfassen. Ungenü-
weichen der Ärzte vor psychosozialen Problemen gendes Kommunikationsverhalten des Arztes
zu erkennen (Brucks et al. 1987 und die dort ange- beantworten Patienten mit einem Arztwechsel,
gebene Literatur). Die vergleichenden Auswertun- den sie allerdings erst nach längerer Unzufrie-
gen zeigten, dass psychosomatisch ausgebildete denheit vollziehen (Bellet u. Malloney 1991, zit.
Ärzte die Dialoganforderungen deutlich besser er- n. Schwan et al. 1998). Insgesamt hat die Kritik
füllen als die nicht für die Arzt-Patient-Beziehung am kommunikativen Verhalten von Ärzten in
sensibilisierten Kollegen. Ärzte mit einem beson- den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen. Be-
deren Engagement für Gesundheitsberatung mach- mängelt wird, dass Ärzte nicht genügend Erklä-
ten auch in ihrer Sprechstunde mehr Beratungsan- rungen geben, nicht gründlich genug untersu-
gebote. chen und sich nicht für die Krankengeschichte
Es ist hier hervorzuheben, dass das mangelhaf- interessieren. Es scheint aber, dass dabei auch
te Kommunikationsverhalten als Ausdruck einer Zweifel an der fachlichen Kompetenz und Angst
mangelnden Kompetenz interpretiert wurde, auf vor sozialer Ungerechtigkeit eine Rolle spielen,
psychosoziale Probleme angemessen eingehen zu denn chronisch kranke und schlecht versicher-
können. Dieser Befund löste erhebliche Anstren- te Patienten kritisieren stärker (Pescosolido et
gungen aus, die Ausbildung zu verbessern, wie al. 2001).
unten genauer dargestellt wird. Der Begriff »Asym- ▬ Compliance oder Noncompliance sind eben-
metrie« ergänzte jedoch auch die soziologische falls wenig aussagefähig als Indikatoren einer
Institutionenkritik: Asymmetrische Kommunika- rationalen Medizin. Cockburn und Pit (1997)
tion ist Ausdruck und Folge davon, dass Ärzte be- fanden heraus, dass Ärzte etwa zehnmal so
wusste oder unbewusste Protagonisten einer Herr- häufig Medikamente verschreiben, wenn sie
schaftsstruktur sind, die dazu dient, Ansprüche annehmen, der Patient erwarte eine Verschrei-
von Patienten abzuweisen und ihr kritisches Poten- bung, als wenn sie von keinem Verschreibungs-
tial zu ersticken (Göckenjan 1985). wunsch des Patienten ausgehen. Patienten
15 Die gesellschaftskritische Analyse der Arzt- akzeptieren die Rezepte, nehmen die Medika-
Patient-Beziehung wird durch eine verbesserte Ge- mente aber nicht oder nur unregelmäßig ein
sprächsführung nicht außer Kraft gesetzt. Wegen (Sachverständigenrat 2001). Diese auf den ers-
der vermuteten theoretischen Naivität haftet ten Blick nicht rationale Interaktion hat den-
der Bezeichnung »communication skills« in der noch eine Logik, die wir als »Einverständnis im
deutschsprachigen Diskussion ein negativer Beige- Missverständnis« bezeichnet haben (Brucks et
schmack an. Wichtige Fragen werden damit nicht al. 1987). Durch den Akt des Gebens und Neh-
beantwortet, können vielleicht überhaupt nicht mens von Medikamenten wird das Einverständ-
mehr gestellt werden: nis mit der gegenseitigen Beziehung bestätigt,
▬ Patientenzufriedenheit ist ein schwieriger Er- wobei beide – Arzt und Patient – um die Be-
folgsparameter. 80% und mehr Patienten geben grenztheit dieses Therapieansatzes wissen. Die
bei Befragungen an, dass sie mit der ärztlichen Ärzte glauben aber, den Patienten andere Er-
Information und Aufklärung sowie mit der In- klärungsansätze und Therapien nicht vermit-
teraktion – Verständnis, Einfühlungsvermögen, teln zu können. Die Patienten haben zwar wei-
15.2 · Die Analyse des ärztlichen Gesprächs – Ergebnisse und Perspektiven
197 15

tergehende Erwartungen an den Arzt, sehen 40% der Gespräche in der Allgemeinarztpraxis
aber ebenfalls keine Möglichkeit, sich hierin sind Erstgespräche (Brucks et al. 1987). Beide
verständlich zu machen. In diesen reduzierten Untersuchungen sind älter und müssten über-
Erwartungen an die Problemlösekompetenz prüft werden. Es ist möglich, dass die technische
des anderen liegt das Missverständnis (Brucks Diagnostik heute wichtiger geworden ist. Jedoch
2003). schon Balint (1970) verstand unter der Diagnose
▬ Die Frage nach dem Verhältnis von medizi- mehr als die Krankheitsbezeichnung und sprach
nisch-technischer und psychosozialer Kompe- von einer »Gesamtdiagnose«, deren Fehlen immer
tenz ist nicht beantwortet worden. Teilweise wieder festgestellt wurde.Es ist daher zu überprüfen,
erscheinen diese Kompetenzbereiche als Ge- ob und wie die Einbeziehung psychosozialer
gensatz, sogar als durch sich widersprechende Aspekte der Lebenssituation und des Erlebens des
medizinische Theorien begründet. Teilweise Patienten in eine »Gesamtdiagnose« denn heute
empfinden Studierende und jüngere Ärzte die stattfindet.
Ziele der psychosomatischen Medizin vor dem
Hintergrund ihrer Ausbildung im Krankenhaus Therapieplanung: Ärztliche Entscheidung
als unrealistisch und die »communication oder Auftragsklärung?
skills« als Manipulationstechniken, die von Parsons (1953) hatte die Patientenrolle noch relativ
notwendigen Strukturreformen ablenken sol- klar von dem Alltag mit seinen Rollenverpflichtun-
len. gen abgegrenzt. Je weiter sich jedoch der Zustän-
digkeitsbereich der Medizin ausgedehnt hat, umso
Auf dem Hintergrund dieser Fragen kann die diffuser wird diese Grenzziehung. Chronische Er-
Forschung in Wirklichkeit nicht als abgeschlossen krankungen müssen in den Alltag integriert wer-
gelten. Vielmehr ist es nötig, die Empirie zu aktua- den; zugleich wird den Erkrankten eine konti-
lisieren und an neu hinzugekommenen Maßstäben nuierliche ärztliche Behandlung empfohlen. Zeit-
zu messen. Die folgenden Beispiele können dies lich begrenzte Krankheitsepisoden werden von
verdeutlichen: »dauerhaftenHeilbeziehungen«(Sachverständigen-
▬ Die Anamnese – medizinische Diagnose oder rat 2000/2001, III) abgelöst. Das erfordert eine
»Gesamtdiagnose«? explizite Auftragsklärung, in welchem Maß und
▬ Therapieplanung: Ärztliche Entscheidung oder mit welchem Ziel Patienten Unterstützung bedür-
Auftragsklärung? fen. In ihrer Analyse von Visiten im Krankenhaus
▬ Gesprächspartner: Ärztliche Gesprächsfüh- kommt Vogt (2003) zu dem Schluss, dass eine Auf-
rung oder arbeitsteilige medizinische Kommu- tragsklärung und Gesamtplanung unter Beteili-
nikation? gung der Patienten, soweit es von ihrem Gesund-
▬ Asymmetrie: Herrschaftsstruktur oder untaug- heitszustand her möglich wäre, nicht stattfindet.
liche Stressbewältigung? Das, was geschehen soll, legen die Ärzte allein
fest. Damit setzen sie sich auch in Widerspruch zu
Die Anamnese – medizinische Diagnose ihren Fachgesellschaften. Die Arbeitsgemeinschaft
oder »Gesamtdiagnose«? der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell-
Die Anamnese gilt – zusammen mit der körperlichen schaften (AWMF) und die Ärztliche Zentralstelle
Untersuchung – noch immer als Königsweg der Qualitätssicherung (ÄZQ) (gemeinsame Einrich-
Diagnose und als Kernstück des Arzt-Patient- tung von Bundesärztekammer und Kassenärzt-
Gesprächs. Ahrens (1979) konnte diese Annahme licher Bundesvereinigung) haben sich im Som-
noch bestätigen: In ca. einem Drittel der von ihm mer 2000 auf eine gemeinsame Methodik für die
beobachteten Gespräche in der Allgemeinarztpraxis Entwicklung und Implementierung ärztlicher Leit-
blieb die Anamnese das einzige diagnostische linien geeinigt. In dem so entstandenen Leitlinien-
Mittel; nur 16% der aufgrund der Anamnese ge- Manual (2001, S. 7) heißt es: »Die Verbindung ver-
stellten Diagnosen mussten durch spätere Befunde schiedener Gesundheitsziele aus der Sicht von Arzt
ergänzt oder revidiert werden. Aber nur knapp und Patient in einem Konstrukt ist heute der Weg«
198 Kapitel 15 · Ärztliche Gesprächsführung

nach Reduktion von Komplexität zu folgen. Alter-


⊡ Tabelle 15.3. Neue Richtungen in der Ermittlung nativ könnte man den Fokus von der Zweiperso-
von Outcomes. (Aus Leitlinien-Manual der AWMF nensituation verlagern auf die Frage nach der
und ÄZQ 2001, S. 23)
Kommunikation in medizinischen Kontexten, die
Früher: Heute – zusätzlich: andere Berufsgruppen sowie Angehörige und
Selbsthilfegruppen einbezieht und im arbeits-
Mortalitätsrate funktioneller Status
Wiedereinlieferungsrate emotionale Gesundheit
psychologischen Sinne auch nach der Belastung
Komplikationen soziale Interaktionen der Beteiligten und der Gestaltung der Schnitt-
andere traditionelle gedankliche Funktionen stellen fragt (Brucks 1998; Engeström, Y. (1999).
Maße für klinisches Ausmaß an Behinderung Work, Learning, and Development: Toward an
Outcome andere valide Maße für activity-theoretical reconceptualization. 11. Zürcher
Gesundheit Symposium Arbeitspsychologie, 11.–13. Oktober
1999. Vortragsmanuskript)

Asymmetrie: Herrschaftsstruktur
(⊡ Tabelle 15.3). Damit werden nicht nur verstehen- oder untaugliche Stressbewältigung?
de Methoden der Gesprächsführung relevant, die ja Kurze, vom Arzt dominierte Gespräche sind – wie
aus dem »aktiven Zuhören« bekannt sind, sondern oben beschrieben – als Versuch interpretiert wor-
Methoden der Verhandlungsführung. Diese bilden den, der Konfrontation mit therapeutischer Erfolg-
ein neues Forschungsfeld, denn auch die Forschung losigkeit bei sterbenskranken Patienten auszu-
zur ärztlichen Gesprächsführung hat sich bisher weichen. Aber auch Patienten, deren persönliche
nicht mit der Frage beschäftigt, wie eine fachliche oder soziale Situation dem Arzt Gefühle der Hilf-
Diskussion und Abstimmung von Zielen mit Pa- und Machtlosigkeit vermittelt, werden routinierter
tienten zu führen ist, sondern sich auf die Frage behandelt. Diese Beziehungsdynamik lässt sich als
beschränkt, wie Patienten zur Mitarbeit an dem unkontrollierte Gegenübertragung des Arztes oder
therapeutischen Programm, das der Arzt als richtig auch »Einverständnis im Missverständnis« rekons-
erkannt hat, zu bewegen sind. truieren. Aus einer internationalen europäischen
Studie ist ein weiterer Erklärungsansatz abzuleiten:
Gesprächspartner: Ärztliche Gesprächs- Patienten in Deutschland besuchen den Hausarzt
führung oder arbeitsteilige medizinische mit Abstand am häufigsten, aber die Kontakte sind
Kommunikation? am kürzesten. Die Atmosphäre wirkt gereizter, die
Auch inhaltlich ist der Zuständigkeitsbereich der Gespräche weniger patientenzentriert. Die Arbeits-
Medizin, speziell des Arztes, immer weiter aus- belastung der Hausärzte ist in Deutschland am
gedehnt worden. Prävention und Gesundheitsbera- höchsten (Van den Brink-Muinen et al. 2000; Bahrs,
15 tung, die Betreuung chronisch Kranker und die O. & Kuhn, R. (2002). Determinanten der Inan-
Sterbebegleitung gelten als ärztliche Aufgaben. spruchnahme der hausärztlichen Versorgung –
Pädagogische und psychologische Methoden und Sekundäranalyse von Daten einer europäischen
Strategien würden mithin zu dem von Ärzten Vergleichsstudie. Jahrestagung der DPMP 2002 in
geforderten Qualifikationsprofil gehören. Für die Dresden. Vortragsmanuskript). In der Zusammen-
Forschung stellt sich damit die Aufgabe, Bera- schau dieser Ergebnisse wird ein wenig effizientes
tungsprozesse und Behandlungsverläufe zu eva- Versorgungsmuster deutlich, das Gewohnheiten
luieren im Vergleich zur ursprünglich zentralen widerspiegelt, die unter einem Vergütungssystem
Gesprächsanalyse. »Disease management« ist das entstanden sind, das terminbezogen die Einzel-
aktuelle Schlagwort. Es stellt sich aber auch die leistungen des Arztes vergütet hat. Für die For-
Frage, ob die medizinische Psychologie bzw. die schung zur ärztlichen Gesprächsführung wird
Forschung und Lehre zur ärztlichen Gesprächs- damit eine Frage aktualisiert, die Menzies bereits
führung gut daran tun, dem Omnipotenzstreben 1960 gestellt hat: Warum werden von den Beteiligten
der Medizin sowie dem Bedürfnis der Kostenträger Bedingungen beibehalten, die ineffizient sind und
15.3 · Die Lehre ärztlicher Gesprächsführung – aktueller Stand und Perspektiven
199 15

die sie unzufrieden machen, auch wenn ein äußerer (Köhle et al. 2003; Bliesener u. Köhle 1986), Heidel-
Anreiz oder Zwang dazu nicht (mehr) vorliegt? berg und Dresden (Jünger u. Köllner 2003) sowie
auf die Fortbildung in der Ärztlichen Akademie für
Fort- und Weiterbildung in Hessen (Brucks et al.
15.3 Die Lehre ärztlicher Gesprächs- 2000), wobei diese nicht einmalig, sondern eher
führung – aktueller Stand prototypisch für ähnliche Aktivitäten an anderen
und Perspektiven Orten sind. Die Lehrmethoden sind vielfältiger ge-
worden: Studentische Rollenspiele, Lehrvideos mit
Die Entwicklung der Lehre zur ärztlichen Gesprächs- Patienten und Selbsterfahrung sind traditionelle
führung in Deutschland ist die Geschichte von und noch immer wichtige Methoden. Hinzu ge-
David und Goliath: Die Initiativen kamen von kommen sind POL-Tutorien, standardisierte Pa-
»unten« – die Entwicklung der Balintgruppen aus tienten sowie Videokonferenzen mit Ärzten in der
der allgemeinmedizinischen Praxis, die Anamnese- Praxis. Standardisierte Patienten sind ausgebildete
gruppen aus studentischer Selbstorganisation, die oder Laienschauspieler, die eine vorher einstudier-
Lehrbücher von Vertretern der Psychosomatik, die te Patientenrolle übernehmen. Videokonferenzen
sich gegenüber der naturwissenschaftlich-tech- ermöglichen es, über Video an einem realen Arzt-
nisch ausgerichteten Universitätsmedizin in der Patient-Gespräch in einer Praxis teilzunehmen und
Minderheitenposition sahen. Die Vorteile dieser anschließend mit dem Arzt den Verlauf des Ge-
Lehre waren das hohe Engagement der Beteiligten, sprächs zu diskutieren (Köhle et al. 2003). Ebenso
der direkte Praxisbezug über reale Patientenge- wie Gespräche mit echten Patienten in der Fortbil-
spräche und Falldiskussionen sowie die dadurch dung (Brucks et al. 2000) erhöht die Teilnahme
gegebene Chance zur Selbsterfahrung. Der Nachteil über Video die Glaubwürdigkeit, dass erfahrene
war die geringe Breitenwirkung. Ärzte die vermittelten Gesprächstechniken im All-
Von der Psychologie wurden die Techniken der tag anwenden können. Als Leitfaden für die Ge-
Gesprächsführung beigesteuert, die im Wesentli- sprächsführung haben Berger et al. (1998) in An-
chen auf den von Carl Rogers (z. B. 1957) formulier- lehnung an Baile und Buckman (1998) ein Vorge-
ten Basisvariablen der klientenzentrierten Bera- hen in sechs Schritten entwickelt, das sich an einem
tung und Psychotherapie beruhten. Sie bilden auch integrierten biopsychosozialen Konzept orientiert.
den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Trai- Die Studierenden erhalten ein kleines »Manual für
ningsprogrammen (z. B. Froelich u. Bishop 1973; die Kitteltasche«.
Geyer, M. & Schmidt, B. (1991). Trainingsprogramm Der ursprüngliche »Pocket Guide to Communi-
Ärztliches Basisverhalten. Leipzig: Klinik und Poli- ation Skills« unterstützt ein vierteiliges CD-ROM-
klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Set, das die Grundlagen der Gesprächsführung und
Medizin der Universität Leipzig. Manuskript). darüber hinaus einen Teil der eingangs genannten
Zwei Impulse von außen förderten die Lehre: Gesprächsanlässe und Themen, wie das Heraushö-
Einmal die Einführung der psychosomatischen ren verborgener Mitteilungen, die Übermittlung
Grundversorgung als ärztliche Regelleistung, die bedrohlicher Diagnosen, die Einbeziehung von An-
eine umfangreiche Fortbildung erforderte; zum gehörigen, Sterbebegleitung und ein Kapitel zur
anderen die Übernahme des didaktischen Prinzips genetischen Beratung umfasst (Buckman et al.
des »problemorientierten Lernens« (POL) in die 1998). Eine Erprobung und Evaluation dieser Form
Studienreformprogramme. Dabei bietet problemo- des Selbststudiums fehlt in Deutschland.
rientiertes Lernen noch keine Gewähr für die Ent- Didaktisch gehen die Reformstudiengänge da-
wicklung kommunikativer Kompetenz, aber die von aus, dass Kommunikationsfähigkeit immer im
Reform des Studiums wurde und wird genutzt, um klinischen Kontext vermittelt werden und die Do-
spezielle Lehrmodule zum Training kommunika- zenten daher speziell geschulte Fachkollegen und
tiver Fähigkeiten aufzunehmen. »nicht nur Psychosomatiker … oder Psychologen«
Die folgenden Ausführungen beziehen sich sein sollten (Jünger u. Köllner 2003, S. 57). Der Un-
hauptsächlich auf die Reformprogramme in Köln terricht zur Gesprächsführung verteilt sich also
200 Kapitel 15 · Ärztliche Gesprächsführung

über das gesamte Studium und alle klinischen Fä- Balint, M. (1970). Der Arzt, der Patient und die Krankheit. Frank-
cher. Auch die Prüfung sollte in die Prüfung des furt: Fischer. (Original erschienen 1964: »The Doctor, his
Patient and the Illness«).
jeweiligen Faches bzw. Kurses integriert sein.
Berger, D., Köhle, K., Koerfer, A., Obliers, R. & Thomas, W. (1998).
Die ersten Evaluationsergebnisse zeigen gute Manual Ärztliche Gesprächsführung und Mitteilung schwer-
bis sehr gute Bewertungen. Im internationalen Ver- wiegender Diagnosen. Universität Köln: Institut und Poli-
gleich sind jedoch der Stundenumfang sowie die klinik für Psychosomatik und Psychotherapie.
personelle Ausstattung der eingeführten Reform- Bliesener, T. & Köhle, K. (1986). Die ärztliche Visite. Chance zum
Gespräch. Opladen: Westdeutscher Verlag.
curricula weiterhin als gering anzusehen. Der Ein-
Bliesener, T. (1982). Die Visite – ein verhinderter Dialog. Initia-
satz von Standardpatienten ist mit einem recht tiven von Patienten und Abweisungen durch das Personal.
hohen logistischen Aufwand verbunden. Daher Tübingen: Gunter Narr Verlag.
bleibt ein kritischer Punkt, ob das jetzt erbrachte Brucks, U. (1998). Arbeitspsychologie personenbezogener
und verlangte Engagement aller Beteiligten nach Dienstleistungen. Bern: Huber.
Brucks, U. (2003). Die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
Abschluss der Entwicklung und Erprobung in der
als ärztliche Aufgabe. In: Ulich, E. (Hrsg.). Arbeitspsycho-
Konsolidierungsphase beizubehalten sein wird. logie in Krankenhaus und Arztpraxis (S. 59–73). Bern:
Huber.
Brucks, U., Salisch, E. von & Wahl, W.-B. (1987). Soziale Lage
15.4 Fazit und ärztliche Sprechstunde. Deutsche und ausländische
Patienten in der ambulanten Versorgung. Hamburg: EB
Verlag.
Es spricht vieles dafür, dass sich die medizinische Brucks, U., Wahl, W.-B., Schüffel, W. (2000). Psychosomatische
Psychologie aus der Lehre der ärztlichen Gesprächs- Grundversorgung – Fortbildung und Qualitätsmanage-
führung zurückziehen kann – zumindest bis auf ment von 1989 bis 1998. In: Fortschritte der Medizin, 118.
die Position der Dozenten- oder Tutorenausbildung Jg. – Originalien Nr. 1, 19–24.
Buckman, R., Korsch, B. & Baile, W. (1998). Communication skills
und der begleitenden Evaluation. Je stärker es
in clinical practice. CD-Rom Set. Toronto: Medical Audio-
gelingt, die Lehre studienbegleitend durchzuführen Visual Communications Inc.
und in die klinischen Blöcke zu integrieren, umso Cockburn, J. & Pit, S. (1997). Prescribing behaviour in clinical
mehr kann und muss die Lehre in die Hände der practice: patient’s expectations and doctor’s perceptions
Fachdozenten übergehen. of patient’s expectations – a questionnaire study. British
Medical Journal, 315, 520–523.
Hingegen hat die Bestandsaufnahme der For-
Davis, M. S. (1968). Variations in Patients’ Compliance with
schung eine Reihe offener Fragen aufgezeigt, zu Doctors’ Advice: An Empirical Analysis of Patterns of
denen die Psychologie einen Beitrag leisten kann. Communication. American Journal of Public Health, 58,
Der Weg der letzten Jahre, der als Hinwendung zur 274–288.
Lehre bezeichnet werden kann, hat also an eine Froelich, R. E. & Bishop, F. M. (1973). Die Gesprächsführung des
Arztes. Ein programmierter Leitfaden. Berlin: Springer.
neue Gabelung geführt. Trotz der steigenden Nach-
Gerhardt, U. (1991). Rollentheorie und gesundheitsbezogene
frage nach Lehre, die erfreulich und praktisch vor-
15 rangig ist, ist es jetzt an der Zeit, die Forschung zu
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dem erweiterten Gegenstand »Kommunikation in der Medizinsoziologie. (S. 162–202). Frankfurt am Main:
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Schwarzenberg.
16

Sterben, Tod und Trauern


aus medizinpsychologischer Sicht1
J. Wittkowski

16.1 Dimensionen der Einstellung gegenüber Sterben und Tod


und Verfahren zu ihrer Messung – 204

16.2 Verlauf des Sterbeprozesses – 205

16.3 Betreuung und Begleitung sterbender Erwachsener – 206

16.4 Umgang mit unheilbar kranken Kindern – 208

16.5 Psychische Belastungen von Ärzten und Pflegekräften im Umgang


mit unheilbar Kranken und Sterbenden – 208

16.6 Trauer(n) – 209

16.7 Resümee und Ausblick – 210

Literatur – 210

1
Das Vortragsmanuskript wurde durch die Einarbeitung der Inhalte von Folien in den Text, durch das Einfügen
von Literaturangaben in den Text sowie durch Anfügen eines Literaturverzeichnisses ergänzt bzw. über-
arbeitet.
204 Kapitel 16 · Sterben, Tod und Trauern aus medizinpsychologischer Sicht


⊡ Tabelle 16.1. Thanatologische Inhalte in der
In Lehrbüchern der medizinischen Psychologie und medizinischen Psychologie

medizinischen Soziologie der Jahre 1988 bis 1998 Medizinpsycholo- Thanatopsychologischer


(Buser u. Kaul-Hecker 1996; Gerber et al. 1994; Hupp- gische Kategorie Inhalt
mann u. Wilker 1988; Lang u. Faller 1998; Pöppel
Krankheits- Eigener Sterbeprozess,
et al. 1994; Rau u. Pauli 1995; Rösler et al. 1996; verarbeitung Sterben. – Auseinander-
Schmielau u. Schmielau-Lugmayr 1990) finden sich setzung mit dem bevor-
verschiedene Inhalte mit Bezug zur Todesthematik, stehenden eigenen Tod
die bestimmten medizinpsychologischen Katego- Patientengruppen Vorbereitung
in der Krankheit auf das Lebensende
rien zugeordnet sind (⊡ Tabelle 16.1).
Aus diesen thanatologischen Inhalten ergeben Spezielle/spezifische Trauer
Emotionen Angst vor Sterben/Tod
sich zusammenfassend vier Themenbereiche, die in
Todesangst
der Vergangenheit von der medizinischen Psycho-
Alterserleben Vorbereitung
logie und Soziologie behandelt wurden; dabei be- im höheren auf das Lebensende
deutet die Reihenfolge zugleich auch eine Gewich- Erwachsenenalter
tung: Arzt-Patient- Akzeptieren des Todes
1. der Sterbeprozess; Beziehung Sterbehilfe/Euthanasie
2. Trauer(n) als allgemeine Reaktion auf Verlust; Lebensabschnitte Todeskonzept von Kindern
3. Angst mit Blick auf verschiedene Aspekte im
Kontext von Krankheit, Sterben und Tod;
4. das Todeskonzept von Kindern. Akzeptieren. Mit Angst vor Sterben und Tod ist
eigentlich Ängstlichkeit im Sinne einer zeitlich und
Bei diesen Themenbereichen steht der Patient als situativ relativ konstanten Disposition (Trait) ge-
unheilbar Kranker bzw. Sterbender im Mittelpunkt. meint. Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür,
Der neue Gegenstandskatalog (GK 1) enthält daß es sich bei der Angst vor Sterben und Tod, wie
Themen dieser Liste, er erweitert sie aber auch. sie durch Fragebogenverfahren erfasst wird, um
Dabei werden mit Inhalten wie »Selbsterfahrung eine überdauernde Emotionseigenschaft handelt.
des medizinischen Personals zu Sterben und Tod«, Im Unterschied dazu bezeichnet Todesangst die
»ärztliche Sterbebetreuung«, »Trauer der Hinter- aktuelle Befindlichkeit (State) bei der Bedrohung
bliebenen« sowie »das unheilbar kranke Kind und des eigenen Lebens. Im Sinne der Zustandsdispo-
seine Eltern« das personale Umfeld des Patienten sitionstheorie (Spielberger 1975) kann man anneh-
und die entsprechenden Beziehungen einbezogen men, dass Häufigkeit und Intensität der Angst bei
(⊡ Tabelle 16.1). Diese erweiterte Perspektive trägt der Begegnung mit Sterben und Tod in gewissen
wesentlich zu einer umfassenden Beschreibung des Grenzen vom Ausprägungsgrad der entsprechenden
Merkmalsbereichs »Sterben und Tod im Rahmen Angstneigung abhängig sind.
16 medizinischer Behandlung und Betreuung« bei. Angst vor Sterben und Tod wird zweckmäßi-
gerweise als mehrdimensionales Konstrukt konzi-
piert. Legt man vier Aspekte des Erlebens gegen-
über Sterben und Tod zugrunde, so ergeben sich a
16.1 Dimensionen der Einstellung priori die Komponenten »Angst vor dem eigenen
gegenüber Sterben und Tod Sterben«, »Angst vor dem Sterben anderer Men-
und Verfahren zu ihrer Messung schen«, »Angst vor dem eigenen Tod« und »Angst
vor dem Tod/Verlust anderer Menschen« (⊡ Tabel-
Es gibt zwei Qualitäten der Einstellung gegenüber le 16.2). Sämtliche Ängste und Befürchtungen mit
Sterben und Tod, die von grundlegender Bedeutung Blick auf Sterben und Tod, die sich aus einer um-
für das Verständnis menschlichen Erlebens und fassenden und differenzierten Beschreibung des
Verhaltens in diesem Kontext sind: Angst und Merkmalsbereichs ergeben (Schulz 1978; Witt-
16.2 · Verlauf des Sterbeprozesses
205 16

⊡ Tabelle 16.2. Vier Dimensionen der Angst vor Sterben und Tod. (In Anlehnung an Collett u. Lester 1969)

Bezug auf

die eigene Person andere Person(en)


Sterben Angst vor dem eigenen Sterben Angst vor dem Sterben anderer Personen
 Angst vor körperlichem Leiden  Angst vor der eigenen Hilflosigkeit angesichts
 Angst vor Demütigung fremden Leidens
 Angst vor dem Verlust persönlicher Würde
 Angst vor Einsamkeit
Tod Angst vor dem eigenen Tod Angst vor dem Tod anderer Personen
 Angst vor der Aufgabe wichtiger Ziele  Angst vor dem Verlust wichtiger Bezugspersonen
 Angst vor den Folgen des eigenen Todes  Angst vor Toten
für die Angehörigen
 Angst vor Bestrafung im Jenseits
 Angst vor dem Unbekannten
 Angst vor Vernichtung des eigenen Körpers

kowski 1990), lassen sich dieser vierdimensionalen analytische Revision der Itemsätze von Boyar (1964)
A-priori-Struktur restlos zuordnen. und Templer (1970) durch Thorson und Powell
Akzeptieren von Sterben und Tod bezeichnet (1994) sowie das Multidimensional Orientation
die Tendenz, einerseits den Sterbeprozess und an- Toward Dying and Death Inventory (MODDI-F;
dererseits die Aussicht des (eigenen) Todes (d. h. Wittkowski 2001). In deutscher Sprache wurden in
des Verlustes der Welt) als natürliche Bestandteile den 90er Jahren der Fragebogen zur Messung der
des (eigenen) Lebens zu betrachten und beides Furcht vor Tod und Sterben (FVTS; Ochsmann
aufgrund einer Einbindung in übergeordnete Sinn- 1993), das Fragebogeninventar zur mehrdimensio-
zusammenhänge (z. B. Glaube, Gerechtigkeit) als nalen Erfassung des Erlebens gegenüber Sterben
Notwendigkeit zu bejahen. Diese Form des Akzep- und Tod (FIMEST; Wittkowski 1996) und der Frage-
tierens von Sterben und Tod ist nicht mit einer To- bogen zu Einstellungen zu Sterben, Tod und Danach
dessehnsucht oder gar einer Suizidneigung gleich- (FESTD; Klug 1997) entwickelt. Das FIMEST ist in
zusetzen. Auch bezüglich einer akzeptierenden Verbindung mit seiner englischen Version MODDI-
Haltung zur Todesthematik lassen sich vier relativ F eines der wenigen Untersuchungsverfahren welt-
eigenständige Dimensionen, analog jener der Angst weit, das interkulturelle Vergleiche gestattet.
vor Sterben und Tod, unterscheiden. Wer halbstrukturierte Interviews in Verbin-
Für die Belange der medizinischen Psychologie dung mit einer quantifizierenden inhaltsanalyti-
ist wichtig, dass Angst vor Sterben und Tod und schen Auswertung als Methode der Datenerhebung
Akzeptieren von Sterben und Tod logisch unab- bevorzugt, findet in einzelnen Skalen der Gott-
hängig voneinander sind und empirisch schwach schalk-Gleser Sprachinhaltsanalyse (Schöfer 1980)
negativ miteinander korrelieren. Konkret bedeutet oder in den Würzburger Auswertungsskalen für
dies, dass sich die beiden Erlebensmodi nicht aus- Interviewmaterial (WAI; Wittkowski 1994) ein ge-
schließen: Ein Patient mit starker Angst vor dem eignetes Instrumentarium.
eigenen Tod kann ihn gleichwohl (grundsätzlich)
akzeptieren.
Zur psychometrischen Erfassung des Erlebens 16.2 Verlauf des Sterbeprozesses
von Sterben und Tod stehen inzwischen zahlreiche
Fragebogenverfahren zur Verfügung. Neuentwick- Betrachtet man Sterben nicht nur von einem
lungen in englischer Sprache sind die Lester Attitu- somatischen Standpunkt aus als »Hirnfunktions-
de Toward Death Scale (Lester 1991), die faktoren- regression« (Mitzdorf 1994, S. 40), sondern aus
206 Kapitel 16 · Sterben, Tod und Trauern aus medizinpsychologischer Sicht

psychologisch-verhaltenswissenschaftlicher Sicht, Zeitraum von Monaten oder gar Jahren. So können


so geht es dabei für den Betroffenen um die psy- in den USA Personen, bei denen keine Aussicht auf
chische Anpassung an die Aussicht des nahe bevor- Heilung mehr besteht, auch dann zur Betreuung in
stehenden eigenen Todes. Insofern handelt es sich eine Hospizeinrichtung aufgenommen werden,
um antizipatorische Reaktionen auf den Verlust wenn sie noch eine Lebenserwartung von bis zu
des eigenen Lebens und, aus der Sicht des Indivi- sechs Monaten haben. Maßgebend für diese Sicht-
duums, letztlich um die Auseinandersetzung mit weise sind die Kommunikations- und Interaktions-
dem bevorstehenden Verlust der Welt. Daher kann strukturen, die zwischen einem unheilbar Kranken
Sterben unter Umständen einen langen Zeitraum und den Personen in seiner Umgebung bestehen,
(z. B. mehrere Monate) umfassen. sowie die intrapsychischen Anpassungsprozesse,
Man geht davon aus, dass der Sterbeprozess die mit diesen Interaktionen verbunden sind ( vgl.
durch vier Gruppen von Faktoren beeinflusst wird: das Interaktions-Adaptations-Konzept von Barton
die körperliche, die psychische, die soziale und die 1977). Der Umgang mit Sterbenden kurz vor ihrem
spirituelle Dimension. Zum Verlauf des Sterbepro- Tod dürfte zu jenen Aspekten der Arzt-Patient-
zesses wurden mehrere Phasenmodelle entwickelt Interaktion gehören, auf die Ärzte in der Regel
(Kübler-Ross 1969; Pattison 1978; Weisman 1972), schlecht vorbereitet sind.
die auf den klinischen Erfahrungen der Autoren als Sterbebegleitung besteht in der Gesamtheit je-
teilnehmend Beobachtenden beruhen. Ungeachtet ner plan- und absichtsvoll durchgeführten Maß-
der großen Beliebtheit von Phasenmodellen des nahmen, Verhaltensweisen und Interaktionen, die
Sterbens bei Praktikern besteht inzwischen weit- von professionellen Begleitern, ehrenamtlich Hel-
gehend Konsens hinsichtlich ihrer Schwachstellen fenden und Angehörigen vorgenommen werden,
(Corr 1993; Samarel 1995). Zweifellos beruht das damit Sterbende jeden Alters und Krankheitsbildes
Unbehagen, das viele Wissenschaftler mit Blick auf während ihres letzten Lebensabschnitts so leben
Phasenmodelle des Sterbens empfinden, auch da- können, wie es ihren individuellen Bedürfnissen
rauf, dass sie in Laienkreisen vielfach unkritisch und ihrer spezifischen Art der Auseinandersetzung
und vereinfachend als bewiesene Tatsachen aufge- mit der Aussicht ihres bevorstehenden Todes ent-
nommen wurden. spricht (Garfield 1978; Saunders u. Bains 1991). Das
Empirische Befunde zum Verlauf des Sterbe- zentrale Ziel der Sterbebegleitung besteht darin,
prozesses sind spärlich. Sie bieten derzeit keine sekundäres Leiden zu mindern (Buschman 1986).
stichhaltigen Belege für eine lineare Abfolge be- Den Veränderungen entsprechend, die sich bei
stimmter Phasen, sondern eher Hinweise auf einen Sterbenden vollziehen, berücksichtigt die Sterbe-
zirkulären Verlauf, in dem bestimmte Formen der begleitung fünf Aspekte (Gyulay 1989): den körper-
intrapsychischen Anpassung bzw. Bewältigung lichen (in erster Linie Schmerzen), den psychischen
(z. B. Verzweiflung, Wut, Hoffnung, Akzeptieren) (kognitive Leistungsfähigkeit, Emotionen), den so-
mehrfach wiederkehren können. Zur Untersu- zialen (Verhalten in zwischenmenschlichen Bezie-
chung des Sterbeprozesses eignen sich besonders hungen), den spirituellen (Fragen der Sinngebung)
16 teilnehmende Verhaltensbeobachtungen, die je und den sächlichen (Verfügbarkeit von Gegenstän-
nach Fragestellung strukturiert sein können (z. B. den, Raumausstattung). Um alle diese Aspekte ab-
durch ein Tagebuch). decken zu können, erfolgt Sterbebegleitung zweck-
mäßigerweise in einem multidisziplinären Team
unter Beteiligung von Ärzten, Schwestern/Pflegern,
16.3 Betreuung und Begleitung Psychologen, Sozialpädagogen und Theologen. Da
sterbender Erwachsener Sterbebegleitung die Angehörigen von Sterbenden
einbezieht, gehört vermehrt auch die Beratung und
Die Begleitung Sterbender betrifft nicht nur eine Begleitung Trauernder zu ihren Aufgaben.
kurze Spanne von wenigen Stunden bis zu einem Die Notwendigkeit zu Differenzierungen ergibt
Tag vor Eintritt des Todes, sondern sie erstreckt sich aus grundsätzlichen Unterschieden zwischen
sich grundsätzlich auf einen vergleichsweise langen Sterbenden (Erwachsene vs. Kinder) einerseits und
16.3 · Betreuung und Begleitung sterbender Erwachsener
207 16

zwischen Krankheiten (Krebs, Aids, andere) ande- von Maßnahmen der sozialen Unterstützung für
rerseits. Betrachtet man Sterbebegleitung unter die Begleiter Sterbender, die im Einzelnen in emo-
systemorientierten Gesichtspunkten, so wird deut- tionaler, instrumenteller und informationeller
lich, dass unabhängig davon, welches Familienmit- Unterstützung bestehen kann (Cherniss 1980). Die
glied von der Krankheit betroffen ist, die gesamte Maßnahmen sozialer Unterstützung der Begleiter
Familie einer Begleitung bedarf. Da Sterbebeglei- sind vielfältig, und es ist teilweise notwendig, sie
tung am häufigsten und intensivsten durch Hospiz- individuell abzustimmen.
einrichtungen und in jüngerer Zeit auch Palliativ- Hinsichtlich der sog. Wahrheitsfrage können
stationen praktiziert wird, ist sie weitgehend iden- ein normativer und ein empirischer Aspekt unter-
tisch mit Hospizarbeit und palliativer Versorgung. schieden werden. In den vergangenen Jahrzehnten
An der Begleitung Sterbender lassen sich vier hat sich – wohl auch infolge eines schwindenden
Ebenen unterscheiden (Mehr-Ebenen-Modell der Paternalismus in der Ärzteschaft – die Befürwor-
Sterbebegleitung; Wittkowski 1999): Die primäre tung der Information des Patienten über seinen
Sterbebegleitung, die sekundäre Sterbebegleitung, Zustand und seine Prognose durchgesetzt, wobei
die Ebene der institutionellen Rahmenbedingun- freilich Differenzierungen (wann? durch wen? wie?
gen sowie die Ebene des gesellschaftlichen Um- bei welchem Patienten? Sporken 1978) und eine
feldes. »offene Kommunikation« (Huppmann u. Werner
Die primäre Sterbebegleitung oder auch Sterbe- 1982) empfohlen werden. Grundsätze für die Mit-
begleitung im engeren Sinne umfasst den direkten teilung der Diagnose »Krebs« (Huppmann 1988)
Umgang der beteiligten Personen miteinander: Ster- gelten hier sinngemäß. Ein Merkblatt für die Auf-
bender-Begleiter; Sterbender-Angehöriger; Ange- klärung unheilbar Kranker und ihrer Angehörigen
höriger-Betreuer; Betreuer-Betreuer. Zur Beschrei- stammt von Höder (1987). Die Befürwortung der
bung und Erklärung des Erlebens der beteiligten Eröffnung von Diagnose und Prognose geht von
Personen und ihrer Interaktionsmuster (etwa im der Annahme aus, dass die meisten sterbenden Pa-
Sinne von Bewusstheitskontexten; Glaser u. Strauß tienten auch dann eine zutreffende Vorstellung
1974) bietet sich eine systemorientierte Betrach- davon haben, wie es um sie steht, wenn sie nicht
tungsweise an. Im Umgang mit dem Sterbenden förmlich informiert wurden (Weisman 1977; Zim-
einerseits und seinen Angehörigen andererseits merman 1986). Unter dieser Voraussetzung gebie-
ist das Verhalten der Betreuer von Therapeuten- ten das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ei-
merkmalen der Gesprächspsychotherapie (Echt- nerseits und die Informationspflicht des Arztes
heit/Selbstkongruenz, Akzeptanz/Wertschätzung, andererseits eine angemessene Aufklärung (Inter-
Empathie) bestimmt, die aus einem auf Ganzheit- national Work Group 1979; Miyaji 1993). Dabei soll-
lichkeit und Wertbezug ausgerichteten Menschen- te der Patient allerdings nicht mutwillig mit einer
bild abgeleitet sind. Wahrheit konfrontiert werden, mit der er weder
Sekundäre Sterbebegleitung oder auch Sterbe- umgehen will noch umgehen kann (Saunders u.
begleitung im weiteren Sinne beinhaltet zweierlei: Bains 1991), und es sollte stets der Grundsatz »Hoff-
zum einen die Entwicklung und Durchführung von nung bewahren« beachtet werden.
Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen für Der empirische Aspekt betrifft die Frage, wie
professionelle Begleiter sowie von Vorbereitungs- die Einstellungen und das tatsächliche Informa-
kursen für Laienhelfer (sog. »death education«), tionsverhalten von Ärzten beschaffen sind. Ins-
die in der Vermittlung von Kenntnissen (in erster besondere bei den Einstellungen hat sich in der
Linie über Kommunikation und Gesprächsfüh- zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine
rung, Wahrnehmung, systemische Zusammen- Wendung hin zu mehr Offenheit vollzogen (Hupp-
hänge sowie Basiswissen über körperliche und mann u. Werner 1982; Kinkade 1982–83), wobei in
emotionale Bedürfnisse Sterbender) und/oder der einer amerikanischen Untersuchung die Ärzte eine
Aktivierung eigenen Erlebens bestehen können Aufklärung des Patienten signifikant weniger
(Durlak 1994); zum anderen beinhaltet sekundäre befürworteten als Schwestern und »housestaff«.
Sterbebegleitung die Konzeption und Anwendung Das tatsächliche Vermeidungsverhalten von Ärzten
208 Kapitel 16 · Sterben, Tod und Trauern aus medizinpsychologischer Sicht

bezüglich eines Aufklärungsgesprächs war nach Wie bereits angedeutet, spielt neben dem To-
10-jähriger Berufspraxis nach eigenem Bekunden deskonzept von Kindern auch ihr Krankheitskon-
geringer als am Beginn der beruflichen Laufbahn zept eine bedeutende Rolle für die Art und Weise,
(Dickinson u. Tournier 1994). wie Betreuende mit ihnen sprechen können bzw.
sollten. Obwohl das Krankheitskonzept von Kin-
dern gut untersucht ist (z. B. Schmidt u. Lehmkuhl
16.4 Umgang mit unheilbar 1994), sind Krankheits- und Todeskonzept bisher
kranken Kindern nicht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin
überprüft worden.
Für den Umgang mit unheilbar kranken Kindern
sind die Verständnismöglichkeiten der Kinder von
entscheidender Bedeutung. Ärzte und Schwestern 16.5 Psychische Belastungen von Ärzten
sollten darüber Bescheid wissen, welche Vorstellun- und Pflegekräften im Umgang mit
gen von Krankheit, Sterben und Tod das betreffen- unheilbar Kranken und Sterbenden
de Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes ha-
ben kann, um ihre Ausdrucksweise darauf abstellen Die Pflege und Betreuung von unheilbar Kranken
zu können. Grundsätzlich ist unstreitig, dass am und Sterbenden ist für Schwestern/Pfleger und
Todeskonzept sowohl kognitive als auch emotionale Ärzte mit erheblichen psychischen Belastungen
Komponenten beteiligt sind. verbunden. Sie manifestieren sich auf der Ebene
Was den kognitiven Aspekt betrifft, so lassen des subjektiven Erlebens hauptsächlich in Un-
sich am Todeskonzept von Kindern ganz allgemein sicherheit, Hilflosigkeit, Insuffizienz- und Ver-
die Subkonzepte »Universalität« (alle Lebewesen sagensgefühlen, Angst, Depression, Frustration,
sind grundsätzlich sterblich), »Irreversibilität« (ein Ärger, Wut, inneren Konflikten und Schuldgefühlen
einmal eingetretener Tod ist unumkehrbar), »Non- (Dickinson u. Tournier 1994; Riordan u. Saltzer
funktionalität« (mit dem Eintritt des Todes erlö- 1992). Als Folge dieser Belastungen kann es zu
schen alle Vitalfunktionen) und »Kausalität« (Vor- gesundheitlichen Beeinträchtigungen, zu Demo-
stellungen von den Ursachen, die zum Tod führen tivation, zu Stellenfluktuation und letztlich zu
können) unterscheiden (Spece u. Brent 1992). Ins- Burnout kommen (Cherniss 1980). Auf der Ebene
gesamt stehen die vorliegenden Befunde zur des Verhaltens kommt dies in Anpassungs- und
Entwicklung der kognitiven Komponenten des To- Bewältigungsstrategien wie Vermeidung, Deper-
deskonzepts von Kindern in Einklang mit Piagets sonalisierung und Versachlichung sowie in über-
Stufenmodell der kognitiven Entwicklung im All- steigertem Aktionismus zum Ausdruck (Marquis
gemeinen. 1993).
Was den emotionalen Aspekt betrifft, so stellen Psychischer Stress bei der Betreuung Sterben-
sich Fragen nach der Qualität und Intensität tod- der hat einerseits unspezifische und andererseits
bezogener Gefühle. Äußern jüngere Kinder andere spezifische Ursachen. Unspezifische Ursachen sind
16 Gefühlsqualitäten als ältere Kinder, wenn sie un- solche, die für den Betreuenden nicht unmittelbar
heilbar krank sind? Zeigen jüngere Kinder ein und mit der Tatsache verbunden sind, dass es sich bei
dasselbe Gefühl in anderer Intensität als ältere Kin- den zu Betreuenden um Sterbende handelt. Dazu
der, wenn sie mit dem eigenen Sterben und dem zählen allgemeine strukturelle Merkmale der Ar-
eigenen Tod konfrontiert sind? Man kann vermu- beit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen
ten, dass Angst vor Sterben und Tod in Abhängig- (z. B. unklar abgegrenzte Kompetenzbereiche, Rol-
keit vom Alter bzw. kognitiven Entwicklungsstand lenkonflikte) und eine starke Arbeitsbelastung auf-
zunimmt; gesicherte Erkenntnisse gibt es dazu grund geringen Personals (Vachon 1987). Spezifi-
noch nicht. Wenn unheilbar kranke Kinder im Vor- sche Ursachen für Stress stehen in unmittelbarer
schulalter Angst haben, so weniger vor dem Ster- Beziehung zur Todesthematik. Im Einzelnen sind
ben oder dem Tod als vielmehr vor der Trennung Betreuende in der Situation, sich immer wieder
von ihren Eltern. neu emotional engagieren zu sollen/wollen, ob-
16.6 · Trauer(n)
209 16

wohl der Misserfolg – gemessen am gängigen An- scheidbaren Phasen (Beutel et al. 1995; Bowlby 1983;
spruch des Heilens und Besserns – vorhersehbar Shuchter u. Zisook 1993). Relativ klar abgrenzbare
ist. Ferner machen Betreuende immer wieder Ver- Aspekte des Trauerns sind das Erleben (kognitive
lusterfahrungen, haben aber wenig Zeit, darüber zu und emotionale Reaktionen), das Verhalten (Ver-
trauern. Die Kumulation von Frustrationen und haltensweisen, in denen das Erleben der Trauer
Verlusterfahrungen im Laufe der Zeit stellt eine zum Ausdruck kommt) und körperliche Erschei-
besondere Qualität psychischer Belastung dar. nungsformen (z. B. Herz-Kreislauf-Störungen).
Darüber hinaus sind Betreuende häufig in die Kon- Mit dem Würzburger Trauerinventar (WüTi;
flikte zwischen dem Sterbenden und seinen Ange- Wittkowski u. Grötzinger 2002) liegt seit kurzem
hörigen involviert. Nicht zuletzt sind sie mit ihrer auch in deutscher Sprache ein Fragebogenverfah-
eigenen Endlichkeit und der Frage nach der Art ren zur psychometrischen Erfassung mehrerer re-
und Weise ihres eigenen Sterbens konfrontiert. lativ eigenständiger Dimensionen des Trauerns
Art und Intensität psychischer Belastungen vor, das sich allerdings noch im Entwicklungssta-
scheinen allerdings bei Ärzten und Pflegekräften in dium befindet.
konventionellen Krankenhäusern anders zu sein Wenngleich Trauern als natürliche Reaktion
als bei Betreuenden in Hospizeinrichtungen. Wie auf einen Verlust aufgefasst wird, ist es doch stets
Untersuchungen aus dem Bereich der Hospizar- mit dem Risiko einer behandlungsbedürftigen
beit zeigen, sind Stress und Burnout aufgrund des körperlichen und/oder psychischen Störung ver-
Umgangs mit unheilbar Kranken dort eher selten bunden. Anhaltende Selbstbeschuldigungen sowie
bzw. schwach (Field u. Johnson 1993; Turnipseed Depressionen, Angstzustände und Medikamen-
1987). tenabusus, die sich jeweils chronifiziert haben, sind
Allerdings beinhalten die besondere Art der die häufigsten und schwerwiegendsten klinisch re-
Betreuung Sterbender in Hospizeinrichtungen ei- levanten Reaktionen auf Verlusterlebnisse (Bron
nerseits und die ambulante Begleitung andererseits 1991; Parkes 1998; Raphael et al. 1993; Stroebe u.
auch spezifische Stressoren. Dazu zählen die Ideo- Stroebe 1987). Abnormes bzw. kompliziertes Trau-
logie der Hospize und besonders der hohe An- ern ist gekennzeichnet durch eines oder mehrere
spruch des »guten Sterbens«, der nicht immer ver- der folgenden Merkmale: Ausbleiben von Trauer-
wirklicht werden kann, implizite Vorstellungen von reaktionen im Anschluss an einen Verlust, verzö-
einem regelhaften Verlauf des Sterbens (Phasen- gerter Beginn, besondere Intensität der entspre-
modell), die oft durch die Wirklichkeit widerlegt chenden Reaktionen sowie deren Chronifizierung
werden, starkes emotionales Engagement der Be- (Huppmann u. Huppmann 1988; Raphael et al. 1993;
gleitenden aufgrund einer Identifikation mit den Worden 1986).
Wertvorstellungen der Hospizarbeit, hohe emotio- Interventionsmaßnahmen tragen der großen
nale Forderungen der Sterbenden und unrealisti- Spannweite von normaler bis pathologischer
sche Erwartungen der Angehörigen speziell an die Trauer Rechnung. Trauerberatung besteht in der
Betreuung in einer Hospizeinrichtung (Gray-Toft Unterstützung und präventiven Hilfestellung bei
u. Anderson 1986–87; Levy u. Gordon 1987). normal verlaufendem Trauerprozess. Trauerthera-
pie besteht im Einsatz spezifischer Verfahrens-
weisen (z. B. klientenzentrierte Trauertherapie,
16.6 Trauer(n) Jerneizig et al. 1991; psychoanalytische Konzepte,
Kernberg 1999; Kutter 1999) zur Behandlung ab-
Trauerreaktionen werden allgemein als Ausdruck normer Symptome des Trauerns (Raphael et al.
der Auseinandersetzung mit einem Verlust und der 1993; Stroebe u. Stroebe 1987; Worden 1986). Ver-
Anpassung an diesen verstanden (Archer 1999; haltenstherapeutische Ansätze spielen keine nen-
Corr et al. 1996; Doka 1989; Parkes 1998; Rando nenswerte Rolle.
1995; Stroebe u. Stroebe 1987). Insofern ist Trauern
ein Prozess von interindividuell unterschiedlicher
Dauer und mit mehr oder weniger gut unter-
210 Kapitel 16 · Sterben, Tod und Trauern aus medizinpsychologischer Sicht

16.7 Resümee und Ausblick Cherniss, C. (1980). Staff Burnout. Job Stress in the Human Ser-
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212 Kapitel 16 · Sterben, Tod und Trauern aus medizinpsychologischer Sicht

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16
Sachverzeichnis
214 Sachverzeichnis

Betreuung Sterbender 208 Einsatz- und Rettungspersonal


A Bewältigungskompetenzen 177 133
Bewältigungsstile 108 Einstellung zur Organspende
Adaptionssyndrom 128 Biofeedbacks 118, 150 103
Adherence 193 Biofeedbacktraining 149 Elektronische Patientenakte 164
akute Belastungsstörung 129 »brain-computer-interface« 118 Eltern von krebskranken Kindern
Akzeptieren von Sterben Bräunlich, Friedrich Gustav 2 131
und Tod 205 Burnout 32, 98, 208 Elterntraining 147
Altruismus 105 Bypass-Operation 80 Emotionale Krisen 108
Amalgamallergie 174 Emotionale Reaktionen
Anamnese 197 des Empfängers 107
Angehörige 32, 105 Emotionale Reaktionen
Angina pectoris 74
C des Spenders 107
Angst vor Sterben und Tod 204 Emotionstheorien 19
Ängste 82, 104, 176 Carl Gustav Carus 2 Endorphin 66
Anpassungsreaktionen des Chronifizierung 60 Entlastungshaltungen 64
Patienten 108 Chronische Erkrankungen im Entscheidungsprozesse zur Lebend-
Anpassungsstörungen 130 Kindes- und Jugendalter 142 organspende 107
Antidonation 104 Chronische Rückenschmerzen 60 Entspannungsverfahren 51
Arbeitszufriedenheit 32 Chronische Schmerzen 60 Epilepsien 120
Arteriosklerose 74 Chronische Schmerzsyndrome 60 Erregbarkeitsschwelle 119
Ärztliche Gesprächsführung 192 Competition-of-cues-Modell 20 Erziehungsvehaltensmuster 147
Ärztliche Leitlinien 197 Compliance 112, 176, 178, 194, 196 Erziehungsverhalten 148
Arzt-Patient-Beziehung 155, 156, »contingent negative variation« Expositionsbehandlung 178
159, 163, 192, 193 (CNV) 145
Asthma bronchiale 26 Coping-Modell 92
Asymmetrie 195 Cure-care-Dichotomie 159
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperakti-
F
vitätsstörung (ADHS) 121, 142
»failed back syndrome« 61
D Feedback 119, 122
Feedbacktraining 120
B Daumen- und Fingerlutschen 169 Feindseligkeit 76
Debriefing 134 Freiwilligkeit 106
Bandscheibenvorfall 62 Dekontextualisierung 156
Begleitung Sterbender 206 Depressionen 82
Behandlungspersonal 32 Depressive Stimmungslage 65
Behandlungsprogramme Desensibilisierung 177
G
für Kinder 147 Diabetes mellitus 26
Belastungsfaktoren 181 Dialogische Medizin 156 Gemüt 7
Belastungshaltungen 64 Gespräch 180
Belastungssituation des Patienten Gesundheitserziehung 185
32 Gesundheitsförderung 184
Beratungsbedarf 172
E Gesundheitsportale 163
Berichtsverhalten 21 Gesundheitstelematik 154
Berufliche Belastung 182 EEG-Feedbackstudien 118 Gläserner Arzt 157
Berufliche Reintegration 113 E-health 154 Gläserner Patient 157
Berufstätigkeit 113 Eingriffe am offenen Herzen 80 Gruppenprophylaxe 184
Sachverzeichnis
215 A–P

Kopfschmerzen 142, 149 Neuronale Plastizität 64


H Koronare Herzkrankheit 74 Neuroprothesen 118
Kortikale Aufmerksamkeits- Nierentransplantation 102
Habit reversal 171 bereitschaft 145 Non-Compliance bei Transplanta-
Habits 169 Krankheitsverarbeitung 40, 77, 143 tionspatienten 113
Habituation 146 Krebserkrankungen 131 Non-Complianceraten 113
Haltungskonstanz 70 Nozizeption 18
Hauterkrankungen 36
Hepatotoxische Schädigung 112
Herzkathederuntersuchungen 80
L
Herztransplantation 81, 102
O
Hirn-Computer-Interface 118 Langsame Potentiale 119
Hochrisikogruppen 134 Lebendspende 103, 106 Ophtalmologie 48
Hospizeinrichtungen 209 Lebensqualität 40, 51, 97, 106, Optimismus 172
108, 124, 143, 172 Orale Parafunktionen 169
Lebertransplantation 102, 112 Organspendebereitschaft 103
Lebertransplantation bei Kindern
I 111
Lehre zur ärztlichen Gesprächs-
Implantierbarer Kardioverter- führung 199
P
Defibrillator 80 Lehrmethoden 199
Individualprophylaxe 183 Leib-Seele-Verhältnis 6 Pankreastransplantation 102
Informationspflicht des Arztes Life-Events 41 Parodontitis 171
207 Locked in 123 Patienteninformationssystem
Informationstrauma 132 Lungentransplantation 102 163
Informationsverhalten von Ärzten Patientenzufriedenheit 184, 196
207 Persönlichkeitsveränderung
Intensive-care-unit-Syndrom 30 –, andauernde posttraumatische
Intensivstationen 30
M 129
Internetbasierte Interventionen Phantomschmerz 64
160 Malignes Aderhautmelanom 55 Postoperative Phase 109
Interventionsprogramm 173 Meaning 94 Posttraumatische Belastungs-
Intrusionen 132 Medizinpsychologisch-therapeu- störungen 97, 128, 129
Involviertheit 104 tische Interventionen 31 Prävalenz der PTB 131
Migräne 60, 144 Präventionsprogramme 134
Modifikation der Risikofaktoren Präventive Kardiologie 83
koronarer Herzkrankheiten 82 Primäre Prävention 183
K Mundgesundheitsberatung 181 Problemorientiertes Lernen 199
Muskulär bedingte Schmerzen 63 Prodonation 104
Katarakt-Operation 50 Myokardinfarkt 131 Prophylaxeprogramme in der
Kieferfehlstellungen (Progenie) –, akuter 74 Zahnmedizin 183
172 Propriozeption 18
Knochenmarktransplantation 95 Psoriasis 40
Kommunikationsverhalten 196 Psychische Heilmittellehre 4, 9
Komplizierte Trauer 130
N Psychische Störungen in der
Kontrollüberzeugungen 77 Dermatologie 38
Kopfschmerz-Eltern/Kind- Nägelkauen 169 Psychokardiologie 74
schulungsprogramm 147 Neurodermitis 39 Psychoneuroimmunologie 93
216 Sachverzeichnis

Psychoonkologie 92 Sterbebegleitung 206 Vermeidungssymptome 130


Psychoonkologische Metatheorie Sterbeprozess 206 Visite im Krankenhaus 192
94 Stigmatisierungserleben 40 Visitengespräche 195
Psychoophtalmologie 52 Strabismuschirurgie 50 Viszerozeption 18
Psychoophtalmologische Stressbewältigungstraining 149 Vorsorgemaßnahmen 184
Untersuchungen 49 Stressmanagementtrainings 83
Psychotraumatologie 128 Stressreaktionen 41
PTB-Prävalenz 133
W
T Wackerbarthsruhe 3
R Wartelisten 102
Technisierung der Medizin 155
Radioapplikatortherapie 51 Telechirurgie 162
Raucherentwöhnung 83 Telekonsultation 158, 159
Rehabilitationsbedarf 173 Telemedizin 154
Z
Reizverarbeitungstraining 149 Telemonitoring 162
Risikofaktoren 113 Telepsychiatrie 161 Zahnarzt-Patient-Beziehung 178
Risikofaktorenmodell 75 Temperament 6 Zahnbehandlungsangst 176
Thought Translation Device 119 Zirrhose 112
Todesangst 204
Todeskonzept von Kindern 208
S Transplantationspsychologie
102
Schmerzbeeinflussungstechniken Transplantationsspezifisches
97 Wissen 103
Schmerzbewältigung 67 Trauerreaktion 209
Schmerzimmunisierungsverfahren Traumatische Trauer 130
150 Tumore im Kiefer-/Gesichts-
Schmerzmodulation 66 bereich 172
Schmerztoleranz 68 Typ-A-Persönlichkeit 74
Schonhaltungen 66 Typ-A-Verhalten 75
Schultz, Johannes Heinrich 2
Seattle-System 177
Sekundäre Traumatisierung 133
Selbstbestimmungsrecht des
U
Patienten 207
Selbstkontrolle 120,121, 123 Unverträglichkeitsreaktionen
Somatoforme Schmerzstörungen 175
173 Urticaria 41
Somatoforme Störungen 19
Somatoforme Störungen bei Haut-
krankheiten 36
Soziale Unterstützung 81, 98
V
Spezifische Augenerkrankungen
48 Verhandlungführung 198
Spondylodiscitis 62 Verbrennungskrankheiten 131
Sprechstunde des Arztes 192 Verhaltenspädiatrie 144

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