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Hermann Faller · Hermann Lang

Medizinische
Psychologie
und Soziologie
4. Auflage
Springer-Lehrbuch
Hermann Faller
Hermann Lang

Medizinische
Psychologie
und Soziologie
4., überarbeitete Auflage

Mit 29 Abbildungen

123
Hermann Faller
Universität Würzburg
Würzburg

Hermann Lang
Universität Würzburg
Würzburg

ISBN 978-3-662-46614-8 978-3-662-46615-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5

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Vorwort zur 4. Auflage

Wir danken allen Leserinnen und Lesern für die weiterhin sehr positive Aufnahme unseres
Lehrbuchs, die nach kurzer Zeit eine 4. Auflage erforderlich gemacht hat. Die neue Auflage
wurde sorgfältig durchgesehen und auf den aktuellen Stand gebracht, ohne den Textumfang
zu vermehren. Sie orientiert sich in Inhalt und Aufbau sehr eng am aktuellen Gegenstands-
katalog des IMPP. In das Lehrbuch gingen unsere langjährigen Erfahrungen als Hochschul-
lehrer für Medizinische Psychologie und Soziologie an der Universität Würzburg ein, für die
wir den Studierenden zu großem Dank verpflichtet sind. Ohne diese Lehrerfahrung wäre das
Buch nicht denkbar.

Das Fach Medizinische Psychologie und Soziologie vermittelt den angehenden Ärztinnen und
Ärzten das Wissen, das sie für den Umgang mit ihren Patienten brauchen. Körperlich Kranke
wollen natürlich in erster Linie wieder gesund werden. Aber sie haben auch noch darüber
hinausgehende Bedürfnisse: Sie wollen Informationen über ihre Krankheit. Sie wollen immer
häufiger bei medizinischen Entscheidungen beteiligt werden. Und sie benötigen in manchen
Fällen auch psychische Unterstützung, um ihre Krankheit emotional zu bewältigen. Um diese
Bedürfnisse zu erfüllen, brauchen Ärztinnen und Ärzte Kenntnisse und Kompetenzen aus der
Medizinischen Psychologie und Soziologie. Das Fach, von dem dieses Lehrbuch handelt, ist
also von unmittelbar praktischem Nutzen.

Weitere wichtige Themenfelder der Medizinischen Psychologie und Soziologie betreffen die
Mitarbeit des Patienten bei der medizinischen Behandlung, die Verarbeitung eingreifender
Therapiemaßnahmen, die Motivation zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil oder die
Wirkungsweise unterschiedlicher Formen der Psychotherapie. Sie spielt sowohl in der Präven-
tion wie auch der Akutmedizin und Rehabilitation eine wichtige Rolle. Ziel unseres Buches ist
es, die klinischen Bezüge der Medizinischen Psychologie herauszustellen.

Das Buch richtet sich ausdrücklich an Einsteiger in die Medizinische Psychologie und Sozio-
logie. Es verwendet eine klare und einfache Sprache. Nichts wird vorausgesetzt. Jeder neue
Begriff wird sofort erläutert, sobald er zum ersten Mal auftaucht, wenn möglich auch mit
einem Beispiel. Das Buch ist zudem besonders leserfreundlich gestaltet. Eine klare Gliederung
mit vielen Hervorhebungen und Merksätzen erlaubt es, den Stoff »häppchenweise« zu konsu-
mieren, und erleichtert die spätere Wiederholung oder das Nachschlagen.

Das Buch ist voll von Tipps für den praktischen Umgang mit Patienten, z. B. Formulierungs-
vorschlägen für das ärztliche Gespräch. Es wurde von Experten verfasst, die nicht nur eine
jahrelange Erfahrung im Unterricht in Medizinischer Psychologie und Soziologie mitbringen,
sondern auch über praktische, klinische Erfahrung als Arzt, Psychologe und Psychotherapeut
im Umgang mit Patienten verfügen. Dieser doppelte Erfahrungshintergrund stellt sicher,
dass das Lehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie für die spätere Ärztin und den
späteren Arzt im beruflichen Alltag in Praxis oder Klinik von Nutzen ist. Es wendet sich
ebenfalls an den bereits ausgebildeten Arzt und andere Berufsgruppen, die im medizinischen
und psychosozialen Feld wichtige Funktionen übernehmen, wie Psychologen, Sozialarbeiter,
Pflegekräfte usw.
VI Vorwort zur 4. Auflage

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern der 4.  Auflage des Lehrbuchs Medizinische
Psychologie und Soziologie viel Spaß beim Lesen und viel Erfolg im Studium. Verbesserungs-
vorschläge sind uns auch diesmal jederzeit sehr willkommen, wir werden sie bei der nächsten
Auflage berücksichtigen.

Wir danken den Koautorinnen und Koautoren, die Beiträge zu denjenigen Themen (mit)ver-
fasst haben, für die sie eine hervorragende Expertise besitzen: PD Dr. Dr. Stefan Brunnhuber
(Kap. 8.3), Dr. Matthias Jelitte (Kap. 11.2.3), Dr. Karin Meng (Kap. 7.1), Dr. Silke Neuderth
(Kap. 7.1, 8.4 und 9.4), Dipl.-Psych. Andrea Reusch (Kap. 10.3.2), Dr. Matthias Richard
(Kap. 7.2 und 8.2), Dr. Marion Schowalter (Kap. 4.7 und 4.8), Prof. Dr. Rolf Verres (Kap. 8.7),
PD Dr. Heiner Vogel (Kap. 5.1, 10.6 und 11.2.1) und PD Dr. Tewes Wischmann (Kap. 8.5). Für
die sorgfältige Durchsicht des Lehrbuchs, für hilfreiche Korrekturen und Kommentare danken
wir Herrn cand. med. Simon Faller, B.Sc. Schließlich danken wir Frau Christine Ströhla und
Frau Rose-Marie Doyon vom Springer-Verlag sowie Frau Dr. Monika Merz, Lektorat, für die
angenehme Zusammenarbeit.

Hermann Faller
Hermann Lang
VII

Die Autoren

Hermann Faller
Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Studium der Medizin und Psychologie in
Heidelberg. Promotion in Medizin in Heidelberg, in Psychologie in Freiburg.
Habilitation in Würzburg. Klinische Tätigkeit in Innerer Medizin, Neurologie,
Psychiatrie und Psychotherapie. Facharzt für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Psychoanalytiker (DGPT). Leiter der Abteilung für Medizi-
nische Psychologie und Psychotherapie, Medizinische Soziologie und Reha-
bilitationswissenschaften der Universität Würzburg.

Hermann Lang
Prof. Dr. med. Dr. phil. Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie in
Heidelberg und Paris. 1972 und 1976 Promotion zum Dr. phil. und Dr. med.
Ausbildung zum Psychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und
Psychoanalytiker (DGPT) in Heidelberg, Paris und Straßburg. 1979 Habilitation.
Von 1980–1989 Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychotherapie und Medi-
zinische Psychologie an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidel-
berg. Von 1990–2004 Vorstand des Instituts für Psychotherapie und Medizi-
nischen Psychologie der Universität Würzburg.
Medizinische Psychologie und Soziologie

16 Kapitel 1 · Kapiteltitel

Einleitung: Kurzer
Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche
Einstieg ins Kapitel
theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit
vorgestellt: Verhaltensmodelle, psychobiologische
2 Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsycho-
logische Modelle und soziologische Modelle. Diese
Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergan-
genheit und zum Teil auch heute noch vorherrschen-
de Zersplitterung der Wissenschaft. Sie ist aber nur
noch aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen.
Gesundheit und Krankheit sind so komplexe Phäno-
mene, dass es nicht angemessen ist, sie nur unter
dem Blickwinkel eines einzelnen Modells zu be-
trachten. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspek-
tiven werden heutzutage in zunehmendem Maße
miteinander verknüpft. In Studien, die sich auf dem
aktuellen Stand der Wissenschaft befinden, werden
biologische und psychologische Einflüsse gleich-
zeitig analysiert. Dies geschieht z. B. in verhaltens-
genetischen Untersuchungen, in denen sowohl die
. Abb. 2.1 Teufelskreis der Angst
Gene als auch elterliches Verhalten erfasst werden,
um das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt
bei der Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären. Klinik: Konditionierung bei Chemotherapie
Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes
Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten.
2.1 Verhaltensmodelle Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab.
Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren
H. Faller eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben,
sondern auch als zusätzliche (adjuvante) Maßnahme,
Lernziele: Diese Lernziele z. B. nach einer Operation bei Brustkrebs, um die
Kompetenzen
Der Leser soll Gefahr eines Rezidivs zu verringern. Meist erfolgt die
werden im Kapitel
5 das respondente, operante und kognitive Chemotherapie in mehreren Zyklen, zwischen denen
vermittelt 
Lernmodell beschreiben können, die Patienten nach Hause entlassen werden. Viele
5 das SORKC-Modell der Verhaltensanalyse gebräuchliche Zytostatika haben als Nebenwirkung
beschreiben können, starke Übelkeit, die direkt im Gehirn ausgelöst wird.
5 Gen-Umwelt-Interaktion und Gen-Umwelt- Chemotherapeutisch behandelte Patienten ent-
Korrelation unterscheiden können. wickeln diese Übelkeit im Laufe der Zeit manchmal
schon beim Anblick der Klinik oder dem Geruch der
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige Station, wenn sie zu einem erneuten Zyklus auf-
Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von genommen werden. Selbst die Farbe der Zytostatika-
Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich lösung oder die Erwartung (Antizipation), am
Merke: nächsten Tag wieder in die Klinik gehen zu müssen,
Die must-haves für > Bei der klassischen Konditionierung werden können Übelkeit auslösen. Diese antizipatorische
die Prüfung 2 Reize miteinander verknüpft, ein unkondi- Übelkeit lässt sich mit der klassischen Konditionie-
tionierter Reiz (UCS, z. B. Futter) und ein kondi- rung erklären: All diejenigen Bedingungen, die wäh-
tionierter Reiz (CS, z. B. Glocke). Nach mehr- rend der Chemotherapie zugegen waren, können
facher Präsentation des CS kurz vor dem UCS zum konditionierten Stimulus werden. Mittels Ent-
ist auch der CS in der Lage, eine Reaktion (kon- spannungsverfahren (7 Abschn. 8.2.5) lässt sich die
ditionierte Reaktion, z. B. Speichel) auszulösen. konditionierte Übelkeit abmildern.

Klinik: Anschauliche Beispiele


aus der Klinik
2.1 · Verhaltensmodelle
17 2

. Tab. 2.1 Stadien der psychosexuellen Entwicklung (nach Freud, Erikson)

Lebensalter Psychosexuelle Umkreis der Bezie- Psychosexuelle Modalitäten Psychosoziale


in Jahren Phasen hungspersonen Krisen

Bis 1½ Oral-sensorische Mutter (Vater) Empfangen und (sich-) ein- Urvertrauen vs.
Phase verleiben, atmosphärisches Urmisstrauen
Fühlen, Hören, Sehen, Riechen

1½ bis 3 Anal-muskuläre Eltern Festhalten und hergeben, Autonomie vs.


Phase Trotz – Fügsamkeit Scham und Zweifel

3 bis 5 (6) Phallisch-ödipale Familie Vergleichen und konkurrieren, Initiative vs. Schuld-
Phase Geschlechtsrollenfindung gefühl

6 bis 10 Latenzphase Wohngegend, Etwas »Richtiges« machen, etwas Leistung vs. Minder-
Schule mit anderen zusammen machen wertigkeitsgefühl

10 bis 18 Pubertät und »Eigene« Gruppen, Wer bin ich? (Wer bin ich nicht?); Identität vs.
(20) Adoleszenz »die Anderen«, das Ich in der Gemeinschaft Identitätsdiffusion
Führer – Vorbilder

Operantes Modell Das Modell der operanten folgen, also von diesem bewirkt werden (daher der
Konditionierung wurde von dem amerikanischen Name: operantes Verhalten), und stellte fest, dass
Psychologen Burrhus F. Skinner begründet. Er un- die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt (Ver-
tersuchte die Konsequenzen, die auf ein Verhalten stärkung), wenn auf das Verhalten eine angenehme

Hintergrundinformation
Überlegenheit sanktionierender Institutionen Übersichten:
In Public-goods-Experimenten erhalten die Mitspieler ein be-
Typische Symptome einer Depression
5 Niedergeschlagene Stimmung Wichtige Fakten für
stimmtes Vermögen und entscheiden dann, wie viel sie da-
von in einen »öffentlichen Topf« geben, von dem alle umso 5 Verlust von Antrieb und Energie die Prüfung
mehr profitieren, je mehr darin investiert wird. Manche Mit- 5 Verlust von Lebensfreude und Interessen
spieler investieren viel, in der Erwartung, dass andere ihrem 5 Körperliche Beschwerden: Konzentrations-
Beispiel folgen und dadurch der Nutzen für alle am größten
störung, motorische Hemmung, Müdigkeit,
wird. Manche hingegen investieren gar nichts und partizi-
pieren lediglich vom öffentlichen Gut (free rider, »Schwarz- Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Gewichts-
fahrer«). Wie kann man verhindern, dass wenige Free-Rider abnahme, Schmerzen unterschiedlicher
alle anderen entmutigen zu kooperieren, so dass das Ausmaß Lokalisation
der Investition in das öffentliche Gut auf Null sinkt? 5 Kognitive Symptome: negatives Bild
Ein Experiment: Die Mitspieler konnten wählen, ob sie einer
von sich selbst, der Welt und der Zukunft
Institution beitreten wollen, in der es keine Sanktionen gab,
oder aber einer anderen, in der unkooperatives Verhalten (kognitive Triade), Pessimismus, Sinn-
sanktioniert werden konnte. Jeder erhielt dann 20 Geldein- losigkeitsgefühle, Schuldgefühle, Selbst-
heiten und konnte davon so viel er wollte in das öffentliche mordgedanken (Suizidalität)
Gut einbringen. Jedes Gruppenmitglied profitierte gleicher-
maßen vom öffentlichen Gut, unabhängig vom eigenen Bei-
trag. Diese Spielanordnung stellt natürlich eine Versuchung
dar, selbst nichts abzugeben, aber von den Beiträgen der an-
deren zu profitieren. Dies führte dazu, dass die Kooperation in i Vertiefen Vertiefen:
der sanktionsfreien Gruppe bald gegen Null ging. In der an- Lefrancois G (2014) Psychologie des Lernens. Weiterführende
deren Gruppe bestand für jeden die Möglichkeit, »Schwarz- 5. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch) Literatur, vom Autor
fahrer« zu bestrafen. Jede Bestrafung kostete das bestrafte
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch kommentiert
Gruppenmitglied 3 Geldeinheiten, war allerdings auch für
denjenigen, der die Sanktion ausübte, mit einem Verlust von der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin
1 Geldeinheit verbunden. (hervorragende, praxisorientierte Darstellung)

Hintergrundinformation:
Interessante Zusatzinformationen
zu ausgewählten Themen
Inhaltsverzeichnis

I Entstehung und Verlauf von Krankheiten

1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


H. Faller
1.1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Betroffene Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Medizin als Wissens- und Handlungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.4 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15


H. Faller, H. Lang
2.1 Verhaltensmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.2 Psychobiologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3 Psychodynamische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.4 Sozialpsychologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.5 Soziologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

3 Methodische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
H. Faller
3.1 Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
3.2 Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
3.3 Testdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.4 Untersuchungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.5 Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3.6 Psychobiologische Methoden der Datengewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.7 Datenauswertung und -interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.8 Ergebnisbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

4 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
H. Faller, M. Schowalter
4.1 Psychobiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4.2 Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
4.3 Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
4.4 Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.5 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
4.6 Persönlichkeit und Verhaltensstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.7 Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
4.8 Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
(Adoleszenz, mittleres Erwachsenenalter, Senium) und sekundäre Sozialisation . . . 176
4.9 Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
4.10 Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
XI
Inhaltsverzeichnis

II Ärztliches Handeln

5 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
H. Faller, H. Vogel
5.1 Ärztliche Berufstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
5.2 Arztrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
5.3 Krankenrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
5.4 Kommunikation und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
5.5 Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

6 Untersuchung und Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229


H. Faller
6.1 Erstkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
6.2 Exploration und Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.3 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

7 Urteilsbildung und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241


K. Meng, S. Neuderth, H. Faller, M. Richard
7.1 Grundlagen der diagnostischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
7.2 Urteilsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

8 Interventionsformen und besondere medizinische Situationen . . . . . . . . 251


H. Faller, M. Richard, S. Brunnhuber, S. Neuderth, T. Wischmann, H. Lang, R. Verres
8.1 Ärztliche Beratung und Patientenschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
8.2 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
8.3 Intensiv- und Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
8.4 Transplantationsmedizin und Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
8.5 Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
8.6 Sexualmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
8.7 Tod und Sterben, Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

9 Patient und Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307


H. Faller, S. Neuderth
9.1 Stadien des Hilfesuchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
9.2 Bedarf und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
9.3 Patientenkarrieren im Versorgungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
9.4 Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

III Förderung und Erhaltung von Gesundheit

10 Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention . . . . . . . . . . . . . . . 329


H. Faller, A. Reusch, H. Vogel
10.1 Präventionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
10.2 Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
10.3 Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
10.4 Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
10.5 Tertiäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
10.6 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
XII Inhaltsverzeichnis

11 Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . 359


H. Faller, H. Vogel, M. Jelitte
11.1 Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
11.2 Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Stichwortverzeichns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
XIII

Autorenverzeichnis

PD Dr. Dr. Stefan Brunnhuber Dr. Marion Schowalter


Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Abteilung für Medizinische Psychologie
Diakonie Kliniken Zschadraß und Psychotherapie,
Im Park 15a, 04680 Colditz Medizinische Soziologie und Rehabilitations-
brunnhuber.cor@gmxpro.de wissenschaften, Universität Würzburg
Klinikstraße 3, 97070 Würzburg
Dr. Matthias Jelitte schowalter@uni-wuerzburg.de
Helios-Klinik Bad Grönenbach,
Sebastian-Kneipp-Allee 3, 87730 Bad Grönenbach Prof. Dr. Rolf Verres
Matthias.Jelitte@helios-kliniken.de Institut für Medizinische Psychologie,
Universität Heidelberg
Dr. Karin Meng Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
Abteilung für Medizinische Psychologie rolf.verres@med.uni-heidelberg.de
und Psychotherapie,
Medizinische Soziologie und Rehabilitations- PD Dr. Heiner Vogel
wissenschaften, Universität Würzburg Abteilung für Medizinische Psychologie
Klinikstraße 3, 97070 Würzburg und Psychotherapie,
k.meng@uni-wuerzburg.de Medizinische Soziologie und Rehabilitations-
wissenschaften, Universität Würzburg
Dr. Silke Neuderth Klinikstraße 3, 97070 Würzburg
Abteilung für Medizinische Psychologie h.vogel@uni-wuerzburg.de
und Psychotherapie,
Medizinische Soziologie und Rehabilitations- PD Dr. Tewes Wischmann
wissenschaften, Universität Würzburg Institut für Medizinische Psychologie,
Klinikstraße 3, 97070 Würzburg Universität Heidelberg
s.neuderth@uni-wuerzburg.de Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
tewes.wischmann@med.uni-heidelberg.de
Andrea Reusch
Abteilung für Medizinische Psychologie
und Psychotherapie,
Medizinische Soziologie und Rehabilitations-
wissenschaften, Universität Würzburg
Klinikstraße 3, 97070 Würzburg
a.reusch@uni-wuerzburg.de

Dr. Matthias Richard


Abteilung für Medizinische Psychologie
und Psychotherapie,
Medizinische Soziologie und Rehabilitations-
wissenschaften, Universität Würzburg
Klinikstraße 3, 97070 Würzburg
richard@uni-wuerzburg.de
1 I

Entstehung und Verlauf


von Krankheiten
Kapitel 1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit –3
H. Faller

Kapitel 2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle – 15


H. Faller, H. Lang

Kapitel 3 Methodische Grundlagen – 51


H. Faller

Kapitel 4 Theoretische Grundlagen – 99


H. Faller, M. Schowalter
3 1

Bezugssysteme von Gesund-


heit und Krankheit
H. Faller

1.1 Gesundheit und Krankheit –4


1.1.1 Gesundheit und Krankheit als Dichotomie vs. Kontinuum –4
1.1.2 Definitionen von Gesundheit – 4
1.1.3 Krankheit als Normabweichung – 4
1.1.4 Biopsychosoziales Krankheitsmodell – 5
1.1.5 Begriffsklärungen – 5

1.2 Betroffene Person –6


1.2.1 Subjektives Befinden und Erleben – 6
1.2.2 Körperwahrnehmung – 7
1.2.3 Subjektive Gesundheit, gesundheitsbezogene Lebensqualität –7
1.2.4 Subjektive Krankheitstheorien – 8

1.3 Medizin als Wissens- und Handlungssystem –9


1.3.1 Medizinische Befunderhebung und Diagnose – 9
1.3.2 Grundzüge von Klassifikationssystemen – 9
1.3.3 Konvergenz und Divergenz von subjektivem Befinden
und medizinischem Befund – 10

1.4 Gesellschaft – 12
1.4.1 Soziale Normen und rechtliche Regelungen – 12
1.4.2 Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch
Kranker und Behinderter – 12

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
4 Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit

Je nach Bezugssystem können Gesundheit und 1.1.2 Definitionen von Gesundheit


1 Krankheit unterschiedliche Bedeutungen besitzen.
Die betroffene Person bemerkt an Störungen ihres Die Definition von Gesundheit richtet sich nach
Wohlbefindens und an Beschwerden, dass sie krank dem jeweiligen Bezugssystem. In der Medizin ist
ist. In der Medizin ist es das Ziel, eine Diagnose zu Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit (dicho-
stellen, die wiederum die Grundlage der Behandlung tomes Modell). Aus Sicht der Person umfasst
ist. Für die Gesellschaft stellt Krankheit eine Abwei- Gesundheit subjektives Wohlbefinden, Handlungs-
chung von sozialen Normen dar: Ein Kranker kann vermögen, Funktionsfähigkeit im Alltag, Lebens-
bestimmte Rollen nicht mehr erfüllen, er ist beispiels- qualität. Aus Sicht der Gesellschaft ist die Erfül-
weise arbeitsunfähig. lung  sozialer Rollen ein zentrales Merkmal von
Gesundheit.

1.1 Gesundheit und Krankheit Klinik: WHO-Definition


Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Gesund-
Lernziele heit »als Zustand des vollkommenen körperlichen,
Der Leser soll seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht
5 unterschiedliche Normbegriffe für die Definition einfach die Abwesenheit von Krankheit« definiert.
von Krankheit beschreiben können, Diese Definition ist zwar gut gemeint: Sie will darauf
5 kausale Risikofaktoren und Risikoindikatoren hinweisen, dass Gesundheit nicht nur eine körper-
unterscheiden können. liche Dimension aufweist. Aber sie ist utopisch und
auch empirisch nicht haltbar: Gesundheit heißt
keineswegs völliges Wohlbefinden oder auch nur Ab-
1.1.1 Gesundheit und Krankheit wesenheit von Beschwerden. Viele epidemiologische
als Dichotomie vs. Kontinuum Untersuchungen haben gezeigt, dass mehr als 80%
der befragten Mitglieder der gesunden Allgemein-
Wenn ein Patient mit bestimmten Beschwerden in bevölkerung in der vorausgegangenen Woche
die Sprechstunde kommt, ist es das Ziel des Arztes, mindestens ein belastendes körperliches Symptom,
eine Diagnose zu stellen. Er muss herausfinden, wie z. B. Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen,
woran der Patient leidet. Erst dann kann er ihn an- hatten. Körperliche Beschwerden sind auch bei Ge-
gemessen behandeln. Die Diagnosestellung ist eine sunden häufig. Sie sind meist harmlos und gehen
dichotome Entscheidung: Eine Krankheit liegt vor von alleine wieder vorbei, ohne dass sich die betrof-
oder sie liegt nicht vor. Festgelegte diagnostische fene Person deshalb als krank definiert oder einen
Kriterien, z. B. bestimmte organische Befunde, hel- Arzt aufsucht.
fen dem Arzt, diese Entscheidung zu treffen.
Für den Patienten stellt sich Kranksein eher als
Kontinuum dar: Er kann sich mehr oder weniger 1.1.3 Krankheit als Normabweichung
wohl, leichter oder schwerer krank fühlen. Doch
auch in der Medizin sind dichotome Entscheidun- Je nach Bezugsystem (Biomedizin, Person, Gesell-
gen nicht immer einfach zu fällen. Insbesondere schaft), kann Krankheit als Abweichung von biolo-
bei psychischen Störungen ist Krankheit oft nicht gischen, verhaltensmäßigen oder sozialen Normen
etwas qualitativ anderes als Gesundheit, sondern definiert werden.
eher die extreme Ausprägung einer quantitativen
Dimension: Menschen können je nach ihrer Per-
sönlichkeit beispielsweise mehr oder weniger ängst-
lich sein. Ab einer bestimmten Anzahl und Inten-
sität der Symptome handelt es sich aber nicht mehr
um »normale« Ängstlichkeit, sondern eine »krank-
hafte« Angststörung.
1.1 · Gesundheit und Krankheit
5 1
1.1.4 Biopsychosoziales
Normbegriffe in Bezug auf Krankheit Krankheitsmodell
5 Idealnorm: Ein Sollwert, der wünschens-
wert erscheint (z. B. die WHO-Definition der Der modernen Medizin liegt ein biopsychosoziales
Gesundheit). Krankheitsmodell zugrunde. Damit ist gemeint, dass
5 Funktionale Norm: Zustand, der mit Funk- biologische (z. B. Gene), psychische (z. B. Stress) und
tionsfähigkeit einhergeht. Beispiel: In soziale Faktoren (z. B. Schichtzugehörigkeit) die Ent-
Klassifikationssystemen für psychische Stö- stehung einer Krankheit fördern können, und dass
rungen wird ein Symptom dann als krank- Krankheiten wiederum Auswirkungen auf biologi-
haft bewertet, wenn es die Fähigkeit der scher, psychischer (z. B. Depression) und sozialer
betroffenen Person, ihren Alltag zu bewälti- Ebene (z. B. Erwerbsunfähigkeit) haben können.
gen, beeinträchtigt (. Abschn. 1.3).
5 Statistische Norm: Wenn ein individueller
Wert nur selten, z. B. nur bei 5% der unter- 1.1.5 Begriffsklärungen
suchten Patienten vorkommt, wird er als
pathologisch gewertet. Nachteile: Legt man
dieses 5%-Kriterium zugrunde, hätten alle Zentrale Begriffe bei Entstehung
Krankheiten dieselbe Häufigkeit, nämlich und Verlauf von Krankheiten
maximal 5%. Wenn man nur ausreichend 5 Ätiologie: Krankheitsursachen/Risikofakto-
viele Untersuchungen durchführt, würde ren. Beispiel: Bluthochdruck (Hypertonie) ist
man auch bei Gesunden einen patholo- eine der Krankheitsursachen des Herzinfarkts.
gischen Wert finden, der aber bloßer Zufall 5 Pathogenese: Prozess der Krankheitsent-
sein könnte und keine Krankheit anzeigen stehung. Vereinfachtes Beispiel: Bluthoch-
müsste. druck führt zu Verengung (Atherosklerose)
5 Diagnostische Norm: Ein diagnostischer der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrank-
Test kann normal ausfallen (»negativ«) oder heit). Beim vollständigen Verschluss eines
nicht (»positiv«). Hier wird als Kriterium verengten Herzkranzgefäßes durch ein
angelegt, dass mit einer hohen Wahrschein- Blutgerinnsel (Thrombus) kommt es zum
lichkeit die gesuchte Krankheit vorliegt, Herzinfarkt.
wenn der Test positiv ausfällt. Wie diese 5 Chronifizierung: Übergang in eine chro-
Wahrscheinlichkeit berechnet wird, wird in nische (dauerhafte) Krankheit. Beispiel:
7 Abschn. 3.2 gezeigt. chronische Rückenschmerzen. Im Unter-
5 Therapeutische Norm: Normale Werte schied zu akuten Schmerzen lassen sich bei
erfordern keine Behandlung, nicht normale chronischen Rückenschmerzen meist keine
Werte schon. Blutdruckwerte werden organischen Ursachen finden.
beispielsweise dann nicht mehr als normal 5 Remission: Rückbildung von Krankheits-
bewertet, wenn durch eine Therapie das zeichen. Beispiele: Rückgang der Entzün-
erhöhte Risiko für Folgeerkrankungen wie dungszeichen bei einer chronisch-rezidi-
Herzinfarkt und Schlaganfall vermindert vierenden rheumatischen Erkrankung;
werden kann. Studien zeigten, dass dies Verschwinden eines Tumors nach erfolg-
heute schon bei Werten der Fall ist, die reicher Therapie.
früher noch als normal galten. Die Ober- 5 Rezidiv: Rückfall im Heilungsprozess. Bei-
grenzen für normalen Blutdruck wurden spiele: Wiederauftreten eines Tumors
deshalb in den letzten Jahren immer weiter viele Jahre nach der erfolgreichen Primär-
nach unten verschoben. behandlung; erneuter Herzinfarkt.
6 Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit

> Ein Risikofaktor ist ein Merkmal, dessen Vor- Wodurch Resilienz entsteht, ist noch weitgehend
1 handensein mit einem erhöhten Risiko für ungeklärt. Das Vorhandensein einer zuverlässigen
eine Krankheit einhergeht. Beispiel: Bluthoch- Bezugsperson spielt aber wohl eine wichtige Rolle.
druck ist ein Risikofaktor des Herzinfarkts.
»Risikofaktor« ist der Oberbegriff für »Risiko-
indikator« und »kausaler Risikofaktor«. 1.2 Betroffene Person

Risikoindikator vs. kausaler Risikofaktor Ein Risiko- Lernziele


faktor für eine Erkrankung kann eine Vorhersage Der Leser soll
in Bezug auf das Krankheitsrisiko erlauben, ohne 5 die Kategorien der Körperwahrnehmung
dass er dieses Risiko selbst kausal beeinflussen beschreiben können,
muss. Analog kann ein prognostischer Faktor im 5 die 4 Kerndimensionen der gesundheitsbe-
Krankheitsverlauf die Prognose vorhersagen, ohne zogenen Lebensqualität beschreiben können,
sie kausal zu bestimmen. Beispiel: Alkoholabhän- 5 Auswirkungen subjektiver Krankheitstheorien
gige haben ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs. nennen können.
Alkoholmissbrauch ist also ein Risikofaktor für
Lungenkrebs. Aber es ist nicht der Alkohol, der
Lungenkrebs verursacht. Die Ursache für die Risiko- 1.2.1 Subjektives Befinden
erhöhung ist etwas anderes: Alkoholiker sind oft und Erleben
auch starke Raucher, und Rauchen verursacht
Lungenkrebs. Rauchen ist also ein kausaler Risiko- Wohlbefinden Ein wichtiges Kennzeichen von Ge-
faktor für Lungenkrebs. Dass Alkoholmissbrauch sundheit (health) aus der Sicht der betroffenen Per-
ein Risikofaktor für Lungenkrebs ist, liegt also da- son ist das Wohlbefinden. Sich krank fühlen heißt,
ran, dass Alkoholmissbrauch oft gemeinsam mit sich nicht wohl fühlen. Viele Menschen machen
Rauchen vorkommt. Alkoholmissbrauch ist kein Kranksein (illness) aber zudem an einer Einschrän-
kausaler Risikofaktor: Für sich genommen, also kung ihres Handlungsvermögens fest: Wenn die
ohne die Koppelung mit Rauchen, würde er das Beschwerden so stark sind, dass ich nicht zur Arbeit
Lungenkrebsrisiko nicht erhöhen. Einen Risiko- gehen kann, dann definiere ich mich als krank. Mit
faktor, der nicht kausal ist, aber gleichwohl ein er- einem leichten Schnupfen gehe ich noch in die Uni,
höhtes Risiko anzeigt, nennt man einen Risikoindi- mit Fieber aber nicht mehr. Gesundheit wird damit
kator (marker). als »funktionale Gesundheit« definiert, als Fähig-
keit, Alltagsaktivitäten ausführen zu können (Funk-
> Ein kausaler Risikofaktor trägt ursächlich zu
tionsfähigkeit). Die zunehmende Beeinträchtigung
einem erhöhten Krankheitsrisiko bei. Ein
von Wohlbefinden und Handlungsvermögen vom
Risikoindikator zeigt lediglich ein erhöhtes
Schnupfen über den grippalen Infekt mit Hals- und
Krankheitsrisiko an, hat aber keinen ursäch-
Kopfschmerzen bis zur richtigen Grippe mit hohem
lichen Einfluss auf die Krankheitsentstehung.
Fieber ist ein Beispiel für das Kontinuum von ge-
Protektive Faktoren sind Schutzfaktoren, die mit sund bis krank (7 Abschn. 1.1.1).
einem geringeren Risiko für eine Krankheit einher-
gehen. Beispiel: Körperliche Aktivität und gesunde Symptomwahrnehmung Menschen unterscheiden
Ernährung vermindern das Risiko eines Herz- sich darin, wie leicht sie Störungen ihres Wohlbe-
infarkts. findens wahrnehmen, eine Körperempfindung als
Beschwerdesymptomatik oder Krankheitszeichen
> Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit.
erleben. Hierbei spielen emotionale und kognitive
Resilienz ist ein psychologischer Schutzfaktor,
Einflüsse eine Rolle. Als »Kognitionen« werden
der bewirkt, dass trotz ungünstiger Lebens-
Gedanken im weitesten Sinne bezeichnet: Interpre-
bedingungen keine psychische Störung oder
tationen, Bewertungen, Ursachenvorstellungen etc.
körperliche Erkrankung auftritt.
Erst durch die bewusste Wahrnehmung einer kör-
1.2 · Betroffene Person
7 1
perlichen Empfindung und ihre Interpretation als 1.2.2 Körperwahrnehmung
mögliches Zeichen einer Krankheit entsteht für die
betroffene Person ein Anlass, zum Arzt zu gehen. Die Körperwahrnehmung kann danach differen-
Vergleicht man Menschen, die wegen bestimmter ziert werden, worauf sie sich richtet.
körperlicher Beschwerden zum Arzt gegangen sind,
> 5 Interozeption: Wahrnehmung von
mit Menschen, die die gleichen Beschwerden haben,
Vorgängen und Zuständen innerhalb des
aber deswegen keinen Arzt aufsuchten, so finden
eigenen Körpers (Oberbegriff).
sich 2 Unterschiede:
5 Propriozeption: Lage- und Bewegungs-
1. Menschen, die zum Arzt gehen, sind psychisch
wahrnehmung des Körpers im Raum. Die
stärker belastet (ängstlich, depressiv).
Propriozeption erfolgt meist unbewusst.
2. Menschen, die zum Arzt gehen, interpretieren
Sie stellt über Reflexe und unbewusste
ihre Beschwerden häufiger als Anzeichen einer
Ausgleichsbewegungen sicher, dass wir
schweren Krankheit (z. B. Krebs).
bei Änderungen der Körperhaltung nicht
das Gleichgewicht verlieren.
Emotionale (Angst, Depressivität) und kognitive
5 Viszerozeption: Wahrnehmung der inne-
(Krankheitsinterpretation) Einflüsse tragen also
ren Organe. Menschen sind nicht beson-
dazu bei, ob eine Person Symptome wahrnimmt,
ders gut in der Wahrnehmung ihrer inne-
sich als krank erlebt und zum Arzt geht.
ren Körperfunktionen. Beispiel: Subjektiv
Eine Depression geht mit erhöhter Wahrneh-
eingeschätzter und objektiv gemessener
mung körperlicher Beschwerden unterschiedlicher
Blutdruck stimmen nicht überein.
Lokalisation einher. Zugleich interpretieren die
5 Nozizeption: Schmerzwahrnehmung
Betroffenen ihre psychischen Beschwerden wie
(7 Abschn. 2.2.2).
Niedergeschlagenheit, Energiemangel und Verlust
der Lebensfreude oft nicht als Zeichen einer Krank-
heit, die man behandeln kann, sondern stellen an
sich den Anspruch, es alleine zu schaffen. Der Arzt 1.2.3 Subjektive Gesundheit, gesund-
muss den Betroffenen deshalb zunächst vermitteln, heitsbezogene Lebensqualität
dass ihre Beschwerden Ausdruck einer Depression
sind. Unter der gesundheitsbezogenen Lebensqualität
Hypochondrie ist eine psychische Störung, bei wird die subjektive Einschätzung des eigenen Ge-
der die betroffene Person fest davon überzeugt ist, sundheitszustands (subjektive Gesundheit) ver-
an einer bestimmten Krankheit (z. B. Krebs oder standen. Die Verbesserung der Lebensqualität des
AIDS) zu leiden, auch wenn sich dafür keine An- Patienten ist ein wichtiges Ziel der medizinischen
zeichen finden lassen. Behandlung. Deshalb wird die gesundheitsbezo-
Die somatoforme Störung wird in 7 Abschn. gene Lebensqualität zunehmend als Kriterium des
1.3.1 behandelt. Schmerz ist das Paradebeispiel Therapieerfolgs herangezogen, zusätzlich zu bio-
für ein subjektives Symptom, das einem Außen- medizinischen Kriterien wie Normalisierung pa-
stehenden nicht unmittelbar zugänglich ist (7 Ab- thologischer Befunde oder Überlebenszeit. Objek-
schn. 2.2.2). tive Befunde und subjektives Erleben stehen nicht
notwendigerweise in einem engen Zusammenhang.
Umso wichtiger ist es, die subjektive Sicht der be-
troffenen Person zu berücksichtigen.
Dies gilt insbesondere bei chronischen Krank-
heiten, wo das Behandlungsziel meist nicht die Hei-
lung sein kann, sondern der Betroffene lernen muss,
mit seiner Krankheit zu leben. Gerade chronische
Krankheiten bringen eine Reihe von Einschränkun-
gen der Lebensqualität mit sich. Dazu gehören an-
8 Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit

dauernde körperliche Beschwerden (z. B. Fatigue, tig für die Mortalität ist, und zwar auch bei Berück-
1 d. h. chronische Müdigkeit), Einschränkungen sichtigung der medizinischen Prognosefaktoren.
von Alltagsaktivitäten (z. B. Gehen, Treppensteigen, Dies wurde sowohl in der gesunden Allgemeinbevöl-
Heben und Tragen), emotionale Belastungen (De- kerung als auch bei Krebskranken nachgewiesen.
pression, Angst) und verminderte berufliche Leis-
tungsfähigkeit.
1.2.4 Subjektive Krankheitstheorien
> Die gesundheitsbezogene Lebensqualität
setzt sich aus 4 Kerndimensionen zusammen:
Nicht nur der Arzt, der eine Diagnose stellt, auch die
5 körperliche Beschwerden (z. B. Schmerz,
Patienten selbst entwickeln Vorstellungen von ihrer
Fatigue),
Krankheit. Diese Vorstellungen nennt man sub-
5 psychisches Befinden (z. B. Depression,
jektive Krankheitstheorien: subjektiv, weil es sich
Angst),
um persönliche Modelle handelt, im Unterschied zu
5 Funktionsfähigkeit (z. B. Fähigkeit,
den objektiven Modellen der Wissenschaft; Theo-
Treppen zu steigen),
rien, weil sie durchaus komplex sein können, wenn
5 soziale Rollen (z. B. berufliche Leistungs-
auch nicht so widerspruchsfrei und konsistent wie
fähigkeit).
wissenschaftliche Theorien. Oft werden sie vom
Patienten auch nicht direkt ausgesprochen, sind
Messinstrumente Obwohl die Beurteilung des also implizit und müssen vom Arzt erfragt werden.
eigenen Gesundheitszustands etwas sehr Subjek- Auch sind sie von Emotionen sowie den Bedürf-
tives ist, lässt sich das Ergebnis dieser Beurteilung nissen in der jeweiligen Situation beeinflusst und
objektiv erfassen. Es existieren Fragebögen, mit können sich dementsprechend schnell ändern.
denen die Beeinträchtigung der Lebensqualität ge- Subjektive Krankheitstheorien spielen, wie
messen werden kann. Ein internationales Standard- schon weiter oben erwähnt, bei der Interpretation
instrument zur Messung der gesundheitsbezogenen von Beschwerden eine Rolle: »Was bedeutet dieses
Lebensqualität ist die Short Form 36 (SF-36). Der Ziehen im Brustkorb? Könnte es das Anzeichen
SF-36 ist ein generischer (krankheitsübergreifen- eines Herzinfarkts sein?« Sie betreffen aber auch
der) Fragebogen. Er ist so allgemein angelegt, dass noch andere Aspekte.
er bei den unterschiedlichsten Krankheitsbildern
und auch bei Gesunden eingesetzt werden kann.
Daneben gibt es eine große Zahl von krankheits- Komponenten einer subjektiven
spezifischen Fragebögen, die nur jeweils bei einer Krankheitstheorie
bestimmten Krankheit verwendet werden. Wäh- 5 Ursachen: »Woher kommt meine Erkran-
rend generische Fragebögen einen Vergleich der kung?« Die Ursachenzuschreibung wird
Lebensqualität zwischen verschiedenen Krankhei- auch Kausalattribution oder Laienätiologie
ten ermöglichen, sind krankheitsspezifische meist genannt.
detaillierter und genauer auf die konkrete Situation 5 Krankheitsbild: »Woran leide ich eigent-
bei einer bestimmten Krankheit zugeschnitten und lich?« »Welche Symptome gehören zu dieser
deshalb oft besser in der Lage, Veränderungen im Krankheit?«
Verlauf der Krankheit oder der Behandlung ab- 5 Verlauf: »Verläuft diese Krankheit akut oder
zubilden (Änderungssensitivität). chronisch?«
Die vom Patienten beurteilte Lebensqualität 5 Behandlung: »Was wird mir am besten
stimmt nicht unbedingt mit objektiven Indikatoren helfen?«
der Krankheitsschwere überein. Dennoch enthält sie 5 Auswirkungen: »Wird diese Krankheit
wichtige Informationen, die durch medizinische Be- bleibende Schäden hinterlassen?« »Werde
funde nicht ausreichend erfasst werden. Dies kann ich wieder in meinen Beruf zurückkehren
man daran ablesen, dass die subjektive Gesundheits- können?«
einschätzung durch den Betroffenen vorhersagekräf-
1.3 · Medizin als Wissens- und Handlungssystem
9 1
hat er mehrere Informationsquellen zur Verfügung:
Auswirkungen subjektiver Er befragt den Patienten nach seinen Beschwerden
Krankheitstheorien (Exploration) und erhebt die Vorgeschichte der
Obwohl subjektive Krankheitstheorien oft Krankheit (Anamnese; zur Gesprächsführung
nicht mit den wissenschaftlichen Theorien der 7 Abschn. 6.2). Gleichzeitig achtet er auf das Ver-
Medizin übereinstimmen, sind sie dennoch halten des Patienten, beobachtet z. B., ob ein Patient
wichtig für die medizinische Behandlung und mit chronischen Rückenschmerzen den Schmerz
die Arzt-Patient-Beziehung: eher nüchtern oder dramatisch schildert (Verhal-
5 Sie beeinflussen die Mitarbeit bei der Be- tensbeobachtung). Anschließend führt er eine
handlung (Compliance, 7 Abschn. 5.5.2), körperliche Untersuchung durch. Er prüft z. B. bei
weil ein Patient nur dann den Empfeh- einem Rückenschmerzpatienten die Reflexe am
lungen des Arztes folgt, wenn sie auch aus Bein, um festzustellen, ob neurologische Ausfälle
seiner eigenen Sicht plausibel sind. vorhanden sind, die eine gezielte Therapie erfor-
5 Sie beeinflussen das emotionale Befinden. dern. In den meisten Fällen lässt sich eine Diagnose
Beispiel: Krebskranke, die eine psychoso- allein auf der Basis von Befragung, Anamnese-
matische Krankheitstheorie haben und sich erhebung und körperlicher Untersuchung stellen.
selbst eine Mitschuld an der Entstehung Manchmal sind aber weitere Tests (z. B. Labor-
des Tumors zuschreiben, sind depressiver untersuchungen) notwendig. Insbesondere bild-
als diejenigen, die das nicht tun. gebende (z. B. CT (Computertomographie), MRT
5 Sie sagen die berufliche Wiedereingliede- (Magnetresonanztomographie), (PET Positronen-
rung voraus. Die vom Patienten abgegebe- emissionstomographie); 7 Abschn. 3.6.3) und endos-
ne prognostische Einschätzung, ob er nach kopische Verfahren haben in den letzten Jahren eine
Abschluss der Rehabilitation in der Lage immer größere Bedeutung gewonnen, weil sie sehr
sein werde, seine Arbeit wieder aufzuneh- detaillierte Informationen über Organstrukturen
men oder nicht, sagt die tatsächliche und -funktionen liefern.
Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit
am besten vorher, und zwar unabhängig
von der Krankheitsschwere (die ebenfalls 1.3.2 Grundzüge von Klassifikations-
prognostisch bedeutsam ist). systemen

Zur Diagnosestellung benutzt der Arzt ein Klassifi-


kationssystem, in dem alle verfügbaren Diagnosen
1.3 Medizin als Wissens- zusammengestellt sind.
und Handlungssystem
> Die 2 wichtigsten Klassifikationssysteme
sind:
Lernziele
5 ICD-10 (Internationale Klassifikation der
Der Leser soll
Krankheiten, 10. Version; International
5 Merkmale diagnostischer Klassifikationssysteme
Classification of Diseases, herausgegeben
nennen können,
von der WHO),
5 den Begriff Somatisierung definieren können.
5 DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches
Manual Psychischer Störungen, 5. Version;
Diagnostic and Statistical Manual of
1.3.1 Medizinische Befunderhebung
Mental Disorders, herausgegeben von der
und Diagnose
American Psychiatric Association).

Informationsquellen Wenn ein Patient zum ersten Die ICD-10 erfasst in 21 Kapiteln körperliche und
Mal in die Sprechstunde kommt, muss der Arzt psychische (Kapitel F) Krankheiten. Die ICD-10 ist
Befunde erheben und eine Diagnose stellen. Hierfür einachsig. Lediglich Kapitel F hat drei Achsen
10 Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit

(1. Diagnosen; 2. psychosoziale Funktionsfähigkeit; (Leitlinien) existieren, die auf dem aktuellen Stand
1 3. Belastungsfaktoren). Sie ist in Deutschland für der Forschung basieren (evidenzbasierte Medizin,
die Dokumentation von Diagnosen verbindlich. 7 Abschn. 3.8.3). Da sie eine Verschlüsselung (Ko-
Das DSM wurde für psychische Störungen ent- dierung) der Diagnosen erlauben, erleichtern sie
wickelt und wird vor allem in wissenschaftlichen die Dokumentation. Eine klare, eindeutige Dia-
Untersuchungen eingesetzt. Beide Diagnosesys- gnose ist auch für die Kommunikation zwischen
teme stimmen bei der Einteilung psychischer Stö- den in den Behandlungsprozess einbezogenen
rungen allerdings weitgehend überein. Das bis 2013 Ärzten (z. B. Allgemeinarzt und Facharzt) unbe-
gültige DSM-IV war ebenfalls multiaxial angelegt dingt notwendig. Diagnosesysteme müssen jedoch
und erlaubte neben der Diagnose einer psychischen kontinuierlich weiterentwickelt werden, wenn sich
Störung (z. B. Angststörung) auf einer zweiten Dia- neue Ergebnisse der Forschung zeigen. Deshalb
gnoseachse auch die Kodierung einer Persönlich- liegen sie in inzwischen mehrfach revidierten Ver-
keitsstörung (z. B. vermeidend-selbstunsichere Per- sionen vor.
sönlichkeitsstörung). Drei weitere Achsen dienen
der Klassifikation medizinischer Einflussfaktoren
(z. B. Erkrankungen des Kreislaufsystems), psycho- 1.3.3 Konvergenz und Divergenz
sozialer Probleme im Umfeld (z. B. berufliche Pro- von subjektivem Befinden
bleme) sowie des Funktionsniveaus des Patienten und medizinischem Befund
(Leistungsfähigkeit im Alltag). In der aktuell gülti-
gen Version DSM-5 wurde dieses multiaxiale Sys- Subjektives Befinden (illness) und objektiver Be-
tem zugunsten einer einzigen Achse, auf der alle fund (disease) stimmen manchmal nicht überein.
Diagnosen angesiedelt sind, aufgegeben. In Ergän- Beispiel: Menschen mit Bluthochdruck haben meist
zung zu ICD bzw. DSM wird in der medizinischen keine Beschwerden; sie fühlen sich gesund, obwohl
Rehabilitation die ICF (Internationale Klassifikation sie aus medizinischer Sicht krank sind (»gesunde
der Funktionsfähigkeit) eingesetzt, um die Folgen Kranke«). Umgekehrt kann ein Mensch körperliche
einer Krankheit für die Ausübung von Alltagsakti- Beschwerden haben, ohne dass ein pathologischer
vitäten und die Teilhabe an Beruf und Gesellschaft Befund vorliegt (»kranke Gesunde«)
zu beurteilen (7 Abschn. 10.5.1).
> Unter Somatisierung versteht man die An-
gabe körperlicher Beschwerden, für die sich
Operationale, kriterienorientierte Diagnostik In
keine ausreichende körperliche Erklärung
diesen Systemen werden Diagnosen operational de-
finden lässt, die hingegen Ausdruck von psy-
finiert, d. h. es ist sehr genau festgelegt, welche Kri-
chischem Stress sind.
terien erfüllt sein müssen, damit eine Diagnose
vergeben werden kann. Die Kriterien betreffen z. B. Im Vorfeld der Beschwerden findet man bei ge-
die Dauer (z. B. »mindestens 2 Wochen«), Häufig- nauem Nachfragen belastende Lebensereignisse
keit (z. B. »fast jeden Tag«), Intensität (»so stark, oder chronischen psychischen Stress. Infolgedessen
dass Funktionsbereiche im Alltagsleben beeinträch- sind die betroffenen Personen emotional belastet,
tigt sind«) und Anzahl (z. B. »von den folgenden ängstlich oder depressiv. Sie nehmen diese Belas-
8 Symptomen müssen mindestens 5 vorhanden tung jedoch oft nicht bewusst wahr, sondern brin-
sein«) der Symptome. Mit dieser kriterienorientier- gen sie in Form körperlicher Beschwerden zum
ten Diagnostik lässt sich eine bessere Übereinstim- Ausdruck. Dass man unter Stress anfälliger dafür
mung unterschiedlicher Beurteiler (höhere Inter- ist, sich auch körperlich unwohl zu fühlen, ist nor-
rater-Reliabilität) erzielen als mit der traditionellen, mal. Bei manchen Menschen verfestigen sich die
»intuitiven« klinischen Diagnostik. Beschwerden jedoch, und sie sind davon überzeugt,
an einer organischen Krankheit zu leiden, auch
Vorteile von Klassifikationssystemen Klassifika- wenn sich kein organischer Befund finden lässt.
tionssysteme erleichtern die Therapieplanung, in- Dann spricht man von einer Somatisierungsstö-
sofern für viele Diagnosen Therapieempfehlungen rung. Das in der Klinikbox dargestellte Beschwer-
1.3 · Medizin als Wissens- und Handlungssystem
11 1
debild erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine Patienten regelmäßig zum Gespräch einzubestellen
Somatisierungsstörung nach ICD-10: und Schritt für Schritt ein psychosomatisches
1. mindestens 2 Jahre anhaltende multiple und Krankheitsverständnis zu wecken. Auf diese Weise
unterschiedliche körperliche Symptome, können die Patienten einen Zusammenhang zwi-
für die keine ausreichende somatische (orga- schen ihrer Lebenssituation, belastenden Emo-
nische) Erklärung gefunden wurde; tionen und den körperlichen Beschwerden ent-
2. hartnäckige Weigerung, die Versicherung decken. Dabei könnte man etwa folgende Frage
anzunehmen, dass keine körperliche Erklärung stellen: »Manchmal haben Menschen solche Be-
zu finden ist; schwerden oder Probleme, weil sie sich wegen
3. Beeinträchtigung familiärer und sozialer irgendetwas Sorgen machen. Ist in der letzten Zeit
Funktionen durch die Symptome. irgendetwas vorgefallen, was Ihnen Sorgen be-
reitet?« Die Patienten sollten nicht vorschnell an
Die Somatisierungsstörung gehört in die Oberkate- einen Psychotherapeuten verwiesen werden, weil
gorie der somatoformen Störungen. Somatoform sie sich dadurch leicht abgeschoben oder stigma-
werden diese Störungen genannt, weil sie wie eine tisiert fühlen können.
somatische Erkrankung aussehen können, ohne
dass sich aber eine organische Ursache finden lässt. Klinik: Somatisierungsstörung
Im aktuellen DSM-5 wurden die diagnostischen Ka- (somatoforme Störung)
tegorien der somatoformen Störung und der Soma- Eine 28-jährige Sekretärin kommt mit seit mehreren
tisierungsstörung aufgegeben. Für die neue Kate- Wochen bestehenden Oberbauchbeschwerden in
gorie der somatischen Belastungsstörung ist es die Sprechstunde. Sie klagt über Übelkeit, Aufstoßen,
nicht mehr relevant, ob sich für die Beschwerden Völlegefühl und Magenschmerzen. Zeitweise kommen
eine organische Ursache finden lässt oder nicht. auch Blähungen sowie Durchfall und Verstopfung
Vielmehr kommt es darauf an, ob der Betroffene mit im Wechsel hinzu. Anamnestisch berichtet sie über
den belastenden Beschwerden in seinen Gedanken, Herzschmerzen, Herzrasen und anfallsweise Atemnot
Gefühlen und seinem Handeln in unangemessener, vor 2 Jahren. Sie leide auch seit vielen Jahren an Kopf-
übertriebener Weise umgeht, d. h. die Symptome und Rückenschmerzen sowie Menstruationsbeschwer-
als übermäßig ernsthaft und bedrohlich bewertet, den wechselnder Stärke.
starke Krankheitssorgen entwickelt oder exzessiv Die Patientin fühlt sich durch ihre Beschwerden im
viel Zeit und Energie für sie aufwendet. Alltag sehr beeinträchtigt und war schon häufig
Typisch für die Somatisierungsstörung sind arbeitsunfähig. In jüngster Zeit macht sie sich auch
viele und wechselnde Symptome sowie ein chroni- Sorgen, ob hinter den Beschwerden nicht eine schwe-
scher Verlauf mit Arztwechseln und wiederholten re Krankheit steht. Auf Befragen gibt sie an, oft ängst-
Untersuchungen, die keinen organischen Befund lich und niedergeschlagen zu sein. Sie leide darunter,
ergeben. Die Patienten sind in ihrer Lebensqualität dass sie von ihrem Chef nicht die Anerkennung er-
stark beeinträchtigt, häufig arbeitsunfähig und halte, die ihr zustehe. Vor 2 Jahren, als die Herzbe-
werden teilweise frühberentet. Sie tragen aber kein schwerden auftraten, habe sie eine schwere Partner-
erhöhtes Risiko für die Entstehung einer körper- schaftskrise durchlebt, die zur Trennung führte.
lichen Erkrankung. Manchmal findet sich infolge Zusammenhänge zwischen ihrer Lebenssituation und
der vielen Untersuchungen auch einmal per Zu- den Beschwerden weist die Patientin zurück.
fall  ein auffälliger Wert, der die Beschwerden Die körperliche Untersuchung und die sicherheits-
aber nicht wirklich erklären kann. Man muss halber durchgeführte Gastroskopie (Magenspiege-
sich dann davor hüten, den Patienten, die sehr lung) erbringen keinen pathologischen Befund (wie
von einer organischen Verursachung ihrer Be- auch schon entsprechende Untersuchungen in
schwerden überzeugt sind, eine Pseudodiagnose der Vergangenheit). Obwohl der Arzt versucht, der
zu geben, weil dadurch ihre organbezogene sub- Patientin den negativen Befund vorsichtig nahe zu
jektive Krankheitstheorie noch verstärkt würde bringen, reagiert sie ärgerlich und weigert sich, seine
(iatrogene Fixierung). Hilfreich ist es hingegen, die Beruhigung zu akzeptieren.
12 Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit

1.4 Gesellschaft störungen wie die Bulimie werden in jüngster


1 Zeit immer häufiger diagnostiziert. Ob es sich dabei
Lernziele um eine reale Zunahme dieser Störungsbilder
Der Leser soll handelt oder eher um eine größere Aufmerksamkeit
5 die soziale Funktion medizinischer Gutachten bei Betroffenen und Ärzten (»Modekrankheiten«),
kennen, ist noch unklar. Schlank und fit zu sein sind gegen-
5 das Risiko für Stigmatisierung und Diskriminie- wärtig zentrale Idealvorstellungen junger Frauen.
rung psychisch Kranker kennen. Diäten und das Essverhalten nehmen in Zeit-
schriften für Frauen viel Raum ein. Die Mehrzahl
der Schülerinnen hat deshalb schon einmal eine
1.4.1 Soziale Normen und rechtliche Diät ausprobiert. Die Gewichtsabnahme im Rah-
Regelungen men einer Diät stellt aber den wichtigsten Aus-
löser  für eine Essstörung dar. Geschlechtsspe-
Aus soziologischer Sicht ist Kranksein (sickness) zifische Unterschiede bezüglich Gesundheit und
eine Abweichung von der Norm des Gesundseins Krankheit werden ausführlich in 7 Abschn. 4.9.6
(Devianz). Ein Kranker kann die an einen Gesun- behandelt.
den gerichteten Rollenerwartungen nicht erfüllen.
Er ist nicht in der Lage, seine Arbeit auszuüben.
Damit Kranke keine negativen Sanktionen wegen 1.4.2 Stigmatisierung und
dieser Rollenabweichung erfahren, gibt es recht- Diskriminierung psychisch
liche Regelungen, die ihren Zustand legitimieren. Kranker und Behinderter
Hierbei spielen ärztliche Gutachten eine wichtige
Rolle: Wenn ein Mensch akut erkrankt ist, kann Stigmatisierung Das Verhalten von Menschen mit
seine Arbeitsunfähigkeit vom Arzt bescheinigt wer- schweren psychischen Störungen wie einer akuten
den (»Krankschreibung«). Als Kranker muss er Psychose, bei der die Realitätsprüfung außer Kraft
dann nicht zur Arbeit gehen und erhält Lohn- gesetzt ist, wird von vielen Menschen als unbe-
fortzahlung vom Arbeitgeber und später Kranken- rechenbar und bedrohlich erlebt. Wenn ein Kranker
geld von der Krankenkasse (zur Krankenrolle während des akuten Schubs einer paranoid-hallu-
7 Abschn. 5.3). Wenn ein Mensch dauerhaft krank- zinatorischen Schizophrenie Stimmen hört, die sein
heitsbedingt erwerbsunfähig ist, kann er auf der Handeln kommentieren und ihm Befehle erteilen,
Basis eines sozialmedizinischen Gutachtens früh- oder den Wahn entwickelt, vom Geheimdienst ver-
berentet werden. Auch für die Festlegung des folgt zu werden, können seine Handlungen von der
Grades der Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen) im Umgebung oft nicht mehr nachvollzogen werden.
Rahmen der Pflegeversicherung ist ein ärztliches Möglicherweise verkennt er sein Gegenüber als Ge-
Gutachten erforderlich (7 Abschn. 11.2). Ebenso heimagent und greift ihn unvermittelt an. Obwohl es
werden die Kosten für eine medizinische Rehabili- sich bei den bizarren Gewalttaten, über die in den
tationsmaßnahme oder eine Psychotherapie erst Medien berichtet wird, um Einzelfälle handelt und
nach einem ärztlichen Gutachten übernommen. Gewaltverbrechen bei psychisch Kranken nicht
Die ärztliche Beurteilung in einem Gutachten kann wesentlich häufiger vorkommen als bei Gesunden,
für den Patienten also gravierende Folgen haben. verzerren sie doch das Bild des psychisch Kranken in
Der Arzt steht dabei im Spannungsfeld zwischen der Öffentlichkeit. Es wird mit einem negativen
seinem medizinischen Wissen, den Interessen des Stereotyp (Vorurteil) verknüpft. Ein Stigma ist ent-
Patienten und den juristischen und gesellschaft- standen: Psychisch Kranke sind gefährlich! Zwar
lichen Vorgaben. lassen sich solche Gewalttaten oft nicht vorhersehen,
sie wären aber meist zu verhindern, wenn der Be-
Soziokulturelle Bewertungen Gesellschaftliche troffene angemessen psychiatrisch behandelt würde.
Wertvorstellungen beeinflussen auf subtile Weise Die Stigmatisierung betrifft nicht nur die Kran-
Kranksein und Krankheit. Einige Beispiele: Ess- ken selbst, sondern auch die Institutionen, in denen
1.4 · Gesellschaft
13 1
sie behandelt werden. In vielen Filmen werden psy- psychischen Probleme zunächst körperliche Be-
chiatrische Kliniken noch immer wie die Irren- schwerden, was es dem Arzt erschwert, die korrekte
anstalten der Vergangenheit dargestellt, in denen Diagnose zu stellen.
die Kranken verwahrt wurden. Die großen psychia-
i Vertiefen
trischen Landeskrankenhäuser »auf der grünen
Falkai P, Wittchen H-U, mitherausgegeben von
Wiese« haben ihre Bettenzahlen in den letzten Jahr-
Döpfner M, Gaebel W, Maier W, Rief W, Saß H,
zehnten jedoch drastisch reduziert und umfang-
Zaudig M (2015) Diagnostisches und Statis-
reiche therapeutische Angebote eingeführt. Insbe-
tisches Manual Psychischer Störungen DSM-5.
sondere die medikamentöse Therapie (Neurolep-
Hogrefe, Göttingen (wichtiges Klassifikations-
tika), mit der psychotische Symptome wie Wahn
system für psychische Störungen mit guten Kurz-
und Halluzinationen unterdrückt werden können,
beschreibungen der Krankheitsbilder)
hat die Abkehr von der Verwahrpsychiatrie ermög-
Kraemer HC, Lowe KK, Kupfer DJ (2005) To your
licht. Hinzu kommen neuere Ansätze wie wohn-
health: How to understand what research tells
ortnahe ambulante Therapieangebote, betreute
us about risk. Oxford University Press, New
Wohngemeinschaften, Tageskliniken und psychiat-
York (erklärt auf verständliche Weise das Risiko-
rische Abteilungen an allgemeinen Krankenhäu-
faktorenmodell)
sern, die der Stigmatisierung psychisch Kranker
Myrtek M (1998) Gesunde Kranke – kranke
entgegenzuwirken versuchen. Sogenannte Aware-
Gesunde. Psychophysiologie des Krankheits-
ness- oder Antistigma-Programme, wie z. B. das
verhaltens. Bern, Huber (Einführung in die
Kompetenznetz Schizophrenie oder das Kompe-
Konzepte Krankheitsverhalten, Somatisierung,
tenznetz Depression (7 Abschn. 11.1.3) versuchen,
Interozeption)
durch Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein für
eine psychische Krankheit in der Allgemeinbe-
völkerung zu fördern und Vorurteilen entgegenzu-
wirken.
Doch auch körperliche Krankheiten können ein
Stigmatisierungspotenzial besitzen. Die gilt z. B. für
die Diagnose Krebs, die oft noch als gleichbedeu-
tend mit Siechtum und Tod wahrgenommen wird,
was meist nicht stimmt, oder für multiple Sklerose,
die schwere Behinderungen zur Folge haben kann.
Bei Krebs hat sich die Situation in den letzten Jahren
allerdings etwas gewandelt, insbesondere auch weil
Prominente oder Popstars ihre Krebserkrankung
öffentlich gemacht und ihre Karriere trotzdem fort-
gesetzt haben.

Diskriminierung Psychisch Kranke, aber auch kör-


perlich Behinderte (7 Abschn. 10.6.2) stoßen noch
immer auf gesellschaftliche Ablehnung und Be-
nachteiligung. Sie können Schwierigkeiten haben,
einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden.
In milderer Form kommen Stigmatisierung und
Diskriminierung auch bei einer Depression vor, die
einen Gesunden nicht so fremdartig anmutet wie
eine Psychose. Aus Angst vor Stigmatisierung wen-
den sich die Betroffenen zu spät an einen Arzt oder
Psychotherapeuten, oder sie präsentieren statt ihrer
15 2

Gesundheits-
und Krankheitsmodelle
H. Faller, H. Lang

2.1 Verhaltensmodelle – 16
H. Faller
2.1.1 Lerntheoretische und kognitionstheoretische Grundlagen – 16
2.1.2 Verhaltensanalytisches Genesemodell – 20
2.1.3 Verhaltensmedizinische Ansätze – 21
2.1.4 Verhaltensgenetik – 22

2.2 Psychobiologische Modelle – 24


H. Faller
2.2.1 Emotion, Stress und Krankheit – 25
2.2.2 Schmerz – 28

2.3 Psychodynamische Modelle – 32


H. Faller, H. Lang
2.3.1 Psychoanalytische Entwicklungspsychologie – 32
2.3.2 Traditionelle Stadien der psychosexuellen Entwicklung – 34
2.3.3 Drei-Instanzen-Modell, Triebmodell – 36
2.3.4 Trieb-, Ich-, Selbst- und Objekt-psychologische Modelle – 37
2.3.5 Abwehrmechanismen – 37
2.3.6 Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn – 40
2.3.7 Struktur und Konflikt – 40

2.4 Sozialpsychologische Modelle – 41


H. Faller
2.4.1 Psychosoziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit – 41
2.4.2 Psychische Risiko- und Schutzfaktoren – 42
2.4.3 Soziale Unterstützung – 44

2.5 Soziologische Modelle – 46


H. Faller
2.5.1 Einflüsse der gesellschaftlichen Opportunitätsstruktur – 46
2.5.2 Einflüsse ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren – 47

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
16 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche ren für die Entstehung von Herzkrankheiten und
theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit Krebs. Das Verhalten eines Menschen, der schon an
vorgestellt: Verhaltensmodelle, psychobiologische einer Krankheit leidet, wird als Krankheitsver-
2 Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsycho- halten bezeichnet. Ein Beispiel für ein günstiges
logische Modelle und soziologische Modelle. Diese Krankheitsverhalten ist die Mitarbeit bei der medi-
Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergan- zinischen Therapie, z. B. regelmäßige Medikamen-
genheit und zum Teil auch heute noch vorherrschen- teneinnahme (Compliance, 7 Abschn. 5.5.2). Aus
de Zersplitterung der Wissenschaft. Sie ist aber nur den Verhaltensmodellen, die im Folgenden vor-
noch aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen. gestellt werden, lassen sich Strategien ableiten, wie
Gesundheit und Krankheit sind so komplexe Phäno- man das Gesundheits- und Krankheitsverhalten in
mene, dass es nicht angemessen ist, sie nur unter eine günstige Richtung lenken kann.
dem Blickwinkel eines einzelnen Modells zu be-
trachten. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspek-
tiven werden heutzutage in zunehmendem Maße 2.1.1 Lerntheoretische und kognitions-
miteinander verknüpft. In Studien, die sich auf dem theoretische Grundlagen
aktuellen Stand der Wissenschaft befinden, werden
biologische und psychologische Einflüsse gleich- Verhaltensmodelle basieren auf der Lerntheorie.
zeitig analysiert. Dies geschieht z. B. in verhaltens- Zunächst dominierte hier der Behaviorismus, der
genetischen Untersuchungen, in denen sowohl die nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand der
Gene als auch elterliches Verhalten erfasst werden, Psychologie akzeptierte und die Betrachtung von
um das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt inneren Prozessen (Introspektion) als unwissen-
bei der Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären. schaftlich ablehnte. Die menschliche Psyche wurde
als »Black Box« betrachtet, in die man nicht hinein-
sehen kann. Verhalten wurde allein durch Umwelt-
2.1 Verhaltensmodelle bedingungen zu erklären versucht. Während diese
radikale Perspektive damals einen Fortschritt ge-
H. Faller genüber einer rein spekulativen Psychologie dar-
stellte und viele (tier-)experimentelle Untersu-
Lernziele chungen anregte, schoss sie doch über das Ziel
Der Leser soll hinaus und schränkte die Erkenntnismöglichkeiten
5 das respondente, operante und kognitive der Psychologie unnötig ein. In der 2. Hälfte des
Lernmodell beschreiben können, 20. Jahrhunderts hat deshalb die »kognitive
5 das SORKC-Modell der Verhaltensanalyse Wende« stattgefunden. Kognitionen, d. h. Gedan-
beschreiben können, ken, Bewertungen, Erwartungen, Ziele etc., werden
5 Gen-Umwelt-Interaktion und Gen-Umwelt- heute als wichtige verhaltenssteuernde Faktoren
Korrelation unterscheiden können. angesehen. Die Lerntheorie hat gerade den weiteren
Schritt vollzogen, auch unbewusste Lernprozesse
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige anzuerkennen, so dass möglicherweise in nicht all-
Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von zu ferner Zukunft lerntheoretische und psychody-
Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich namische Modelle miteinander kombiniert werden
auf die menschliche Gesundheit auswirken, werden können.
Gesundheitsverhalten genannt. Ein Beispiel für In diesem Abschnitt werden die Lerntheorien
ein günstiges Gesundheitsverhalten ist körperliche kurz im Überblick dargestellt. Ergänzungen folgen
Aktivität. Sie schützt vor der Entstehung von Herz- in 7 Abschn. 4.2.
erkrankungen und Krebs. Beispiele für ungünstiges,
riskantes Gesundheitsverhalten sind Zigaretten-
rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungs-
mangel. Diese Verhaltensweisen sind Risikofakto-
2.1 · Verhaltensmodelle
17 2
> Die Lerntheorien werden unterschieden in tionierter Reiz (CS, z. B. Glocke). Nach mehr-
5 respondentes Modell (klassische Kondi- facher Präsentation des CS kurz vor dem UCS
tionierung), ist auch der CS in der Lage, eine Reaktion (kon-
5 operantes Modell (operante Kondi- ditionierte Reaktion, z. B. Speichel) auszulösen.
tionierung),
5 kognitives Modell (Lernen durch Eigen- Evolutionärer Sinn Bei der klassischen Konditio-
steuerung, Lernen durch Einsicht). nierung wird eine Assoziation zwischen UCS und
CS gelernt. Das Individuum entwickelt die Erwar-
Respondentes Modell Das respondente Modell tung, dass nach dem CS der UCS eintreten wird.
betrifft Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst Klassische Konditionierung ermöglicht dem Orga-
wird: Das Verhalten stellt die Antwort (response) auf nismus eine sinnvolle Repräsentation seiner Um-
den Reiz dar, daher der Name respondent. Synonym welt. Er bildet stabile Erwartungen aus, z. B. da-
ist der Begriff klassische Konditionierung. Be- rüber, an welcher Stelle (CS) Nahrung (UCS) zu
gründer dieses Modells ist der russische Physiologe finden ist oder aber ein Feind lauert (UCS), dem er
Iwan Pawlow. Im Rahmen seiner Experimente zum besser nicht begegnet. Wenn auf Dauer der UCS
Speichelfluss bei Hunden stellte er eher beiläufig nicht mehr auf den CS folgt, also diese Erwartung
fest, dass bei den Versuchstieren schon dann Spei- nicht mehr gerechtfertigt ist, wird die kondi-
chelfluss auftrat, wenn sie den Raum betraten, in tionierte  Reaktion wieder gelöscht (Extinktion).
dem sie üblicherweise gefüttert wurden, oder den Dabei verschwindet die Verbindung von UCS
Tierpfleger sahen, der ihnen das Futter brachte, und CS aber nicht völlig, sondern wird lediglich
oder ihn auch nur kommen hörten. Der Klang sei- gehemmt. Löschung bedeutet also das Lernen
ner Schritte war zu einem Signal dafür geworden, einer Hemmung. Gelöschte Reaktionen können
dass es bald Futter gab. Pawlow führte eine Serie nämlich später wieder erneut auftreten (spontane
von Experimenten durch, in denen als Signalreiz Erholung).
beispielsweise ein Glockenton verwandt wurde: Re-
gelmäßig kurz vor der Fütterung wurde eine Glocke Entstehung einer Phobie Berühmt geworden ist
geläutet. Nach einigen Versuchsdurchgängen löste ein (aus heutiger Sicht ethisch fragwürdiges)
alleine der Glockenton Speichelfluss aus. Experiment des amerikanischen Begründers des
Grundlage der klassischen Konditionierung ist Behaviorismus John B. Watson aus dem Jahr 1920:
ein angeborener Reflex. Dieser besteht aus einem Einem kleinen Jungen (»der kleine Albert«) wurde
unkonditionierten Reiz (unconditioned stimulus, eine Ratte gezeigt. Immer wenn er seine Hand nach
UCS) und einer unkonditionierten Reaktion (UCR): ihr ausstreckte, schlugen die Experimentatoren
Futter (UCS) löst Speichel (UCR) aus. Nimmt hinter seinem Rücken auf eine Eisenstange und er-
man nun einen neutralen Reiz wie einen Glockenton zeugten dadurch lauten Lärm. Albert zuckte zurück
(der zunächst nur eine Orientierungsreaktion, z. B. und weinte. Nach 5 Durchgängen genügte schon
ein neugieriges Ohrenaufstellen, provoziert) und der Anblick der Ratte, Angst auszulösen, ohne dass
setzt ihn mehrfach kurz vor der Futtergabe ein erneut Lärm gemacht werden musste. Lärm ist für
(Koppelung mit dem UCS), so wird der neutrale Kinder ein unkonditionierter Angstreiz. Durch die
Reiz zum konditionierten Reiz (CS). Er wirkt wie Koppelung mit der Ratte wurde eine konditionierte
ein Signal für den darauf folgenden UCS und ist Angstreaktion auf die Ratte erzeugt: Eine Ratten-
schließlich auch alleine in der Lage, Speichelfluss phobie war entstanden. Um die Reaktion wieder
auszulösen, selbst wenn danach gar kein Futter ge- zu löschen, hätte der kleine Albert mit der Ratte
geben wird. Eine konditionierte Reaktion (CR) ist konfrontiert werden müssen, ohne Lärm erschallen
entstanden. zu lassen, so dass er die Erfahrung hätte machen
können, dass beim Anblick der Ratte nichts Schlim-
> Bei der klassischen Konditionierung werden mes passiert.
2 Reize miteinander verknüpft, ein unkondi- Versuche anderer Forscher, in den folgenden
tionierter Reiz (UCS, z. B. Futter) und ein kondi- Jahren diese Studie zu wiederholen, schlugen aller-
18 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

dings fehl. Heute wird die klassische Konditio- wenn auch bisher nur im Tierexperiment unter-
nierung eines zuvor neutralen Reizes deshalb von sucht, ist auch Konditionierung einzusetzen, um
manchen Forschern nicht mehr als notwendige Ent- die Abstoßungsreaktion gegenüber Transplantaten
2 stehungsbedingung einer Phobie betrachtet. Die abzuschwächen oder Autoimmunerkrankungen
meisten Menschen, die eine Phobie entwickeln, wie die rheumatoide Arthritis günstig zu beein-
haben keine traumatischen Erfahrungen mit dem flussen.
Objekt ihrer Furcht gemacht. Was als Furchtobjekt
ausgewählt wird, hängt vielmehr von einer biolo- Klinik: Konditionierung bei Chemotherapie
gischen Bereitschaft des Reizes ab (preparedness). Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes
Dadurch erklärt sich, dass es zwar viele Menschen Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten.
mit Schlangenphobie, aber nur wenige mit Steck- Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab.
dosenphobie gibt: Vor Schlangen Angst zu entwi- Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren
ckeln, erhöhte während der Evolution die Über- eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben,
lebenschancen. Steckdosen, von denen in unserer sondern auch als zusätzliche (adjuvante) Maßnahme,
Umgebung für Kinder viel größere Gefahr ausgeht, z. B. nach einer Operation bei Brustkrebs, um die
gibt es noch nicht lange genug, als dass sie evolu- Gefahr eines Rezidivs zu verringern. Meist erfolgt die
tionäre Folgen hinterlassen konnten. Watson hat in Chemotherapie in mehreren Zyklen, zwischen denen
seinem Experiment mit dem kleinen Albert un- die Patienten nach Hause entlassen werden. Viele
absichtlich einen biologisch vorbereiteten Reiz als gebräuchliche Zytostatika haben als Nebenwirkung
CS gewählt (ein kleines behaartes Tier). Möglicher- starke Übelkeit, die direkt im Gehirn ausgelöst wird.
weise sind die Replikationsversuche deshalb fehl- Chemotherapeutisch behandelte Patienten ent-
geschlagen, weil die Forscher andere, biologisch wickeln diese Übelkeit im Laufe der Zeit manchmal
sinnlose Reize als CS auswählten. schon beim Anblick der Klinik oder dem Geruch der
Station, wenn sie zu einem erneuten Zyklus auf-
Immunkonditionierung Zytostatika beeinträch- genommen werden. Selbst die Farbe der Zytostatika-
tigen die Immunabwehr (deshalb werden sie auch lösung oder die Erwartung (Antizipation), am
bei Transplantationen eingesetzt, um Abstoßungs- nächsten Tag wieder in die Klinik gehen zu müssen,
reaktionen zu verhindern). Ganz analog zur kon- können Übelkeit auslösen. Diese antizipatorische
ditionierten Übelkeit (7 Klinikbox) hat man bei Übelkeit lässt sich mit der klassischen Konditionie-
Chemotherapiepatienten auch eine konditionierte rung erklären: All diejenigen Bedingungen, die wäh-
Abschwächung der Immunabwehr festgestellt. rend der Chemotherapie zugegen waren, können
Immunkonditionierung wurde experimentell in zum konditionierten Stimulus werden. Mittels Ent-
Tierversuchen ausführlich untersucht: Ratten, die spannungsverfahren (7 Abschn. 8.2.5) lässt sich die
zunächst ein Zytostatikum gemeinsam mit einer konditionierte Übelkeit abmildern.
Zuckerlösung zugeführt bekamen, zeigten nach
mehrfacher Koppelung schließlich auch allein auf Operantes Modell Das Modell der operanten
die Gabe der Zuckerlösung eine Verminderung Konditionierung wurde von dem amerikanischen
von Immunzellen. In einem Experiment mit Men- Psychologen Burrhus F. Skinner begründet. Er un-
schen hat man die klassische Konditionierung tersuchte die Konsequenzen, die auf ein Verhalten
genutzt, um die Immunabwehr zu stärken. Die folgen, also von diesem bewirkt werden (daher der
Versuchspersonen erhielten Adrenalin, das einen Name: operantes Verhalten), und stellte fest, dass
kurzfristigen Anstieg der Immunabwehr bewirkt, die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt (Ver-
gemeinsam mit einem Brausebonbon. Nach mehr- stärkung), wenn auf das Verhalten eine angenehme
maliger gekoppelter Gabe war auch das Brause- Konsequenz folgt. Tauben, Skinners Versuchstiere,
bonbon für sich genommen in der Lage, den Effekt pickten auf eine Scheibe, oder Ratten drückten
auszulösen. Allerdings war der Effekt nicht sehr einen Hebel, wenn sie danach eine Futterpille er-
groß und nur kurzfristig vorhanden, so dass unklar hielten. Sie lernten aber auch, einem unangeneh-
bleibt, ob er klinisch von Bedeutung ist. Denkbar, men Elektroschock zu entgehen, indem sie einen
2.1 · Verhaltensmodelle
19 2
Hebel drückten oder den Käfig wechselten. Die
Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt also Typische Symptome einer Depression
nicht nur, wenn es durch eine angenehme Konse- 5 Niedergeschlagene Stimmung
quenz belohnt wird (positive Verstärkung), son- 5 Verlust von Antrieb und Energie
dern auch dann, wenn dadurch etwas Unange- 5 Verlust von Lebensfreude und Interessen
nehmes beseitigt wird (negative Verstärkung). 5 Körperliche Beschwerden: Konzentrations-
Negative Verstärkung muss von Bestrafung unter- störung, motorische Hemmung, Müdigkeit,
schieden werden. Bestrafung verringert die Wahr- Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Gewichts-
scheinlichkeit eines Verhaltens, negative Verstär- abnahme, Schmerzen unterschiedlicher
kung erhöht sie. Lokalisation
Im Modell der operanten Konditionierung 5 Kognitive Symptome: negatives Bild
steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, von sich selbst, der Welt und der Zukunft
wenn diesem eine angenehme Konsequenz folgt (kognitive Triade), Pessimismus, Sinn-
(positive Verstärkung) oder wenn durch das Ver- losigkeitsgefühle, Schuldgefühle, Selbst-
halten eine unangenehme Konsequenz vermieden mordgedanken (Suizidalität)
wird (negative Verstärkung).

Vermeidungsverhalten Negative Verstärkung spielt Welche davon finden Sie im Fallbeispiel in der Kli-
bei der Aufrechterhaltung einer Phobie eine wich- nikbox?
tige Rolle. Eine Person, die an einer Agoraphobie
(Angst vor öffentlichen Plätzen) leidet, befürchtet Klinik: Depression
z. B., dass sie auf der Straße ohnmächtig werden Ein 20-jähriger Student kommt in die Sprechstunde.
könnte. Sie verlässt deshalb ihr Haus nicht mehr Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Stuhl, den Blick
ohne Begleitung. Dieses Vermeidungsverhalten zum Boden gerichtet, und spricht mit leiser, mono-
führt dazu, dass sie die Angst nicht mehr spürt toner Stimme: »Ich bin völlig niedergeschlagen und
(eine unangenehme Konsequenz bleibt aus), und ohne Energie. Nichts macht mir mehr Freude. Sogar
wird dadurch aufrechterhalten (negative Ver- mich mit meinen Freunden zu treffen, habe ich keine
stärkung). Der Preis, den sie dafür zahlt, ist aber Lust mehr. Morgens ist es am Schlimmsten: Der Tag
eine starke Einengung ihres Bewegungsspielraums. kommt mir dann wie ein riesiger Berg vor, den ich
Um die Angst zu löschen, wäre es erforderlich, nicht bewältigen kann. Schon der Gedanke, aufzu-
dass sie sich der angstauslösenden Situation aus- stehen und mich anzuziehen, ist mir zu viel. Am
setzt  (Reizkonfrontation, Exposition), so dass sie liebsten würde ich im Bett bleiben. Ich fühle mich als
die Erfahrung machen kann, dass das befürchtete völliger Versager. Manchmal hatte ich auch schon
Ereignis, ohnmächtig zu werden, gar nicht eintritt den Gedanken, gar nicht mehr auf der Welt sein
(7 Abschn. 8.2.2). Auch beim Schmerzverhalten zu wollen. Alles ist grau in grau, und nichts wird sich
spielt negative Verstärkung eine Rolle: Schmerz- jemals daran ändern.«
kranke nehmen Medikamente oder schonen sich,
weil dann der Schmerz nachlässt. Kognitive Verhaltenstherapie Das kognitive Modell
nimmt an, dass irrationale, automatisch ablaufende
> Vermeidungsverhalten wird durch negative
Gedanken die depressive Stimmung aufrechterhal-
Verstärkung aufrechterhalten.
ten. Daraus folgt, dass man in der Psychotherapie
diese Gedanken verändern muss.
Kognitives Modell Das kognitive Modell schreibt
Kognitionen (Gedanken, d. h. Bewertungen, Inter-
pretationen, Erwartungen, Ziele etc.) eine große
Bedeutung für die Erklärung des Verhaltens zu.
Kognitionen spielen bei der Depression eine wich-
tige Rolle.
20 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

am besten, man zieht sich zurück. Hilfe kann man


Komponenten der kognitiven sowieso keine erwarten.«). Wenn eine derartige
Verhaltenstherapie einer Depression Prädisposition besteht, ist das Risiko erhöht, unter
2 (7 Abschn. 8.2.2) belastenden Lebensbedingungen mit einer Depres-
5 Infragestellung verzerrter, irrationaler sion zu reagieren. Diese Hintergrundbedingungen
Kognitionen (z. B. »Ich werde es nie werden in der vertikalen Verhaltensanalyse er-
schaffen, eine Freundin zu finden.«) im fasst, in Ergänzung zur horizontalen Verhaltens-
Dialog zwischen Patient und Therapeut analyse, die die aktuell wirksamen aufrechterhal-
(sokratischer Dialog). tenden Bedingungen beschreibt.
5 Schrittweiser Aufbau angenehmer Akti-
vitäten, um den Verstärkerverlust zu SORKC-Modell Für die horizontale Verhaltens-
kompensieren (z. B. Anregung, wieder ein- analyse benutzt man das SORKC-Modell (Verhal-
mal auszugehen). tensgleichung). Das Wort SORKC setzt sich aus den
5 Training sozialer Kompetenzen im Rollen- Anfangsbuchstaben von Stimulus (S), Organismus
spiel (z. B. Wie spreche ich jemanden an, der (O), Reaktion (R), Kontingenz (K) und Konsequenz
mir gefällt?). (C) zusammen. Auf diesen 5 Ebenen werden das
problematische Verhalten und die Bedingungen, die
es steuern, beschrieben. Als Beispiel soll ein Patient
mit chronischen Rückenschmerzen dienen:
2.1.2 Verhaltensanalytisches
Genesemodell
SORKC-Modell der Verhaltensanalyse
Entstehung und Aufrechterhaltung In einer Ver- 5 Stimulus (S): Die Schmerzen treten immer
haltensanalyse werden diejenigen Bedingungen be- dann auf, wenn der Patient eine Aus-
schrieben, die für die Entstehung und Aufrecht- einandersetzung mit einem Arbeitskollegen
erhaltung eines Verhaltens verantwortlich sind. hat (auslösender Reiz). Besonders stark
Psychische Probleme wie z. B. eine Depression wer- werden die Schmerzen erlebt, wenn seine
den dabei als depressives Verhalten aufgefasst. Ehefrau anwesend ist (diskriminativer
Rückzug von anderen Menschen ist ein Beispiel für Reiz, SD).
ein bei depressiven Menschen häufig auftretendes 5 Organismus (O): Die Rückenschmerzen
Verhalten. Diejenigen Faktoren, die bei der Ent- treten vor allem dann auf, wenn der Patient
stehung des depressiven Verhaltens eine Rolle schon vorher innerlich angespannt ist,
spielten, müssen nun nicht unbedingt dieselben was sich auch in einer Muskelverspannung
sein wie diejenigen, die aktuell dafür sorgen, dass äußert. Die Schmerzen werden durch
das Verhalten aufrechterhalten wird. Für die Ent- katastrophisierende Gedanken gefördert
stehung kann beispielsweise ein Verlusterlebnis wie (»Meine Beschwerden werden immer
die Trennung vom Beziehungspartner verantwort- schlimmer! Gegen meinen Kollegen komme
lich  sein. Für die gegenwärtige Aufrechterhaltung ich niemals an! Schlussendlich verliere ich
spielen aber möglicherweise rückzugsförderliche noch meinen Arbeitsplatz!«). Nicht nur
Kognitionen (»Es wird mir sowieso keine Freude körperliche, sondern auch kognitive Einflüs-
machen, neue Kontakte aufzunehmen.«) eine Rolle. se werden zu den Organismusvariablen ge-
Zusätzlich können noch Bedingungen unter- rechnet.
schieden werden, die dazu beitragen, dass ein Indi- 5 Reaktion (R): Unter Reaktion wird die
viduum besonders anfällig dafür ist, eine Depres- Schmerzsymptomatik selbst beschrieben,
sion zu entwickeln, wie genetische Faktoren oder und zwar auf sensorischer, vegetativer,
die individuelle Lerngeschichte, die sich in be- emotionaler, kognitiver und motorischer
stimmten Einstellungen und Wertvorstellungen Ebene (7 Abschn. 2.2.2).
niederschlägt (»Wenn es einem schlecht geht, ist es
2.1 · Verhaltensmodelle
21 2

5 Kontingenz (K): Unter Kontingenz versteht


man das Koppelungsverhältnis von Reak-
tion und Konsequenz. Die Ehefrau tröstet
den Patienten jedes Mal, wenn er seine
Schmerzen äußert (kontinuierliche Verstär-
kung). Der Hausarzt schreibt ihn jedoch
nicht immer krank (intermittierende Ver-
stärkung).
5 Konsequenz (C): Wenn der Patient seine
Schmerzen seiner Frau gegenüber zum
Ausdruck bringt, tröstet sie ihn (positive
Konsequenz). Sein Arzt schreibt ihn krank,
so dass er nicht zur Arbeit gehen muss und
dadurch auch nicht mit dem schwierigen
Kollegen konfrontiert wird (Wegfall einer
negativen Konsequenz). Kurzfristig hat der
Schmerz für den Patienten also angenehme
Konsequenzen. Langfristig aber führt die
. Abb. 2.1 Teufelskreis der Angst
körperliche Schonung zu einem Verlust
an Fitness, die ihn schmerzanfälliger macht.

Panikpatienten nehmen ihre Körperempfindun-


Das SORKC-Modell ist ein einfaches Schema, das gen besonders stark war, »bemerken« z. B. einen
der ersten Orientierung dienen kann. In der moder- starken Pulsanstieg, auch wenn der Puls objektiv
nen Verhaltenstherapie bezieht man auch komple- nur wenig schneller ist, und interpretieren die Emp-
xere Wechselwirkungen und Rückkopplungen ein, findung in übertriebener Weise als bedrohlich. Es
die über das lineare SORKC-Modell hinausgehen. kommt dann zu einem Teufelskreis, in dem sich
kognitive Faktoren (Interpretation von Körper-
Entstehung einer Panikstörung Eine Panikstörung empfindungen als bedrohlich) und physiologische
ist durch plötzliche, auf den ersten Blick ohne Faktoren (Herzklopfen als körperliche Begleit-
äußeren Anlass auftretende Angstanfälle (Panik- erscheinung der Angst) gegenseitig aufschaukeln
attacke) gekennzeichnet. Die Anfälle gehen mit (. Abb. 2.1). Die physiologische Erregung nennt
sehr intensiv erlebten körperlichen Beschwerden man Aktivierung (7 Abschn. 4.1.7).
einher: Herzklopfen oder Herzrasen, Schwindel
oder Benommenheit, Atemnot, aber auch Schweiß-
ausbrüche, Brustschmerzen, Übelkeit, Zittern, Hit- 2.1.3 Verhaltensmedizinische Ansätze
ze- und Kältegefühl, Taubheitsgefühle u. a. Die
Betroffenen befürchten, ohnmächtig oder hilflos Verhaltensmedizin ist die Anwendung der Verhal-
zu werden oder gar zu sterben. Auch zwischen den tenstherapie in der Medizin. Verhaltenstherapie ist
Anfällen sind sie ständig in Sorge vor neuen An- diejenige Psychotherapieform, die auf den Lern-
fällen (»Angst vor der Angst«) und deren Folgen. theorien beruht (7 Abschn. 8.2.2). Sie analysiert die
Sie befürchten z. B. infolge der Angst einen Herz- funktionellen Zusammenhänge eines Verhaltens
infarkt zu erleiden. Wenn die Anfälle schon einmal mit den unmittelbar vorausgehenden und nachfol-
in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, versuchen sie, genden Bedingungen, also den auslösenden Reizen
diese Orte zu vermeiden. Dann liegt zusätzlich zur und den Konsequenzen (SORKC-Modell). Die ko-
Panikstörung eine Agoraphobie (Angst vor öffent- gnitive Verhaltenstherapie der Depression wurde
lichen Plätzen) vor. oben beschrieben.
22 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

2.1.4 Verhaltensgenetik
Komponenten der kognitiven
Verhaltenstherapie bei Panikstörung Die Verhaltensgenetik untersucht genetische Ein-
2 5 Informationsvermittlung: Gemeinsam flüsse auf das Verhalten. Dabei benutzt sie Korrela-
mit dem Patienten wird herausgearbeitet, tionen zwischen Personen unterschiedlichen Ver-
welche Rolle seine Wahrnehmungen und wandtschaftsgrads und damit unterschiedlicher
Kognitionen beim Angstanfall spielen. genetischer Ähnlichkeit (z. B. sind eineiige Zwillinge
Das Teufelskreismodell von . Abb. 2.1 wird 100 % genetisch ähnlich, zweieiige Zwillinge/Ge-
auf diese Weise individuell auf den Patien- schwister 50 %, Adoptivgeschwister 0 %). Eine Zwil-
ten zugeschnitten. lingsstudie erlaubt es, aus der größeren psychischen
5 Kognitive Therapie: Der Patient lernt im Ähnlichkeit eineiiger im Vergleich zu zweieiigen
Dialog mit dem Therapeuten, seine Fehl- Zwillingen die Erblichkeit zu schätzen. Besonders
interpretationen körperlicher Empfin- interessant sind auch Korrelationen zwischen ge-
dungen als Anzeichen einer bedrohlichen trennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, deren
Krankheit infrage zu stellen und aufzu- Ähnlichkeit nicht auf gemeinsame Umwelterfah-
geben. rungen zurückgehen kann. Getrennt aufgewachsene
5 Konfrontation mit angstauslösenden Zwillinge korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen
Reizen: Durch »Verhaltensexperimente«, genauso hoch miteinander wie gemeinsam aufge-
wie z. B. schnelles Treppensteigen oder ab- wachsene, was für eine geringe Bedeutung der ge-
sichtliches Hyperventilieren, setzen sich meinsamen Umwelt spricht.
die Patienten den körperlichen Symptomen In einer Adoptionsstudie vergleicht man die
(Herzklopfen, Atemnot) aus und machen Ähnlichkeit von leiblichen und Adoptivgeschwis-
damit die Erfahrung, dass nichts Schlimmes tern, die in derselben Umwelt aufgewachsen, gene-
dabei passiert. tisch einander aber nicht ähnlich sind. Adoptivge-
schwister korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen
nicht miteinander, wohl aber mit ihren biologischen
Stressmanagement Kognitive Faktoren spielen Eltern, was ebenfalls für die geringe Bedeutung der
auch bei der Stressbewältigung eine wichtige Rolle. gemeinsamen Umwelt spricht.
In Programmen zum Stressmanagement lernen die Die besten Schätzungen der einzelnen Anteile
Patienten, dysfunktionale automatische Gedanken, von Anlage und Umwelt erbringen Kombinations-
die die Belastung noch vergrößern (»Niemals werde studien, in denen Menschen unterschiedlicher ge-
ich das schaffen!«), infrage zu stellen und durch för- netischer Ähnlichkeit und unterschiedlicher Um-
derliche Selbstinstruktionen zu ersetzen (kognitive welt gemeinsam analysiert werden.
Umstrukturierung). Anstatt zu denken »Die Er-
eignisse überschwemmen mich!«, sagen sie zu sich
Einflussfaktoren in der Verhaltensgenetik
selbst: »Immer mit der Ruhe! Eins nach dem ande-
5 Genetische Faktoren
ren!« Wenn man die Situation als Herausforderung
5 Gemeinsame (geteilte) Umwelteinflüsse
betrachtet, die man Schritt für Schritt bewältigen
5 Individuelle (nichtgeteilte) Umwelteinflüsse
kann, sind Überforderungsgefühle weniger wahr-
scheinlich. Die Patienten werden zudem angeleitet,
Strategien der systematischen Problemlösung ein- Während die gemeinsame Umwelt zu einer größe-
zusetzen, Handlungsalternativen abzuwägen, die ren Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern einer
beste Lösung auszuwählen und ihre Wirksamkeit zu Familie beiträgt, bewirken individuelle, nichtgeteil-
überprüfen. te Umwelteinflüsse, dass die Mitglieder einer Fa-
Weitere verhaltensmedizinische Einsatzgebie- milie einander unähnlich werden. Nichtgeteilte
te  sind Schmerzbewältigung (z. B. Biofeedback, Umwelteinflüsse kommen auch dadurch zustande,
7 Abschn. 2.2.2) und Patientenschulungen (7 Ab- dass ein und dasselbe Ereignis (z. B. die Scheidung
schn. 8.1.3). der Eltern) von den Mitgliedern einer Familie un-
2.1 · Verhaltensmodelle
23 2
terschiedlich verarbeitet wird. Unter nichtgeteilter tors auf, gemessen mit radioaktiven Liganden im
Umwelt werden nicht nur psychosoziale Einflüsse PET (7 Abschn. 3.6.3). Auch dadurch ist die Sero-
gefasst, sondern auch Einflüsse der physikalischen toninwirkung vermindert.
Umwelt (z. B. während der Schwangerschaft) und
> Von Gen-Umwelt-Interaktion spricht man,
des Messfehlers (Abweichungen durch ungenaue
wenn die Wirkung eines Gens davon ab-
Messungen des psychischen Merkmals).
hängt, ob eine spezifische Umweltbedingung
Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher unter-
vorliegt oder nicht. Oder umgekehrt, wenn
suchten psychischen Merkmale mehr oder minder
eine bestimmte (z. B. schädliche) Umweltbe-
starke genetische Einflüsse gefunden.
dingung nur dann wirksam wird, wenn auch
> Genetischer Einfluss bei psychischen eine genetische Disposition (Vulnerabilität)
Störungen: besteht.
5 starker Einfluss bei Autismus, Schizophre-
Beispiele: Adoptionsstudien zeigten, dass die Häu-
nie, bipolarer affektiver Störung (manisch-
figkeit antisozialen Verhaltens bei nach der Geburt
depressiver Erkrankung) und Aufmerk-
von ihren Müttern getrennten und in Adoptivfa-
samkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung,
milien aufgenommenen Kindern nur dann erhöht
5 mittelgroßer Einfluss bei Depression,
war, wenn sowohl ein biologisches Risiko (antiso-
Angststörungen und Substanzmissbrauch/
ziales Verhalten der leiblichen Mutter) als auch ein
-abhängigkeit.
Umweltrisiko (Probleme in der Adoptivfamilie)
Gene wirken aber nicht nur bei psychischen Störun- bestanden, nicht aber, wenn nur einer der beiden
gen, sondern auch bei normalen Persönlichkeits- Risikofaktoren vorlag.
merkmalen (7 Abschn. 4.6). Eine molekulargenetische Untersuchung konnte
Vom Gen zum Verhalten ist es ein weiter Weg. demonstrieren, dass das Risiko antisozialen Ver-
Gene determinieren nicht einzelne Verhaltenswei- haltens im Erwachsenenalter bei Menschen, die in
sen. Sie beeinflussen jedoch die Entwicklung neuro- ihrer Kindheit misshandelt worden waren, dann
naler Schaltkreise, welche wiederum in Wechsel- stark erhöht war, wenn sie eine wenig effiziente
wirkung mit der Umwelt das Verhalten beeinflus- Form des Monoaminoxidase-A-Gens trugen. Die
sen. Genwirkungen lassen sich deshalb in der Funk- Aufgabe des vom MAOA-Gens kodierten Enzyms
tion neuronaler Schaltkreise viel leichter nachweisen besteht darin, Neurotransmitter wie Noradrenalin,
als im Verhalten selbst. Beispiel: Ängstliche oder Serotonin und Dopamin zu metabolisieren und
ärgerliche Gesichter lösen eine Amygdala-Akti- deren Funktion zu regulieren. Ein voll funktions-
vierung aus. Diese Aktivierung fällt bei Trägern des fähiges Gen stellte einen Schutzfaktor gegenüber
kurzen Allels (s-Allel) des Serotonintransporter- der Entwicklung antisozialen Verhaltens dar.
Gens, welches einen Risikofaktor für Angst und In einer ähnlichen Studie zeigte sich, dass der
Depression darstellt, höher aus. Wie kommt dies Einfluss belastender Lebensereignisse auf die Entste-
zustande? Das s-Allel des Serotonintransporter- hung einer Depression vom Serotonintransporter-
Gens scheint sich, bedingt durch einen weniger ak- Gen abhing (7 Abschn. 4.1.6). Menschen, die 1 oder
tiven Serotonintransporter, ungünstig auf die Ent- 2 kurze Allele dieses Gens (mit geringerer Tran-
wicklung eines Schaltkreises zwischen Amygdala skriptionseffizienz) trugen, hatten nach belastenden
und anteriorem zingulärem Kortex auszuwirken, Lebensereignissen mehr depressive Symptome,
der für die Regulation von Angst von Bedeutung ist. waren stärker suizidgefährdet und entwickelten häu-
Dieser Schaltkreis ist bei Trägern des kurzen Allels figer eine ausgeprägte Depression als Menschen mit
anatomisch weniger gut ausgebildet und funktio- 2 langen Allelen. Letztere waren vor den negativen
nal  weniger aktiv, wie Bildgebungsstudien zeigen. Auswirkungen der Lebensereignisse geschützt. Die-
Die verminderte Aktivität steht wiederum mit ser Zusammenhang konnte in mehreren anderen,
Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal in Zu- wenn auch nicht in allen Studien bestätigt werden.
sammenhang. Träger des s-Allels weisen auch eine Träger der beiden kurzen Allele reagieren aber nicht
geringere Bindungskapazität eines Serotoninrezep- nur verstärkt auf negative Einflüsse der Umgebung
24 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

(belastende Lebensereignisse, ungünstige Familien-


umwelt), sondern auch auf positive: Wenn sie in Genträgers und ohne Reaktion der Umwelt
einer freundlichen, versorgenden Familie aufwach- zustande, sondern einfach deshalb, weil
2 sen, haben sie weniger depressive Symptome als Eltern und ihre Kinder zum Teil dieselben
Träger des langen Allels, und sie profitieren auch im Gene haben. Beispiel: Intelligente Eltern
Erwachsenenalter von emotionaler Unterstützung. schaffen für ihre Kinder eine anregende
Das kurze Allel scheint also Menschen generell emp- Lernumwelt und haben zugleich eher
findlicher für den Einfluss der sozialen Umgebung (genetisch vermittelt) intelligente Kinder.
zu machen, im Guten wie im Schlechten. Deshalb korreliert die Zahl der Bücher in
Eine vergleichbare Interaktion fand sich in einer einem Haushalt auch dann mit der Intelli-
Studie, in der eine Risikoerhöhung für das Auf- genz der Kinder, wenn diese Bücher über-
treten einer Depression nach einem belastenden haupt nicht gelesen werden.
Lebensereignis nur bei den Trägern eines bestimm-
ten Allels des Dopamin-Rezeptors D2 auftrat, nicht
aber bei denjenigen Personen, die dieses Allel nicht Aus einer Korrelation zwischen Umweltfaktoren
trugen. und Verhaltensweisen darf deshalb nicht vorschnell
auf einen kausalen Einfluss der Umwelt geschlossen
> Gene und Umwelterfahrungen wirken
werden, wie es in der Entwicklungspsychologie und
bei der Entstehung psychischer Störungen
Sozialisationsforschung früher häufig getan wurde.
zusammen.
Vielmehr kann diese Korrelation genetisch vermit-
telt sein.
Gen-Umwelt-Korrelation Gen-Umwelt-Korrelation
i Vertiefen
bedeutet gemeinsames Auftreten bestimmter Gene
Lefrancois G (2014) Psychologie des Lernens.
und bestimmter Umweltfaktoren.
5. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch)
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch
der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin
Entstehung einer Gen-Umwelt-Korrelation
(hervorragende, praxisorientierte Darstellung)
5 Aktiv, d. h. selbst hergestellt oder ausge-
Plomin R, DeFries JC, Knopik VS, Neiderhiser JM
wählt. Menschen suchen sich ihre Umwelt
(2013) Behavioral Genetics. 6th ed. Basing-
aus, gestalten und verändern sie. Sie
stoke, Worth Publihers, New York (didaktisch
tun dies auch auf der Basis genetisch ver-
gut aufgebautes Lehrbuch)
ankerter Persönlichkeitsmerkmale und
Vorlieben. Beispiel: Ein Kind sucht sich die
Spielgefährten, die zu seinem Tempera-
ment passen. Dies führt zu einer Stabilisie- 2.2 Psychobiologische Modelle
rung der Persönlichkeitsentwicklung im
Laufe des Lebens. H. Faller
5 Evokativ oder reaktiv, d. h. vom Kind aus-
gelöst. Die Umwelt reagiert auf genetisch Lernziele
beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale. Bei- Der Leser soll
spiel: Das Verhalten des Kindes löst ein 5 das allgemeine Adaptationssyndrom beschrei-
komplementäres elterliches Verhalten aus: ben können,
Liebenswürdige Kinder erfahren mehr 5 die zwei Pfade der Stressreaktion beschreiben
Wärme und Zuwendung, schwierige Kinder können,
mehr negative Reaktionen. 5 akuten und chronischen Schmerz unterscheiden
5 Passiv, d. h. von außen bewirkt. Eine passi- können,
ve Korrelation kommt ohne Zutun des 5 Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung
nennen können.
2.2 · Psychobiologische Modelle
25 2
2.2.1 Emotion, Stress und Krankheit Allostase Im Unterschied zu homöostatischen Sys-
temen des inneren Milieus (z. B. ph-Wert des Bluts),
die einen festen Sollwert haben und in engen
> Stress ist die Reaktion eines Individuums auf
Grenzen reguliert werden, erlauben allostatische
eine belastende Situation. Der Belastungs-
Systeme eine Sollwertverschiebung, d. h. eine
faktor, der diese Stressreaktion auslöst, wird
Regulation innerhalb eines breiteren Korridors,
Stressor genannt. Stress tritt auf, wenn
und dadurch eine bessere Umweltanpassung un-
die Anforderungen der Umwelt die Bewälti-
ter Stress (Homöostase-Allostase-Modell). Reak-
gungsmöglichkeiten des Individuums über-
tionen, die ursprünglich zur Bewältigung von Stress
steigen.
dienten, können jedoch überschießen oder chro-
Unter Stress geht das harmonische Gleichgewicht nisch werden. Dann ist es nicht der Stress selbst,
zwischen Individuum und Umwelt (Homöostase) sondern der gegenregulatorische Mechanismus,
verloren. Der Begriff Homöostase geht auf Walter der eine Schädigung bewirkt (allostatische Be-
Cannon zurück, der Begriff Stress auf Hans Selye. lastung). Akuter Stress ist nicht generell schädlich.
Er beschrieb Stress als unspezifische Antwort des Er versetzt den Organismus in die Lage, einen Stres-
Organismus auf eine Störung der Homöostase (all- sor zu bewältigen. Schädlich ist erst eine Stress-
gemeines Adaptationssyndrom), die in 3 Phasen reaktion, die zu lange oder zu häufig auftritt (wie bei
verläuft: chronischen Stressoren) oder für die keine physio-
logische Notwendigkeit besteht (wie bei psycho-
> Das allgemeine Adaptationssyndrom
sozialen Stressoren, die nicht durch Kampf oder
besteht aus 3 Phasen:
Flucht bewältigt werden können). Es kann dann
5 Alarmphase: Stimulierung des sympathi-
zu einer Fehlregulation allostatischer Systeme
schen Nervensystems. Mobilisierung
kommen (z. B. chronische Überproduktion von
von adrenokortikotropem Hormon (ACTH)
Stressbotenstoffen wie Kortisol und Noradrenalin
in der Hypophyse
und Herunterregulation ihrer Rezeptoren), die zu
5 Widerstandsphase: Kortisolausschüttung
Krankheiten führen können (z. B. Bluthochdruck
als Folge der ACTH-Ausschüttung
als Risikofaktor für koronare Herzkrankheit und
5 Erschöpfungsphase: Dekompensation
Schlaganfall).
der Stressreaktion bei chronischem Stress

Subjektive Bewertung und Disposition Ob eine


Spezifische Reaktionen Allerdings müssen nach Situation zum Stressor wird, hängt maßgeblich von
heutigem Kenntnisstand unterschiedliche Stresso- der subjektiven Bewertung und den Bewältigungs-
ren keineswegs immer zu den gleichen Reaktionen möglichkeiten des Individuums ab. Ein und die-
führen. Im Stressmodell von Henry werden spezi- selbe Situation kann von dem einen Menschen als
fische Reaktionen je nach Stresssituation beschrie- Herausforderung, die er sich zu bewältigen zutraut,
ben: Furcht (Flucht) geht mit Adrenalinanstieg, von einem anderen hingegen als Bedrohung, der
Ärger (Kampf) mit Noradrenalin- und Testosteron- er hilflos ausgeliefert ist, interpretiert werden. Nur
anstieg, Depression (Kontrollverlust, Unterord- im 2. Fall entsteht Stress. Ob Stress schließlich zu
nung) mit Kortisolanstieg und Testosteronabfall Krankheit führt, hängt darüber hinaus von der Dis-
einher (stimulusspezifische Reaktion). Umgekehrt position des Individuums ab (Stress-Vulnerabili-
besitzt ungefähr ein Drittel der Menschen die Nei- täts-Modell; syn. Stress-Diathese-Modell. Beispiel:
gung, auf unterschiedliche Stressoren immer auf Zusammenwirken von belastenden Lebensereignis-
die gleiche Art und Weise zu reagieren (individual- sen und der genetischen Anlage bei der Entstehung
spezifische Reaktion). Beispiel: Der eine bekommt einer Depression, 7 Abschn. 2.1.4).
bei Aufregung immer kalte Hände und Herzklop-
fen, der andere muss auf die Toilette. Physiologische Pfade Die Stressreaktion stellt eine
ehemals evolutionär sinnvolle Reaktion auf Be-
drohung dar, indem sie die physiologischen Voraus-
26 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

setzungen für Kampf oder Flucht schafft. Dies ge- 4 Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-
schieht über 2 Wege: Nebennierenrinden-Achse: Depression und
4 das Hypothalamus-Sympathikus-Nebennieren- Stress gehen mit einer erhöhten Sekretion von
2 mark-System, Kortisol einher. Kortisol ist wiederum ein Risiko-
4 die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren- faktor für Hypertonus, Hyperlipidämie und
rinden-Achse. Atherosklerose.
4 Verminderte Herzfrequenzvariabilität: Diese ist
Hypothalamus-Sympathikus-Nebennierenmark- Ausdruck des erhöhten sympathischen und des
System Der Sympathikus ist eines der beiden Haupt- reduzierten parasympathischen Tonus und stellt
bestandteile des vegetativen Nervensystems. Er steu- einen Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen
ert diejenigen Prozesse, die eine Aktivierung (7 Ab- und den plötzlichen Herztod dar.
schn. 4.1.7) des Organismus bewirken. (Der andere 4 Stressbedingte Ischämie: Stress kann durch die
Hauptbestandteil ist der Parasympathikus, der Erho- Steigerung von Herzfrequenz und Kontraktilität
lungsprozesse steuert.) Aktivierung bedeutet psycho- unmittelbar einen Sauerstoffmangel (Ischämie)
physische Erregung und Bereitstellung von Energie. im Herzmuskel bewirken. Dieser Mechanismus ist
Die Wirkungen des Sympathikus auf den Organismus vermutlich für die erhöhte Herzinfarktrate wäh-
werden durch Adrenalin und Noradrenalin (Kate- rend aufregenden Fußballspielen verantwortlich.
cholamine) vermittelt, die im Nebennierenmark ge- Während der Fußballweltmeisterschaft 2006
bildet werden: Herzfrequenz und Blutdruck steigen traten mehr als doppelt so viele Infarkte auf wie
an, die Muskeldurchblutung wird gefördert, als Ener- in den Vergleichszeiträumen der Vorjahre, und
giequelle wird Glukose bereitgestellt. Diese Reaktion zwar genau zu den Zeiten, wenn die deutsche
geschieht sehr schnell (innerhalb von Sekunden), die Mannschaft wichtige Spiele absolvierte.
weiter unten dargestellte zweite Achse braucht länger 4 Blutgerinnung und Plättchenaggregation: Stress
(mehrere Minuten) bis zur Aktivierung. und Depression gehen mit einer Aktivierung
der Blutgerinnung und der Thrombozyten, die
Klinik: Sympathikusaktivierung Serotoninrezeptoren tragen, einher. Dies fördert
und Herz-Kreislauf-Risiko die Bildung von Thromben in verengten Herz-
Körperlich gesunde Menschen, die an einer Depres- kranzgefäßen, mit der Folge eines Herzinfarkts.
sion leiden, haben im Vergleich zu Nichtdepressiven 4 Immunsystem und Entzündung: Bei einer
ein 2-mal so hohes Risiko für die Entwicklung einer Depression werden entzündungsfördernde (pro-
koronaren Herzkrankheit. Bei Menschen, die schon inflammatorische) Zytokine (Interleukine) ge-
einen Herzinfarkt erlitten haben, besteht bei Vor- bildet, die sowohl bei der Entstehung einer De-
liegen einer Depression ebenso ein ca. doppelt so pression als auch bei der koronaren Herzkrank-
hohes Risiko, an einem erneuten Infarkt zu verster- heit eine Rolle spielen können. Auch das C-reak-
ben. Wenngleich es noch nicht völlig geklärt ist, tive Protein, das eine Entzündung anzeigt, ist bei
ob Depression einen kausalen Risikofaktor darstellt einer Depression erhöht. Allerdings scheint der
oder lediglich einen Risikoindikator, der zwar das Zusammenhang zwischen Depression und Ent-
Eintreffen eines Krankheitsereignisses voraussagen zündungsindikatoren großenteils genetisch ver-
lässt, es aber nicht ursächlich beeinflusst, so sind mittelt zu sein.
doch mehrere biologische Mechanismen plausibel, 4 Endotheliale Dysfunktion: Die Gefäßdilatation
die den Einfluss einer Depression auf die koronare infolge Sauerstoffmangels ist bei Depression ge-
Herzkrankheit vermitteln könnten: stört. Dies stellt wiederum einen Risikofaktor für
4 Sympathikusaktivierung: Bei einer Depression die Atherosklerose dar.
ist das sympathoadrenerge System überaktiv, 4 Gesundheitsverhalten und Compliance: Zusätz-
mit Zunahme von Herzfrequenz, Blutdruck und lich zu den biologischen Mechanismen kann eine
Kontraktilität (erhöhte kardiovaskuläre Reak- Depression auf der Ebene des Verhaltens zur Ent-
tivität), was wiederum Endothelschädigungen wicklung bzw. Verschlimmerung einer koronaren
und Atherosklerose (Arteriosklerose) begünstigt. Herzkrankheit beitragen. Depressive Menschen
2.2 · Psychobiologische Modelle
27 2
weisen häufiger die klassischen Risikofaktoren Immunabwehr (T-Lymphozyten: T-Helfer-Zellen,
einer koronaren Herzkrankheit, wie Bewegungs- T-Suppressor-Zellen, zytotoxische T-Zellen) sowie
mangel und Übergewicht, auf. Sie setzen Emp- der unspezifischen (z. B. Komplementsystem) und
fehlungen zum Gesundheitsverhalten, z. B. kör- spezifischen (Antikörper) humoralen Immunab-
perlich aktiver zu werden, seltener in die Tat wehr zusammen. Die anatomischen und zellbio-
um und halten sich weniger an die verordnete logischen Voraussetzungen der Zusammenhänge
Medikation (geringere Compliance). zwischen Psyche bzw. Gehirn und Immunsystem
sind dadurch gegeben, dass lymphatische Organe
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- innerviert sind und Lymphozyten Rezeptoren für
Achse Der Hypothalamus, der Eingangssignale Neurotransmitter tragen. Umgekehrt produzieren
von der Amygdala (Angstzentrum) erhält, bewirkt Immunzellen Botenstoffe, die Zytokine (Interleu-
durch Abgabe von Corticotropin-Releasing-Hor- kine, Interferone und Tumornekrosefaktoren), die
mon (CRH) die Sekretion von adrenokortikotro- nicht nur die Kommunikation innerhalb des
pem Hormon (ACTH) aus der Hypophyse ins Blut, Immunsystems bewerkstelligen, sondern auch psy-
das wiederum die Nebennierenrinde zur Bildung chische Effekte haben.
von Kortisol anregt. Kortisol dient ebenfalls der Be- Eine Aktivierung des Immunsystems macht
reitstellung von Glukose, es hemmt die Fettsynthese sich in Veränderungen des Befindens deutlich, die
sowie, bei chronischer Sekretion, die Immunab- sich als Krankheitsverhalten wie z. B. bei einem
wehr. Kortikoide werden bei Organtransplanta- grippalen Infekt äußern: reduzierte Aktivität, sozia-
tionen gegeben, um eine Immunsuppression zu ler Rückzug, vermehrte Schmerzempfindlichkeit,
bewirken und dadurch eine Abstoßung des trans- Appetitlosigkeit und Depressivität.
plantierten Organs zu verhindern. Kortisol spielt
auch bei der Steuerung von Emotionen eine Rolle. Stress und Immunantwort
Hohe Dosen bewirken eine Depression.
> Akuter Stress verbessert die Immunantwort,
während chronischer Stress sie hemmt.
Chronischer Stress und Kortisol Zur Wirkung von
chronischem Stress auf die Kortisolausschüttung Der Anstieg der unspezifischen Immunantwort bei
gibt es widersprüchliche Forschungsergebnisse. akutem Stress ist evolutionär sinnvoll, weil dadurch
Diese Widersprüche lassen sich jedoch zu einem die Heilung einer Wunde, z. B. bei einem Angriff,
guten Teil auflösen, wenn man Eigenschaften des gefördert würde. Bei akuten, zeitlich begrenzten
Stressors (kontrollierbar vs. unkontrollierbar; kör- Laborstressoren, wie z. B. vor Zuhörern eine Rede
perliche vs. psychische Gefahr) berücksichtigt. halten, steigt die Zahl der natürlichen Killerzellen
Generell geht chronischer Stress mit geringen Kor- an. Prüfungsstress geht mit einer Verschiebung von
tisolkonzentrationen am Morgen, aber höheren der zellulären hin zur humoralen Immunantwort
Konzentrationen am Nachmittag und Abend ein- und einer verlängerten Wundheilung einher. Ver-
her, so dass der Tagesrhythmus abgeflacht ist. Ins- lusterlebnisse wie der Verlust des Partners führen
gesamt ist die Kortisolausschüttung erhöht. Auch zu einer verminderten Zahl von natürlichen Killer-
der Zeitverlauf spielt eine Rolle: Unmittelbar nach zellen.
dem Eintritt des Stressors findet man erhöhte Wer-
> Chronische Stressoren, die als unkontrollier-
te; je mehr Zeit vergeht, umso stärker fallen diese
bar erlebt werden, wie die Betreuung eines
wieder ab, und zwar bis unter die Normalwerte.
an Morbus Alzheimer erkrankten Angehöri-
gen, sind mit einer globalen Immunsuppres-
Psychoneuroimmunologie Dieses Forschungsge-
sion verbunden.
biet untersucht Zusammenhänge zwischen Stress
bzw. Emotionen, dem Gehirn und dem Immunsys- Die schädliche Wirkung von chronischen Stresso-
tem. Das Immunsystem setzt sich aus der zellulä- ren auf das Immunsystem wird wahrscheinlich über
ren unspezifischen Immunabwehr (z. B. natürliche eine zu lange anhaltende Sekretion von Kortisol
Killerzellen) und der zellulären spezifischen vermittelt, die zu einer Herunterregulation von
28 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

zellulären Kortisolrezeptoren führt. Dadurch wird Dabei kann man ein laterales Schmerzsystem und
die Fähigkeit der Zelle eingeschränkt, auf entzün- ein mediales Schmerzsystem unterscheiden. Das
dungsfördernde Zytokine (z. B. Interleukin 6) zu laterale Schmerzsystem besteht aus lateralen Kern-
2 reagieren. In Tiermodellen konnte gezeigt werden, gruppen des Thalamus sowie dem primären und
dass chronischer Stress negative Auswirkungen auf sekundären sensorischen Kortex. Es ist für die sen-
Immunparameter hat und die Tumorentstehung sorisch-diskriminative Komponente zuständig. Das
und -progression fördert. Alte Menschen und mediale Schmerzsystem, das aus medialen thala-
Kranke sind anfälliger für die Wirkungen von Stress mischen Strukturen, dem zingulären Kortex, dem
auf das Immunsystem. Umgekehrt können Opti- präfrontalen Kortex, dem Nucleus accumbens und
mismus, eine gute Bewältigungsfähigkeit und emo- der Amygdala besteht, repräsentiert die affektiv-
tionale Unterstützung durch andere Menschen die motivationale Komponente. Ein äußerer Schmerz-
schädliche Wirkung abschwächen. Die stressmin- reiz oder ein im Gehirn generierter Schmerz gehen
dernde Wirkung von sozialer Unterstützung wird mit einer Aktivierung derselben Hirnregionen ein-
durch Oxytozin vermittelt (7 Abschn. 4.4.5). her. Das Gefühl »Schmerz« kann also auch rein
zerebral entstehen.
Klinik: Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung
Lang dauernde Kortisolüberproduktion führt zu einer Akuter und chronischer Schmerz Die physiolo-
Atrophie des Hippocampus, einer für die Gedächtnis- gische Grundlage des Schmerzes ist das nozizep-
bildung wichtigen Hirnstruktur im limbischen System. tive  System. Mit Nozizeption wird die Aktivität
Dies ließ sich im Tierexperiment zeigen. Der Befund dieses Systems beschrieben. Schmerz ist die einzige
fand sich auch bei Depressiven und bei Vietnamvete- Sinnesempfindung, die fast immer mit einem nega-
ranen, die an einer posttraumatischen Belastungs- tiven Affekt einhergeht: Schmerz wird vom Betrof-
störung (post-traumatic stress disorder, PTSD) litten. fenen als quälend oder angsterregend erlebt.
Bei der PTSD gelingt die Stressbewältigung nicht. Es
> Akuter Schmerz weist meist auf eine Gewebe-
drängen sich noch lange nach einem traumatischen
schädigung durch einen noxischen Reiz hin
Erlebnis intensive Bilder der traumatischen Situation
(Schutzfunktion des Schmerzes). Bei chroni-
auf (flashbacks), obwohl (oder wahrscheinlich: gerade
schem Schmerz gilt das nicht mehr. Hier lässt
weil) die Patienten versuchen, alle Gedanken oder
sich oft keine Gewebeschädigung feststellen.
Situationen zu vermeiden, die sie an die erlebte Situa-
Chronische Schmerzen ohne organische
tion erinnern. Die Betroffenen fühlen sich einerseits
Krankheit können zu einem eigenständigen
emotional abgestumpft, andererseits leiden sie an
Störungsbild werden (somatoforme Schmerz-
physiologischen Stresssymptomen.
störung) und stellen ein großes Problem
Nach neueren Untersuchungen ist es allerdings
in der medizinischen Versorgung dar.
unklar, ob das verminderte Hippocampusvolumen
tatsächlich eine Folge der posttraumatischen Be-
lastungsstörung ist. Vergleicht man traumatisierte Schmerzmessung In der experimentellen Schmerz-
Vietnamveteranen mit ihren eineiigen Zwillingen, forschung werden Schmerzschwellen bestimmt.
die zu Hause geblieben waren und nicht traumati-
> Die Wahrnehmungsschwelle ist diejenige
siert wurden, so zeigen diese ebenfalls einen kleine-
Reizintensität, bei der der Proband angibt,
ren Hippocampus. Dies spricht dafür, dass die Ver-
dass ein Reiz (z. B. kaltes Wasser) schmerzhaft
kleinerung schon vorher bestand und lediglich das
sei. Die Toleranzschwelle ist diejenige Reiz-
Risiko erhöht, eine PTSD zu entwickeln.
intensität, bei der der Schmerz unerträglich
wird (und der Proband seine Hand aus dem
kalten Wasser zieht).
2.2.2 Schmerz
Die Einschätzung des Schmerzes durch den Betrof-
Neurobiologie Die neuronale Grundlage des fenen nennt man subjektive Algesimetrie (subjek-
Schmerzerlebens stellt das Schmerznetzwerk dar. tive Schmerzmessung). Hierfür gibt es Fragebögen.
2.2 · Psychobiologische Modelle
29 2
Für die Beurteilung der Schmerzstärke wurde ren, die darüber entscheiden, ob Schmerzsignale ins
häufig eine visuelle Analogskala verwandt. Dies Gehirn weitergeleitet werden oder nicht. Ein ab-
ist eine 10 cm lange Linie, deren Endpunkte mit steigendes Schmerzhemmsystem kann das »Tor« im
Worten beschrieben sind: Am linken Ende steht Rückenmark öffnen oder schließen. Diese Grund-
»kein Schmerz«, am rechten Ende »stärkster vor- annahme hat sich empirisch bestätigt, auch wenn
stellbarer Schmerz«. Der Betroffene soll nun sein Details des Modells heute nicht mehr gültig sind.
aktuelles Schmerzempfinden auf diesem Konti- Eine aktive Schmerzhemmung wird auch durch
nuum einordnen und ein Kreuz an der entspre- endogene Opiate (Endorphine) bewirkt, die an
chenden Stelle machen. Die Schmerzstärke kann Opiatrezeptoren binden, wo sie die Freisetzung von
dann einfach quantifiziert werden, indem man die schmerzfördernden Neurotransmittern unter-
Strecke vom linken Ende bis zum Kreuz abmisst. drücken. Angst und Depression verstärken die
Neuerdings werden jedoch eher numerische Skalen Schmerzwahrnehmung, Ablenkung und eine opti-
verwandt (Likert-Skala; 7 Abschn. 3.2.2). Eine gute mistische Einstellung vermindern sie.
Möglichkeit, Auskunft über auslösende und auf-
recht erhaltende Faktoren des Schmerzes zu ge- Empathie Bei einem Menschen, der beobachtet,
winnen, ist ein Schmerztagebuch, das vom Patien- wie eine nahestehende Person Schmerzen erleidet,
ten geführt wird. Der am weitesten verbreite Frage- und sich in deren Erleben einfühlt (Empathie), sind
bogen zur Erfassung der Schmerzempfindung ist dieselben Netzwerke aktiviert, so als würde er den
der McGill-Schmerzfragebogen, der sowohl die Schmerz auch selbst spüren. Interessant ist nun,
sensorisch-diskriminative als auch die affektiv- dass nicht das ganze Netzwerk aktiv ist, sondern nur
motivationale und die kognitiv-evaluative Dimen- ein Teil davon, und zwar der mediale Anteil, der den
sion erfragt. emotionalen Aspekt des Schmerzerlebens vermit-
telt. Um sich in einen anderen Menschen hineinver-
setzen zu können, ist offenbar der affektive Gehalt
Komponenten des Schmerzes
des Schmerzes wichtiger als der sensorische.
5 Sensorische Komponente: Wahrnehmung
Dabei fand sich sogar ein direkter Zusammen-
des Schmerzes, seiner Qualität (z. B.
hang zwischen der Stärke der Aktivierung der ent-
»stechend«, »brennend«), Lokalisation
sprechenden Hirnregionen und den interindividu-
(z. B. »oberflächlich«, »tief«) und Stärke
ellen Unterschieden in der Empathie. Menschen,
5 Affektive Komponente: emotionale
die ein größeres Einfühlungsvermögen aufwiesen,
Färbung (»quälend«, »fürchterlich«, »uner-
zeigten auch eine stärkere Aktivität. Empathie hat
träglich«)
sich also vermutlich aus einem System entwickelt,
5 Kognitive Komponente: gedankliche Inter-
das unsere inneren körperlichen Zustände und Ge-
pretation (»Das Herz kann es nicht sein,
fühle repräsentiert. Je besser der Zugang zu eigenen
weil…«)
Gefühlen, desto besser auch das Einfühlungsver-
5 Vegetative Komponente: körperliche
mögen in andere (Mentalisierung; 7 Abschn. 2.3).
Begleiterscheinungen (z. B. Übelkeit; Herz-
Ähnlich ist es auch bei der Wahrnehmung von
frequenzanstieg)
Gefühlen bei anderen Menschen. Wenn wir den
5 Motorische Komponente: Gesichtsaus-
emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Men-
druck, Schonverhalten
schen (z. B. Freude oder Trauer) sehen, werden die
dem jeweiligen Gefühl zugrunde liegenden Hirn-
regionen (anteriore Insel, anteriorer zingulärer
Gate-Control-Modell Schmerz wird nicht einfach Kortex) auch bei uns selbst aktiviert, mit den ent-
von der Peripherie ins Gehirn geleitet, sondern zu- sprechenden vegetativen und körperlichen Begleit-
gleich von absteigenden Fasern moduliert. Grund- erscheinungen (7 Abschn. 4.4). Diese »emotionale
annahme der Gate-Control-Theorie ist, dass schon Ansteckung« geschieht ganz automatisch, ohne dass
auf der Ebene des Rückenmarks efferente Regula- eine bewusste Absicht oder Anstrengung dafür er-
tionsmechanismen (eine Art »Türsteher«) existie- forderlich wäre.
30 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Schmerzgedächtnis Schmerzerfahrungen können hilft, auch wenn es pharmakologisch unwirksam ist,


zu »Erinnerungen« auf kortikalen und subkorti- lässt sich objektivieren. Diese Erwartung aktiviert
kalen Ebenen führen. Starke Schmerzen, die nicht das körpereigene Opioidsystem. Umgekehrt lässt
2 ausreichend behandelt werden, können Spuren im sich der Plazeboeffekt aufheben, wenn man das
Zentralnervensystem hinterlassen. Neuronale plas- Opioidsystem mit dem Opiatantagonisten Naloxon
tische Veränderungen auf kortikaler und subkorti- blockiert. Bei plazebobedingter Schmerzlinderung
kaler Ebene (v. a. im Rückenmark) bewirken eine finden sich in bildgebenden Verfahren auch ent-
erhöhten Schmerzsensibilität: Nozizeptive Nerven- sprechende Hirnaktivitätsänderungen, die auf eine
zellen werden empfindlicher für Schmerzreize. veränderte Schmerzinterpretation hindeuten. Al-
Dann lösen auch harmlose, normalerweise nicht lerdings ist nur ein Teil der Schmerzpatienten für
schmerzhafte Reize Schmerzen aus. Auf diese Weise Plazeboeffekte empfänglich (zum Plazeboeffekt
entstehen chronische Schmerzen, die im Unter- 7 Abschn. 6.2.6).
schied zu akuten Schmerzen kein Signal für eine
Gewebeschädigung sind. Der zugrunde liegende Phantomschmerzen Phantomschmerzen, d. h. die
Mechanismus wird Langzeitpotenzierung ge- »Wahrnehmung« von Schmerzen in Gliedmaßen,
nannt (7 Abschn. 4.2.1). Die synaptische Übertra- die infolge einer Amputation gar nicht mehr exis-
gung wird dabei verstärkt (potenziert). Die synapti- tieren, sind auf die Reorganisation von Hirnarealen
schen Veränderungen gleichen denjenigen, die man zurückzuführen. Die kortikalen Projektionsgebiete
bei der Gedächtnisbildung im Hippocampus findet des amputierten Glieds, die keinen Input mehr er-
(deshalb »Schmerzgedächtnis«). Normalerweise halten, werden von anderen Projektionen sozu-
beugt die körpereigene Schmerzabwehr (endogene sagen mitbenutzt. Da der kortikale Ort aber festlegt,
Opioide) der Entstehung des Schmerzgedächtnisses wo die Reize räumlich wahrgenommen werden,
vor. Bei Operationen kann man durch präventive empfindet der Betroffene die Schmerzen als aus
Schmerzausschaltung (Analgesie) z. B. mit Leitungs- dem amputierten Glied kommend, auch wenn dies
blockaden eine Langzeitpotenzierung verhindern. gar nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen
Ein schon entstandenes Schmerzgedächtnis lässt lassen sich durch konsequente Analgesie vor der
sich pharmakologisch nicht löschen. Was teilweise Amputation verhindern oder abschwächen. Eine
hilft, sind Gegenstimulationsverfahren (transkutane Prothese, die den Stumpf elektrisch stimuliert,
elektrische Nervenstimulation, TENS; Elektroaku- macht die kortikale Reorganisation wieder rück-
punktur) und psychologische Verfahren (s. u.). gängig und vermindert die Phantomschmerzen.
Die zentrale Sensibilisierung der Schmerz- Eine weitere Behandlungsmöglichkeit, die ebenfalls
wahrnehmung bei Schmerzkranken lässt sich phy- die neuronale Plastizität benutzt, ist die Spiegel-
siologisch durch evozierte Potentiale und bildge- therapie (7 Abschn. 4.2.1).
bende Verfahren nachweisen (7 Abschn. 3.6). Auch
der Einfluss von operanten Lernvorgängen lässt Chronische Schmerzen Als chronische Schmerzen
sich objektivieren: Wenn der Partner anwesend ist, werden Schmerzen mit einer Dauer von mehr als
der den Kranken üblicherweise tröstet, sinkt die 6 Monaten bezeichnet. Hier findet sich, wie er-
Schmerzschwelle, der Gesichtsausdruck wird ge- wähnt, häufig keine organische Ursache, die die
quälter, die evozierten Potentiale zeigen eine inten- Schmerzen erklären könnte. Die häufigsten chroni-
sivere Reaktion an, die aktivierten Hirnareale sind schen Schmerzen sind chronische Rückenschmer-
in bildgebenden Verfahren ausgedehnter (und zwar zen sowie Kopfschmerzen (Migräne und Span-
schon vor der bewussten Schmerzwahrnehmung). nungskopfschmerz). Das verhaltensmedizinische
Bei der operanten Verhaltenstherapie lernen die Schmerzmodell unterscheidet prädisponierende,
Partner deshalb, auf Schmerzen nicht mehr mit Zu- auslösende und aufrecht erhaltende Faktoren des
wendung zu reagieren, um das Schmerzverhalten Schmerzes. Prädisponierend sind eine genetische
nicht zu verstärken. Disposition, frühe mit Schmerz verbundene Er-
Auch der Plazeboeffekt, d. h. die Schmerzlin- lebnisse (z. B. schmerzhafte medizinische Unter-
derung allein infolge der Erwartung, dass ein Mittel suchungen), eine Überlastung von Körperregionen
2.2 · Psychobiologische Modelle
31 2
(z. B. der Muskulatur des Nackens, der Schulter und ten dar, die auf Schmerzen mit Durchhalteappellen
des Rückens bei Computerarbeit) und Modell- reagieren und sich immer weiter körperlich anstren-
lernen (z. B. bei Kindern, deren Eltern ebenfalls an gen, auch auf die Gefahr hin, sich zu überfordern.
Schmerzen leiden). Die auslösenden Faktoren um- Diese Durchhaltestrategie erhöht ebenfalls das
fassen akute und chronische Stresssituationen mit Chronifizierungsrisiko.
Erhöhung der Muskelspannung, was zu einem Die wichtigste Therapie besteht in körperlicher
Circulus vitiosus von Stress und Muskelspannung Aktivität trotz Schmerzen. Dies gilt auch bei akuten
führen kann. Außerdem spielen Fehlinterpretatio- Rückenschmerzen, bei denen Bettruhe auf das ab-
nen von Körperwahrnehmungen als Schmerz eine solut Notwendige begrenzt werden sollte. In der
Rolle sowie eine Kausalattribution der Schmerzen Rehabilitation kommen ein gezieltes Funktionstrai-
als Zeichen einer körperlichen Krankheit, ähnlich ning, Üben arbeitsplatzbezogener Tätigkeiten und
wie bei der Somatisierungsstörung. Zu den aufrecht verhaltensmedizinische Verfahren wie Stressbewäl-
erhaltenen Faktoren gehören operante Konditionie- tigungstraining und Patientenschulungen (Rücken-
rung (z. B. Zuwendung durch den Ehepartner bei schule) zum Einsatz.
Schmerzäußerungen) und dysfunktionale Kogni-
> Die wichtigste Behandlungsmaßnahme
tionen (z. B. Katastrophisieren) sowie maladap-
bei chronischen Rückenschmerzen besteht in
tives Schmerzverhalten (z. B. Angst-Vermeidungs-
körperlicher Aktivität.
Strategie oder Durchhaltestrategie), die weiter un-
ten am Beispiel der chronischen Rückenschmerzen Eine ausschließlich medikamentöse Behandlung
beschrieben werden. stößt bei chronischen Schmerzen an ihre Grenze,
zumal Schmerzmittel auf Dauer selbst schmerzaus-
Chronische Rückenschmerzen Chronische Rücken- lösend wirken können. Deshalb ist ein multimoda-
schmerzen sind eine häufige Ursache von Arbeits- les Vorgehen angezeigt, in welchem auch psycholo-
unfähigkeit, stationärer Krankenhausbehandlung, gische Behandlungsverfahren ihren Platz haben.
medizinischer Rehabilitation und Frühberentung.
Meist findet man keine organischen Veränderungen Verhaltensmedizin Verhaltensmedizinische Thera-
an der Wirbelsäule, die die Schmerzen erklären piebausteine sind Stressbewältigungstrainings, Ent-
würden. Menschen, die chronische Rückenschmer- spannungsmethoden (7 Abschn. 8.2.5), Biofeedback
zen entwickeln, reagieren in Stresssituationen bevor- sowie Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei ler-
zugt mit einer Verkrampfung der Rückenmusku- nen die Patienten z. B. ihre Aufmerksamkeit von
latur (individualspezifische Reaktion). Infolge der den Schmerzen abzulenken oder sich in Gedanken
eintretenden Schmerzen verkrampft sich die Mus- an einen besonders schönen Ort zu versetzen, wo
kulatur zusätzlich, so dass ein Teufelskreis entsteht. sie sich früher einmal sehr wohl fühlten (geleitete
Die Betroffenen schonen sich aus Angst, durch kör- Imagination).
perliche Aktivität ihrem Rücken zu schaden, immer Biofeedback dient dazu, üblicherweise auto-
mehr und vermeiden körperliche Anstrengungen matisch ablaufende körperliche Regulationsvorgän-
(Angst-Vermeidungs-Strategie), was zwar kurz- ge – Muskelspannung, Herzfrequenz, Blutdruck,
fristig zur Entlastung führt (negative Verstärkung Körpertemperatur oder Gehirnströme – vermehrt
des Vermeidungsverhaltens), langfristig aber zu unter bewusste und aktive Kontrolle zu bekommen.
einer Zunahme der Schmerzen. Wenn sie sich ein- Um diese Kontrolle zu ermöglichen, werden die
mal körperlich anstrengen und dabei Schmerzen jeweiligen Vorgänge gemessen und in optische oder
verspüren, entwickeln sie oft starke Befürchtungen, akustische Signale umgewandelt, so dass die Patien-
dass sich ihr Gesundheitszustand immer mehr ver- ten unmittelbar sehen oder hören können, wenn
schlechtern wird (katastrophisierende Gedanken). sich beispielsweise der Muskeltonus verändert. Mit
Kommt infolge des sozialen Rückzugs und der Auf- der Aufforderung, das optische Signal auf einem
gabe von Aktivitäten noch eine Depression hinzu, ist Bildschirm nicht über eine angezeigte Schwelle ge-
das Chronifizierungsrisiko der Rückenschmerzen langen zu lassen, können sie lernen, den Muskel-
noch größer. Den Gegenpol stellen Schmerzpatien- tonus (oder andere o. g. Vorgänge) aktiv zu beein-
32 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

flussen und zu steuern. Das Erlernen der nötigen 2.3 Psychodynamische Modelle
»inneren Einstellungsprozesse« erfolgt dabei über
operante Konditionierung, auch wenn noch nicht H. Faller, H. Lang
2 völlig geklärt ist, wodurch Biofeedback wirkt. Die
Veränderung der körperlichen Vorgänge ist meist Lernziele
die Folge von Entspannungszuständen. Biofeed- Der Leser soll
back ist somit eine Form des Lernens, die Körper- 5 Kernkonzepte psychodynamischer Modelle
wahrnehmung, Entspannung und Selbstkontrolle (unbewusste Konflikte, implizite Beziehungs-
schult. Auch die schmerzevozierten Potenziale muster) benennen können,
(und damit die Schmerzwahrnehmung) lassen sich 5 unterschiedliche Abwehrmechanismen
durch Biofeedback beeinflussen. Bei Migräne ler- definieren können,
nen die Patienten, die Blutgefäße des Gehirns, die 5 das Konzept des sekundären Krankheitsgewinns
im Migräneanfall erweitert sind, wieder zu ver- kennen.
engen, entweder direkt über einen Sensor, der über
> Psychodynamische, d. h. an der Psychoana-
der Schläfenarterie angebracht ist, oder indirekt,
lyse orientierte Modelle, nehmen an, dass
indem sie lernen, eine Erwärmung der Hand zu
unbewusste Konflikte und Beziehungsmuster,
bewirken, die eine Verengung der Kopfgefäße nach
die ihre Wurzeln bereits in der Kindheit haben
sich zieht. Hierzu wird ihnen über einen Tempera-
können, psychischen Störungen zugrunde
turfühler die Hauttemperatur der Hand zurück-
liegen.
gemeldet.
Die anfangs hohen Erwartungen mit Hilfe von
Biofeedback ein so großes Maß an Kontrolle über
die körperlichen Vorgänge zu ermöglichen, dass 2.3.1 Psychoanalytische
z. B. Medikamente gegen Schmerzen oder Blut- Entwicklungspsychologie
hochdruck überflüssig würden, sind jedoch ent-
täuscht worden. So ist es zwar möglich, die genann- Das Bild des Säuglings im Wandel In der psycho-
ten Körperfunktionen willentlich zu beeinflussen, analytischen Entwicklungspsychologie spielt die
jedoch nicht in dem Ausmaß, wie ursprünglich er- frühe Kindheit eine große Rolle. Das Erleben des
hofft. Dennoch ist Biofeedback eine fruchtbare zu- Säuglings und kleinen Kindes wurde anhand der
sätzliche Intervention bei vielen Beschwerden wie Köperorgane, auf die sich, so die Theorie Freuds,
z. B. Migräne, Spannungskopfschmerz, Schlafstö- die sexuelle Lust des Kindes richte, in Phasen einge-
rungen, Bluthochdruck und Lähmungen (z. B. nach teilt (Stadienmodell: orale, anale, phallische Phase;
Schlaganfall). 7 Abschn. 2.3.2). Im Zentrum der frühkindlichen
Entwicklung stand die Bewältigung des Ödipus-
i Vertiefen
komplexes. Diese theoretischen Annahmen waren
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische
jedoch retrospektiv aus pathologischen Phänome-
Psychologie, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
nen bei erwachsenen Patienten entwickelt und so-
New York (umfassendes, grundlegendes Werk)
zusagen auf die normale Kindheitsentwicklung zu-
Schandry R (2011) Biologische Psychologie,
rückdatiert worden. Als man in jüngerer Zeit dazu
3. Aufl. Beltz, Weinheim (gut verständliche Ein-
überging, Säuglinge direkt zu beobachten, wandelte
führung)
sich das Bild des Kindes. Es wurde klar, dass Säug-
Segerstrom SC, Miller GE (2004) Psychological
linge bei ihren Bedürfnisspannungen bereits diffe-
stress and the human immune system: A meta-
renzierte Emotionen empfinden und aktiv mit ihren
analytic study of 30 years of inquiry. Psycho-
primären Bezugspersonen interagieren, bei denen
logical Bulletin 130:601–630 (umfassende Über-
sie auf ein intuitives Elternverhalten treffen. Sie sind
sicht über die Forschung)
zu komplexen Wahrnehmungs- und kognitiven
Leistungen in der Lage und erforschen früh ihre
Umwelt, um eigene Wirkungen auf diese zu erkun-
2.3 · Psychodynamische Modelle
33 2
den. Beispiel: Verbindet man den Fuß eines Säug- ausgelöst wurde. Wenn sich derartige Erlebnisse
lings durch einen Faden mit einem Mobile, so er- wiederholen, erwirbt das Kind ein implizites Be-
kennt er bald, dass er dieses selbst in Bewegung ziehungswissen derart, dass Ausdruck von Nähe
setzen kann, und wiederholt diesen Effekt immer wahrscheinlich mit Zurückweisung beantwortet
wieder: Neugier und Funktionslust statt sexueller wird. Es wird deshalb Nähewünsche unterdrü-
Lust. Situationen hoher Spannung, gesteuert von cken, um Zurückweisungen zu verhindern. In einer
»Trieben«, »Versagungen« und »Verführungen« späteren Szene sieht man, wie der Kleine auf
sind nicht das Normale, sondern entstehen dann, seine Mutter zuläuft und die Hand nach ihr aus-
wenn Eltern aufgrund eigener unbewältigter Kon- streckt; doch kurz bevor er sie berührt, zieht er
flikte oder psychischer Belastungen nicht in der die Hand wieder zurück. Er würde gerne mit der
Lage sind, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu Mutter Kontakt aufnehmen, lässt es aber dann doch
werden. In moderner psychoanalytischer Sicht- lieber bleiben. Er entwickelt einen Konflikt zwi-
weise spielt die kindliche Sexualität keine so große schen Nähewünschen und ihrer Abwehr. Die
Rolle mehr. Andere Bedürfnisse, wie diejenigen Abwehr von Nähebedürfnissen dient der Bewäl-
nach Bindung und Kommunikation, aber auch tigung realer Erfahrungen. Auf deren Basis ent-
Exploration sind wichtiger. Beispiel: Der Säugling stehen unbewusste Beziehungsschemata, wie sie
nimmt in der »oralen Phase« nicht deswegen Dinge auch von der Bindungstheorie beschrieben werden
in den Mund, weil er sich dadurch sexuelle Lust ver- (7 Abschn. 4.7.3).
schaffen will, sondern um ihre Beschaffenheit her-
auszufinden. Affektregulation Wie gelingt es Säuglingen, ihre
Gefühle zu regulieren? Um dies zu lernen, benö-
Implizite Beziehungsmuster Im Zentrum der psy- tigen sie die einfühlsame Reaktion eines Gegen-
choanalytischen Theorie stehen unbewusste intra- übers, der primären Bezugsperson, üblicherweise
psychische Konflikte, die das Erleben und Ver- der Mutter. Deren Aufgabe ist es, die vom Kind
halten bestimmen. Innere Konflikte entstammen zum Ausdruck gebrachten Gefühle zu reflektieren
jedoch den interpersonellen Erfahrungen, die ein (Affektspiegelung), und zwar in einer markierten,
Mensch im Verlaufe seiner Entwicklung gemacht übertriebenen Weise, so dass das Kind merkt, dass
hat. Diese Erfahrungen schlagen sich in Verhaltens- es sich nicht um den eigenen Affekt der Mutter, son-
und Erlebensmustern nieder, die nicht bewusst, dern um seinen von der Mutter wahrgenommenen
sondern implizit und im prozeduralen Gedächtnis und zurückgespiegelten Affekt handelt (»Als-ob-
repräsentiert sind (implizites Beziehungswissen). Affekt«). Das Kind sieht sozusagen im Gesicht der
Dieses implizite Wissen enthält z. B. Annahmen da- Mutter seinen eigenen Zustand. Beispiel: Wenn es
rüber, wie man seine Gefühle ausdrücken darf und sich weh getan hat, wird die Mutter den Schmerz in
seine Ziele verfolgen kann, oder Erwartungen, wie ihrem eigenen Gesicht etwas dramatisiert darstellen
andere reagieren werden, wenn man sich ihnen ge- und danach beruhigend und tröstend zum Kind
genüber auf eine bestimmte Art oder Weise verhält. sprechen, wodurch sich dessen Schmerz abmildert.
Beispiel einer auf Video aufgezeichneten Interak- Dies geschieht zunächst ganz automatisch. Später
tionssequenz: Ein 18 Monate alter Junge sitzt zu- kann das Kind diese Strategie auch bewusst einset-
sammen mit seiner depressiven Mutter auf dem zen, nachdem es die Fähigkeit zum symbolischen
Sofa. Er trinkt sein Fläschchen, die Mutter raucht Denken entwickelt hat: Es bildet dann eine Reprä-
eine Zigarette und starrt ins Leere. Nachdem er aus- sentation, d. h. eine Vorstellung des Gefühls, welche
getrunken hat, hüpft er auf dem Sofa auf und ab, es ihm ermöglicht, gezielt Bewältigungsstrategien
ohne dass seine Mutter reagiert. In dem Augen- anzuwenden oder sich von dem Gefühl zu distan-
blick aber, in dem er zu ihr hinüber krabbelt, zieren. Eine ähnliche Rolle kann das Spielen ein-
schimpft sie: »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nehmen, in welchem das Kind beispielsweise so tut,
nicht auf dem Sofa hüpfen!« In dieser Sequenz wird als ob sein Teddybär sich weh getan hat, ihn tröstet
deutlich, dass ihr Schimpfen nicht durch das vor- und das schmerzliche Gefühl auf diese Weise ver-
herige Hüpfen, sondern durch seine Annäherung arbeitet.
34 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Mentalisierung Wenn die Mutter die kindlichen nahme. In der Bezeichnung dieser Phase kommt
Gefühle auf einfühlsame Weise widerspiegelt und zum Ausdruck, dass der Mund und die Haut wich-
feinfühlig, prompt und angemessen auf die kind- tige Medien der frühen Umweltkommunikation des
2 lichen Bedürfnisse reagiert, entwickelt das Kind die Säuglings sind. Gestillt und gefüttert werden, getra-
Vorstellung, dass es selbst, aber auch andere Men- gen und gehalten werden führen zu einem Urgefühl
schen Wesen mit geistigen Zuständen, Wünschen, von Geborgensein und Versorgung, das als Urver-
Bedürfnissen und Absichten sind. Diesen Prozess trauen bezeichnet wird. Bildet sich dieses Gefühl
nennt man Mentalisierung, sein Ergebnis eine theory der Sicherheit nicht angemessen aus, können z. B.
of mind (7 Abschn. 4.7.3). In Abhängigkeit vom Aus- Dispositionen für eine spätere Depression oder
maß der mütterlichen Feinfühligkeit kann dieser auch eine Störung des zwischenmenschlichen Kon-
Mentalisierungsprozess mehr oder weniger gut ge- takts resultieren.
lingen. Wenn eine Mutter die Kontaktwünsche ihres
Kindes zurückweist, wenn sie es zu sehr kontrolliert Anal-muskuläre Phase Diese Phase hat ihren Na-
oder auch überstimuliert, wenn sie infolge eigener men daher, dass nun Reinlichkeitserziehung und
konflikthafter Einstellungen dem Kind nicht gerecht motorische Expansion bedeutsam werden. Zum
wird, am extremsten aber bei sexuellem oder aggres- einen gewinnt das Kind Kontrolle über die Aus-
sivem Missbrauch, kann das Kind diese Fähigkeit, scheidungsfunktionen, zum zweiten kann es sich
sich in andere hineinzuversetzen, nicht ausreichend von seinen Eltern weg bewegen und dadurch Auto-
erwerben. Dies scheint z. B. bei der Borderline-Per- nomie erlangen. Zugleich aber können Scham und
sönlichkeitsstörung der Fall zu sein. Zweifel auftreten, weil die ersten Versuche der Ver-
selbständigung wortwörtlich »in die Hose gehen«
können. Übermäßige Einschränkungen der autono-
2.3.2 Traditionelle Stadien der men Regungen des Kindes durch die Eltern können
psychosexuellen Entwicklung mit Trotz und Rebellion beantwortet werden.

Das traditionelle Stadienmodell der psychosexuel- Phallisch-ödipale Phase In der ödipalen Phase
len Entwicklung geht auf Sigmund Freud, den Be- treten die eigentlichen Sexualorgane in den Vorder-
gründer der Psychoanalyse zurück. Erik H. Erikson grund. Freud hat zwar auch die bisherigen Phasen
erweiterte das Modell über die Kindheit hinaus in als psychosexuelle Stadien verstanden, dabei aber
das Erwachsenenalter. Die Information über die den Begriff der Sexualität weit über die übliche
kindliche Entwicklung gewann Freud, wie erwähnt, Definition hinaus auf jegliche lustvolle Empfindung
aus den Erinnerungen seiner Patienten. ausgedehnt. In der ödipalen Phase verspürt der klei-
Im Stadienmodell der psychosexuellen Ent- ne Junge eine heftige Zuneigung zu seiner Mutter,
wicklung werden typische Phasen beschrieben, die, das kleine Mädchen zu seinem Vater (»Wenn ich
wenn sie gestört werden, zu einer späteren neuro- groß bin, heirate ich dich!«). Das jeweils gleichge-
tischen Erkrankung disponieren können. Diese schlechtliche Elternteil wird dadurch zum Rivalen,
Phasen sind nach den Organsystemen bezeichnet, den man verdrängen möchte. Dies führt zu einem
die in der jeweiligen Zeit eine wichtige Rolle spielen. inneren Konflikt, weil der kleine Junge den Vater
In den Bezeichnungen der Phasen kommt zum Aus- (analog das kleine Mädchen seine Mutter) nicht nur
druck, dass die psychische und sexuelle Entwick- loswerden will, sondern ihn (bzw. sie) zugleich auch
lung in engem Zusammenhang mit der körper- gerne hat. Konkurrenzerleben und Phantasien der
lichen Entwicklung stehen. Einen Überblick über Rivalität verursachen Schuldgefühle. Sexualstörun-
die Stadien der psychosexuellen Entwicklung gibt gen, wie z. B. Verlust des Interesses an der Sexualität
. Tab. 2.1. Im Folgenden werden die Phasen bis zur oder erektile Dysfunktion, können hier eine Wurzel
Adoleszenz näher erläutert. haben.

Oral-sensorische Phase Das Neugeborene ist ange- Latenzphase Nach der ödipalen Phase ist nach
wiesen auf Wärme, Hautkontakt und Nahrungsauf- Freud die frühkindliche Sexualentwicklung ab-
2.3 · Psychodynamische Modelle
35 2

. Tab. 2.1 Stadien der psychosexuellen Entwicklung (nach Freud, Erikson)

Lebensalter Psychosexuelle Umkreis der Bezie- Psychosexuelle Modalitäten Psychosoziale


in Jahren Phasen hungspersonen Krisen

Bis 1½ Oral-sensorische Mutter (Vater) Empfangen und (sich-) ein- Urvertrauen vs.
Phase verleiben, atmosphärisches Urmisstrauen
Fühlen, Hören, Sehen, Riechen

1½ bis 3 Anal-muskuläre Eltern Festhalten und hergeben, Autonomie vs.


Phase Trotz – Fügsamkeit Scham und Zweifel

3 bis 5 (6) Phallisch-ödipale Familie Vergleichen und konkurrieren, Initiative vs. Schuld-
Phase Geschlechtsrollenfindung gefühl

6 bis 10 Latenzphase Wohngegend, Etwas »Richtiges« machen, etwas Leistung vs. Minder-
Schule mit anderen zusammen machen wertigkeitsgefühl

10 bis 18 Pubertät und »Eigene« Gruppen, Wer bin ich? (Wer bin ich nicht?); Identität vs.
(20) Adoleszenz »die Anderen«, das Ich in der Gemeinschaft Identitätsdiffusion
Führer – Vorbilder

20 bis 40 Frühes Erwach- Freunde, sexuelle Sich im Anderen verlieren und Intimität vs.
senenalter – Partner, Rivalen, finden Isolierung
Genitalität Mitarbeiter

40 bis 60 Mittleres Erwach- Gemeinsame Arbeit, Schaffen, versorgen Generativität vs.


senenalter Zusammenleben Stagnation
in der Ehe

Über 60 Spätes Erwach- »Die Menschheit«, Sein, was man geworden ist; Integrität vs.
senenalter »Menschen meiner wissen, dass man einmal nicht Verzweiflung
Art« mehr sein wird

geschlossen, und das Sexuelle tritt in die Latenz lichen Identität einschließlich der Körpermerkmale
zurück. Nun werden Gleichaltrige (die peer group) ein wichtiges Thema sein kann (7 Abschn. 4.8.1).
wichtiger. In der Schule geht es um Leistung und
Kompetenz. Auf der anderen Seite können Min- Kritik Kritisch zur psychosexuellen Stadienlehre
derwertigkeitsgefühle auftreten, wenn sich ein ist anzumerken, dass sie das Konflikthafte und po-
Kind den Leistungsanforderungen nicht gewachsen tenziell Pathologische in den Vordergrund stellt,
fühlt. weil sie ja auf der Basis von Patientenberichten ge-
wonnen wurde. Außerdem weiß man heute auf-
Pubertät und Adoleszenz In der Pubertät werden grund von Längsschnittuntersuchungen, dass die
durch die körperliche Entwicklung (hormonelle Erinnerungen Erwachsener an ihre Kindheit nur
Veränderungen, Auftreten der sekundären Ge- sehr schwach mit damals tatsächlich vorgefallenen
schlechtsmerkmale) zum einen die ödipalen Stre- Ereignissen zusammenhängen. Die beschriebenen
bungen der Kindheit wiederbelebt, zum anderen Phasen sollte man auch nicht streng voneinander
geht es um eine Ablösung aus dem familiären Kon- abgrenzen, sondern eher als Entwicklungsthemen
text und die Hinwendung zu anderen Menschen. betrachten, die mehr oder weniger stark während
Die eigene Identität im Vergleich zu anderen bildet der gesamten Biographie eine Rolle spielen können.
sich aus. Dass diese Anforderungen nicht von allen
Heranwachsenden gleich gut bewältigt werden, Psychotraumatologie Sexueller und aggressiver
zeigen Störungen wie die Pubertätsmagersucht Missbrauch von Kindern ist viel häufiger, als man
(Anorexia nervosa), bei der die Annahme der weib- früher annahm. Missbrauch stellt ein Trauma dar,
36 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

das Langzeitfolgen wie eine psychische Störung, Über-Ich Das Über-Ich vertritt die verinnerlichten
z. B. eine Depression, hervorrufen kann. Dabei Normen der sozialen Umwelt und deren moralische
spielen auch Interaktionen mit genetischen Dis- Forderungen. Es ist eine warnende Instanz, die wir
2 positionen eine Rolle. Mit der psychologischen Be- als die »Stimme des Gewissens« kennen. Während
handlung von Traumaopfern befasst sich die Psy- ursprünglich die elterlichen Verbote und Gebote die
chotraumatologie. Ein Trauma ist definiert als ein triebhaften Bedürfnisse einschränkten, wird diese
Lebensereignis, auf welches fast alle Menschen mit Aufgabe im Laufe der Entwicklung zunehmend von
starker psychischer Belastung reagieren würden. der inneren moralischen Instanz des Über-Ichs
Dazu gehören neben kindlichem Missbrauch auch übernommen. Das Über-Ich umfasst auch eine
andere aggressive oder sexuelle Gewalterfahrun- ideale Vorstellung von sich selbst, der man nach-
gen wie Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, strebt (Ich-Ideal).
Kriegserlebnisse, Folter, aber auch Naturkatastro-
phen oder schwere Unfälle. Die psychische Be- Ich Das Ich vermittelt zwischen Es und Über-Ich.
lastung bildet sich zwar mit der Zeit meist wieder Es berücksichtigt die Forderungen der Realität und
zurück; aber bei einem Teil der Betroffenen (10 % versucht einen Kompromiss zu erzielen zwischen
der Männer, 20 % der Frauen) entwickelt sich eine den Triebbedürfnissen des Es auf der einen Seite
posttraumatische Belastungsstörung. Risikofak- und den moralischen Ver- und Geboten des Über-
toren sind neben der Art und Schwere des Traumas Ichs auf der anderen Seite. Es kann entweder einen
vorbestehende oder wiederholte Traumatisierun- Triebimpuls akzeptieren und seine Befriedigung
gen und die Vermeidung, sich mit dem Trauma aus- ermöglichen und dies lustvoll genießen, aber auch
einanderzusetzen. Denn dann kann das Trauma auf die Erfüllung eines Triebwunsches bewusst ver-
nicht im Gedächtnis abgespeichert werden und zichten oder ihn schließlich unbewusst abwehren
drängt sich dem Erleben immer wieder unverarbei- (7 Abschn. 2.3.5). Das Ich vertritt das Realitätsprin-
tet auf, als würde es jeweils erneut durchlebt werden zip, während das Es vom Lustprinzip regiert wird.
(Intrusionen, flashbacks). In der Therapie lernen die Da das Ich in einem Spannungsverhältnis zwischen
Betroffenen zuerst Strategien anzuwenden, um sich unterschiedlich wirkenden Kräften aus dem Es und
gegen das Eindringen der Traumabilder zu schützen dem Über-Ich steht und es zu entsprechenden Kon-
(Stabilisierung). Danach konfrontieren sie sich vor- flikten zwischen Über-Ich und Es kommen kann,
sichtig und schrittweise mit der traumatischen Er- spricht man von Psychodynamik.
fahrung (Exposition), um sie auf diese Weise in das
autobiographische Gedächtnis zu integrieren. Topographisches Modell Neben dem Instanzen-
modell gibt es noch das topographische Modell. Es
unterscheidet 3 Bereiche, die sich mit den 3 Instan-
2.3.3 Drei-Instanzen-Modell, zen Ich, Es und Über-Ich überschneiden:
Triebmodell 4 das Bewusste,
4 das Vorbewusste,
Das psychoanalytische Strukturmodell der Persön- 4 das Unbewusste.
lichkeit unterscheidet drei Instanzen: Es, Ich und
Über-Ich. Diejenigen psychischen Inhalte, zu denen wir im
aktuellen Erleben Zugang haben, werden als das
Es Das Es ist die Quelle der Wünsche, Antriebe und Bewusste bezeichnet. Das Vorbewusste ist uns
Begierden. Diese unbewussten Impulse, die unwill- zwar aktuell nicht bewusst, kann aber ohne größe-
kürlich aus der Tiefe (deshalb Tiefenpsychologie) ren Aufwand bewusst gemacht werden: Es ist be-
auftauchen, wurden als Triebe bezeichnet. Die Psy- wusstseinsfähig. Das Unbewusste, das nach Freud
choanalyse hat sich vor allem mit dem Sexualtrieb den größten Teil des Seeelenlebens ausmacht, wird
und dem Aggressionstrieb beschäftigt. Diese Triebe hingegen nur sehr selten bewusst. Es setzt dem Be-
drängen auf Befriedigung, stoßen aber auch auf wusstwerden oft sogar einen Widerstand entgegen.
Widerstand und Verbote. Die Bewusstmachung erfordert deshalb bestimmte
2.3 · Psychodynamische Modelle
37 2
therapeutische Techniken wie die freie Assoziation
(7 Abschn. 8.2.1). 5 Selbst-psychologisches Modell: Im Zen-
Während das Es vollständig dem Unbewussten trum dieses Modells stehen Selbstbild und
zugeordnet wird, haben Ich und Über-Ich sowohl Selbstwertgefühl. Psychische Störungen
bewusste als auch vor- und unbewusste Anteile. Die entstehen, wenn ein Mensch keine kohä-
Abwehr als eine Funktion des Ichs erfolgt beispiels- rente Identität und kein ausreichendes
weise gleichwohl unbewusst (7 Abschn. 2.3.5). Selbstwertgefühl ausbilden kann (narziss-
Das Geniale an Freuds Theorie ist die große Be- tische Störung).
deutung, die dem Unbewussten für das Erleben und 5 Objekt-psychologisches Modell: Als Ob-
Verhalten des Menschen zugeschrieben wird. Diese jekte werden in der psychoanalytischen
Entdeckung wurde durch die neuen Ergebnisse der Terminologie die anderen Menschen be-
Hirnforschung voll bestätigt. Neurowissenschaftler zeichnet. Hier geht es um zwischenmensch-
bezeichnen heute wie schon damals Freud das be- liche Beziehungsmuster, die das Erleben
wusste Erleben im Alltag als die »Spitze des Eis- und Verhalten steuern. Psychische Störun-
bergs«, unter der die allermeisten kognitiven und gen entstehen, wenn diese Muster dysfunk-
Wahrnehmungsprozesse unbewusst ablaufen. Aller- tional sind.
dings ist das Unbewusste, wie es von den Neurowis-
senschaften beschrieben wird, nicht aus neuro-
tischen Motiven verdrängt worden, sondern stellt
ein sehr adaptives Verhaltenssteuerungssystem dar 2.3.5 Abwehrmechanismen
(7 Abschn. 4.3.1).
Psychodynamische Persönlichkeitsmodelle
> Eine Möglichkeit des Ichs, mit unbewussten
werden in 7 Abschn. 4.6.2 dargestellt.
Triebregungen, inneren Konflikten oder un-
erträglichen Gefühlen umzugehen, ist die
Abwehr. Abwehrvorgänge halten diese unan-
2.3.4 Trieb-, Ich-, Selbst- und Objekt-
genehmen Zustände vom bewussten Erleben
psychologische Modelle
fern, und der Mensch weiß in der Regel gar
nicht, dass er sich solcher Mechanismen
Die Psychoanalyse ist keine einheitliche Theorie.
bedient, weil auch die Abwehr selbst unbe-
Vielmehr finden sich unter dem Oberbegriff »psy-
wusst erfolgt.
choanalytisch« viele unterschiedliche, teilweise
heterogene Modelle. Abwehrvorgänge können bei der Entstehung psy-
chischer Symptome eine Rolle spielen. Sie sind je-
doch nicht per se pathologisch, sondern kommen
Vier Modelle der Psychoanalyse auch im normalen Alltagsleben (sog. Freudsche
5 Trieb-psychologisches Modell: Dieses frühe Fehlleistungen wie Versprecher) oder bei der psychi-
Modell stellt den Konflikt zwischen einem schen Bewältigung schwerer körperlicher Erkran-
Triebwunsch und der Abwehr in den Vorder- kungen vor. Man unterscheidet eine ganze Reihe von
grund. Psychische Störungen entstehen Abwehrmechanismen je nach der Art und Weise,
demnach durch ein Übermaß an Triebunter- wie unerwünschte Motive oder Gefühle verarbeitet
drückung. werden (. Tab. 2.2).
5 Ich-psychologisches Modell: Hier steht die
Rolle des Ich im Vordergrund, das die Verdrängung Verdrängung ist der Prototyp eines
Funktionen der Emotionsregulation und Abwehrmechanismus. Verdrängen heißt Vergessen
Realitätsanpassung ausübt. Psychische aufgrund unbewusster Motive. Beispiel: »Das habe
Störungen entstehen, wenn das Ich zu ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht
schwach ist, diese Aufgaben zu leisten. getan haben, sagt mein Stolz. Und bleibt unerbitt-
lich. Endlich gibt das Gedächtnis nach« (Nietzsche).
38 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

. Tab. 2.2 Abwehrmechanismen

Mechanismus
2
Verdrängung Ausschaltung bestimmter verpönter Motive und Konflikte aus dem bewussten Erleben

Verschiebung Verlagerung einer Emotion (z. B. Angst, Wut) von einem bedrohlichen auf ein ungefährliches
Objekt (»Prügelknabe«, ein Objekt als Ersatz für ein anderes Objekt)

Verleugnung Abwehr der Realität von traumatisierenden Wahrnehmungen – der Gegenstand einer bedroh-
lichen Wahrnehmung wird als nicht existent angesehen (»Kopf-in-den-Sand-Stecken«)

Projektion Verlagerung eigener abgewehrter Wünsche, Impulse, Ängste, Schwächen und Schuldgefühle
in den anderen (»Sündenbock« = Adressat einer Projektion, dient zur Entlastung von Selbst-
vorwürfen)

Spaltung Widersprüchliche Aspekte bzw. Gefühlszustände – z. B. Wahrnehmen von Gut und Böse
bei sich oder beim anderen – werden so auseinander gehalten, als beträfen sie verschiedene
Personen

Identifikation Unbewusste Übernahme von Einstellungen, Verhaltensweisen und Wertmaßstäben einer


anderen Person oder Gruppe

Reaktionsbildung Aktivierung des entgegengesetzten Impulses (statt Hass übertriebene Freundlichkeit;


Überkompensation)

Rationalisierung Falsche Begründung eines bestimmten Sachverhalts (»Pseudoerklärung«)

Isolierung Künstliches Abtrennen der Gefühle vom gedanklichen Inhalt

Ungeschehen- Vorausgegangenes nichtakzeptables Handeln soll durch nachfolgendes Handeln aufgehoben


machen werden

Sublimierung Ablenkung sexueller Triebenergie auf ein nichtsexuelles, kulturell oder sozial wertvolles Ziel

Konversion Umwandlung von psychischen Konflikten in körperliche Symptome

Verschiebung Eine Emotion, die zu äußern einem Verleugnung ist kein Alles-oder-Nichts-Phä-
Angst macht, wie z. B. Wut auf den Chef, der einen nomen. Auch wenn ein Kranker in einem Augen-
gerade kritisiert hat, gegen den man sich aber nicht blick sich so verhält, als wisse er überhaupt nicht,
zur Wehr setzen kann, wird auf ein weniger gefähr- dass er an Krebs erkrankt ist, kann er in einer ande-
liches Objekt, wie z. B. einen Arbeitskollegen, der ren Situation, in der er sich emotional unterstützt
sich das eher gefallen lässt, verschoben. fühlt, durchaus die Information aus dem Unbe-
wussten »hervorholen«. Verleugnung kann als
Verleugnung Verleugnung bedeutet das Nicht- eine Art Notfall- oder Schutzmechanismus ver-
Wahrhaben-Wollen einer bedrohlichen Informa- standen werden, der verhindert, dass der Betroffe-
tion. Sie findet sich häufig nach der Mitteilung einer ne von Angst oder Verzweiflung überschwemmt
schwerwiegenden Diagnose. Beispiel: Ein Patient, wird. In einer Situation, in der er sich sicher fühlt,
der gerade von seinem Stationsarzt erfahren hat, kann er die Verleugnung dann schrittweise wieder
dass er an einer unheilbaren Krebskrankheit leidet, zurücknehmen und sich mit der bedrohlichen
beschwert sich kurze Zeit später gegenüber der Sta- Realität auseinandersetzen. Kurzfristig kann Ver-
tionsschwester: »In diesem Krankenhaus bekommt leugnung deshalb ganz hilfreich sein. Langfristig
man ja eh nicht gesagt, was man hat.« Verleugnung kann sie aber dazu führen, dass die Patienten not-
richtet sich also eher nach außen, gegen die bedroh- wendige diagnostische und therapeutische Maß-
liche Realität, Verdrängung mehr nach innen, gegen nahmen unterlassen und sich dadurch selbst ge-
unbewusste Triebwünsche. fährden.
2.3 · Psychodynamische Modelle
39 2
> Verleugnungsprozessen kann man als Ärztin der man sich aus der Rolle des Opfers in die Rolle
oder Arzt am besten vorbeugen, indem man des Täters begibt. Dann ist man nicht länger hilflos
Informationen schrittweise vermittelt und sich ausgeliefert, sondern selbst derjenige, der andere
am Informationsbedürfnis des Patienten und angreift.
seinen Verarbeitungsmöglichkeiten orientiert,
um ihn nicht emotional zu überfordern. Reaktionsbildung Bei der Reaktionsbildung wird
eine Gegenreaktion aktiviert. Anstelle von Aggres-
Projektion Eigene Wünsche, Impulse oder Affekte, sivität, die nicht erlaubt ist, zeigt der Betroffene
die ich mir selbst nicht eingestehen kann, werden übertriebene Friedfertigkeit. Die dadurch abge-
anderen zugeschrieben. Man sieht »den Splitter im wehrte Aggressivität wird jedoch für die Umgebung
Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen gleichwohl untergründig spürbar, die Freundlich-
Auge«. Der andere fungiert als »Sündenbock« für keit wirkt gezwungen und unecht.
die eigenen uneingestandenen Schwächen. Beispiel:
Eine Patientin, die voll uneingestandener Wut auf Rationalisierung Diese Abwehrform ist in den
ihre Arbeitskollegen ist, beklagt sich, von ihnen ge- Alltagssprachgebrauch übergegangen. Man versteht
mobbt zu werden. Sie nimmt ihre eigene Aggres- darunter eine Pseudoerklärung, die anstelle der
sivität nicht wahr, ist aber sehr empfindlich für ver- wahren Motive vorgeschoben wird. Beispiel: Ein
meintliche Aggressivität der anderen. Patient mit Lungenkrebs, der an einem Rezidiv
leidet, macht andere, weniger bedrohliche Gründe
Spaltung Bei der Spaltung werden widersprüchli- für seinen Husten verantwortlich, z. B. einen grip-
che Impulse, die eigentlich miteinander unverein- palen Infekt.
bar sein müssten, abwechselnd ausgelebt. Die Um-
welt (oder auch die eigene Person) wird entweder Isolierung Hier werden die mit einem Gedan-
schwarz oder weiß wahrgenommen, nicht aber im keninhalt normalerweise einhergehenden Gefühle
realistischeren Grauton. Beispiele: Eine Patientin nicht wahrgenommen. Man spricht deshalb auch
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die ihren von Isolierung vom Affekt. Beispiel: Ein lebens-
Partner bis gestern noch für ihre letzte Hoffnung bedrohlich Erkrankter redet ohne jede gefühls-
und den einzigen Retter aus ihrem Elend wahrge- mäßige Beteiligung über seine Krankheit, so als
nommen hat, ist aufgrund einer geringfügigen ginge es um eine andere Person, nicht aber um ihn
Enttäuschung nun der festen Meinung, dass er von selbst.
Grund auf böse und schuld an ihrem Unglück sei.
Ein Patient mit einer narzisstischen Persönlich- Ungeschehenmachen Es werden Handlungen un-
keitsstruktur schwankt vom einen Augenblick ternommen, die eine frühere, aber inakzeptable
zum anderen zwischen Größenideen (»Ich bin der Handlung unwirksam und rückgängig machen
Größte!«) und Minderwertigkeitsgefühlen (»Ich sollen. Beispiele: Ein Patient mit einer Zwangs-
bin ein Nichts!«). Spaltungsvorgänge findet man neurose entwickelt einen Waschzwang, um sich
auch bei Patienten, die das Behandlungsteam in die von unbewussten Schuldgefühlen rein zu waschen.
Guten und die Bösen aufteilen, beispielsweise den Ein Patient nach Herzinfarkt unternimmt Kraft-
Stationsarzt idealisieren und die Stationsschwester proben, um sich zu beweisen, dass er noch »ganz
verteufeln. der Alte« ist.

Identifikation Um Gefühle von Minderwertigkeit Sublimierung Hierunter verstand Freud, dass


abzuwehren, kann man versuchen, sich mit einer sexuelle Triebenergie in einen anderen »Aggregats-
berühmten Person zu identifizieren und so sein zu zustand« überführt und beispielsweise in wissen-
wollen wie diese. Beispiel: Jugendliche, die sich in schaftliche oder künstlerische Leistungen umgesetzt
einer Identitätskrise befinden und sich anziehen wie wird. Solche Leistungen kann man selbstverständ-
ihr bewunderter Star. Als Identifikation mit dem lich auch aus anderen Gründen als Abwehrprozes-
Aggressor bezeichnet man eine Abwehrform, bei sen erbringen.
40 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Konversion Unter Konversion verstand Freud die Beispiel: Der oben erwähnte Dirigent mit der
Umwandlung von psychischen Vorgängen in kör- Konversionsstörung kann nun in seiner unbewuss-
perliche Innervationen. Unter einer Konversions- ten Phantasie nicht mehr in die Situation geraten,
2 neurose wurde demnach eine Störung verstanden, seinen Rivalen anzugreifen, da er ja gelähmt ist. Das
bei der körperliche Beschwerden auftreten, die als nimmt Druck von ihm.
symbolischer Ausdruck eines unbewussten Kon-
> Als sekundären Krankheitsgewinn bezeich-
flikts erklärbar sind. Zwei Beispiele: Ein Dirigent hat
net man die äußeren Vorteile, die ein Kranker
den unbewussten Impuls, seinen Rivalen anzu-
aus seiner Krankheit zieht. Der sekundäre
greifen. Da dieser Impuls inakzeptabel ist, ent-
Krankheitsgewinn kann unbeabsichtigt, aber
wickelt er stattdessen eine Lähmung des rechten
auch bewusst sein.
Arms. Ein Angestellter, der auf eine höhere Position
befördert wurde, der er sich unbewusst nicht ge- Beispiel: Unser Dirigent muss aufgrund seiner Läh-
wachsen fühlt, entwickelt Schwindelgefühle und mung nicht zur Arbeit gehen und sich damit auch der
Standunsicherheit. unangenehmen Konkurrenzsituation am Arbeits-
Konversionssymptome treten meist in den Be- platz nicht aussetzen. Häufige Formen des sekundären
reichen der Motorik, Sensibilität und Sinneswahr- Krankheitsgewinns sind Zuwendung durch den Ehe-
nehmung auf: funktionelle Lähmungen, psycho- partner (7 Abschn. 2.2.2 »chronische Rückenschmer-
gene Anfälle, die klar von epileptischen Anfällen zen«) sowie Entlastung von Verpflichtungen zu Hau-
unterschieden werden können, Sensibilitätsstörun- se oder bei der Arbeit (Krankschreibung, Frühberen-
gen oder psychogene Sehstörungen. Dabei findet tung). Bei manchen Kranken kann der Wunsch, für
man keinen organischen Befund, der die subjek- einen Unfall entschädigt zu werden oder wegen einer
tiven Ausfälle erklären könnte. Heutzutage wird der chronischen Krankheit eine Rente zu bekommen
Begriff Konversionsstörung vor allem auf Symp- (Rentenbegehren), so übermächtig werden, dass
tome im Bereich der Neurologie angewendet, ohne alle Behandlungsversuche fehlschlagen.
dass man die ursprüngliche Theorie einer Um-
wandlung unbewusster Phantasien in symbolische
körperliche Beschwerden durchgehend aufrecht- 2.3.7 Struktur und Konflikt
erhält. Im ICD-10 werden Konversionsstörungen
auch als dissoziative Störungen bezeichnet. Im In der multiaxialen operationalisierten psycho-
Begriff Dissoziation kommt zum Ausdruck, dass die dynamischen Diagnostik (OPD), die im Rahmen
Betroffenen kein Wissen davon haben, dass sie ihre der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie-
Beschwerden durch unbewusste Prozesse selbst er- verfahren (7 Abschn. 8.2.1) eingesetzt wird, unter-
zeugen. Eine dissoziative Störung muss von einer scheidet man zwischen den Achsen Struktur und
Simulation, d. h. dem bewussten Vortäuschen der Konflikt. Weitere 3 Achsen betreffen Krankheits-
Beschwerden, abgegrenzt werden. erleben und Behandlungsvoraussetzungen, Bezie-
hungsmuster und die ICD-Diagnose.

2.3.6 Primärer und sekundärer Struktur Unter der Achse Struktur wird beurteilt,
Krankheitsgewinn wie gut das Ich seine Funktionen erfüllt. Zu den Ich-
Funktionen gehören eine differenzierte, ganzheit-
Psychische Symptome verursachen Leid. Auf der liche und realistische Wahrnehmung von sich selbst
anderen Seite gehen sie auch mit einer Entlastung und anderen Menschen, die Regulierung von Im-
für den Kranken einher: Die Konfliktspannung pulsen und Affekten, die Kommunikation mit an-
wird durch die Abwehrprozesse abgemildert, und deren Menschen und das Eingehen stabiler Bezie-
der Betroffene spürt den Konflikt nicht mehr so hungen. Wenn diese Funktionen nicht gut erfüllt
sehr wie zuvor. Diese innerpsychische Entlastung werden, liegt eine gering integrierte Ich-Struktur
durch die Krankheit bezeichnet man als primären vor. Dies ist z. B. bei der Borderline-Persönlichkeits-
Krankheitsgewinn. störung der Fall.
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
41 2
Konflikt Unter der Achse Konflikt wird beurteilt, 2.4.1 Psychosoziale Einflüsse
wie gut es einem Menschen gelingt, einander wider- auf Gesundheit und Krankheit
strebende Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen.
Ein Konfliktthema lautet beispielsweise »Individua- Soziale Rollen, Normen und Einstellungen können
tion versus Abhängigkeit«. Hier geht es um Bedürf- – vermittelt über das Gesundheitsverhalten – die Ge-
nisse nach Nähe und Zusammensein einerseits, sundheit beeinflussen.
Alleinsein und Distanz andererseits. Manche Men-
> Unter einer sozialen Rolle versteht man
schen können diese beiden Bedürfnisse nicht mit-
die Gesamtheit der Verhaltenserwartungen,
einander in Einklang bringen und entscheiden sich
die an den Inhaber einer bestimmten Posi-
einseitig für einen der beiden Pole. Die einen stre-
tion im Netzwerk der sozialen Beziehungen
ben enge, harmonische Beziehungen um jeden Preis
gerichtet werden.
an; die anderen können sich aus Angst, vereinnahmt
zu werden, überhaupt nicht auf eine Beziehung ein- Soziale Rollen führen zu einer gewissen Berechen-
lassen und kämpfen andauernd um ihre Eigenstän- barkeit des Verhaltens von Menschen in sozialen
digkeit. In der OPD wird eine ganze Reihe weiterer Situationen. So kann sich ein Patient normalerweise
Konfliktthemen beschrieben, z. B. Unterwerfung darauf verlassen, dass er vom Arzt eine Diagnose
versus Kontrolle oder Versorgung versus Autarkie. mitgeteilt bekommt und eine angemessene Be-
handlung erhält. Jeder Mensch ist Inhaber mehrerer
i Vertiefen
Rollen, mit denen er unterschiedlich stark identifi-
Dornes M (2001) Der kompetente Säugling.
ziert ist (Rollenidentifikation) oder zu denen er
Fischer, Frankfurt (gut lesbare Einführung in die
auch Distanz hält (Rollendistanz).
Säuglingsforschung)
Rollen legen das Verhalten nicht hundertpro-
Dornes M (2008) Die Seele des Kindes. Fischer,
zentig fest, sondern lassen einen Spielraum für fle-
Frankfurt (sehr verständlich geschriebene Ein-
xibles Verhalten in unterschiedlichen Situationen.
führung in die psychoanalytische Entwicklungs-
Dies kann bis zu einem Konflikt zwischen unter-
psychologie)
schiedlichen Rollenerwartungen gehen. Bestehen
Mertens W (2008) Psychoanalyse. Beck,
unterschiedliche Erwartungen innerhalb einer Rol-
München (gut verständliche Einführung ein-
le, spricht man von einem Intrarollenkonflikt. Bei-
schließlich neuerer Entwicklungen)
spiel: Ein Arzt möchte einerseits seinem Patienten
die optimale und notfalls auch kostspielige Therapie
zukommen lassen, andererseits sieht er sich durch
2.4 Sozialpsychologische Modelle die Krankenkassen unter Kostendruck gesetzt und
möchte deshalb möglichst preiswerte Medikamente
H. Faller verordnen.
Wenn konflikthafte Erwartungen zwischen ver-
Lernziele schiedenen Rollen bestehen, die ein und dieselbe
Der Leser soll Person innehat, spricht man von einem Interrollen-
5 Intra- und Interrollenkonflikte unterscheiden konflikt. Beispiel: Eine Krankenhausärztin, die zu-
können, gleich Mutter eines kleinen Kindes ist, sieht auf der
5 psychische Schutzfaktoren nennen können, einen Seite die Erwartung an sich gerichtet, auf der
5 die Komponenten der sozialen Unterstützung Station Überstunden zu machen, um neu aufge-
beschreiben können, nommene Patienten zu versorgen, und muss ande-
5 die beiden Modelle der Wirkung sozialer rerseits ihre Tochter vom Kindergarten abholen.
Unterstützung (Stress-Puffer-Modell, Haupt- Der Konflikt resultiert hier also aus schwer zu ver-
effektmodell) erläutern können. einbarenden Anforderungen aus der Rolle als Ärz-
tin und der Rolle als Mutter.
Arbeitslosigkeit bedeutet den Verlust einer
zentralen sozialen Rolle. Sie bringt nicht nur finan-
42 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

zielle Einbußen mit sich, sondern auch den Verlust oder aber einer anderen, in der unkooperatives Verhalten
der wichtigsten Quelle sozialer Anerkennung, sanktioniert werden konnte. Jeder erhielt dann 20 Geldein-
heiten und konnte davon so viel er wollte in das öffentliche
den Verlust einer sinnvollen Tätigkeit und eines
Gut einbringen. Jedes Gruppenmitglied profitierte gleicher-
2 strukturierten Tagesablaufs. Arbeitslose leiden an maßen vom öffentlichen Gut, unabhängig vom eigenen Bei-
vermindertem Selbstwertgefühl, Resignation und trag. Diese Spielanordnung stellt natürlich eine Versuchung
Rückzugstendenzen. Sie tragen ein erhöhtes Krank- dar, selbst nichts abzugeben, aber von den Beiträgen der an-
heits- und Sterberisiko. Schlafstörungen, depressive deren zu profitieren. Dies führte dazu, dass die Kooperation in
der sanktionsfreien Gruppe bald gegen Null ging. In der an-
und Angststörungen sind häufig. Die Inanspruch-
deren Gruppe bestand für jeden die Möglichkeit, »Schwarz-
nahme des medizinischen Versorgungssystems ist fahrer« zu bestrafen. Jede Bestrafung kostete das bestrafte
erhöht. Am stärksten belastet sind Langzeitarbeits- Gruppenmitglied 3 Geldeinheiten, war allerdings auch für
lose. Ob Arbeitslosigkeit krank macht (Kausalitäts- denjenigen, der die Sanktion ausübte, mit einem Verlust von
hypothese) oder Krankheit zu Arbeitslosigkeit führt 1 Geldeinheit verbunden. Bestrafung führte also auch für den,
der bestrafte, zunächst zu einem Nachteil. Auch wenn nur
(Selektionshypothese), lässt sich wissenschaftlich
wenige Teilnehmer unter Inkaufnahme dieses Nachteils für die
bis heute nicht abschließend beantworten. Für die Einhaltung der Kooperationsnorm sorgten, führte dies binnen
Kausalitätshypothese spricht, dass eine Wiederauf- kurzem in der sanktionierenden Gruppe zu einem Anstieg der
nahme der Arbeit auch mit einer Verbesserung des Kooperation, so dass bald über 90 % der Mitspieler hohe Bei-
seelischen Befindens einhergeht. Für die Selektions- träge oder gar ihr ganzes Vermögen investierten (und damit
letztlich auch den höchsten Nutzen für sich selbst zogen).
hypothese spricht, dass ein Drittel aller Kündigun-
Zu Beginn des Spiels hatten sich zwei Drittel der Teilnehmer
gen krankheitsbedingt erfolgt. Wahrscheinlich spie- für die sanktionsfreie Gruppe entschieden, nur ein Drittel für
len beide Mechanismen eine Rolle. die sanktionierende. Die Teilnehmer hatten jedoch nach je-
der Spielrunde die Möglichkeit, in die andere Gruppe zu
Soziale Normen Soziale Normen sind Regeln, die wechseln. Von Runde zu Runde wechselten immer mehr Teil-
nehmer in die sanktionierende Gruppe. Diese »Abstimmung
sich auf das Verhalten aller Menschen in der Gesell-
mit den Füßen« demonstrierte klar die Überlegenheit einer
schaft beziehen. Verhalten, das von der Norm sanktionierenden Institution, weil eine wechselseitige Ko-
abweicht, wird negativ sanktioniert, um der Norm operation, die auch für jeden Einzelnen den Nutzen maxi-
Geltung zu verschaffen. Normen unterscheiden sich mierte, nur dort realisiert wurde (Gürerk et al. 2006).
im Grad ihrer Formalisierung und im Ausmaß der
Sanktionen. Normen können auch das Gesundheits- Einstellungen Unter einer Einstellung versteht man
verhalten betreffen. Beispiel: Mit der Safer-Sex-Kam- die Bewertung eines konkreten Objekts, z. B. eines
pagne im Rahmen der HIV-Prävention wird ver- bestimmten Gesundheits- oder Sexualverhaltens.
sucht, eine Verhaltensnorm zu verändern. Es wird Die Psychologie versucht seit langem herauszufin-
angestrebt, dass die Benutzung eines Kondoms zur den, auf welche Weise Einstellungen und Verhalten
Norm beim Geschlechtsverkehr wird. Durch die Än- am besten verändert werden können. Ein wesent-
derung der Einstellungen in der Öffentlichkeit sollen liches Ergebnis ist, dass die Änderung von Einstel-
solche Verhaltensänderungen gefördert werden. lungen oft nicht ausreicht, auch das Verhalten zu
Hintergrundinformation
verändern. Zwischen Einstellungen und Verhalten
Überlegenheit sanktionierender Institutionen besteht nur ein schwacher Zusammenhang. Die
In Public-goods-Experimenten erhalten die Mitspieler ein be- effektivste Methode einer Einstellungsänderung ist
stimmtes Vermögen und entscheiden dann, wie viel sie da- ironischerweise, zunächst das Verhalten zu ändern.
von in einen »öffentlichen Topf« geben, von dem alle umso
Die Einstellungsänderung folgt dann der Verhal-
mehr profitieren, je mehr darin investiert wird. Manche Mit-
spieler investieren viel, in der Erwartung, dass andere ihrem
tensänderung nach (7 Abschn. 10.4.2).
Beispiel folgen und dadurch der Nutzen für alle am größten
wird. Manche hingegen investieren gar nichts und partizi-
pieren lediglich vom öffentlichen Gut (free rider, »Schwarz- 2.4.2 Psychische Risiko-
fahrer«). Wie kann man verhindern, dass wenige Free-Rider
und Schutzfaktoren
alle anderen entmutigen zu kooperieren, so dass das Ausmaß
der Investition in das öffentliche Gut auf Null sinkt?
Ein Experiment: Die Mitspieler konnten wählen, ob sie einer In sozialpsychologischen Modellen werden psy-
Institution beitreten wollen, in der es keine Sanktionen gab, chische Risiko- und Schutzfaktoren im Hinblick auf
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
43 2
die Krankheitsentstehung untersucht. Als Risikofak- ren, was Ursache und was Folge ist, ob Optimismus
toren gelten beispielsweise belastende Lebensereig- zu Wohlbefinden führt oder Wohlbefinden zu
nisse, insbesondere Verlusterlebnisse, mangelnde Optimismus oder beides Teilkomponenten psychi-
soziale Integration, erlernte Hilflosigkeit und De- scher Gesundheit sind.
pression (7 Abschn. 4.4.5). Daneben hat die Gesund- Günstiger als beim Konzept der Salutogenese
heitspsychologie unter unterschiedlichen Bezeich- (7 Hintergrundinformation »Salutogenese«) sieht
nungen eine Reihe einander ähnlicher Konzepte als die Forschungslage bei internaler Kontrollüberzeu-
sog. Schutzfaktoren beschrieben, die der Entste- gung, dispositionellem Optimismus und Selbst-
hung von Krankheiten entgegenwirken sollen. wirksamkeit aus. Hier existieren Längsschnittunter-
suchungen, die zeigen, dass eine hohe Ausprägung
auf den genannten Variablen förderlich für eine
Schutzfaktoren
aktive Krankheitsbewältigung und das Gesund-
5 Internale Kontrollüberzeugung: Überzeu-
heitsverhalten ist. Teilweise ließen sich sogar posi-
gung, durch das eigene Verhalten den
tive Effekte in Bezug auf den körperlichen Krank-
Gesundheitszustand positiv beeinflussen zu
heitsverlauf, z. B. die Rekonvaleszenz nach Opera-
können.
tionen, nachweisen.
5 Selbstwirksamkeit: Überzeugung, ein be-
stimmtes gesundheitsförderliches Verhal- Hintergrundinformation
ten auch unter widrigen Umständen aus- Salutogenese
Das Modell der Salutogenese geht auf den amerikanisch-
führen zu können (Kompetenzerwartung).
israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. Er
5 Dispositioneller Optimismus: Zuversicht, sieht Krankheit und Gesundheit als 2 Pole einer Dimension
Probleme bewältigen zu können, im Sinne und versucht, Faktoren zu identifizieren, die ein Individuum
eines Persönlichkeitsmerkmals. in Richtung auf den Pol Gesundheit bewegen, d. h. der Ge-
5 Hardiness (Robustheit): Gefühl, seine sundheitsförderung (statt der Vermeidung von Krankheit)
dienen. Als gesundheitsförderlichen Faktor hat Antonovsky
Umwelt kontrollieren zu können; Verände-
das sog. Kohärenzgefühl (sense of coherence), d. h. ein Gefühl
rungen als Chance sehen. von Stimmigkeit, beschrieben. Es setzt sich aus 3 Komponen-
5 Kohärenzsinn (sense of coherence): Gefühl, ten zusammen:
dass die Ereignisse des Lebens erklärbar 5 dem Gefühl, dass die Anforderungen des Lebens nicht
sind (Verstehbarkeit), bewältigt werden willkürlich und zufällig, sondern vorhersehbar und er-
klärbar sind (Verstehbarkeit),
können (Bewältigbarkeit) und sich die Be-
5 dem Gefühl, dass ausreichende Ressourcen zur Verfü-
wältigung auch lohnt (Sinnhaftigkeit) gung stehen, diesen Anforderungen gerecht zu werden
(Salutogenese; 7 Hintergrundinformation und die Schwierigkeiten zu lösen (Bewältigbarkeit),
»Salutogenese«). 5 dem Gefühl, dass es sich auch lohnt, sich zu engagieren
und Energie zu investieren (Sinnhaftigkeit).

In den vorliegenden Studien fanden sich positive Korrelatio-


nen mit psychischer Gesundheit sowie negative Zusammen-
Kritik Bei diesen sog. Schutzfaktoren stellt sich zu- hänge mit Ängstlichkeit und Depressivität oder Stress. Aber
nächst die Frage, ob es sich jeweils um eigenständi- diese Zusammenhänge gehen lediglich auf Querschnitts-
ge Konstrukte handelt oder diese Eigenschaften studien zurück, so dass die Frage von Ursache oder Folge
nicht vielmehr einen breiten Überlappungsbereich offen bleiben muss. Mit körperlichen Erkrankungen oder
auch dem Gesundheitsverhalten konnten bisher nur wenige
aufweisen. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob es und zudem inkonsistente Zusammenhänge gefunden wer-
sich um von der Gesundheit unabhängige Faktoren den. Deshalb muss das Modell gegenwärtig als noch nicht
handelt, die die Gesundheit beeinflussen, oder eher ausreichend bestätigt angesehen werden, so dass vor un-
um Bestandteile der (psychischen) Gesundheit. realistischen Erwartungen gewarnt wird. Es wird gleichwohl
Dies ist insbesondere dann nicht zu klären, wenn im oft in einem ideologischen, gesundheitspolitischen Kontext
verwendet, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu
Rahmen einer Querschnittsstudie zu ein und dem- begründen.
selben Messzeitpunkt ein Zusammenhang zwischen
einem sog. Schutzfaktor und der psychischen Ge-
sundheit festgestellt wird. Dann lässt sich nicht klä-
44 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

2.4.3 Soziale Unterstützung an und erhalten auch selbst mehr Hilfe. Sowohl
Frauen als auch Männer profitieren mehr von weib-
licher Unterstützung als von männlicher. In einer
> Soziale Unterstützung (syn. sozialer Rück-
2 halt) ist die hilfreiche Interaktion mit einem
Laborstudie profitierten Männer unter Stress von
verbaler Zuwendung durch ihre Frauen, nicht
anderen Menschen bei der Bewältigung
aber umgekehrt. Frauen profitierten hingegen von
eines Problems.
nonverbaler Zuwendung (Berührung) durch ihre
Männer.
Die Wirkung sozialer Unterstützung wird durch
Komponenten der sozialen Unterstützung
Oxytozin vermittelt. Hierfür sprechen experimen-
5 Emotionale Unterstützung: verständnis-
telle Befunde, die zeigen, dass die Gabe von Oxyto-
volle Zuwendung, Trost, Ermutigung
zin die Wirkung sozialer Unterstützung verstärkt.
5 Instrumentelle Unterstützung: praktische
Umgekehrt profitieren manche Männer, die eine be-
Hilfe, finanzielle Unterstützung, Hilfe bei
stimmte Variante des Oxytozinrezeptorgens tragen,
täglichen Arbeiten
weniger von sozialer Unterstützung. Möglicherweise
5 Informationelle Unterstützung: Informa-
trägt die bessere Verfügbarkeit von Oxytozin zur
tionsvermittlung, Rat, Anleitung
besseren sozialen Einbindung von Frauen bei. Oxy-
5 Bewertungsunterstützung: Übereinstim-
tozin hat die ursprüngliche Funktion, die Mutter-
mung in Wertvorstellungen und Meinungen
Kind-Beziehung zu fördern (7 Abschn. 4.4.5). In der
Evolution hat sich dies als förderlich dafür erwiesen,
Oft wird nur die vom Betroffenen wahrgenomme- dass Mütter ihren Nachwuchs besser vor Gefahren
ne Unterstützung erforscht, also sein persönliches schützen können. Kinder lernen im Laufe ihrer Ent-
Erleben, wie gut er sich von anderen Menschen wicklung, dass die Mutter ihnen Sicherheit ver-
unterstützt fühlt, nicht die tatsächlich erhaltene mittelt. Dieses Sicherheitslernen bildet die Grund-
Unterstützung. Wahrgenommene Unterstützung ist lage für die stressmildernde Wirkung von sozialer
aber auch von der Bewertung durch die jeweilige Unterstützung durch andere Bezugspersonen im
Person abhängig. Bei depressiven Menschen ist bei- weiteren Lauf des Lebens.
spielsweise das Gefühl, gemocht zu werden, gerin-
ger ausgeprägt als bei Gesunden. Wahrgenommene Gesundheitsförderliche Effekte Soziale Unterstüt-
Unterstützung ist eine relativ stabile Erwartung, zung und soziale Integration wirken gesundheits-
ein Persönlichkeitsmerkmal. Wahrgenommene und förderlich und schützen vor Krankheit. Auch bei
erhaltene Unterstützung überlappen sich kaum. schon bestehender Krankheit fördern sie einen
günstigen Verlauf. So hatten beispielsweise Herz-
Soziale Integration Von der funktionellen sozia- infarktpatienten nach einer Bypass-Operation
len Unterstützung lässt sich die soziale Integration einen schnelleren Genesungsverlauf, wenn sie
abgrenzen, d. h. die Integration in ein Netzwerk soziale Unterstützung erfuhren (Besuche vom Ehe-
von sozialen Beziehungen (strukturelle Unterstüt- partner). Soziale Unterstützung fördert die Immu-
zung). Sie hat eine Verhaltenskomponente – das nabwehr und die Wundheilung. Das Mortalitäts-
aktive Engagement in einem breiten Spektrum risiko bei einer koronaren Herzkrankheit ist ge-
sozialer Aktivitäten und Beziehungen – und eine ringer bei gut unterstützten Patienten. Verheiratete
kognitive Komponente – ein Gefühl der Zugehörig- Krebspatienten erhalten häufiger die notwendige
keit und Identifikation mit sozialen Rollen. Gegen- Therapie und haben eine geringere Sterblichkeit
pol ist die soziale Isolation. als unverheiratete Krebspatienten. Allerdings schei-
nen die positiven Effekte sozialer Integration bei
Geschlechtsunterschiede Schon kleine Mädchen Männern etwas stärker ausgeprägt zu sein als bei
haben mehr Freundinnen als Jungen Freunde. Frauen.
Frauen haben zeitlebens engere und größere soziale Für die gesundheitsprotektiven Effekte sozialer
Netzwerke. Sie bieten anderen mehr Unterstützung Unterstützung werden 2 Wirkmechanismen unter-
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
45 2
schieden: das Stress-Puffer-Modell und das Haupt- kognitiven Abbau im Alter. Wie groß das Netzwerk
effektmodell. ist, spielt dabei eine geringere Rolle. Vielmehr ist es
wichtig, wie sehr man sich verbunden fühlt, also
> Das Stress-Puffer-Modell besagt, dass die
qualitative Kriterien. Diese Wirkung wird wahr-
Wirkungen von Stress durch soziale Unter-
scheinlich über das Gesundheitsverhalten vermittelt.
stützung abgemildert (abgepuffert) werden.
Menschen, die in einem sozialen Netzwerk ver-
Stress ist nicht mehr so schlimm, wenn man über- bunden sind, stehen unter stärkerer sozialer Kon-
zeugt ist, dass es jemanden gibt, der einem bei der trolle im Hinblick auf normgerechtes Gesundheits-
Bewältigung hilft. Die belastende Situation er- verhalten. Die Bezugsgruppe, in die man einge-
scheint dann weniger schwierig zu bewältigen, bunden ist, gibt einem eine Norm vor, wie man sich
emotionale und physiologische Reaktionen sind verhalten soll, um »dazu zu gehören« bzw. aner-
abgeschwächt. Beispiel: In einer Längsschnittunter- kannt zu werden (soziale Regulation). Die wichtigs-
suchung mit gesunden schwedischen Männern im te Bezugsgruppe ist zumeist die Familie. Die Ehe-
Alter von 50 Jahren oder älter besaßen diejenigen frau sorgt beispielsweise dafür, dass ihr Mann nicht
Studienteilnehmer, die im Jahr zuvor viele belasten- so viel raucht und trinkt, sich gesund ernährt und
de Lebensereignisse erlitten hatten, in der Folgezeit Sport treibt. Am wichtigsten scheint dabei zu sein,
ein höheres Risiko zu versterben. Dieses Risiko dass sie ihn ermutigt und ihm versichert, dass sie
war jedoch bei denjenigen Männern abgeschwächt, es ihm zutraut, ein bestimmtes Gesundheitsver-
die ein hohes Maß an emotionaler Unterstützung halten (z. B. regelmäßig zu trainieren) auszuüben.
zur Verfügung hatten. Hier handelt es sich um einen Dadurch wird seine Selbstwirksamkeit gestärkt,
typischen Interaktionseffekt (7 Abschn. 3.4.1): Der und es fällt ihm leichter, mit dem Training anzu-
Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit fangen. Wenn er einmal damit begonnen hat, würde
wird durch das Vorhandensein eines 3. Faktors, ohne den kontinuierlichen Ansporn womöglich
nämlich die soziale Unterstützung, abgeschwächt. das Risiko steigen, dass er seine sportliche Aktivität
Der Stress-Puffer-Effekt wird möglicherweise wieder aufgibt und in eine passive Lebensweise zu-
über verminderte negative Emotionen vermittelt. rückfällt. So aber entwickelt er ein Gefühl der Ver-
Negative Emotionen wie Angst und Depression wer- antwortung für sich selbst und seine Familie.
den durch emotionale Zuwendung abgeschwächt. Umgekehrt sind Verlusterlebnisse, Einsamkeit
Dadurch vermindern sich entzündungsfördernde oder konflikthafte soziale Beziehungen mit einem
Botenstoffe (proinflammatorische Zytokine), wäh- erhöhten Krankheitsrisiko verbunden. Geringe so-
rend stressmildernde Peptidhormone wie Oxytozin ziale Unterstützung und Integration begünstigen
und Endorphine ansteigen. die Entwicklung einer Depression. Diese ist selbst
wiederum ein Risikofaktor für die koronare Herz-
> Das Haupteffektmodell besagt, dass soziale
krankheit.
Unterstützung generell günstig ist, unab-
hängig davon, ob sich jemand in Stress befin- i Vertiefen
det oder nicht. Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2013) Einfüh-
rung Gesundheitspsychologie. 3. Aufl. Rein-
Das Haupteffektmodell scheint insbesondere für die
hardt, München (guter Einstieg in die Thematik)
soziale Integration zu gelten. Eine große Zahl von
Studien hat in konsistenter Weise den Zusammen-
hang zwischen guter sozialer Integration und Ge-
sundheit bestätigt. Gesunde Erwachsene, die sozial
besser integriert sind, d. h. verheiratet sind, in Fa-
milien leben oder viele Freunde haben, haben eine
geringere Sterblichkeit. Dies gilt auch in Bezug auf
die Sterblichkeit in Folge spezifischer Erkrankun-
gen, wie Herzerkrankungen und Krebs, ebenso wie
für die Anfälligkeit für virale Infekte oder auch den
46 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

2.5 Soziologische Modelle Kindersterblichkeit sind in der Unterschicht höher,


stationäre Behandlungen wegen Infektionskrank-
H. Faller heiten dauern bei Unterschichtkindern länger, ihr
2 Zahnstatus ist schlechter. Menschen mit Haupt-
Lernziele oder Realschulabschluss erleiden häufiger einen
Der Leser soll Herzinfarkt als Abiturienten. Für viele andere
5 die 3 Indikatoren der sozialen Schicht nennen Krankheiten ließ sich eine solche soziale Ungleich-
können, heit ebenfalls belegen. Auch psychische Störungen,
5 den sozialen Gradienten der Gesundheit be- wie Angststörungen, Depression, Substanzmiss-
schreiben können, brauch und Persönlichkeitsstörungen, sind bei Per-
5 Modelle zur Erklärung des sozialen Gradienten sonen mit niedrigerem sozialen Status häufiger. Die
der Gesundheit erläutern können. wenigen Ausnahmen von diesem Muster sind
Brustkrebs, Asthma, Allergien und Neurodermitis.
Für die Entstehung dieser Krankheiten spielen die
2.5.1 Einflüsse der gesellschaftlichen weiter unten beschriebenen Einflussfaktoren wie
Opportunitätsstruktur Gesundheitsverhalten und Stress offensichtlich eine
geringere Rolle.
Soziologische Modelle befassen sich mit dem Ein- Meist findet sich ein sozialer Gradient mit linear
fluss von Merkmalen der Sozialstruktur auf Gesund- abgestuften Risiken je nach den Schichtstufen. Die-
heit und Krankheit. Innerhalb einer Gesellschaft ser soziale Gradient zeigt sich während der ganzen
sind die Chancen, z. B. für Bildung als Vorausset- Lebensspanne, nimmt im Alter jedoch ab. Schon die
zung des Gesundheitsverhaltens, ungleich verteilt. Schichtzugehörigkeit als Kind sagt gesundheitliche
Der Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen, Unterschiede im Erwachsenenalter voraus. Die mit
wie Bildung, Arbeit und soziale Integration, wird niedriger Schicht verbundenen gesundheitlichen
als soziale Opportunitätsstruktur bezeichnet. Der Risikofaktoren werden also schon sehr früh ange-
wichtigste zusammenfassende Indikator der Oppor- legt. Selbst ein überwiegend genetisch beeinflusstes
tunitätsstruktur ist die soziale Schichtung. Merkmal wie die Körpergröße zeigt einen Schicht-
gradienten. Männer der Unterschicht sind 5 cm
> Die soziale Schicht (syn. sozioökonomischer
kleiner als Männer der Oberschicht. Bei Frauen be-
Status) wird anhand von 3 Merkmalen
trägt der Unterschied 3,5 cm.
bestimmt (sog. meritokratische Triade):
5 Bildung
Erklärungsmodelle In der Soziologie werden haupt-
5 Beruf
sächlich 2 Erklärungsmodelle diskutiert: soziale
5 Einkommen
Verursachung (schlagwortartig formuliert: »Armut
Im Begriff »meritokratisch« wird zum Ausdruck macht krank.«) und sozialer Abstieg (schlagwort-
gebracht, dass der soziale Status durch Leistung artig: »Krankheit macht arm.«). Für das Modell des
»verdient« wurde. sozialen Abstiegs, auch Drift-Hypothese genannt,
finden sich Hinweise bei psychischen Störungen,
Gesundheitliche Ungleichheit Der sozioökonomi- wie der Schizophrenie (7 Abschn. 4.10.4) oder bei
sche Status steht mit der Sterblichkeit (Mortalität) Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit den
und der Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in Zu- Arbeitsplatz verloren haben. Häufiger wird jedoch
sammenhang. Beispiele: Erwachsene ohne Abitur das Modell der sozialen Verursachung für relevant
haben eine kürzere Lebenserwartung als Erwachse- erachtet. Als Einflussfaktoren gelten sowohl mate-
ne mit Abitur. Die Differenz beträgt bei Männern rielle Lebensbedingungen als auch psychosoziale
3 Jahre und bei Frauen 4 Jahre. Zwar steigt die Le- und Verhaltensfaktoren, die in den unteren sozialen
benserwartung auch in den unteren Schichten, Schichten ungünstiger ausgeprägt sind. Die medizi-
aber nicht so schnell wie in den oberen Schichten, nische Versorgung spielt demgegenüber eine geringe
so dass der Unterschied größer wird. Säuglings- und Rolle.
2.5 · Soziologische Modelle
47 2
Auch Persönlichkeitseigenschaften können eine
Krankheitsförderliche Faktoren Rolle als Verursacher spielen. Gewissenhaftigkeit ist
bei niedrigerem sozialem Status neben Intelligenz der beste Prädiktor des Bildungs-
5 Unhygienische oder beengte Wohnverhält- niveaus, aber auch des Gesundheitsverhaltens.
nisse, Lärm, Luftverschmutzung: Diese Niedriger sozioökonomischer Status und ungünsti-
mit ungünstigen Lebensverhältnissen ver- ges Gesundheitsverhalten könnten die gemeinsame
bundene Benachteiligung wird strukturelle Folge einer niedrigen Ausprägung dieses Persön-
oder materielle Deprivation genannt. lichkeitsmerkmals sein.
5 Physische und psychische Arbeitsbelas- Gesundheitspolitische Maßnahmen versuchen,
tungen: schwere körperliche Arbeit, Lärm, gesundheitliche Chancengleichheit herbeizufüh-
Eintönigkeit, geringe Möglichkeit des Mit- ren. Sie sind jedoch bisher nicht sehr erfolgreich
entscheidens, weniger Anerkennung gewesen (7 Abschn. 11.1.4).
(7 Abschn. 4.8.3 »Anforderungs-Kontroll-
modell«, »Gratifikationsmodell«).
5 Ungünstiges Gesundheitsverhalten: 2.5.2 Einflüsse ökonomischer und
Zigarettenrauchen, ungesunde Ernährung, ökologischer Umweltfaktoren
geringere körperliche Aktivität, deshalb
größere Verbreitung der Risikofaktoren für Soziologische Modelle betrachten nicht nur die so-
Krankheiten. ziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft,
5 Geringere Nutzung von Gesundheitsange- sondern vergleichen auch unterschiedliche Gesell-
boten: seltenere Teilnahme an Präventions- schaften miteinander, um Hinweise auf ökonomi-
maßnahmen, geringere Inanspruchnahme sche und ökologische Umwelteinflüsse zu erhalten.
medizinischer Leistungen. Gesellschaften unterscheiden sich im Hinblick auf
5 Psychosoziale Risikofaktoren: mehr Stress das Ausmaß der Industrialisierung (Industrie- vs.
(höhere Sekretion von Adrenalin, Noradre- Entwicklungsländer), Urbanisierung (Anteil der
nalin, Kortisol), geringere Stressbewälti- Bevölkerung, der in Städten vs. auf dem Land lebt)
gungsressourcen, weniger unterstützende und der Teilnahme an den Welthandelsbeziehun-
soziale Netzwerke, mehr negative Emotio- gen (Globalisierung).
nen (Angst, Depression).
Industrialisierung Sowohl innerhalb der Industrie-
länder als auch weltweit lässt sich in den letzten Jahr-
Starkes Übergewicht (Adipositas) und Bewe- zehnten eine Zunahme des Wohlstands konstatie-
gungsmangel kommen bei Menschen mit ge- ren. So hat sich im 20. Jahrhundert der durchschnitt-
ringerer Bildung häufiger vor. Auch das Zigaretten- liche Lebensstandard in Westeuropa zumindest
rauchen ist in den unteren Schichten deutlich verzehnfacht. In der Bundesrepublik Deutschland
stärker verbreitet. Rauchen wiederum ist der wich- als Beispiel für ein Industrieland kann dies daran
tigste einzelne Risikofaktor für die Entstehung illustriert werden, wie lange ein Arbeiter im produ-
einer Vielzahl von Krankheiten, insbesondere von zierenden Gewerbe durchschnittlich arbeiten muss,
Herz-Kreislauf-Krankheiten (Herzinfarkt, Schlag- um ein bestimmtes Produkt erwerben zu können.
anfall) und Krebserkrankungen (Lungenkrebs, Um eine Waschmaschine zu kaufen, musste ein
viele andere Tumorarten). In der Pathogenese der Arbeiter im Jahr 2012 3 Tage arbeiten, im Jahr 1960
koronaren Herzkrankheit spielen entzündliche waren dazu noch 27 Tage erforderlich, für ein Fern-
Prozesse eine Rolle. In der unteren Schicht finden sehgerät im Jahr 2012 4 Tage, 1960 noch 42 Tage.
sich höhere Werte für Entzündungsindikatoren Auch die Kosten für Nahrungsmittel sanken relativ:
(Interleukin 6, C-reaktives Protein). Dies könnte Für 1 Liter Milch waren im Jahr 2012 3 Minuten
zur Risikoerhöhung beitragen. Schon im Kindes- Arbeitszeit aufzuwenden (1960 10 Minuten), für
alter zeigt sich eine entzündungsförderliche Gen- 1 Kilogramm Brot 2012 10 Minuten (1960 19 Minu-
expression. ten). Sehr stark sanken insbesondere die Kosten für
48 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Mobilität (z. B. Flugreisen) oder Kommunikation heute gibt es noch viele Länder, in denen große
(z. B. Telefongespräche). Die Zunahme des Wohl- Armut herrscht. Einer der Gründe, weshalb die ar-
stands hat eine größere individuelle Freiheit mit sich men Länder kein ausreichendes Wirtschaftswachs-
2 gebracht. Dies zeigt sich in folgenden Punkten. tum erzielen, sind Infektionskrankheiten, wie Mala-
ria und Aids. Diese könnten mit mehr Hilfe durch
die entwickelten Länder erfolgreicher bekämpft wer-
Folgen des Wohlstands für die Lebens-
den. Weitere Gründe von Armut sind geographische
gestaltung
Nachteile (z. B. fehlende Häfen), fehlende Infra-
5 Eigener Haushalt: Menschen leben seltener
struktur (z. B. Trinkwasser, Elektrizität, Straßen),
in einer Großfamilie zusammen. Sie entzie-
politische Fehlentwicklungen (z. B. Korruption),
hen sich dadurch der sozialen Kontrolle und
Handelsschranken, Überschuldung, zu wenig Fi-
der Notwendigkeit, auf andere Rücksicht zu
nanzmittel (z. B. für den Kauf von Dünger), eine zu
nehmen. Dies geht nur, weil das günstigere
hohe Geburtenziffer (sog. demographische Falle),
Wirtschaften, das eine Großfamilie erlaubt,
fehlende Schulbildungsangebote, fehlende Gesund-
heutzutage nicht mehr ins Gewicht fällt.
heitsversorgung, Diskriminierung der Frauen oder
5 Arbeitszeitverkürzung: Die effektive Jahres-
ethnischer Minderheiten, Kriege und Bürgerkriege.
arbeitszeit hat sich in den letzten 100 Jahren
Der wichtigste Grund ist das Versagen der Regierun-
halbiert. Dadurch bleibt mehr Zeit für die in-
gen, das sich in Korruption und fehlender Rechts-
dividuelle Lebensgestaltung.
staatlichkeit äußert. Nur 5 % der knapp 50 Länder
5 Wahl des Wohnorts: Individuelle Mobilität
Schwarzafrikas sind liberale Demokratien. Die klas-
und Freiheit bei der Wahl des Wohnorts
sische Entwicklungshilfe ist insbesondere deshalb
haben zugenommen (zu nachteiligen Fol-
gescheitert, weil den Empfängerländern die Institu-
gen der Mobilität auf die Familiengründung
tionen fehlen, die dafür sorgen, dass die Gelder
7 Abschn. 4.9.4).
zweckentsprechend verwendet werden.
5 Emanzipation der Frau: Die Freiheiten von
Frauen hinsichtlich Berufstätigkeit, Wahl
Urbanisierung Während in den Industrieländern
des Partners, Reversibilität der Partnerwahl
die Kernstädte schon wieder schrumpfen, nimmt
(Scheidung) als Folge der finanziellen Un-
in den Entwicklungsländern die Migration vom
abhängigkeit haben zugenommen.
Land in die großen Städte immer mehr zu. Mega-
städte entstehen, der Anteil der Weltbevölkerung,
der in Städten lebt, wächst. Menschen flüchten
Zeitbudget Generell kann eine Zunahme der Frei- vom Land wegen zu geringer Erträge der Landwirt-
zeit konstatiert werden, die sich von 1900 bis heute schaft, Umweltzerstörung oder vor Bürgerkriegen.
verdoppelt hat, und dies auch noch vor dem Hinter- Sie erhoffen sich vom Leben in der Stadt bessere
grund einer Zunahme der Lebenszeit um mehr als Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Bildung, Woh-
die Hälfte. Während der Anteil der Arbeitszeit von nung und Gesundheitsversorgung und bessere
34 % auf 9 % zurückging und der Anteil für die Be- Infrastruktur. Diese Hoffnungen erfüllen sich nicht
friedigung der Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen) für alle. In Schwarzafrika, Mittel- und Südasien
mit 41 % bzw. 40 % konstant blieb, stieg der Anteil leben 50 % der Stadtbewohner in Slums, in Süd-
der Freizeit von 25 % auf 51 % an. amerika 30 %. Pilotprojekte streben an, die Woh-
nungssituation zu verbessern. Slumbewohner erhal-
Armut Zwischen 1990 und 2010 hat sich die Zahl ten Grundeigentum als Anreiz dafür, angemessene
der Armen weltweit halbiert. Seitdem lebt rund Wohnungen zu bauen. Zugleich soll eine funktionie-
1 Mrd. Menschen weniger unter Armut und Hun- rende Infrastruktur geschaffen werden. Insgesamt
ger. Ursache dafür ist das zunehmende wirtschaft- geht Urbanisierung mit wirtschaftlicher Entwick-
liche Wachstum in den Entwicklungsländern. Vor lung, Zunahme des durchschnittlichen Pro-Kopf-
der industriellen Revolution kämpften die Men- Einkommens und Abnahme der Geburtenrate ein-
schen weltweit mit Armut und Hunger. Doch auch her (7 Abschn. 4.9.4).
2.5 · Soziologische Modelle
49 2
Globalisierung Als Ursache des zunehmenden
Wohlstands wird die Steigerung der Produktivität in Einflussfaktoren gesellschaftlicher
Folge von internationaler Arbeitsteilung angesehen. Strukturen auf Gesundheit
Länder können sich auf diejenigen Produkte spezi- 5 Das Ausmaß der Einkommensungleichheit
alisieren, die sie besonders gut und kostengünstig (Gini-Koeffizient) innerhalb einer Gesell-
herstellen können. Beide Partner eines Handels- schaft (je geringer, desto günstiger). Neuere
austausches profitieren davon. Für Industrieländer Studien auf breiterer Datenbasis konnten
bedeutet dies die Chance, sach- und humankapital- diesen Zusammenhang allerdings nicht be-
intensive Produkte zu exportieren und lohnintensiv stätigen. Wenn überhaupt vorhanden, ist
hergestellte Produkte billiger zu erwerben, die in der Effekt sehr klein.
ehemaligen Entwicklungsländern kostengünstiger 5 Das Ausmaß der gegenseitigen Verbun-
hergestellt werden können. Damit einher geht je- denheit der Mitglieder einer Gesellschaft
doch auch das Risiko, dass ineffiziente Arbeitsplät- (soziale Kohäsion).
ze, bei denen die Lohnkosten die Produktivität 5 Das Ausmaß des Vertrauens, das man seiner
übersteigen, verloren gehen. Für die Entwicklungs- gesellschaftlichen Umwelt entgegenbringt
länder bedeutet Globalisierung vor allem Abbau (soziales Kapital).
der Handelsbeschränkungen, Öffnung der Märkte
der Industrienationen für die Produkte der Ent-
wicklungsländer und Investitionen internationaler Lebenserwartung Infolge der Verbesserung der Le-
Unternehmen, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen. bens- und Ernährungsbedingungen (ausreichende
Für alle Nationen bedeutet Globalisierung poten- Ernährung, sauberes Trinkwasser, hygienische
ziell die Förderung von Demokratie und der univer- Wohnungen) ist es in den letzten hundert Jahren zu
sellen Geltung der Menschenrechte. einer kontinuierlichen Zunahme der Lebenser-
Es lässt sich empirisch zeigen, dass der Wohl- wartung gekommen (7 Abschn. 4.9). Noch immer
stand eines Landes, gemessen am Bruttoinlands- besteht jedoch eine starke Diskrepanz zwischen der
produkt pro Person, umso größer ist, je größer die Lebenserwartung in Industrieländern und in Ent-
wirtschaftliche Freiheit in diesem Land ist, gemes- wicklungsländern. Auch die Körpergröße, ein stark
sen an Indikatoren wie dem geringen Einfluss des genetisch bedingtes Merkmal, nahm in den vergan-
Staates auf die Wirtschaft, freien Außenhandels- genen Jahrzehnten kontinuierlich zu, wahrschein-
beziehungen, einer stabilen Währung, Rechtssicher- lich als Folge verbesserter Ernährungsbedingungen.
heit, Schutz des Eigentums und einer niedrigen Selbst in einem so kurzen Zeitraum wie 10 Jahren
Regulierungsdichte, z. B. am Arbeitsmarkt. konnte ein derartiger Effekt nachgewiesen werden:
Entwicklung hat auch psychologische Auswir- Rekruten aus der ehemaligen DDR erreichten
kungen. Je höher der Entwicklungsstand einer Ge- binnen 10 Jahren nach der Wende die Größe ihrer
sellschaft, gemessen an Lebensstandard, Bildungs- westdeutschen Altersgenossen, denen sie zuvor kör-
niveau und Lebenserwartung, desto zufriedener pergrößenmäßig um 2 cm unterlegen waren.
und glücklicher sind die Menschen und desto ge-
ringer ist die Selbstmordrate. Damit muss die weit Wohlstandskrankheiten Mit der Industrialisierung
verbreitete These, dass die Modernisierung der Ge- und den damit einhergehenden verbesserten Le-
sellschaft Unglück und Unzufriedenheit mit sich bensbedingungen nahmen insbesondere Infek-
bringt, in Frage gestellt werden. tionskrankheiten stark ab. Die Industrialisierung hat
jedoch ihren Preis: die sog. Wohlstandskrankheiten,
die durch das Gesundheitsverhalten mitbedingt
sind. Hier sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen anzuführen. Risikofaktoren der koronaren
Herzkrankheit und des Schlaganfalls sind Zigaret-
tenrauchen, arterielle Hypertonie (Bluthochdruck),
Hypercholesterinämie (erhöhte Blutfettwerte) und
50 Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle

Hyperglykämie (Diabetes mellitus). Diese Risiko- Dies spricht gegen starke regionale oder gesell-
faktoren sind ganz überwiegend vom Verhalten ab- schaftliche Einflüsse auf die Entstehung psychischer
hängig (Zigarettenrauchen, zu wenig körperliche Störungen. Die Schizophrenie tritt beispielsweise
2 Aktivität, Über- und Fehlernährung). Dass Überge- weltweit in allen untersuchten Ländern mit einer
wicht eine Folge des Lebensstils ist, lässt sich anhand ungefähr gleich hohen Lebenszeitprävalenz von 1 %
einer Studie mit Immigranten zeigen. Einwanderer auf, was gegen einen starken ökonomischen oder
in die USA im 1. Jahr nach der Einwanderung waren ökologischen Einfluss spricht.
zu 8 % übergewichtig, im Unterschied zu 22 % der
i Vertiefen
Amerikaner. Aber nach 15 Jahren waren die Ein-
Mielck A (2005) Soziale Ungleichheit und Ge-
wanderer inzwischen fast genauso häufig überge-
sundheit. Huber, Bern (zusammenfassende Dar-
wichtig (19 %) wie die Einheimischen.
stellung der empirischen Befunde zur Schicht-
abhängigkeit von Gesundheitsindikatoren)
Soziale Instabilität Eine soziologische Theorie be-
Schwartz FW, Walter U, Siegrist J, Kolip P, Leidl R,
sagt, dass soziale Instabilität (Anomie) die Suizid-
Dierks ML, Busse R, Schneider N (Hrsg) (2012)
rate fördert (Emile Durkheim). Ein Beispiel ist
Public Health. Gesundheit und Gesundheits-
der Verlauf der Suizidrate des russischen Bevölke-
wesen. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München (um-
rungsanteils in Estland während des Unabhängig-
fassende, handbuchartige Übersicht)
keitsprozesses. Während die russischen Einwohner
Siegrist J (2005) Medizinische Soziologie, 6. Aufl.
Estlands zu Zeiten der Sowjetunion, als sie noch
Urban & Fischer, München (viele Beispiele zu
privilegiert waren, eine niedrigere Suizidrate auf-
sozialer Ungleichheit und Krankheit)
wiesen als die Esten, stieg die Suizidrate während
des Verlusts ihrer privilegierten Position auf Werte
über diejenigen der Esten (und auch der Russen in
Russland).
Soziale Veränderungen sind jedoch nicht per se
negativ. So konnte in den neuen Bundesländern, wo
sich nach der Wende erhebliche soziale Veränderun-
gen – zwar meist positiver, aber z. T. auch negativer
Art, wie Anstieg der Arbeitslosigkeit – vollzogen,
eine Abnahme der Suizidrate festgestellt werden.
Suizide erfolgen oft im Rahmen einer psychischen
Störung, insbesondere einer Depression. Durch die
bessere Erkennung und Behandlung einer Depres-
sion kann dementsprechend die Suizidrate gesenkt
werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür,
dass in der ehemaligen DDR nach der Wende die
Suizidrate abnahm und auf das niedrigere Niveau
der alten Bundesrepublik fiel. In der DDR durfte zu-
vor über Depression und Suizid nicht gesprochen
werden, weil es nicht mit der sozialistischen Ideo-
logie vereinbar war. Nachdem dieses Tabu aufge-
brochen worden war, konnten entsprechende dia-
gnostische und therapeutische Maßnahmen einge-
leitet werden, mit dem Ergebnis einer besseren Be-
handlung der Depression und einer niedrigeren
Suizidrate.
Gegenwärtig ist die Prävalenz psychischer Stö-
rungen in Ost- und Westdeutschland gleich hoch.
51 3

Methodische Grundlagen
H. Faller

3.1 Hypothesenbildung – 53
3.1.1 Theorie, Hypothese, Konstrukt – 53
3.1.2 Statistische Hypothesenprüfung – 54
3.1.3 Falsifikationsprinzip – 58
3.1.4 Induktives versus deduktives Vorgehen – 58

3.2 Operationalisierung – 59
3.2.1 Variablen – 59
3.2.2 Skalierung und Indexbildung – 59
3.2.3 Skalenniveaus – 60

3.3 Testdiagnostik – 61
3.3.1 Testkonstruktion, Itemselektion, Skalenbildung – 61
3.3.2 Gütekriterien – 62
3.3.3 Messfehler – 65

3.4 Untersuchungsplanung – 66
3.4.1 Typen von Variablen – 66
3.4.2 Untersuchungspläne (Studiendesigns) – 67
3.4.3 Randomisierte kontrollierte Studie – 68
3.4.4 Nichtexperimentelle Studien – 71
3.4.5 Stichprobengewinnung – 76
3.4.6 Methodentriangulation – 77

3.5 Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung – 77


3.5.1 Individual- und Aggregatdaten – 77
3.5.2 Primär- und Sekundärdaten – 78
3.5.3 Fremd- und Selbstbeurteilung – 78
3.5.4 Interviewformen – 78
3.5.5 Interviewstile – 79
3.5.6 Systematische und teilnehmende Beobachtung – 79
3.5.7 Tagebuchverfahren – 80

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
3.6 Psychobiologische Methoden der Datengewinnung – 81
3.6.1 Elektrophysiologische Parameter – 81
3.6.2 Endokrine und immunologische Parameter – 82
3.6.3 Bildgebende Verfahren der Hirnforschung und Psychobiologie – 83

3.7 Datenauswertung und -interpretation – 84


3.7.1 Quantitative Auswertungsverfahren – 84
3.7.2 Deskriptive Statistik – 84
3.7.3 Inferenzstatistik – 85
3.7.4 Risikokennwerte – 89
3.7.5 Number needed to treat (NNT) – 90
3.7.6 Weitere Risikokennwerte – 91
3.7.7 Qualitative Auswertungsverfahren – 92

3.8 Ergebnisbewertung – 93
3.8.1 Replizierbarkeit, Generalisierbarkeit, Kreuzvalidierung – 93
3.8.2 Metaanalyse – 93
3.8.3 Evidenzbasierte Medizin – 95
3.8.4 Kosten-Nutzen-Bewertung – 95
3.8.5 Ethische Konsequenzen, Werturteilsproblematik – 96
3.8.6 Formative und summative Evaluation – 97
3.1 · Hypothesenbildung
53 3
Medizin und Psychologie gewinnen ihre Erkenntnisse auf dessen Grundlage Theorien über den Sachver-
durch empirische Forschung, d. h. durch systema- halt, der erforscht werden soll, entwickelt wurden.
tische Untersuchung des jeweiligen Forschungsge- Theorien haben die Funktion, Sachverhalte zu
genstands (empirisch = auf Erfahrung beruhend). beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Sie
Damit empirische Untersuchungen aussagekräftig bestehen aus einzelnen Bausteinen sowie aus Aus-
sind, müssen sie eine Reihe von Regeln befolgen. Von sagen über deren Zusammenhang. Beispiel: Das
der Formulierung der Fragestellung und Hypo- Risikofaktorenmodell der koronaren Herzkrank-
thesen über die Auswahl des Untersuchungsplans heit (KHK) sagt voraus, dass die Wahrscheinlich-
(Forschungsdesigns) und der Messinstrumente, keit, dass sich eine KHK entwickelt, erhöht ist, wenn
die Durchführung der Studie und die statistische Aus- bestimmte Risikofaktoren vorliegen, wie arterielle
wertung der Daten müssen an vielen Punkten wich- Hypertonie, Diabetes mellitus, Hypercholesterinä-
tige Entscheidungen getroffen werden, die festlegen, mie und Zigarettenrauchen.
welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen Aus einer Theorie lassen sich Hypothesen für
einer Studie gezogen werden können. Das folgende zukünftige Forschungen ableiten. Eine Hypothese
Kapitel soll einen ersten Einstieg in die Forschungs- ist eine Erwartung, deren Wahrheitsgehalt in der
methodik ermöglichen. Nicht nur, wenn Sie selbst geplanten Studie überprüft werden soll. Hypo-
eine Untersuchung planen, z. B. im Rahmen einer thesen müssen deshalb so formuliert werden, dass
Doktorarbeit, sondern auch wenn Sie den Bericht sie prinzipiell prüfbar sind. Eine denkbare Hypo-
über eine Studie in einer wissenschaftlichen Zeit- these, die aus dem Risikofaktorenmodell abgeleitet
schrift lesen, benötigen Sie grundlegende Kenntnisse werden könnte, wäre: Eine Intervention zur Ver-
der Forschungsmethodik, um die Aussagekraft der änderung des Lebensstils vermindert die Rezidiv-
Studie beurteilen zu können. rate eines Herzinfarkts. In diese Hypothese fließt
Wissen aus dem Risikofaktorenmodell ein: Wenn
verhaltensabhängige Risikofaktoren die Entstehung
einer koronaren Herzkrankheit fördern, so fördern
3.1 Hypothesenbildung
diese möglicherweise auch das Risiko für einen
Lernziele erneuten Herzinfarkt (Reinfarkt, Infarktrezidiv)
Der Leser soll
bei schon bestehender KHK. Wenn dies der Fall
5 den Begriff des theoretischen Konstrukts
wäre, so müsste sich durch eine Intervention, die
definieren können,
diese Risikofaktoren vermindert, die Häufigkeit
5 probabilistische und deterministische Hypo-
von Herzinfarktrezidiven vermindern lassen. Diese
thesen unterscheiden können,
Hypothese kann dann in einer empirischen Studie
5 das Prinzip der statistischen Hypothesenprüfung
überprüft werden.
beschreiben können,
5 den Begriff der statistischen Signifikanz definie- Konstrukt Die Bausteine einer Theorie – in unse-
ren können. rem Beispiel das Vorliegen von Risikofaktoren und
der Eintritt eines Herzinfarkts – sind in der Medizin
meist relativ leicht zu fassen. Anders ist es in der
Psychologie. Dort sind die Bausteine der Theorie oft
3.1.1 Theorie, Hypothese, Konstrukt weniger gut greifbar, sondern theoretische (hypo-
thetische) Konstrukte.
Theorie und Hypothese Wenn man ein Forschungs-
projekt plant, legt man zunächst die Fragestellung > Ein Konstrukt ist ein theoretisches Kon-
fest und formuliert die Forschungshypothese. Hier- zept, das selbst nicht direkt beobachtet wer-
zu ist es erforderlich, die bisherige Forschung mög- den kann, sondern aus seinen Indikatoren
lichst vollständig zur Kenntnis zu nehmen. In vielen erschlossen wird. Indikatoren wiederum sind
Bereichen der Medizin und Psychologie gibt es Merkmale, die der Beobachtung oder Mes-
schon einen umfangreichen Forschungsbestand, sung zugänglich sind.
54 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Das klassische Beispiel für ein Konstrukt ist die In- Probabilistische Hypothese Eine probabilistische
telligenz. Sie lässt sich nicht direkt beobachten, Hypothese hat den Charakter einer Wahrscheinlich-
sondern wird aus der Leistung einer Person im keitsaussage. Sie behauptet beispielsweise: Wenn
Intelligenztest erschlossen. Man muss sich deshalb der Risikofaktor Hypertonie vorliegt, dann ist die
davor hüten, von Konstrukten so zu sprechen, als Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Herz-
handle es sich um real existierende Dinge. Was sich infarkts erhöht. Um wie viel das Risiko im Vergleich
3 hinter dem Namen eines Konstrukts verbirgt, wird zu einer Person ohne Hypertonie erhöht ist, kann
erst deutlich, wenn man berücksichtigt, auf welche quantifiziert werden, aber nur für die Gesamt-
Weise es erfasst wird (Operationalisierung, 7 Ab- gruppe der Menschen mit hohem Blutdruck. Für
schn. 3.2). das einzelne Individuum ist keine sichere Aussage
möglich. Ein Mensch mit Hypertonie trägt zwar
Prüfung der Wirksamkeit einer Intervention Eine generell ein erhöhtes Risiko; ob er im Einzelfall
wichtige Fragestellung in der Medizin ist die- aber erkrankt oder gesund bleibt, kann man nicht
jenige, ob eine medizinische Maßnahme, z. B. ein sicher vorhersagen. Umgekehrt kann auch ein
neues Medikament, wirksam ist. Hier geht es um Mensch mit normalem Blutdruck einen Herzinfarkt
die Prüfung einer kausalen Hypothese: Lassen sich bekommen.
die festgestellten Effekte, z.  B. eine verminderte
Sterblichkeit (Mortalität), eine geringere Rezidiv-
häufigkeit (Morbidität) oder eine verbesserte 3.1.2 Statistische Hypothesenprüfung
Lebensqualität, kausal auf das Medikament zu-
rückführen? Eine sichere Antwort auf diese Frage Null- und Alternativhypothese Die Hypothese, in
kann man nur mit einem bestimmten Studientyp der das erwartete Ergebnis einer Studie formuliert
gewinnen: der experimentellen Studie. Prototyp wird, nennt man Forschungshypothese. In einer
des Experiments in der klinischen Forschung ist Forschungshypothese wird meist ein Zusammen-
die randomisierte kontrollierte Studie. Sie wird in hang zwischen 2 Sachverhalten bzw. der Effekt einer
7 Abschn. 3.4.3 ausführlich vorgestellt. Mittels Intervention behauptet. Beispiel: »Eine Intervention
einer gut geplanten und durchgeführten experi- zur Lebensstiländerung bei koronarer Herzkrank-
mentellen Studie lassen sich konkurrierende Erklä- heit (KHK) senkt das Risiko eines Infarktrezidivs.«
rungen für die festgestellten Effekte weitgehend Die Forschungshypothese wird auch als Alternativ-
ausschließen. hypothese (H1) bezeichnet. Sie stellt eine Alter-
native zum bisherigen Wissensstand dar. In ihr wird
Deterministische Hypothese Man unterscheidet eine Annahme formuliert, die einen Zusammen-
deterministische von probabilistischen Hypothe- hang oder den Effekt einer Intervention betrifft, der
sen. Deterministische Hypothesen, wie sie in der neu ist, den bisherigen Kenntnisstand erweitern
Physik formuliert werden können, behaupten einen würde und in einer Studie geprüft werden muss.
Zusammenhang zwischen 2  Merkmalen, der in Zu jeder Alternativhypothese lässt sich eine
allen Fällen gilt, also mit hundertprozentiger Sicher- komplementäre Nullhypothese (H0) formulieren,
heit eintritt. Beispiel: Wenn ein reiner Spiegel einen die den bisherigen Wissensstand (kein Zusammen-
Lichtstrahl reflektiert, dann ist der Einfallswinkel hang, kein Effekt) wiedergibt. Die Nullhypothese
gleich dem Ausfallswinkel. In Medizin und Psycho- behauptet also das Gegenteil der Forschungshypo-
logie kann man häufig keine deterministischen Zu- these. Beispiel: »Eine Intervention zur Lebensstil-
sammenhänge behaupten. Das liegt daran, dass die änderung bei koronarer Herzkrankheit (KHK)
Prozesse der Krankheitsentstehung sehr komplex senkt das Risiko eines Infarktrezidivs nicht.« Null-
sind, d.  h. eine große Zahl von Ursachenfaktoren hypothese und Alternativhypothese decken alle
(multifaktorielle Verursachung) und auch der Zu- möglichen Fälle ab, dazwischen gibt es nichts. Die
fall können eine Rolle spielen. Dementsprechend Alternativhypothese formuliert, dass ein Effekt vor-
sind die Hypothesen hier nicht deterministisch, handen ist, während die Nullhypothese behauptet,
sondern probabilistisch. dass dies nicht der Fall ist.
3.1 · Hypothesenbildung
55 3
Statistische Hypothesenprüfung Das Hypothe- Effekt im Hinblick auf eine Senkung des Infarkt-
senpaar von Null- und Alternativhypothese ist das risikos besitzt. Unter dieser Annahme entstammen
wichtigste Werkzeug, um das Ergebnis einer Studie beide Stichproben auch nach der Intervention aus
gegen den Zufall zu prüfen. Die statistische Prüfung derselben Population mit identischem Infarktrisiko
erlaubt zu entscheiden, ob am Ergebnis einer Studie (die Intervention bringt ja nichts, so die H0). Doch
»etwas dran ist« oder nicht. Dabei geht man fol- auch wenn beide Stichproben aus derselben Popu-
gendermaßen vor: Die inhaltlichen Hypothesen H1 lation stammen, kann es durch die Zufälligkeiten
und H0 werden in statistische Hypothesen H1 und der Stichprobenauswahl (sog. Stichprobenfehler)
H0 umgewandelt, in denen klar festgelegt wird, wie zu Abweichungen in den Stichprobenkennwerten,
man das Zutreffen der Alternativhypothese beur- also in unserem Beispiel der Infarkthäufigkeiten,
teilen will (z.  B. Festlegung der Stichprobenkenn- kommen. Zieht man aus einer Population theo-
werte, wie Häufigkeit eines Infarktrezidivs, und der retisch unendlich viele gleich große Stichproben
statistischen Tests). und berechnet für jede Stichprobe einen Kennwert
(z. B. die Häufigkeit eines Ereignisses), so verteilen
Stichprobenkennwerte und Populationsparameter sich diese Stichprobenkennwerte in bekannter
Für die statistische Prüfung ist die Unterscheidung Weise um den zugehörigen Populationsparameter.
zwischen Stichprobenkennwerten und Popula- Eine solche theoretische (d.  h. mathematisch ab-
tionskennwerten (Populationsparametern) zentral. leitbare) Stichprobenkennwerteverteilung aller
Stichprobenkennwerte beziehen sich lediglich auf möglichen Stichprobenergebnisse ermöglicht es,
die untersuchte Stichprobe, d.  h. die jeweilige Pa- die Wahrscheinlichkeit für ein einzelnes Stichpro-
tientengruppe, die an der Studie teilnimmt (z.  B. benergebnis einzuschätzen. Geringe Abweichungen
KHK-Patienten einer Klinik), Populationspara- des Einzelergebnisses einer Stichprobe vom Popu-
meter auf die Population (Grundgesamtheit), aus lationsparameter sind relativ häufig zu erwarten,
der die Stichprobe stammt (z. B. alle KHK-Patienten größere Abweichungen seltener.
in Deutschland). Kurz gesagt: Die Population ist die Ein statistischer Test macht nun Folgendes: Er
eigentliche Wirklichkeit, die »Welt draußen«, die berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der das Er-
Stichprobe ein kleiner Ausschnitt daraus, den ich gebnis (Infarkthäufigkeit) in der Interventionsgrup-
untersuche. Stichprobenkennwerte weichen immer pe auftreten kann, wenn in der gesamten Population
mehr oder weniger stark vom »wahren« Wert ab, der Wert der Kontrollgruppe gilt (H0 = kein Effekt).
wie er in der Population gilt. Der »Trick« bei der Mit anderen Worten: Er berechnet, mit welcher
statistischen Hypothesenprüfung ist nun folgender: Wahrscheinlichkeit der Unterschied zwischen der
Man muss die Population gar nicht kennen, aus der Interventions- und der Kontrollgruppe durch den
die Stichprobe stammt, die man untersucht hat. Zufall der Stichprobenziehung zustande kommen
Man kann trotzdem mittels der Wahrscheinlich- kann, ohne dass die Intervention einen Effekt hatte
keitstheorie genau bestimmen, mit welcher Wahr- (H0). Der statistische Test errechnet einen Wert p
scheinlichkeit bestimmte Stichprobenkennwerte (probability), der angibt, wie groß die Wahrschein-
auftreten können, wenn diese Stichproben zufällig lichkeit ist, dass das Studienergebnis zufallsbedingt
aus einer Population gezogen werden, in der ein be- ist: Der p-Wert ist die Wahrscheinlichkeit des Kenn-
stimmter »wahrer« Wert gilt. werts (Infarkthäufigkeit) unserer Interventions-
gruppe, unter der Annahme, dass die Nullhypothe-
Statistischer Test und p-Wert Zurück zu unserem se zutrifft. Angenommen, der p-Wert sei in unserem
Beispiel mit der Lebensstilintervention. Als Unter- Beispiel 2 %. Dann heißt das, in 2 % aller Stichpro-
suchungsplan haben wir eine randomisierte kon- benziehungen würde die in der Interventionsgrup-
trollierte Studie gewählt (7 Abschn. 3.4.3). In der pe festgestellte Infarkthäufigkeit zufälligerweise
Interventionsgruppe wurde die Intervention durch- auftreten, wenn Interventionsgruppe und Kontroll-
geführt, in der Kontrollgruppe nicht. Wir nehmen gruppe aus derselben Population gezogen würden.
nun zunächst probehalber an, dass die Nullhypo- Hier kommt nun eine wissenschaftliche Kon-
these gilt, also die zu prüfende Intervention keinen vention ins Spiel: Die Wissenschaft hat sich darauf
56 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

verständigt, die Nullhypothese aufzugeben, wenn eine Eigenschaft der Daten, die ich erhoben habe,
die Wahrscheinlichkeit p kleiner als 5 % ist. Wenn nämlich ihre Wahrscheinlichkeit unter der Annah-
ein Ergebnis (die niedrigere Infarkthäufigkeit in der me der Gültigkeit der Nullhypothese. Ein p-Wert
Interventionsgruppe) bei Gültigkeit der Nullhypo- von 5 % oder kleiner heißt nicht, dass die Nullhypo-
these also eine relativ kleine Wahrscheinlichkeit hat, these nur noch eine Wahrscheinlichkeit von 5 % hat.
hält man es für gerechtfertigt, die Nullhypothese Die Nullhypothese gilt entweder oder sie gilt nicht.
3 aufzugeben und folgerichtig die Alternativhypothe- Nur wissen wir das nicht. Wir wissen jedoch, wie
se anzunehmen. Dies ist eine Entscheidung des For- wahrscheinlich unser Ergebnis wäre, wenn die Null-
schers. Er ist sozusagen bereit, ein gewisses Rest- hypothese gilt.
risiko, nämlich die Irrtumswahrscheinlichkeit von
> Der p-Wert bezeichnet die Wahrscheinlich-
5 %, in Kauf zu nehmen, wenn er bei p <0,05 ent-
keit eines Studienergebnisses (»der Daten«)
scheidet, die Nullhypothese aufzugeben. Er könnte
unter der Annahme, dass die Nullhypothese
sich ja auch geirrt haben. Das gefundene Ergebnis
in der Population (»der Realität«) zutrifft.
kann ja durchaus auch vorkommen, wenn die Null-
Kurz gesagt: p gibt an, mit welcher Wahr-
hypothese zutrifft, wenn auch eher selten, nämlich
scheinlichkeit das Studienergebnis durch Zu-
in maximal 5 % der Hypothesenprüfungen. Wenn
fall zustande gekommen sein kann.
der Forscher also eine ganze Reihe von Studien
durchführen würde, so würde er auf lange Sicht in Wenn das empirische p kleiner als ist das a priori
5  % der Fälle fälschlicherweise die Nullhypothese festgelegte α (p <0,05), so wird das Studienergebnis
verwerfen und die Alternativhypothese annehmen, als statistisch signifikant bezeichnet. Die Nullhy-
obwohl in der Population (»in der Realität«) die pothese gilt als falsifiziert, die Forschungshypothese
Alternativhypothese gar nicht zutrifft, sondern die wird angenommen. Der Name »Nullhypothese«
Nullhypothese. kann deshalb auch damit begründet werden, dass
es das Ziel der Forschung ist, sie zu widerlegen, zu
Fehler 1. Art Diese Fehlentscheidung, die Alterna- »nullifizieren«. Im umgekehrten Fall (p  ≥0,05) ist
tivhypothese fälschlicherweise anzunehmen, nennt das Ergebnis statistisch nicht signifikant, und die
man Fehler 1. Art und das entsprechende Risiko das Nullhypothese wird beibehalten.
α-Fehlerrisiko (. Tab. 3.1). α  und  p dürfen nicht . Abb. 3.1 zeigt dies graphisch für einen zwei-
miteinander verwechselt werden. Das α-Niveau be- seitigen Test. Zweiseitiger Test heißt, dass eine Ab-
stimmt die Irrtumswahrscheinlichkeit: In 5 % der weichung des empirischen Werts nach 2  Seiten
geprüften Hypothesen bin ich bereit, mich zu irren, (höher oder niedriger) geprüft wird. Deshalb ver-
wenn ich die Nullhypothese ablehne. p hingegen ist teilt sich α zur Hälfte auf das obere und zur Hälfte
auf das untere Ende der Wahrscheinlichkeitsvertei-
lung der Stichprobenkennwerte.
. Tab. 3.1 Fehlerarten und -risiken bei statistischen
Durch die Festsetzung des α-Niveaus auf 5  %
Entscheidungen nimmt man also in Kauf, sich bei 5 von 100 Hypo-
thesenprüfungen zu irren und fälschlicherweise
Aufgrund der In der Population gilt ... die Alternativhypothese anzunehmen. Mit anderen
Stichproben- Worten: Jedes 20. signifikante Ergebnis ist ein Zu-
ergebnisse H0 H1
fallsbefund ohne Bedeutung. Deshalb muss man mit
entscheide
ich mich für ... der Hypothesenprüfung sparsam umgehen, sonst
hebelt man die Logik der Signifikanztestung aus.
H0 Richtige Fehler 2. Art,
Man sollte pro Studie nur 1–2 Hypothesen testen.
Entscheidung β-Fehlerrisiko

H1 Fehler 1. Art, Richtige Primäre und sekundäre Zielgrößen Wenn man die
α-Fehlerrisiko Entscheidung Wirksamkeit einer Behandlungsmaßnahme prüft,
interessiert man sich oft für ein breites Spektrum
H0 Nullhypothese, H1 Alternativhypothese
von Erfolgskriterien, z.  B. die Verringerung von
3.1 · Hypothesenbildung
57 3
will, nur haben sie keine hypothesenprüfende Aussagekraft
mehr. Man testet ein Ergebnis nicht mehr gegen den Zufall,
sondern »schaut mal, was in den Daten drinsteckt«, ohne
Gewähr dafür, »dass etwas dran ist«, wenn man etwas findet.
Wird ein Ergebnis bei multiplen Testungen signifikant, be-
deutet das erst einmal nicht viel. Dieser Fund muss in einer
neuen Studie überprüft werden, dann aber hypothesenge-
leitet. Hypothesenprüfende und explorative Auswertungen
müssen streng auseinandergehalten werden. Es ist eine Un-
sitte, die Daten auf signifikante Ergebnisse zu durchforsten
(fishing for significants) und dann nur die signifikanten Be-
funde darzustellen. Damit führt man die Logik des Signifi-
kanztests ad absurdum und produziert Zufallsbefunde, die in
. Abb. 3.1 Stichprobenkennwerteverteilung mit An-
nachfolgenden Studien meist nicht bestätigt werden.
nahme- und Ablehnungsbereich der Nullhypothese (H0) bei
zweiseitigem Test
Fehler 2. Art Man kann sich allerdings auch in der
umgekehrten Richtung irren und die Nullhypothese
Mortalität und Rezidivrate, kardiovaskuläre Risiko- fälschlicherweise beibehalten, obwohl in der Popu-
faktoren, Besserung von subjektiven Beschwerden lation die Forschungshypothese gilt. In unserem
und Lebensqualität, berufliche Wiedereingliede- Beispiel könnte es passieren, dass das Studiener-
rung, zukünftige Krankenhausbehandlungen, Kos- gebnis zwar nicht signifikant ausgefallen ist, in der
ten und vieles mehr. Der Forderung, nur 1–2 Hypo- Wirklichkeit, also der Population, aber tatsächlich
thesen zu testen, kommt man dann dadurch nach, ein Interventionseffekt vorhanden ist. Dies kommt
dass man 1–2  primäre Zielgrößen (primary out- vor allem bei kleinen Stichproben vor, deren Kenn-
comes) auswählt, z.  B. Mortalität und Lebensqua- werte sehr breit schwanken (großer Stichproben-
lität. Alle weiteren Zielkriterien werden dann als fehler), so dass erst sehr große Unterschiede zwi-
sekundäre, weniger wichtige Zielgrößen definiert. schen der Interventionsgruppe und der Kontroll-
Ob die Maßnahme erfolgreich war oder nicht, wird gruppe signifikant werden. Man hätte dann einen
dann an den primären Zielgrößen festgemacht. Die Fehler 2.  Art begangen, und das entsprechende
sekundären Zielgrößen werden entweder mittels Fehlerrisiko ist das β-Fehlerrisiko (. Tab. 3.1).
α-Adjustierung oder explorativ (7 Hintergrundinfor-
mation »Explorative Datenanalyse«) ausgewertet. Teststärke (Power) Das β-Fehlerrisiko ist wie ge-
sagt, vor allem bei kleinen Stichproben sehr hoch.
α-Adjustierung Wenn man mehrere Hypothesen Die Kennwerte kleiner Stichproben stellen wegen
prüft, z.  B. die Wirksamkeit einer Maßnahme auf des großen Stichprobenfehlers nur sehr ungenaue
mehreren Ergebniskriterien untersucht (multiple Schätzungen des Populationsparameters dar. An-
Testungen), dann sollte man α  entsprechend an- genommen, in der Population gilt die Alternativhy-
passen. Man dividiert α durch die Zahl der Testun- pothese, d. h. es besteht in Wirklichkeit ein Effekt
gen und prüft beispielsweise bei 5 Testungen jede der Intervention im Hinblick auf eine Senkung des
einzelne Hypothese statt auf dem 5  %-Niveau auf Infarktrisikos. Übersetzt in die statistische Denk-
dem 1 %-Niveau. Damit hat man das α-Niveau von weise, würde dies bedeuten, dass die Interventions-
5 % für die gesamte Studie beibehalten. Diese Me- gruppe und die Kontrollgruppe nicht mehr aus
thode der α-Adjustierung wird Bonferroni-Korrek- derselben Population stammen, sondern aus ver-
tur genannt. schiedenen Populationen: die Kontrollgruppe aus
einer Population mit einem höheren Infarktrisiko,
Hintergrundinformation die Interventionsgruppe aus einer Population mit
Explorative Datenanalyse
einem geringeren Infarktrisiko. Auch hier kann
Eine Alternative zur bisher beschriebenen hypothesenprü-
fenden (konfirmatorischen) Vorgehensweise stellt die explo-
man wieder vorab berechnen, wie die Risikowerte
rative Datenanalyse dar. Explorativ heißt erkundend. Man in Stichproben aus den jeweiligen Populationen
kann dabei so viele statistische Tests durchführen, wie man ausfallen würden und mit welcher Wahrscheinlich-
58 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

keit bestimmte Risikowerte »per Zufall« auftreten men wird, damit ist aber ebenfalls keineswegs ge-
können. Diese Verteilungen der Stichprobenkenn- sagt, dass sie endgültig bestätigt oder gar bewiesen
werte überlappen sich bei kleinen Stichproben wäre. Theorien können grundsätzlich gar nicht
sehr stark, so dass die Gefahr groß ist, dass man per bestätigt werden, weil nie ausgeschlossen werden
Zufall mit der Interventionsgruppe eine Stichprobe kann, dass in Zukunft Fälle auftreten, die in Wider-
gezogen hat, die noch innerhalb des 95  %-An- spruch zu ihnen stehen. Sie können aber falsifiziert
3 nahmebereichs der Nullhypothese liegt. Um den werden. Falsifikation einer Theorie geschieht durch
β-Fehler zu vermindern, muss man deshalb mög- Falsifikation der Forschungshypothese, die aus
lichst große Stichproben anstreben. der Theorie abgeleitet wurde. Man versucht dann
Vor jeder wissenschaftlichen Studie sollte des- jedoch häufig, die Theorie »zu retten«, indem
halb eine Fallzahlberechnung durchgeführt wer- man ihren Geltungsbereich etwas einschränkt
den, die festlegt, wie groß meine Stichprobe sein und den nicht zu ihr passenden Fall ausgrenzt (Ex-
muss, damit ich den β-Fehler reduziere. Konven- haustion).
tionsgemäß wird das β-Fehlerrisiko auf 20 % festge-
> Eine gute Theorie ist eine Theorie, die mög-
setzt. Dies ist 4-mal so hoch wie das α-Fehlerrisiko,
lichst wenig in Widerspruch zu empirischen
das ja auf 5  % festgesetzt wird. Man ist also eher
Untersuchungen steht und wenige Ein-
bereit, in Richtung des Fehlers 2. Art zu irren, bleibt
schränkungen ihres Geltungsbereichs hin-
also lieber bei der Nullhypothese, sozusagen dem
nehmen musste.
Bewährten, weil jede Neuerung mit Aufwand,
Kosten und Risiken verbunden ist. Wenn das Während in der Forschungspraxis der Wissen-
β-Fehlerrisiko auf 20 %, also 0,2 festgelegt wurde, so schaftsprozess als Anhäufung von Wissen (kumula-
beträgt die Chance, einen Effekt, der in der Popula- tives Wissen) aufgefasst werden kann, das in Über-
tion existiert, auch durch ein signifikantes Stichpro- sichtsarbeiten und Metaanalysen zusammengefasst
benergebnis zu entdecken 1−0,2=0,8. Diese Chance wird (7 Abschn. 3.8.2), gilt wissenschaftstheore-
wird als Teststärke (power) bezeichnet. Ein Syno- tisch das Falsifikationsprinzip. Theorien werden auf
nym für Fallzahlschätzung ist deshalb Powerana- den Prüfstand gestellt, indem man Hypothesen aus
lyse. Um die Fallzahl berechnen zu können, setze ihnen ableitet, die prinzipiell widerlegbar (falsifi-
ich also das α-Fehlerrisiko auf 5 % und die Power zierbar) sind.
auf 80% fest. Als 3. Bestimmungsstück brauche ich
noch eine Schätzung der Größe des erwarteten Un-
terschieds zwischen der Interventionsgruppe und 3.1.4 Induktives versus deduktives
der Kontrollgruppe (Effektstärke, 7 Abschn. 3.7.3), Vorgehen
vorgenommen auf der Basis der bisherigen For-
schung oder meiner klinischen Erfahrung, wie groß Die bisher beschriebene Forschungsstrategie ist
ein Unterschied sein sollte, damit es sich lohnt, deduktiv, insofern aus existierenden Theorien Hy-
dafür eine Intervention durchzuführen. Mit diesen pothesen abgeleitet und geprüft werden. Es gibt
3 Angaben kann ich dann die erforderliche Stich- jedoch auch Situationen, in denen keine ausgearbei-
probengröße (Fallzahl) berechnen. teten Theorien oder umfangreiche Forschungser-
gebnisse vorliegen, so dass man erst einmal darauf
angewiesen ist, aus dem Gegenstand der Forschung
3.1.3 Falsifikationsprinzip heraus induktiv Hypothesen zu entwickeln. Bei-
spiel: Ein neues molekulargenetisches Testverfah-
Wenn das Ergebnis einer Studie nicht signifikant ren bietet die Chance, das Brustkrebsrisiko bei
ausfällt, wird die Nullhypothese vorläufig beibe- Frauen aus Hochrisikofamilien zu bestimmen. Man
halten. Sie ist damit keineswegs bestätigt, da ja in will nun herausfinden, welche Einstellungen gegen-
Zukunft Studien denkbar sind, die sie widerlegen. über diesem Verfahren die potenziellen Inan-
Ein signifikantes Ergebnis bedeutet umgekehrt, spruchnehmerinnen besitzen: Welche Erwartun-
dass die Alternativhypothese vorläufig angenom- gen, welche Befürchtungen sind damit verknüpft?
3.2 · Operationalisierung
59 3
Da dieser Gentest innovativ ist, kann nur begrenzt darstellen und über die das Konstrukt operationa-
auf frühere Forschungsergebnisse zurückgegriffen lisiert wird.
werden. In diesem Fall ist es sinnvoll, zunächst ohne
> Operationalisierung bedeutet Angabe des
Hypothesen mit einer offenen, qualitativen Befra-
Messverfahrens, das man zur Erfassung eines
gungsmethode an den Gegenstand heranzugehen
Konstrukts verwendet.
(7 Abschn. 3.7.7). Eine solche Studie hat explora-
tiven Charakter: Sie dient nicht der Prüfung von Wenngleich man in der Wissenschaft wie auch im
vorher formulierten Hypothesen, sondern der Hy- Alltagsleben meist ein mehr oder weniger genaues
pothesengenerierung. Die neu gewonnenen Hypo- Verständnis davon hat, was man mit Intelligenz
thesen können dann in zukünftigen, hypothesen- oder Depressivität meint, so genügt dies nicht für
geleiteten Studien überprüft werden. eine präzise Hypothesenformulierung. Hierfür ist
es erforderlich, klar zu benennen, was in einer
i Vertiefen
Studie unter Depressivität verstanden wird. Um
Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden
eine Variable präzise zu bestimmen, muss ich das
und Evaluation. 4. Aufl. Springer, Berlin (grund-
Messverfahren angeben, mit dem ich sie erfassen
legendes Werk, in dem alle relevanten Aspekte
will, z. B. eine Fragebogenskala wie das Beck-Depres-
der Forschungsmethodik gut verständlich darge-
sions-Inventar (BDI).
stellt werden)

3.2.2 Skalierung und Indexbildung


3.2 Operationalisierung
Skalierung Die wichtigste Operationalisierungs-
Lernziele methode in der Psychologie ist der Fragebogen
Der Leser soll (wenn dieser normiert ist, wird er auch Test ge-
5 den Begriff der Operationalisierung definieren nannt, 7 Abschn. 3.3). Ein Fragebogen zur Messung
können, der Depressivität besteht aus einer bestimmten Zahl
5 Verfahren der Skalierung und Indexbildung einzelner Fragen (Items). Eine solche Frage, auf
beschreiben können, welcher der Proband ein Merkmal einschätzen soll,
5 die 4 Skalenniveaus beschreiben können. wird Ratingskala (Beurteilungsskala) genannt. Aus
mehreren Einzelfragen wird ein Summenwert ge-
bildet (Summenskala). Da schon die einzelnen
3.2.1 Variablen Fragen mehrstufig zu beantworten sind, ergeben
sich dadurch kontinuierliche Variablen, die einen
Variablen und Operationalisierung In Forschungs- breiten Wertebereich abdecken.
hypothesen werden Zusammenhänge zwischen
> Das am meisten verbreitete Antwortmodell
Variablen postuliert. Variablen sind Merkmale,
ist eine mehrstufige Skala, deren Stufen
die unterschiedliche Ausprägungen haben können.
mit Worten beschrieben (verbal verankert)
Beispiele: Geschlecht mit den Ausprägungen männ-
sind (Likert-Skala; numerische Ratingskala).
lich und weiblich. Arterieller Blutdruck mit den
Beispiel: 1= nicht, 2= wenig, 3= mittelmäßig,
unterschiedlichen Blutdruckwerten. Depressivität
4= ziemlich, 5= stark.
mit den möglichen Werten auf einer Fragebogen-
skala. Die Zuordnung von Zahlen zu einzelnen Die Likert-Technik ist beispielsweise bei Frage-
Merkmalsausprägungen nennt man Messung. The- bögen zur Erfassung der Lebensqualität sehr ver-
oretische Konstrukte, wie Intelligenz, Depressivität breitet, aber auch bei Fragebögen zur Messung von
oder Ängstlichkeit lassen sich, wie in 7 Abschn. 3.1.1 Depressivität und Ängstlichkeit. Fragebogenskalen
gesagt, nicht direkt messen. Man kann jedoch Indi- erbringen ein quantitatives Maß für die Ausprä-
katoren der Intelligenz, der Depressivität oder gung eines Merkmals, z. B. der Lebensqualität oder
Ängstlichkeit angeben, die beobachtbare Variablen Depressivität. Häufig wird auch ein Schwellenwert
60 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

angegeben (Cut-off-Wert), ab dem ein individuel- indikatoren, wie Schulbildung, Stellung im Beruf
les Testergebnis als auffällig angesehen wird. Diese und Einkommenskategorien, Punkte zugeordnet
Cut-off-Werte sind jedoch oft nicht sehr aussage- werden, die zu einer Gesamtpunktzahl verrechnet
kräftig. Man kann deshalb aufgrund von Frage- werden. Schichtindizes sind robuster und zuver-
bogenangaben allein nie die Diagnose einer psychi- lässiger als Einzelindikatoren. Sie geben ein zu-
schen Störung stellen. Hierfür sind strukturierte sammenfassendes Bild des sozialen Status wieder.
3 diagnostische Interviews nach ICD oder DSM Mittels Einzelindikatoren lässt sich aber die so-
erforderlich (7 Abschn. 1.3.2). Das Antwortmodell ziale  Position eines Menschen differenzierter be-
der visuellen Analogskala (VAS) wurde schon im schreiben. Die Einzelindikatoren können nämlich
Kontext der Schmerzmessung vorgestellt (7 Ab- auch widersprüchlich ausfallen (Statusinkonsistenz,
schn. 2.2.2). 7 Abschn. 4.10.3), was in einem zusammenfassen-
Die bisherigen Antwortmodelle waren absolute den Index nicht mehr sichtbar wäre.
Beurteilungsskalen. Wenn der Proband 2 oder
mehrere Personen/Gegenstände vergleichend be-
urteilen soll (Paarvergleich; Rangreihenvergleich), 3.2.3 Skalenniveaus
spricht man von einer relativen Beurteilungsskala.
Beispiel: Jedes Teammitglied soll die anderen Team- Die unterschiedlichen Skalierungen können hierar-
mitglieder in eine Rangreihe nach ihrer Beliebtheit chisch geordnet werden (. Tab. 3.2). Je höher das
bringen. Skalenniveau, desto anspruchsvollere mathema-
tische Operationen sind möglich.
Indexbildung Analog zur Bildung einer Summen-
skala aus den Antworten auf einzelne mehrstufige Nominalskala Das einfachste Skalenniveau ist die
Fragen gibt es die Möglichkeit der Indexbildung. Nominalskala oder Kategorialskala. Sie klassifiziert
Ein Index ist die Summe aus (gewichteten) Einzel- Objekte nach Gleichheit und Verschiedenheit.
werten. Dabei wird immer dann, wenn ein be- Beispiele: Das Merkmal Geschlecht mit den beiden
stimmter Sachverhalt vorliegt (z.  B. ein medizini- Kategorien »Männer« und »Frauen«. Personen
scher Befund in einer Checkliste), ein Punkt ver- werden nach ihrem Familienstand in die Kategorien
geben und aus den Punkten eine Summe gebildet. ledig, verheiratet, geschieden oder verwitwet klassi-
Beispiel: Im Barthel-Index werden Aktivitäten des fiziert. Ein Patient mit belastungsabhängigem Brust-
Alltagslebens, zu deren Bewältigung ein Patient in schmerz (Angina pectoris) aufgrund einer Veren-
der Lage ist, erhoben und mit Punkten bewertet. Je gung der Herzkranzgefäße wird in die diagnostische
nach Bedeutung der einzelnen Punkte für das zu Kategorie »koronare Herzkrankheit« eingeordnet
erfassende Merkmal können diese mit Gewich- und erhält die entsprechende ICD-Ziffer. Diese
tungsfaktoren multipliziert werden, so dass sie stär- Ziffer ist jedoch lediglich zur Identifikation der dia-
ker in den Gesamtwert eingehen. gnostischen Kategorie vorgesehen. Man kann nicht
In der Soziologie werden Indizes der sozialen damit rechnen. Die wichtigste mathematische Ope-
Schicht berechnet, indem den einzelnen Schicht- ration auf der Ebene der Nominalskala ist die An-

. Tab. 3.2 Die 4 Skalenniveaus

Skalenniveau Aussage Beispiele

Nominalskala Gleich/verschieden Geschlecht, Familienstand, Diagnosen

Ordinalskala = Rangskala Größer/kleiner Schulnoten, Sozialstatus, Ratingskala, Likert-Skala

Intervallskala Gleiche Differenzen Temperatur in °C, Persönlichkeitstest, Intelligenztest

Rationalskala = Verhältnisskala Gleiche Verhältnisse Temperatur in Kelvin, MKS-System, Laborwerte, Reaktionszeit


3.3 · Testdiagnostik
61 3
gabe der Häufigkeit, mit der eine Kategorie vor- die Temperaturskala in Kelvin oder das Meter-Kilo-
kommt. Die häufigste Kategorie wird als Modalwert gramm-Sekunde-System, auf dem Laborwerte ba-
oder Modus bezeichnet. sieren. Für psychologische Merkmale im engeren
Sinn trifft dies nicht zu. Eine Ausnahme ist die Mes-
Ordinalskala = Rangskala Die Ordinalskala oder sung der Reaktionszeit, z. B. in Untersuchungen zur
Rangskala ordnet Objekte in größere und kleinere. Informationsverarbeitung.
Beispiele: Schulnoten, sozialer Status, eine mehrstu- Daten, die auf höherem Niveau erhoben wur-
fige Rating-Skala (Einschätzungsskala), ein Likert- den, können vereinfacht werden, so dass weniger
skaliertes Item eines Fragebogens. Wenn man den anspruchsvolle Auswertungsmethoden möglich
5 Antwortstufen von »nicht« bis »sehr« Ziffern zu- werden. (Umgekehrt geht das natürlich nicht.) Mit
ordnet, so wird hierdurch lediglich eine Rangreihe dieser Vereinfachung geht jedoch ein Informa-
ausgedrückt. Es ist jedoch nicht gesagt, dass die Ab- tionsverlust einher. Beispiel: Intervalldaten, wie sie
stände zwischen den 5 Stufen im Erleben des Be- ein Angstfragebogen liefert, können durch Auf-
fragten auch gleich groß sind. Wird ein Merkmal teilung der Stichprobe am Median (median-split) in
auf dem Niveau der Ordinalskala gemessen, so kann Nominaldaten überführt werden: hohe Angst vs.
man den Mittelpunkt der Stichprobenverteilung niedrige Angst. Diese Information ist jedoch viel
mit dem Median beschreiben. Man sortiert dazu die gröber im Vergleich zur feinen Abstufung einer
Stichprobe in eine Rangreihe nach den individu- kontinuierlichen Variablen. Wegen des Informa-
ellen Werten, der Median ist dann derjenige Wert, tionsverlusts sollte man derartige Vereinfachungen
der die Stichprobe in 2 gleich große Hälften einteilt. vermeiden.
50 % der Personen liegen unterhalb, 50 % oberhalb
i Vertiefen
des Medians.
Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden
und Evaluation. 4. Aufl. Springer, Berlin (grund-
Intervallskala Bei einer Intervallskala ist die Vor-
legendes Werk, in dem alle relevanten Aspekte
aussetzung gleicher Abstände zwischen den Skalen-
der Forschungsmethodik gut verständlich darge-
punkten gegeben. Dies gilt z. B. für die Temperatur-
stellt werden)
skala in Celsius oder auch für Summenskalen bei
psychologischen Variablen, z.  B. bei der Messung
des emotionalen Befindens (Depressivität, Ängst-
lichkeit) oder von Persönlichkeitsmerkmalen und 3.3 Testdiagnostik
Intelligenzfaktoren. Voraussetzung dafür ist, dass
die einzelnen Fragen, aus denen der Summenwert Lernziele
gebildet wird, gleich schwierig sind, so dass also Der Leser soll
jemand, der beispielsweise einen Punkt mehr auf 5 die 3 Testgütekriterien und ihre Bestimmung
einer Intelligenzskala hat, auch eine gleich schwie- beschreiben können,
rige Aufgabe mehr gelöst hat. 5 Möglichkeiten der Standardisierung nennen
Die Intervallskala erlaubt die Bestimmung des können,
arithmetischen Mittelwerts (Summe der einzelnen 5 Antworttendenzen bei Fragebögen beschreiben
Werte dividiert durch die Stichprobengröße) als können.
Kennwert der Lage der Verteilung.
> Intelligenztests und Persönlichkeitstests
3.3.1 Testkonstruktion, Itemselektion,
haben maximal Intervallskalenniveau
Skalenbildung

Rationalskala = Verhältnisskala Die Rationalskala Itemanalyse Die wichtigste Untersuchungsmetho-


oder Verhältnisskala erfordert zusätzlich einen de in der Medizinischen Psychologie ist der Frage-
absoluten Nullpunkt. Erst dann ist es möglich, Ver- bogen oder Test. Ein Test setzt sich aus einer be-
hältnisse oder Quotienten zu bilden. Dies gilt für stimmten Zahl von einzelnen Fragen zusammen
62 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

(items, Einzelteil), die zu einer oder mehreren Sum- 3.3.2 Gütekriterien


menskalen verrechnet werden. Nachdem der Test-
konstrukteur eine Sammlung von Fragen angelegt
hat, in denen das zu untersuchende Merkmal zum
Gütekriterien für Tests
Ausdruck kommen könnte, und diese Fragen auf
5 Objektivität: Unabhängigkeit von der
Verständlichkeit geprüft hat, führt er eine Itemana-
3 lyse durch.
Person des Untersuchers
5 Reliabilität: Genauigkeit, Zuverlässigkeit,
> Für die Itemanalyse sind 2 Kriterien Reproduzierbarkeit (»Wie präzise misst das
besonders wichtig: Instrument?«)
5 Schwierigkeit, 5 Validität: Gültigkeit, inhaltliche Bedeutung
5 Trennschärfe. (»Was misst das Instrument?«)

Schwierigkeit Meist wird eine mittlere Schwierig- Die Gütekriterien bauen hierarchisch aufeinander
keit der Items angestrebt. Aufgaben eines Intelli- auf. Objektivität ist Voraussetzung für Reliabilität,
genztests, die so leicht sind, dass sie von allen Pro- diese wiederum ist Voraussetzung für Validität. Die
banden gelöst werden, sind sinnlos, weil sich darin Gütekriterien werden oft auch Testgütekriterien ge-
keine interindividuellen Unterschiede abbilden nannt, weil sie im Kontext der Testtheorie ent-
können. Dasselbe trifft für Items zu, die so schwer wickelt wurden. Sie gelten aber nicht nur für Tests,
sind, dass niemand sie lösen kann. Analog gilt bei sondern für jede Form von Messung, und zwar
Tests zur Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der
oder anderen Konstrukten: Items, die alle Men- Medizin im Allgemeinen.
schen bejahen oder verneinen, sind wenig aussage-
kräftig. Aber auch ein paar eher leichte und eher Objektivität Objektivität ist definiert als Unabhän-
schwere Fragen können sinnvoll sein, um die unter- gigkeit des Testergebnisses von der Person, die den
suchte Gruppe auch an den oberen und unteren Test durchführt. Sie wird durch eindeutige, stan-
Enden der Merkmalsausprägung differenzieren zu dardisierte Instruktionen und streng formalisierte
können. Auswertungs- und Interpretationsprozeduren ge-
fördert. Inzwischen gibt es Tests, die der Befragte
Trennschärfe Items sind vor allem dann gut geeig- am Computer selbst durchführt (z. B. mittels eines
net, wenn sie Menschen, die eine hohe Ausprägung Touch-Screens), und die Auswertung wird automa-
eines Merkmals besitzen, von denjenigen trennen, tisch von einem Computerprogramm vorgenom-
die eine niedrige Ausprägung aufweisen. Die Trenn- men. Die Objektivität wird geprüft, indem man den
schärfe lässt sich anhand des Zusammenhangs Test durch 2 unterschiedliche Testleiter durchfüh-
(Korrelation) zwischen der einzelnen Frage und ren lässt und die Testergebnisse des einen Durch-
dem Gesamtwert einer Skala bestimmen. Je höher gangs mit denjenigen des anderen Durchgangs ver-
die Trennschärfe, d. h. je stärker die Einzelfrage mit gleicht. Ein guter Test sollte perfekt objektiv sein,
dem Skalenwert korreliert, umso besser kann sie d. h. beide Untersucher sollten zum selben Ergebnis
Menschen mit hoher bzw. niedriger Ausprägung kommen. Bei der Übereinstimmung zwischen
des Merkmals voneinander unterscheiden. Fremdbeurteilungen (z.  B. 2  Expertenurteile über
die Symptomatik des Patienten) spricht man von
der Interrater-Reliabilität (Beurteilerübereinstim-
mung; 7 Abschn. 7.2.1). Damit ist ausgedrückt, dass
die Objektivität ein grundlegender Aspekt der Reli-
abilität ist.

Reliabilität Reliabilität ist die Genauigkeit und Zu-


verlässigkeit der Messung. Ein Test misst präzise,
3.3 · Testdiagnostik
63 3
wenn die Ergebnisse bei unterschiedlichen Messun- Je höher Cronbachs α, desto homogener die Items
gen in unterschiedlichen Situationen gleich aus- eines Tests/einer Skala. Große Homogenität fördert
fallen (Reproduzierbarkeit). Die Reliabilität wird die Reliabilität.
beeinträchtigt, wenn beispielsweise mangelnde
Konzentration oder Ablenkung durch situative Fak- Validität Ein Test ist valide, wenn er dasjenige
toren zu einer Verfälschung des Testergebnisses Merkmal, das er messen soll, auch tatsächlich misst.
führen. Die Reliabilität von Tests kann man sich Zu diesem Zweck muss man das Testergebnis mit
analog zur Situation bei der Längenmessung vor- einem Außenkriterium korrelieren, in dem das
stellen: Ein Maßstab zur Längenmessung ist dann Merkmal möglichst gut zum Ausdruck kommt. Für
nicht reliabel, wenn er sich beispielsweise unter die Validität gibt es in der Regel nicht, wie bei Ob-
Hitze verformt und infolgedessen je nach Umge- jektivität und Reliabilität, einen einzigen Koeffizi-
bungstemperatur unterschiedliche Messergebnisse enten, der die Validität quantifiziert. Vielmehr gibt
produziert. Die Reliabilität von Laboruntersuchun- es unterschiedliche Strategien, und erst aus dem
gen wäre beispielsweise durch ungenaues Arbeiten Gesamtbild der geprüften Zusammenhänge kann
der Laboranten beeinträchtigt. man die Validität eines Tests beurteilen.

Bestimmung der Reliabilität Zur Bestimmung der


Aspekte der Validität
Reliabilität gibt es mehrere Vorgehensweisen. Die
5 Kriteriumsbezogene Validität: Korrelation
wichtigste ist die Retest-Reliabilität (Testwieder-
des Testergebnisses mit einem Referenz-
holungsreliabilität). Dabei führt man den Test bei
standard (Goldstandard)
derselben Untersuchungsgruppe im Abstand von
5 Konstruktvalidität: Korrelationen mit
beispielsweise 1 Woche noch einmal durch und kor-
anderen Indikatoren des Konstrukts
reliert die beiden Messreihen miteinander. Ein guter
5 Diskriminative Validität (known-groups
Test sollte eine hohe Korrelation von mindestens
validity): Unterscheidung von Patienten-
0,8 erbringen. Voraussetzung der Retest-Reliabilität
gruppen
ist natürlich, dass das Merkmal, das von dem Test
5 Änderungssensitivität: Abbildung von
gemessen wird, in diesem Zeitraum konstant geblie-
Verlaufsänderungen
ben ist (Stabilität). Je nach Merkmalsstabilität kann
man den Zeitraum unterschiedlich lang wählen. Bei
Persönlichkeitsfragebögen, die mittelfristig stabile
Merkmale messen, kann der Zeitraum durchaus Kriteriumsbezogene Validität Die wichtigste Me-
länger sein (z.  B. 4  Wochen), bei Befindlichkeits- thode zur Bestimmung der Validität besteht darin,
merkmalen, die binnen kurzem schwanken kön- das Testergebnis mit einem Referenzstandard in
nen, muss er entsprechend kürzer sein, oder aber Beziehung zu setzen. Man kann beispielsweise ein
eine Bestimmung der Retest-Reliabilität ist sogar Screening-Verfahren für koronare Herzkrankheit,
überhaupt nicht sinnvoll, wenn das Merkmal in- wie das Belastungs-EKG, mit dem Befund der Koro-
stabil ist. narangiographie in Beziehung setzen oder das Er-
Falls eine Wiederholungstestung nicht möglich gebnis einer Mammographie als Screening für
ist, kommen andere Reliabilitätsbestimmungen in Brustkrebs mit dem pathologischen Befund der
Betracht. Bei der Paralleltestreliabilität werden Biopsie. In der Psychologie ist es oft nicht so ein-
2 Versionen des Tests miteinander korreliert (sofern fach, einen Goldstandard zu finden. Für einen
es 2 Versionen gibt). Bei der Testhalbierungsrelia- Fragebogen, der emotionale Belastung misst wie
bilität (Split-half-Reliabilität) wird ein Test/eine Ängstlichkeit oder Depressivität, wird meist als Re-
Unterskala in 2 Hälften eingeteilt, und die beiden ferenzstandard ein strukturiertes klinisches Inter-
Hälften werden miteinander korreliert. Die interne view herangezogen. Wenn das Kriterium in der
Konsistenz basiert auf den Korrelationen zwischen Gegenwart liegt, spricht man von konkurrenter
allen möglichen Halbierungen einer Summenskala. Validität, wenn es in der Zukunft liegt, wie beispiels-
Sie wird mit dem Kennwert Cronbachs α bestimmt. weise das Kriterium Berufserfolg, das durch einen
64 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Berufseignungstest vorhergesagt werden soll, von tätsfragebogen einen entsprechenden Anstieg der
prädiktiver oder prognostischer Validität. Werte aufweisen.
Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer
Vorhersagewert, die weitere Aspekte der Krite- Inhaltsvalidität, Augenscheinvalidität Neben den
riumsvalidität darstellen, werden in 7 Abschn. 10.4.4 genannten Strategien der Validitätsbestimmung, die
behandelt. auf statistischen Verfahren beruhen und Kennwerte
3 wie z. B. Korrelationskoeffizienten erbringen, gibt
Konstruktvalidität Wenn es kein Außenkriterium es noch einfachere, schwächere Bewertungskrite-
gibt, kann man Validität auch dadurch bestimmen, rien, die eher Ermessenssache sind. Inhaltsvalidität
dass man einen neuen Test mit schon existieren- ist dann gegeben, wenn ein Test alle relevanten
den Tests korreliert, die dasselbe Konstrukt (Merk- Inhalte eines Konstrukts abdeckt. Beispiel: Ein De-
mal) messen, also beispielsweise ein Kurzver- pressionsfragebogen enthält alle Symptome einer
fahren zur Erfassung der Depressivität mit einem Depression. Von Augenscheinvalidität (face validity)
schon etablierten längeren Depressionstest. Wenn spricht man, wenn es auf den ersten Blick so aus-
man Indikatoren desselben Konstrukts oder von sieht, als erfasse der Test das relevante Merkmal.
miteinander eng verwandten Konstrukten auswählt
und dementsprechend hohe Korrelationen erwar- Standardisierung/ Normierung Standardisierung
tet, spricht man von konvergenter Validität. Wenn oder Normierung (Eichung) bedeutet, dass man an
man im Unterschied dazu die Unabhängigkeit des großen, repräsentativen Stichproben Normwerte
Konstrukts prüfen und z. B. ausschließen will, dass für einen Test gewinnt. Dann kann man nämlich die
ein Intelligenztest weniger Intelligenz als vielmehr individuellen Testwerte zu den Werten einer Ver-
Prüfungsangst misst, so würde man den Intelligenz- gleichsgruppe nach Alter und Geschlecht in Be-
test mit einem Ängstlichkeitsfragebogen korrelie- ziehung setzen. Man vergleicht nicht einfach die
ren. Dann würde man natürlich keine hohe Kor- Rohwerte, z. B. eines jungen Mannes mit denjenigen
relation, sondern eine niedrige oder eine Nullkorre- einer älteren Dame, was bei vielen Konstrukten
lation erwarten (diskriminante bzw. divergente unfair wäre, sondern nimmt Bezug auf den Durch-
Validität). schnittswert der jeweiligen Alters- und Geschlechts-
gruppe. Der Wechsler-Intelligenztest für Erwach-
Diskriminative Validität (known-groups validity) sene ist so normiert, dass der Mittelwert bei  100
Hier schaut man, ob sich klinisch unterschiedliche liegt und 1  Standardabweichung  (SD) 15  Punkte
Gruppen auch im Test unterscheiden. Beispielswei- beträgt. Das bedeutet, dass 68  % der Probanden
se sollten bei einem Test zur Erfassung der Depres- zwischen den IQ-Werten 85 und 115 (±1 SD) und
sivität Patienten, die mit einer akuten Depression in 95 % zwischen 70 und 130 (±2 SD) liegen. Andere
einer Klinik behandelt werden, höhere Werte haben Tests verwenden andere Skalierungen. Die Normie-
als Angehörige der gesunden Allgemeinbevölke- rung anhand von Mittelwert und SD setzt die Nor-
rung oder Patienten, die wegen einer organischen malverteilung der Daten voraus (Gauß-Glocken-
Krankheit im Krankenhaus sind. kurve). Wenn diese nicht gegeben ist, kann eine
Normierung anhand der Prozentrangwerte erfol-
Änderungssensitivität Damit ist gemeint, dass der gen. Prozentrang 90 eines Werts bedeutet z. B., dass
Test in der Lage ist, Veränderungen im Verlauf einer dieser Proband einen höheren Testwert hat als 90 %
Erkrankung oder unter der Therapie abzubilden. der Vergleichsgruppe. Die Rohwerte einer Person
Beispiele: Patienten, die wegen einer Depression werden also in alters- und geschlechtsbezogene
erfolgreich behandelt wurden und deren Sympto- Standardwerte umgerechnet, in denen die Position
matik abgeklungen ist, sollten auch in einem ent- einer Person innerhalb der Werteverteilung ihrer
sprechenden Test niedrigere Werte aufweisen als Bezugsgruppe zum Ausdruck kommt. Diese Stan-
noch während des Akutstadiums. Patienten mit dardwerte lassen sich dann wieder über unter-
klinischer Besserung einer dekompensierten Herz- schiedliche Alters- und Geschlechtsgruppen hin-
insuffizienz sollten auch in einem Lebensquali- weg miteinander vergleichen.
3.3 · Testdiagnostik
65 3
Ökonomie Ein Test, der in der klinischen Routine Strategie, um den Standardmessfehler zu kontrollie-
eingesetzt werden soll, muss ökonomisch sein, d. h. ren und die Reliabilität zu erhöhen. Hier ist der zu-
er darf weder für denjenigen, der den Test ausfüllt, fällige Fehler angesprochen, der die Reliabilität, also
noch denjenigen, der ihn auswertet, zu viel Aufwand die Messgenauigkeit und Präzision des Instruments,
erfordern. Tests sollten deshalb möglichst kurz sein vermindert. Mit Hilfe des Standardmessfehlers lässt
und mit Computerprogrammen schnell ausgewertet sich ein Vertrauensbereich (Konfidenzintervall) be-
werden können. Deshalb wurden von Lebensqua- rechnen, innerhalb dessen der wahre Wert einer
litätsfragebögen wie dem SF-36 Kurzformen wie der individuellen Messung mit einer bestimmten Wahr-
SF-12 entwickelt, die im klinischen Alltag schneller scheinlichkeit liegt. Deshalb kann ein Unterschied
anzuwenden sind. Auch Befindensskalen zur Mes- zwischen 2 Testwerten – sei es zwischen 2 Personen,
sung von Angst und Depressivität sind meist eini- sei es zwischen 2 Zeitpunkten bei ein und derselben
germaßen kurz. Auf der anderen Seite sind viele Person  –  erst dann als wahrer Unterschied (und
psychologische Verfahren wie z. B. Persönlichkeits- nicht nur als Zufallsschwankung) interpretiert wer-
tests zu umfangreich, als dass sie in der medizini- den, wenn er eine bestimmte Größe übersteigt.
schen Routine eingesetzt werden könnten. Dem Messfehler, mit dem jede Einzelmessung
behaftet ist, lässt sich auch durch Kontrollunter-
Testfairness Ein Test ist fair, wenn er Testpersonen, suchungen oder Doppelbestimmungen entgegen-
die einer bestimmten ethnischen, sozialen oder wirken. Beispiel: Bei anthropometrischen Merk-
Geschlechtsgruppe angehören, nicht systematisch malen wie Körpergröße, Gewicht oder Blutdruck
benachteiligt. Schon früh hatte man den Verdacht, erhält man verlässlichere Ergebnisse, wenn man
dass Intelligenztests so beschaffen sind, dass sie sie mehrmals (statt nur einmal) bestimmt und die
Mittel- und Oberschichtangehörige bevorzugen, Messergebnisse mittelt.
weil sie auf elaborierter Sprache beruhen. Man hat Neben dem zufälligen gibt es auch systema-
deshalb versucht, sprachfreie Intelligenztests zu tische Messfehler, die ein Ergebnis immer in eine
entwickeln (sog. culture-fair tests), die diesen Effekt bestimmte Richtung verzerren, wie die nachfolgen-
in geringerem Maße haben sollten. Eine vollstän- den Antworttendenzen oder die in 7 Abschn. 6.2.5
dige Chancengleichheit lässt sich aber damit nicht beschriebenen Beurteilerfehler.
erreichen. Weiterhin ist es wichtig, ob der Einsatz
eines Tests ethisch begründet werden kann (Test- Antworttendenzen Psychologische Fragebögen
ethik), zumal noch immer viele Mythen über die sind vor allem 2 Antworttendenzen ausgesetzt, die
Eignung von Tests, Menschen direkt in die Seele zu Ergebnisse verfälschen können und damit die Vali-
schauen, existieren. dität beeinträchtigen:
4 Tendenz der sozialen Erwünschtheit,
4 Ja-sage-Tendenz (Akquieszenz).
3.3.3 Messfehler
Soziale Erwünschtheit Die Tendenz zur sozialen
Standardmessfehler Der Verkürzung eines Tests, Erwünschtheit bewirkt, dass wir uns in Tests so dar-
wie man sie aus Gründen der Ökonomie anstrebt, zustellen versuchen, wie wir es für wünschenswert
sind Grenzen gesetzt. Die Länge einer Skala, d. h. die erachten. Diese Tendenz wird vor allem in Situa-
Zahl der Items, die zum Skalenwert verrechnet wer- tionen wirksam, in denen vom Testergebnis viel
den, ist nämlich entscheidend für die Reliabilität. abhängt, wie z. B. bei einer Bewerbung. In Situatio-
Das kann man sich leicht vor Augen führen: Wenn nen, in denen Anonymität herrscht, ist die Tendenz
eine Skala aus nur 1 oder 2 Items besteht, so wirkt es hingegen geringer. Der Tendenz zur sozialen Er-
sich massiv aus, wenn ich aus Versehen einmal falsch wünschtheit wird durch die Instruktion entgegen-
ankreuze. Wenn eine Skala jedoch aus 10 Items be- gearbeitet, in der meist ein Satz vorkommt wie der
steht, so fällt dieses Versehen schon sehr viel weniger folgende: »Bitte antworten Sie so, wie es für Sie per-
ins Gewicht. Die Verlängerung einer Skala durch sönlich zutrifft, und versuchen Sie nicht, einen
Hinzunehmen von Items ist deshalb die wichtigste günstigen Eindruck zu erwecken.«
66 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Persönlichkeitstests haben darüber hinaus oft 3.4.1 Typen von Variablen


eine sog. Lügenskala eingebaut, mit der versucht
wird, den Grad der Offenheit, mit der ein Proband Unabhängige und abhängige Variablen In kausalen
den Test beantwortet, abzuschätzen. Lügenskalen Hypothesen unterscheidet man unabhängige und
funktionieren so: Im Test sind kleine Fehler oder abhängige Variablen.
Schwächen vorgegeben, die man, wenn man offen
3 antworten würde, bejahen würde. Beispiele: »Ich
> Unabhängige Variablen sind die vermuteten
Einflussfaktoren, abhängige Variablen die
bin schon zu spät zu einer Verabredung gekom-
angestrebten Effekte. Kurz gesagt: Unabhän-
men«. »Wenn ich irgendwo zu Gast bin, ist mein
gige Variablen sind die Ursachen, abhängige
Benehmen meist besser als zu Hause«. Wenn nun
Variablen die Folgen.
jemand versucht, auch bei diesen alltäglichen Feh-
lern oder Schwächen ein durchweg positives Bild zu In einem Experiment werden die Ausprägungen der
produzieren, so wird ihm dies als Lüge ausgelegt. unabhängigen Variable (z. B. Intervention vs. keine
Das Testergebnis wird als wenig offen bewertet. Intervention) vom Forscher aktiv variiert. Er führt in
der Experimentalgruppe die zu prüfende Interven-
Ja-sage-Tendenz (Akquieszenz) Menschen sagen im tion durch, in der Kontrollgruppe nicht. Unter der
Allgemeinen lieber ja als nein. Sie kreuzen Antwor- Voraussetzung, dass zwischen beiden Gruppen alles
ten an, ohne dies wirklich zu meinen. Der Ja-sage- andere gleich ist, können festgestellte Unterschiede
Tendenz arbeitet man dadurch entgegen, dass man zwischen beiden Gruppen auf dem Ergebniskrite-
einige Testfragen negativ formuliert, so dass man rium (abhängige Variable) dann der Intervention
»nein« sagen muss, wenn man »ja« meint. Das Pro- zugeschrieben werden. Unabhängige Variable ist in
blem dieser Kontrollstrategie ist allerdings, dass da- diesem Beispiel die Intervention (vorhanden oder
durch doppelte Verneinungen auftreten können, die nicht), abhängige Variable das Ergebniskriterium
von manchen Probanden nur schwer verstanden (z. B. die Häufigkeit von Herzinfarktrezidiven oder
werden. die Lebensqualität). Ob zwischen unabhängiger und
abhängiger Variable tatsächlich ein Kausalzusam-
i Vertiefen
menhang besteht, kann man nur auf der Grundlage
Bühner M (2010) Einführung in die Test- und
des jeweiligen Studiendesigns beurteilen.
Fragebogenkonstruktion. 3. Aufl. München,
In einem Laborexperiment gelten die 3 Krite-
Pearson Studium (gut lesbare, verständliche Ein-
rien Wilhelm Wundts: Willkürlichkeit, Variierbar-
führung, auch in modernere Verfahren)
keit, Wiederholbarkeit. Damit ist angesprochen,
dass der Forscher die völlige Kontrolle über die un-
abhängige Variable innehat. In Feldstudien »in der
3.4 Untersuchungsplanung Welt außerhalb des Labors« kann diese Kontrolle
eingeschränkt sein.
Lernziele
Der Leser soll Störvariable (Confounder) Eine dritte Variablen-
5 die unterschiedlichen Typen von Variablen gruppe neben unabhängigen und unabhängigen
definieren können, Variablen sind die Störvariablen (confounder; kon-
5 den Aufbau einer randomisierten, kontrollierten fundierende Variablen). Damit sind Variablen ge-
Studie (RCT) beschreiben können, meint, die ebenfalls das Ergebniskriterium be-
5 die Überlegenheit der RCT für den Wirksam- einflussen können, in der Studie jedoch nicht im
keitsnachweis einer Intervention begründen Zentrum des Interesses stehen. Wenn man die Stör-
können, variable nicht erfasst und kontrolliert, kann man zu
5 Aufbau, Aussagekraft und Fehlerquellen nicht- falschen Schlussfolgerungen verleitet werden. Bei-
experimenteller Studien nennen können, spiel: In einer Längsschnittstudie zur Identifizie-
5 die unterschiedlichen Methoden der Stich- rung von Risikofaktoren für Lungenkrebs findet
probengewinnung beschreiben können. man einen Zusammenhang zwischen Alkoholkon-
3.4 · Untersuchungsplanung
67 3
sum und Lungenkrebshäufigkeit. Dieser Zusam-
menhang ist jedoch durch eine konfundierende
Variable, nämlich Zigarettenrauchen, vorgetäuscht.
Bezieht man den Raucherstatus mit ein, um den
Confounder zu kontrollieren, z. B. durch Stratifizie-
rung, d. h. getrennte Berechnung des Zusammen-
hangs zwischen Alkohol und Lungenkrebs einmal
für Raucher und einmal für Nichtraucher, so lässt
sich innerhalb der Gruppen der Raucher bzw. der
Nichtraucher kein Effekt des Alkohols mehr nach-
weisen. Unabhängig vom Rauchen bringt Alkohol-
konsum also kein zusätzliches Lungenkrebsrisiko
mit sich. Der ursprüngliche Zusammenhang kam . Abb. 3.2 Mediator- und Moderatorvariable. Mediator-
variablen vermitteln einen Effekt, Moderatorvariablen ver-
dadurch zustande, dass Menschen, die rauchen,
ändern ihn
meist auch mehr Alkohol trinken. Alkoholkonsum
ist also lediglich ein Indikator (marker) eines er-
höhten Lungenkrebsrisikos, aber kein kausaler Wenn beispielsweise ein Medikament bei Männern
Risikofaktor (7 Abschn. 1.1.1). Confounder spielen besser wirkt als bei Frauen, dann ist das Geschlecht
in nichtexperimentellen Studien (Fall-Kontroll- eine Moderatorvariable der Medikamentenwir-
Studien, Längsschnitt- bzw. Kohortenstudien; 7 Ab- kung. In statistischer Terminologie spricht man von
schn. 3.4.4) eine wichtige Rolle. Sie können durch einem Interaktionseffekt. Die unabhängige Varia-
noch so ausgefeilte Messmethoden und statistische ble und die Moderatorvariable interagieren mitein-
Prozeduren nie vollständig ausgeschlossen werden. ander (zeigen eine Wechselwirkung) bei der Her-
Deshalb sind die Ergebnisse nichtexperimenteller beiführung des Effekts auf der abhängigen Variable.
Studien hinsichtlich kausaler Zusammenhänge . Abb. 3.2 stellt das Prinzip von Mediator- und
immer mit einer großen Unsicherheit belastet. Moderatorvariablen einander gegenüber.

Mediatorvariable Eine Mediatorvariable vermittelt


(mediiert) die Wirkung der unabhängigen Variable 3.4.2 Untersuchungspläne
auf die abhängige Variable. (Studiendesigns)
> Eine Mediatorvariable ist ein Glied in einer
Im Folgenden werden unterschiedliche Studien-
kausalen Kette des Wirkmechanismus, aus-
typen vorgestellt. Welcher Typ der richtige ist, hängt
gehend von der unabhängigen Variablen hin
von der jeweiligen Fragestellung ab, die durch eine
zur abhängigen Variablen.
Studie beantwortet werden soll. Für alle Studien
Wenn beispielsweise eine Lebensstiländerung zu- aber gilt gleichermaßen: Bevor ein Patient in eine
nächst zu einer Blutdrucksenkung führt und infol- Studie aufgenommen werden darf, muss er vollstän-
gedessen die Infarkthäufigkeit zurückgeht, dann ist dig über deren Sinn und Zweck und das konkrete
der Blutdruck ein Mediator: ohne Blutdrucksen- Vorgehen informiert worden sein. Nur dann kann
kung auch kein vermindertes Infarktrisiko. er rechtsgültig in die Studienteilnahme einwilligen
(informierte Einwilligung, informed consent). Wei-
Moderatorvariable Von der Mediatorvariable muss tere Voraussetzungen umfassen den Datenschutz
die Moderatorvariable abgegrenzt werden. und die absolute Freiwilligkeit, d. h. der Patient hat
keinerlei Nachteile, wenn er sich gegen eine Teil-
> Eine Moderatorvariable ist eine dritte Variab-
nahme entscheidet, und er kann jederzeit ohne
le, die auf den Zusammenhang zwischen der
Angabe von Gründen aus der Studie ausscheiden.
unabhängigen und der abhängigen Variable
Ob eine geplante Studie den ethischen Kriterien
einen Einfluss ausübt.
entspricht, die für die medizinische Forschung in
68 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

der Deklaration von Helsinki und den Prinzipien > Die randomisierte kontrollierte Studie ist
der Good Clinical Practice niedergelegt sind, ent- am besten geeignet, die Wirksamkeit einer
scheidet vorab eine Ethikkommission. Behandlungsmaßnahme zu prüfen.

Einflussfaktoren auf das Studienergebnis Die Be-


3.4.3 Randomisierte kontrollierte gründung für dieses methodische Vorgehen leuch-
3 Studie tet unmittelbar ein, wenn man zum Vergleich einen
weniger gut geeigneten Studienplan betrachtet,
Eine zentrale Fragestellung in der medizinischen der früher häufig verwandt wurde, nämlich die
Forschung lautet: Ist eine Behandlungsmaßnahme sog. Vorher-Nachher-Studie oder Ein-Gruppen-
(Intervention) wirksam oder nicht (Evaluations- Prä-Post-Studie. Dieses Design ist dadurch cha-
studie)? Hier geht es um einen kausalen Zusam- rakterisiert, dass eine einzige Gruppe sowohl vor als
menhang: Ist die Intervention die Ursache des Be- auch nach einer Intervention getestet wird. Ver-
handlungsergebnisses? Der am besten geeignete änderungen zwischen Prä- und Postzeitpunkt wur-
Untersuchungsplan (design), um eine solche kau- den dann als Folge der durchgeführten Interven-
sale Hypothese zu prüfen, ist die randomisierte tion interpretiert. Diese Interpretation ist aber in
kontrollierte Studie (randomized controlled trial, der Regel nicht korrekt. Es gibt nämlich eine ganze
RCT; . Abb. 3.3). Sie ist der Prototyp einer expe- Reihe von alternativen Erklärungen, die in diesem
rimentellen Studie. Kontrolliert heißt dieser Stu- Design nicht ausgeschlossen werden können. Ver-
dienplan, weil neben der Experimentalgruppe (EG), änderungen im Zeitverlauf können allein durch den
in der die zu prüfende Intervention durchgeführt natürlichen Krankheitsverlauf zustande kommen,
wird, eine Kontrollgruppe (KG) ohne diese Inter- wie er sich auch ohne spezifische Intervention er-
vention parallel mitläuft. Bis auf die Intervention eignet hätte. Viele akute Krankheiten bessern sich
sind in beiden Gruppen dieselben Einflussfaktoren nämlich auch von selbst, d. h. durch die natürlichen
wirksam, d. h. alle Faktoren, die das Ergebnis neben Regulationsmechanismen des Körpers (Spontan-
der Intervention noch beeinflussen könnten, wer- remission). Auch bei chronischen Krankheiten
den kontrolliert. Randomisiert heißt dieses Design, bilden sich akute Verschlimmerungen häufig von
weil die Zuteilung der Studienteilnehmer entweder alleine wieder zurück. Ähnlich bei psychischer
zur EG oder zur KG per Zufall erfolgt. Durch diese Belastung: Im Anschluss an die Diagnose einer
beiden Maßnahmen kann man ziemlich sicher sein, schweren körperlichen Erkrankung ist die psy-
dass Unterschiede, die man zum Ende der Studie chische Belastung oft stark ausgeprägt. Sie lässt aber
zwischen EG und KG findet, auf die Intervention in den meisten Fällen auch ohne spezielle Interven-
zurückgehen. tion nach.

. Abb. 3.3 Randomisierte kontrollierte Studie


3.4 · Untersuchungsplanung
69 3
Ein anderer unspezifischer Einflussfaktor auf dend ist vielmehr der Vergleich zwischen EG und
das Ergebnis ist der Erwartungseffekt (Plazebo- KG nach der Intervention (. Abb. 3.3).
effekt). Schon die Erwartung, eine Therapie zu er-
halten, kann zur subjektiven Besserung der Be- Strukturelle Äquivalenz von EG und KG Eine zusätz-
schwerden führen. Nicht auszuschließen sind wei- liche Voraussetzung dafür, dass die kausale Inter-
terhin im selben Zeitraum durchgeführte andere pretation korrekt ist, besteht jedoch darin, dass EG
Behandlungen, deren Wirkung bei diesem Stu- und KG einander strukturell äquivalent sind. Damit
dientyp nicht von der Wirkung der Intervention ist gemeint, dass sich beide Gruppen im Hinblick
zu trennen ist. Schließlich gibt es das rein statis- auf personenbezogene Faktoren, die das Ergebnis
tische  Phänomen, dass extreme Messwerte bei beeinflussen könnten, gleich zusammensetzen. Ein
einer nachfolgenden Messung sich wahrscheinlich wichtiger personenbezogener Einflussfaktor ist das
in Richtung auf Normalwerte bewegen, auch Alter. Viele Krankheiten verlaufen bei jüngeren
ohne dass eine Intervention durchgeführt wurde Patienten günstiger als bei älteren. Wenn nun in der
(statistische Regression zur Mitte). All diese Ein- Interventionsgruppe (EG) mehr jüngere Patienten
flüsse können im Vorher-Nachher-Design nicht wären als in der KG, so könnte allein dadurch ein
von denjenigen der Intervention getrennt werden, besseres Ergebnis in der Interventionsgruppe zu-
so dass es zur Wirksamkeitsprüfung einer Interven- stande kommen.
tion nicht aussagekräftig ist. Man weiß letztlich Dieselbe Überlegung gilt für andere Faktoren,
nicht, worauf etwaige Verbesserungen zurückzu- die das Behandlungsergebnis beeinflussen können,
führen sind. wie Geschlecht, soziale Schicht, Schweregrad der
Erkrankung u.  a. Sind in der einen Gruppe mehr
Notwendigkeit der Kontrollgruppe Die aufgezähl- leichte Fälle, so hat diese Gruppe von vornherein
ten konkurrierenden Erklärungen können jedoch einen Vorteil, egal wie wirksam oder unwirksam die
durch eine Kontrollgruppe und die Zufallszuteilung zu prüfende Intervention ist. Bei psychologischen
der Studienteilnehmer zur EG oder KG ausge- Interventionen, die auf das Gesundheitsverhalten,
schlossen werden. Die Kontrollgruppe dient dazu, den Lebensstil oder das psychische Befinden zielen,
die o.  g. Einflussfaktoren zu kontrollieren. Diese ist zudem die Motivation der Patienten ein wich-
wirken nämlich sowohl in der EG als auch in der KG tiger Einflussfaktor. Sie darf ebenfalls nicht un-
in gleicher Weise. Spontanremission, Plazeboeffekt, gleich  zwischen den Gruppen verteilt sein, wenn
andere gleichzeitige Behandlungen sowie die statis- man nicht Verzerrungen in Kauf nehmen will. Nun
tische Regression zur Mitte sind sowohl in der EG könnte man glauben, dass man diese Faktoren ja
als auch der KG vorhanden. Der einzige Unter- kennt und die beiden Untersuchungsgruppen nach
schied zwischen den beiden Gruppen besteht in der diesen Merkmalen parallelisieren könnte. Diese
zu prüfenden Intervention, die nur in der EG, nicht Strategie hat jedoch enge Grenzen. Sie ist vor allem
aber in der KG vorhanden ist. Wenn sich nun am dann nicht anwendbar, wenn man die potenziellen
Ende der Studie zwischen beiden Gruppen ein Un- Einflussfaktoren gar nicht alle kennt. Deshalb nutzt
terschied zeigt in der Weise, dass die Patienten in man das elegante Verfahren der Randomisierung,
der EG ein besseres Ergebnis aufweisen als die- das nicht nur bekannte, sondern auch unbekannte
jenigen in der KG, dann geht dieser Unterschied mit personenbezogene Einflussfaktoren gleich auf EG
großer Wahrscheinlichkeit auf die ausschließlich in und KG verteilt. Damit kann verhindert werden,
der EG eingesetzte Intervention zurück. Der Ver- dass 2 prognostisch ungleiche Gruppen entstehen
gleich zwischen EG und KG nach Abschluss der (Selektionsfehler, selection bias).
Intervention ermöglicht es, den um die unspezifi- Man benutzt hierzu Zufallszahlen, die vom
schen Einflussfaktoren bereinigten »Netto-Effekt« Computer ausgegeben oder Statistikbüchern ent-
der Intervention zu bestimmen. Entscheidend sind nommen werden. Beispielsweise kommen alle Pa-
also nicht die Vorher-Nachher-Vergleiche inner- tienten, denen eine gerade Zahl zugewiesen wurde,
halb der beiden Gruppen: Diese spiegeln auch die in die EG und diejenigen mit einer ungeraden Zahl
unspezifischen Einflussfaktoren wider. Entschei- in die KG. Wenn die Randomisierung korrekt
70 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

durchgeführt wird, verteilen sich die personenbe- verweigert. Dass so etwas auch in Wirklichkeit pas-
zogenen Merkmale, die das Ergebnis beeinflussen siert, haben Analysen gezeigt: Studien, die keine
könnten, in gleicher Weise zwischen EG und KG, unvorhersehbare Randomisierung durchführten,
eine ausreichende Größe der Stichprobe voraus- produzierten fälschlich überhöhte Effekte der je-
gesetzt. weiligen Intervention. Deshalb ist die Zuweisung
nach dem Geburtsdatum oder dem Tag der statio-
3 > Als Randomisierung wird ein definierter
nären Aufnahme keine Randomisierung, weil sie
Zufallsprozess bezeichnet, der bewirkt, dass
vorhersehbar und manipulierbar ist.
jedes Individuum, das an der Studie teil-
nimmt, die gleiche Chance hat, entweder in
Vollständige Katamnese Ein weiteres Kriterium be-
die EG oder in die KG zu gelangen. Dadurch
trifft die Länge und Vollständigkeit der Nachunter-
wird die strukturelle Äquivalenz von EG und
suchung (Katamnese). Wenn erwartet wird, dass die
KG am besten hergestellt.
Intervention nicht nur kurz-, sondern auch langfris-
Hintergrundinformation
tige Veränderungen bewirkt, müssen entsprechen-
Blockrandomisierung und Cluster-Randomisierung de Follow-up-Messzeitpunkte angesetzt werden,
Bei sehr kleinen Stichproben kann es allerdings trotzdem zu z. B. nach einem Jahr. Gerade dann ist es wichtig,
Ungleichverteilungen kommen. Um diese Gefahr zu verrin- dafür zu sorgen, dass auch möglichst alle (mindes-
gern, ist es sinnvoll eine Stratifizierung (Schichtung) nach tens 80 %) der Studienteilnehmer erreicht werden.
bekannten Einflussgrößen (z. B. Alter und Geschlecht) durch-
zuführen und innerhalb jedes Stratums getrennt zu rando-
Bei einer höheren Ausfallrate (drop-out) entsteht die
misieren, d.  h. mit je einer Randomisierungsliste für junge Gefahr einer selektiven Verzerrung der Stichprobe,
Männer, alte Männer, junge Frauen und alte Frauen. Da die weil u. U. nur diejenigen Patienten aus der EG nach
Fallbesetzungen der Strata immer kleiner werden, je mehr einem Jahr noch antworten, die von der Behand-
derartige Variablen man berücksichtigt, ist es erforderlich, lung profitiert haben, so dass der Behandlungseffekt
für einen Ausgleich der Fallzahlen zwischen EG und KG zu
sorgen. Dies geschieht durch sog. Blockrandomisierung, bei
überschätzt würde.
der innerhalb eines definierten Blocks (z. B. n=6) gewähr-
leistet ist, dass gleich viele Patienten in die EG oder die KG Intention-to-treat-Auswertung Damit ist gemeint,
gelangen. dass alle Patienten in derjenigen Gruppe analysiert
In manchen Studien, z. B. wenn man eine neue diagnostische werden, in die sie ursprünglich randomisiert wor-
Methode in Arztpraxen einführt, ist es sinnvoll, nicht einzelne
Patienten, sondern ganze Praxen zu randomisieren. Die
den waren. Selbst diejenigen Studienteilnehmer, die
Randomisierung ganzer Gruppen von Personen nennt man die Behandlung nicht vollständig erhalten haben,
Cluster-Randomisierung. sollten dennoch in der Auswertung belassen wer-
den. Der Abbruch der Behandlung ist nämlich
Unvorhersehbare Randomisierung Die Qualität möglicherweise kein Zufallsprodukt, sondern Aus-
einer randomisierten, kontrollierten Studie lässt druck eines geringen Erfolgs der Intervention. Wür-
sich anhand weiterer Kriterien bewerten. Eines da- de man Patienten mit unvollständiger Behandlung
von ist, dass die Randomisierungsabfolge nicht aus der Untersuchung ausschließen, so würde man
vorhersehbar sein darf (concealed allocation). Dies die Stichprobe zugunsten erfolgreicher Teilnehmer
kann durch räumliche Trennung sichergestellt wer- verzerren und letztlich nur noch diejenigen Pa-
den (externe, zentrale Randomisierung). Wenn die tienten auswerten, die mit gutem Erfolg behandelt
Forscher selbst die Patienten randomisieren wür- wurden. Das Ergebnis wäre dann trivial: »Bei den-
den, gerieten sie allzu sehr in die Versuchung, von jenigen Patienten, bei denen die Behandlung er-
der Randomisierungsliste abzuweichen, um die folgreich war, lässt sich ein guter Behandlungser-
Intervention z. B. nur den besonders geeigneten Pa- folg  finden.« Das Intention-to-treat-Prinzip ver-
tienten zukommen zu lassen. Wenn die Forscher hindert dieses zirkuläre Vorgehen. Es entspricht
wüssten, dass der nächste Studienteilnehmer in die zudem eher der Situation in der Praxis, wo man
EG kommt, würden sie vielleicht einen Patienten, auch nicht von vornherein wissen kann, ob die Be-
der prognostisch ungünstige Merkmale aufweist, so handlung bei einem bestimmten Patienten an-
über die Studie aufklären, dass er die Teilnahme spricht oder nicht.
3.4 · Untersuchungsplanung
71 3
Doppelblindstudie In einer Doppelblindstudie Eine 3.  Möglichkeit der Verblindung (neben
wissen weder der Patient noch sein Arzt, ob der Pa- derjenigen von Studienteilnehmern und Behand-
tient in der EG oder der KG ist. Man lässt also beide lern) besteht darin, die Beurteiler, die das Behand-
im Unklaren darüber, wer die wirksame Substanz lungsergebnis bewerten, über die Zugehörigkeit der
(Verum) erhält und wer das pharmakologisch beurteilten Patienten zu EG oder KG im Unklaren
unwirksame Plazebo. Damit sollen Fehlerquellen zu lassen (maskiertes Assessment), damit sie nicht
ausgeschlossen werden: auf Seiten der Patienten unbewusst die Patienten der EG besser beurteilen.
Erwartungseffekte wie der Plazeboeffekt und an-
dere Versuchspersoneneffekte wie der Hawthorne- Ausbalancieren In manchen Experimenten werden
Effekt. Er ist nach einem Elektrizitätswerk benannt, bei ein und derselben Versuchsperson mehrere
in dem eine arbeitsmedizinische Studie stattfand, Interventionen nacheinander geprüft. Die Wirkung
um herauszufinden, welche Beleuchtungsbedin- einer Intervention kann dann von ihrer Position in
gungen optimal sind. Überraschenderweise war bei der Reihenfolge abhängen. Um Reihenfolgeeffekte
allen Arbeitern eine höhere Leistung zu verzeich- zu kontrollieren, variiert man die Reihenfolge: ABC,
nen, selbst bei schlechter Beleuchtung. Allein das BAC, CAB etc. Dies nennt man Ausbalancieren.
Wissen, an einer Studie teilzunehmen, hatte das
Verhalten verändert. Zufällige und systematische Fehler Zufällige Feh-
Auf Seiten der Ärzte geht es um Versuchsleiter- ler (error) treten infolge von Ungenauigkeiten bei
effekte, d. h. verzerrende Einflüsse des Experimen- der Durchführung einer Studie auf. Sie verzerren
tators. Der wichtigste ist der nach seinem Entdecker das Ergebnis nicht in eine bestimmte Richtung, weil
benannte Rosenthal-Effekt. Der Rosenthal-Effekt sie sich gegenseitig ausmitteln, sondern machen
bezeichnet die (unbewusste) Beeinflussung des es lediglich unpräzise (verminderte Reliabilität).
Studienergebnisses durch die Erwartung des Ver- Reliable Messinstrumente und große Stichproben
suchsleiters und wurde in Experimenten zur Lern- wirken dem zufälligen Fehler entgegen.
fähigkeit von Ratten entdeckt. Man ließ die Ver-
> Systematische Fehler (bias) verfälschen das
suchsleiter glauben, dass ein bestimmter Ratten-
Studienergebnis in eine bestimmte Richtung
stamm besonders lernfähig sei (was in Wirklichkeit
(verminderte Validität).
nicht zutraf). In den nachfolgenden Experimenten
zeigten die vermeintlich lernfähigeren Ratten dann Beispiele sind die oben genannten Einflussfaktoren,
tatsächlich bessere Lernergebnisse. Analog machte die eine Überschätzung des Interventionseffekts be-
man in einer Studie zur Schulleistung Lehrer glau- wirken würden: Erwartungseffekte, ungleiche Ver-
ben, dass bestimmte Schüler besonders intelligent teilung von prognostischen Faktoren in EG und KG,
seien (man meldete ihnen manipulierte Ergebnisse Versuchsleitereffekte etc. Ob systematische Fehler
eines Intelligenztests zurück). Tatsächlich zeigten auftreten oder nicht, hängt vom Studiendesign ab:
diese Schüler in den folgenden Wochen bessere In randomisierten, kontrollierten Studien werden
Schulleistungen. Sie waren von ihren Lehrern unab- systematische Fehler minimiert. In nichtexperi-
sichtlich besonders gefördert worden. mentellen Studien, wie sie im Folgenden dargestellt
Bei Medikamenten ist das Doppelblindprinzip werden, hat man dagegen sehr viel weniger Kon-
relativ leicht zu verwirklichen. Man kann Verum trolle über verzerrende Einflussfaktoren und Stör-
und Plazebo äußerlich und geschmacklich gleich variablen.
gestalten. Doch auch chirurgische, meist endosko-
pische Verfahren wurden, wenn auch selten, gegen
Plazebo, z. B. einen Hautschnitt, getestet. Bei psy- 3.4.4 Nichtexperimentelle Studien
chosozialen Interventionen ist dies schon schwieri-
ger. Man versucht jedoch auch hier, unspezifische Quasiexperimentelle Studie Als quasiexperimen-
Aufmerksamkeit oder Zuwendung als Kontroll- telle Studien bezeichnet man Studien, bei denen
bedingung zu realisieren, gegen die dann die spezi- die Kontrollgruppe nicht durch Randomisierung
fische Intervention geprüft wird. hergestellt wird. Stattdessen greift man auf eine
72 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

sammenhänge dürfen aber nicht als kausale Einflüs-


se interpretiert werden. Zum einen ist eine Grund-
voraussetzung der kausalen Wirkung nicht gegeben,
nämlich dass die Ursache der Folge zeitlich voraus-
gehen muss, weil ja alle Variablen zum selben Mess-
zeitpunkt erhoben wurden. Zum zweiten weiß man
3 bei einer Korrelation zwischen 2 Variablen nie, wo-
rauf dieser Zusammenhang zurückgeht: Beeinflusst
Variable  X Variable  Y oder umgekehrt Variable  Y
Variable X, oder beeinflussen beide einander wech-
selseitig, oder sind sowohl X als auch Y von einer
dritten Variable Z abhängig?
. Abb. 3.4 Hierarchie der Studiendesigns

Ein-Gruppen-Prä-Post-Studie Auch diese Studie er-


schon vorhandene Vergleichsgruppe zurück. Da- laubt, wie oben schon gesagt, keinen Kausalschluss
durch kann man natürlich nie sicher sein, dass beide von einer Intervention auf Veränderungen, weil ne-
Gruppen tatsächlich strukturell gleich sind. EG und ben der Intervention viele andere Einflussfaktoren
KG können sich in einer Vielzahl von Merkmalen wirksam sein können. Was man mit diesem Design
unterscheiden, die den Behandlungserfolg verzer- allein tun kann, ist, Veränderungen zu beschreiben,
ren können (Selektionsfehler). Deshalb ist die Aus- die im Verlauf einer Intervention auftreten.
sagekraft quasiexperimenteller Studien in Bezug auf
> Veränderungen, die im Verlauf einer Interven-
kausale Interpretationen geringer.
tion auftreten, müssen nicht durch die Inter-
vention verursacht sein. Zeitliche Koinzidenz
Hierarchie der Studientypen Unterhalb der experi-
muss nicht Kausalität heißen.
mentellen Studie ist noch eine Reihe von Studien-
designs angesiedelt, die eine geringere Sicherheit Im Vorfeld einer eigentlichen Ergebnisevaluation
in Bezug auf Kausalinterpretationen bieten und kann eine solche Studie beispielsweise durchgeführt
deshalb für die Wirksamkeitsprüfung einer Inter- werden, um zu prüfen, ob sich die Intervention
vention (Ergebnisevaluation) weniger in Frage kom- überhaupt in der geplanten Form realisieren lässt
men. Für andere Fragestellungen können sie aber (Machbarkeit) und um erste Hinweise auf die Ak-
durchaus die Methode der Wahl sein (. Abb. 3.4). zeptanz und Zufriedenheit bei den Patienten zu ge-
Im Unterschied zum experimentellen Design winnen.
(RCT) werden diese Designs als nichtexperimen-
telle, naturalistische oder Beobachtungsstudien Fall-Kontroll-Studie Bei einer Fall-Kontroll-Studie
bezeichnet. Damit ist ausgedrückt, dass lediglich werden »Fälle«, d. h. Patienten mit einer bestimmten
Variablen beobachtet und erfasst werden, ohne dass Krankheit (z. B. Herzinfarktpatienten in einer Kli-
eine experimentelle Intervention eingeführt wird. nik), mit einer Gruppe von Kontrollen verglichen,
die diese Krankheit nicht haben (Gesunde oder
Querschnittsstudie Die Querschnittsstudie (survey) auch chirurgische Patienten einer Klinik). Beide
ist das am wenigsten aufwendige Design. Sie hat Gruppen werden dann retrospektiv (rückblickend)
ihren Namen daher, dass alle interessierenden Daten danach befragt, ob in der Vergangenheit Risiko-
zu einem zeitlichen Querschnitt, d.  h. einem ein- faktoren für die Erkrankung vorlagen (. Abb. 3.5).
zigen Messzeitpunkt, erhoben werden. Sie dient der Man geht also vom Diagnosestatus (Herzinfarkt: ja
Beschreibung der Häufigkeit eines Merkmals (z. B. oder nein) aus und schließt rückblickend auf den
Prävalenz einer Krankheit) innerhalb einer Popu- Expositionsstatus (Risikofaktor: ja oder nein). Die
lation. In einem Querschnittsdesign können darü- entsprechende Risikokennziffer ist die Odds Ratio.
ber hinaus Zusammenhänge zwischen 2 oder mehr Dies ist der Quotient zwischen 2  Verhältnissen
Merkmalen beschrieben werden. Korrelative Zu- (odds), nämlich zwischen dem Verhältnis »Expo-
3.4 · Untersuchungsplanung
73 3
Eine andere Fehlerquelle ist die selektive Erinne-
rung (recall bias). Damit ist gemeint, dass Patienten,
die an einer bestimmten Erkrankung leiden, nach
einer Ursache für ihre Erkrankung suchen und des-
halb ihre Vergangenheit genauer nach Risikofaktoren
absuchen, als dies Menschen tun, die nicht an der
entsprechenden Krankheit leiden. Auch dadurch
kann es zu einer künstlichen Assoziation zwischen
einem Risikofaktor und der Erkrankung kommen.
Wegen dieser und anderer Fehlerquellen ist es des-
halb schon häufig vorgekommen, dass Risikofakto-
ren, die in Fall-Kontroll-Studien identifiziert worden
waren, in besseren Studiendesigns, wie prospektiven
Kohortenstudien oder randomisierten kontrollierten
Studien, nicht bestätigt werden konnten.
. Abb. 3.5 Fall-Kontroll-Studie > Fall-Kontroll-Studien gelten als Designs
mit einer eher geringen Aussagekraft. Sie
können nur erste Hinweise liefern, die nach-
nierte zu Nichtexponierten« unter den Fällen und
folgend überprüft werden müssen, bevor
dem Verhältnis »Exponierte zu Nichtexponierten«
man weiterreichende Schlussfolgerungen da-
unter den Kontrollen (7 Abschn. 3.7.4). Eine Odds
raus zieht.
Ratio von  2 besagt z.  B., dass das Risiko für eine
Krankheit bei den Exponierten doppelt so hoch ist
wie bei den Nichtexponierten. Längsschnittuntersuchung (syn. prospektive Kohor-
tenstudie) Längsschnittuntersuchungen sind pros-
Fehlerquellen Fall-Kontroll-Studien sind für eine pektiv (im Unterschied zu den retrospektiven Fall-
große Zahl von Fehlern anfällig. Die erste Fehler- Kontroll-Studien). In Längsschnittstudien werden
quelle ist die Wahl der Kontrollgruppe (selection Untersuchungsgruppen über einen längeren Zeit-
bias), denn allein dadurch kann man das Ergebnis raum beobachtet, um das Eintreten eines Krank-
schon ungewollt präjudizieren. Beispiel: In einer heitsereignisses zu registrieren. Sie werden einge-
gastroenterologischen Klinik wurde eine Fall- setzt, um Risikofaktoren der Krankheitsentstehung
Kontroll-Studie durchgeführt, um Risikofaktoren oder, bei schon bestehender Erkrankung, pro-
für Bauchspeicheldrüsenkrebs zu identifizieren. Als gnostische Faktoren für den weiteren Verlauf der
Kontrollen wurden Patienten der Klinik herange- Erkrankung zu identifizieren.
zogen, die an anderen Magen-Darm-Krankheiten Bei Längsschnittuntersuchungen, mit denen
litten. Bei dieser Studie stellte sich Kaffeegenuss als man Risikofaktoren für eine Krankheit herausfinden
starker Risikofaktor für Bauchspeicheldrüsenkrebs will, geht man von gesunden Probanden aus, die eine
heraus. Nachfolgende prospektive Studien (s. u.) repräsentative Stichprobe aus der Population dar-
konnten dies jedoch nicht bestätigen. Wie lässt sich stellen. Man erfasst bei ihnen die aktuell vorliegen-
das falsche Ergebnis der Fall-Kontroll-Studie er- den Risikofaktoren und verfolgt die Stichprobe dann
klären? Die Kontrollgruppe setzte sich aus Magen- über viele Jahre bis zum Eintreten der Erkrankung,
Darm-Kranken zusammen, die von ihren Ärzten um die es geht (. Abb. 3.6). Anschließend vergleicht
oft empfohlen bekommen hatten, auf Kaffee zu ver- man die Häufigkeit der Erkrankung (das Krank-
zichten, oder dies aus eigenem Antrieb taten, weil heitsrisiko) in derjenigen Gruppe der Untersu-
sie Kaffee schlecht vertrugen. Deshalb war Kaffee- chungsteilnehmer, die einen Risikofaktor aufweist
konsum in der Kontrollgruppe seltener als in (den Exponierten), mit dem Krankheitsrisiko in
der Fallgruppe, was sich in einer Assoziation von der Gruppe der Nichtexponierten. Dividiert man
Kaffeegenuss und Krebsrisiko umsetzte. das Risiko bei den Exponierten durch das Risiko bei
74 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

sammenhang ist. Deshalb können auch Längsschnitt-


untersuchungen kausale Zusammenhänge letztlich
nicht beweisen. Auch zeitversetzte Zusammenhänge
zwischen 2  Variablen können durch einen dritten
Einflussfaktor (Confounder) bedingt sein. Beispiel:
In einer großen Kohortenstudie, der Nurses Health
3 Study, hatte sich gezeigt, dass Frauen, die nach der
Menopause Östrogene einnahmen, ein geringeres
Herzinfarktrisiko aufwiesen. Daraufhin wurde (vor-
eilig) vielen Frauen Östrogene verordnet, in der An-
nahme, damit ihr Herzinfarktrisiko zu senken. Erst
viele Jahre später wurde mittels einer randomisierten
kontrollierten Studie, der Women’s Health Initiative,
geprüft, ob die Hormongabe tatsächlich das Herz-
. Abb. 3.6 Längsschnittstudie (prospektive Kohortenstudie)
infarktrisiko senkt: Das Gegenteil war der Fall.
Frauen, die Östrogene erhielten, hatten im Vergleich
den Nichtexponierten, so gewinnt man das relative zur Kontrollgruppe sogar mehr Herzinfarkte. Seit-
Risiko. Das relative Risiko gibt an, um wie viel höher dem werden Östrogene sehr viel seltener an post-
die Wahrscheinlichkeit ist, die betreffende Krank- menopausale Frauen verschrieben. Wie kann man
heit zu bekommen, wenn man den Risikofaktor erklären, dass die beiden Studien zu gegensätzlichen
trägt, als wenn man ihn nicht trägt (7 Abschn. 3.7.4). Ergebnissen kamen? In der Kohortenstudie wurden
Das relative Risiko gibt eine genauere Schätzung der wahrscheinlich konfundierende Faktoren nicht aus-
Risikoerhöhung als die Odds Ratio, die man bei Fall- reichend kontrolliert, die für das geringere Herz-
Kontroll-Studien berechnet. infarktrisiko verantwortlich waren. Frauen, die sich
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen die Medikamente leisten konnten, hatten vielleicht
prospektiver Kohortenstudie und retrospektiver mehr Einkommen zur Verfügung oder wiesen ein
Fall-Kontroll-Studie ist derjenige, dass man bei der günstigeres Gesundheitsverhalten auf. Durch diese
Kohortenstudie vom Vorhandensein oder Nicht- Störvariablen wurde das Herzinfarktrisiko (trotz
vorhandensein eines Risikofaktors ausgeht und Östrogeneinnahme) vermindert.
dann in die Zukunft schaut. Bei der Fall-Kontroll-
Studie hingegen geht man vom Vorhandensein Interne Validität Bei einer Studie, die die Wirksam-
oder Nichtvorhandensein der Erkrankung aus und keit einer Intervention prüft (Evaluation), wird die
schaut dann in die Vergangenheit. Durch die pros- Sicherheit, mit der die gemessenen Effekte kausal
pektive Anlage der Kohortenstudie entgeht man auf die Intervention zurückgeführt werden können,
dem recall bias. Man kann den Risikofaktor jeweils als interne Validität der Studie bezeichnet. Interne
aktuell bestimmen und auch im Beobachtungszeit- Validität heißt also soviel wie Aussagekraft der Stu-
raum über viele Jahre immer wieder aktualisieren. die (nicht zu verwechseln mit der Validität eines
Dadurch lassen sich auch bessere Analysen zum Messinstruments, die die Aussagekraft eines Mess-
zeitlichen Zusammenhang zwischen Risikofaktor ergebnisses meint; 7 Abschn. 3.3.2). Je besser das
und Erkrankung durchführen. Studiendesign und je korrekter die Durchführung
Man hat eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die der Studie, umso höher die interne Validität.
einen kausalen Zusammenhang zwischen Risikofak-
> Für die Fragestellung der Wirksamkeit einer
tor und Erkrankung nahe legen, wie z. B. eine Dosis-
Intervention weist die randomisierte kontrol-
Wirkungs-Beziehung: Je stärker ausgeprägt der Risi-
lierte Studie die höchste interne Validität auf.
kofaktor, desto höher das Krankheitsrisiko (7 Ab-
schn. 3.7.6). Diese Kriterien können jedoch nicht Für andere Fragestellungen können jedoch auch die
darüber hinwegtäuschen, dass auch ein längsschnitt- anderen genannten Studiendesigns intern valide
licher Zusammenhang lediglich ein korrelativer Zu- sein.
3.4 · Untersuchungsplanung
75 3
Externe Validität Als Pendant der internen Validität nicht so einheitlich und den Vorgaben im Handbuch
wird häufig die externe Validität genannt. Damit ist (Manual) entsprechend umgesetzt wird. Durch die
die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einer Studie Prüfung der Effectiveness erhöht man die Chance,
gemeint, d. h. das Ausmaß, in dem diese auf andere dass die Intervention möglichst breit auf unter-
Situationen (settings), Populationen (Patienten) schiedliche Settings, Patienten, Therapeuten etc.
oder Interventionen (Behandlungsmaßnahmen) übertragen werden kann (hohe Generalisierbarkeit,
übertragen werden können. Das Ausmaß der Gene- externe Validität).
ralisierbarkeit ist je nach Ähnlichkeit der Situation, Der Unterschied zwischen explorativen und Hy-
auf die man verallgemeinern will, unterschiedlich pothesen-testenden Studien wurde schon in 7 Ab-
groß und daher meist Ermessenssache: Wie sehr schn. 3.1 dargestellt.
ähnelt die Population, aus der die untersuchte Stich-
probe stammt, denjenigen Patienten, auf die ich die Einzelfallstudie Im Unterschied zur klassischen
Ergebnisse übertragen möchte, z. B. den Patienten »anekdotischen« Fallgeschichte, deren Darstellung
meiner Praxis? Solange keine allzu großen Unter- oft sehr stark von der subjektiven Interpretation des
schiede bestehen, ist die Annahme gerechtfertigt, Autors beeinflusst ist, gibt es auch methodenge-
dass die Ergebnisse übertragbar sind. leitete Einzelfallstudien, die innerhalb von Grenzen
einen experimentellen Ansatz erlauben. Im ABAB-
> Die beiden parallel formulierten Begriffe
Design wird zunächst eine Baseline-Erhebung (A)
interne und externe Validität legen das Miss-
über mehrere Tage vorgenommen. Dann wird die
verständnis nahe, dass beide einander gleich-
Intervention eingesetzt, um festzustellen, ob sich
rangig sind. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr
die Messwerte während der Interventionsphase (B)
bauen sie aufeinander auf: Ohne interne Validi-
verändern. Im Anschluss daran wird die Interven-
tät kann es auch keine externe Validität geben.
tion wieder abgesetzt und es wird geprüft, ob die
Studienergebnisse, die auf einer methodisch
Messwerte wieder auf die Werte der Baseline-Phase
fehlerhaften Studie beruhen, sind per se feh-
zurückfallen (A). Dann folgt wieder die Interven-
lerhaft und können auch nicht durch die Über-
tion mit entsprechender Messwertregistrierung (B).
tragung auf andere Situationen richtig werden.
Der Patient dient also gewissermaßen als seine
eigene Kontrollgruppe. Solche systematischen Ein-
Efficacy und Effectiveness Bei der Wirksamkeits- zelfallstudien haben ebenfalls einen hohen Erkennt-
prüfung einer Intervention geht man oft zweistufig niswert. Die wissenschaftlich orientierte Therapie
vor. In der 1. Stufe wird die Wirksamkeit unter idea- in der Praxis kann als systematischer Einzelfallver-
len Bedingungen (»Laborstudie«) geprüft: In einem such aufgefasst werden.
Forschungszentrum wird die Intervention möglichst
in Reinform durchgeführt (hohe Treatment-Inte- Multizentrische Studie Da die Stichprobenergeb-
grität). Die in die Studie eingeschlossenen Patienten nisse umso präziser sind und die Teststärke (Power)
müssen definierten Ein- und Ausschlusskriterien umso größer, je größer die Stichprobe ist, ist es in
genügen, um eine möglichst homogene Stichprobe der Medizin häufig unumgänglich, dass mehrere
zu gewinnen. Es wird versucht, sämtliche Einfluss- Studienzentren oder Kliniken sich zu einem ge-
faktoren möglichst gut zu kontrollieren, um eine meinsamen Forschungsprojekt zusammenschließen
hohe interne Validität der Studie zu erreichen. (multizentrische Studie). Dies gilt insbesondere für
Nachdem in der 1. Stufe die Wirksamkeit unter seltene Erkrankungen und Behandlungsverfahren
idealen Bedingungen nachgewiesen wurde (efficacy), und betrifft randomisierte Studien ebenso wie pros-
wird in der 2. Stufe die Wirksamkeit unter Praxis- pektive Kohortenstudien. Multizentrische Studien
bedingungen (»Feldstudie«) getestet (effectiveness). sind mit einem großen logistischen Aufwand ver-
Praxisbedingungen bedeutet, dass die Patienten, die bunden. Ihr Ertrag ist jedoch auch entsprechend
die Intervention erhalten, oft nicht homogen sind, größer. Sie erbringen verlässlichere und besser
dass sie an zusätzlichen Erkrankungen leiden (Ko- generalisierbare Ergebnisse als kleine Studien, in de-
morbidität), dass die Intervention möglicherweise nen manchmal Zufallsbefunde produziert werden.
76 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Ökologische Studie Ökologische Studien verglei- der Bevölkerung gezogen. Der Begriff Zufalls-
chen größere Einheiten wie z. B. Stadtviertel, Regio- stichprobe muss abgegrenzt werden vom Begriff der
nen eines Landes oder unterschiedliche Länder mit- Randomisierung (7 Abschn. 3.4.3). Bei Letzterem
einander. Sie basieren auf aggregierten Daten auf der geht es nicht um die Stichprobenziehung, sondern
Ebene dieser Einheiten (z.  B. Mortalität in einem um die Zuweisung einer schon gezogenen Stichpro-
Land), nicht auf den Daten einzelner Personen. Sie be in die Experimental- oder Kontrollgruppe.
3 erlauben es z. B. Zusammenhänge zwischen Merkma-
len der untersuchten Einheiten (z. B. strukturelle Le- Konsekutive Stichprobe Bei einer konsekutiven
bensbedingungen, Gesundheitssystem) und Krank- Stichprobe werden alle Patienten, die die Einschluss-
heitshäufigkeiten oder der Mortalität zu untersuchen. kriterien erfüllen und während eines bestimmten
Zeitraums in einer Klinik behandelt werden, nach-
Deskriptive und analytische Epidemiologie Die einander (konsekutiv) in die Stichprobe aufgenom-
deskriptive Epidemiologie beschreibt die gesund- men. Da dieses Vorgehen wenig Aufwand erfordert,
heitlichen Verhältnisse in bestimmten Populationen, ist es häufig anzutreffen.
indem sie z.  B. die Häufigkeit von Krankheiten in
einem Land ermittelt. Epidemiologische Untersu- Klumpenstichprobe Angenommen, man möchte
chungen, die die Ursachen von Krankheiten auf der eine Befragung von Patienten der Primärversor-
Basis von naturalistischen Beobachtungsstudien gung durchführen. Statt zufällig Patienten aus allen
(z. B. Längsschnittuntersuchungen) herauszufinden Hausarztpraxen einer Stadt auszuwählen, kann man
versuchen, werden als analytische Epidemiologie auch zunächst aus allen Praxen eine Zufallsauswahl
bezeichnet. Unter der interventionellen Epidemiolo- treffen und dann in den ausgewählten Praxen je-
gie werden manchmal experimentelle Studien einge- weils eine Vollerhebung durchführen. Dies vermin-
ordnet, in denen eine Intervention durchgeführt dert den organisatorischen Aufwand. Dabei ist zu
wird, um z. B. einen Risikofaktor zu beeinflussen und berücksichtigen, dass die Patienten einer Praxis sich
damit der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen. in bestimmten Merkmalen (z. B. Wohngegend, so-
ziale Schicht) ähnlich sind (Klumpeneffekt).

3.4.5 Stichprobengewinnung Mehrstufige Stichprobe Bei einer mehrstufigen


Stichprobe erfolgt die Zufallsauswahl der Studien-
Bevor man eine Studie beginnt, muss man festlegen, teilnehmer in 2 oder mehr Stufen. Beispiel: Zuerst
auf welche Grundgesamtheit (Population) sich die wird aus allen Arztpraxen einer Stadt eine Zufalls-
Studie beziehen soll. Man legt genaue Ein- und Aus- auswahl gezogen (wie bei der Klumpenstichprobe).
schlusskriterien fest, um die potenziellen Studien- Danach wird aus den ausgewählten Praxen wieder-
teilnehmer zu definieren. Dann rekrutiert man die um eine Zufallsauswahl von Patienten gezogen. Bei
Probanden. Dabei kann es sich um Patienten im einer dreistufigen Stichprobenziehung könnte man
Rahmen einer klinischen Studie handeln oder auch z. B. noch eine zufällige Ziehung von Stadtvierteln
um Angehörige der Allgemeinbevölkerung bei vorausschalten.
einer epidemiologischen Untersuchung.
Geschichtete Stichprobe Bei einer geschichteten
Zufallsstichprobe Das Ziel jeder Stichprobenge- Stichprobe wird die Population zunächst in 2 oder
winnung ist es, die Population, aus der die Stich- mehreren Schichten eingeteilt. Schichtungsmerkmal
probe stammt, möglichst genau wiederzugeben: Die könnte z. B. das Geschlecht sein. Die beiden Ausprä-
Stichprobe soll repräsentativ sein. Um dies zu ge- gungen dieses Merkmals, die Schichten, wären dann
währleisten, ist es notwendig, dass jedes Mitglied Männer und Frauen. Aus jeder der beiden Schichten
der Population die gleiche Chance hat, in die Stich- wird dann eine Zufallsauswahl gezogen.
probe aufgenommen zu werden. Man spricht dann
von einer Zufallsstichprobe. Beim Mikrozensus Quotenstichprobe In der Meinungsforschung wird
wird beispielsweise eine Zufallsstichprobe von 1 % wegen des geringeren Aufwands häufig die Quoten-
3.5 · Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung
77 3
stichprobe eingesetzt. Dabei wird vom Zufalls- Studie. Man führt beispielsweise Interviews mit den
prinzip abgewichen. Man gibt lediglich bestimmte Teilnehmern eines RCT durch und befragt sie da-
Quoten vor, z. B. für Alter, Geschlecht oder sozialen nach, welche Bestandteile der Intervention aus ihrer
Status, wie sie auch in der Population vorliegen, und Sicht besonders wirksam waren und welche nicht.
überlässt es dann den Interviewern, wie sie diese Gerade bei Studien, deren Ergebnisse nicht so aus-
Quoten auffüllen, d.  h. wen sie konkret befragen. fielen wie erwartet, kann man durch solche Befra-
Dadurch sind Verzerrungseffekte möglich. gungen herausfinden, warum eine Intervention
nicht so funktioniert hat wie geplant.
Ad hoc-Stichprobe (anfallende Stichprobe, conve-
i Vertiefen
nience sample) Damit wird eine zwar verbreite-
Schulz KF, Altman DG, Moher D, fort he CON-
te, aber nicht zu empfehlende Stichprobengewin-
SORT Group (2010) CONSORT 2010 Statement:
nung bezeichnet, bei der einfach diejenigen Perso-
updated guidelines for reporting parallel group
nen in die Studie eingeschlossen werden, die gerade
randomised trials. British Medical Journal
anwesend sind und auf die man Zugang hat. Dies
340:698-702 (international maßgebliche Check-
ist sicherlich keine zufällige Auswahl, und man
liste für die Berichterstattung über randomisierte
kann nicht sicher sagen, für welche Population eine
Studien)
solche Stichprobe repräsentativ ist. Die Gefahr von
Moher D, Hopewell S, Schulz KF, Montori V,
systematischen Verzerrungen ist groß.
Gotzsche PC, Deveraux PJ, Elbourne D, Egger
M, Altman DG (2010) CONSORT 2010 explana-
Stichprobengröße Neben der Repräsentativität ist
tion and elaboration: updated guidelines for
die Größe der Stichprobe von entscheidender Be-
reporting parallel group randomised trials.
deutung. Je größer die Stichprobe, umso präziser
British Medical Journal 340:c869 (gut verständ-
finden sich die Populationsverhältnisse auch in der
liche Erläuterung und Illustration der im CON-
Stichprobe wieder, d.  h. desto genauer kann bei-
SORT-Statement aufgeführten Qualitätskriterien
spielsweise die Häufigkeit einer Krankheit in der
anhand von Beispielen)
Population durch den Häufigkeitswert, den die
Stichprobe erbracht hat, geschätzt werden. Dies
zeigt sich darin, dass das 95 %-Konfidenzintervall,
d. h. derjenige Bereich, in dem der wahre Wert in 3.5 Sozialwissenschaftliche
der Population mit 95 %iger Sicherheit liegt, umso Methoden der Datengewinnung
enger wird, je größer die Stichprobe ist.
Lernziele
Der Leser soll
3.4.6 Methodentriangulation 5 Individual- und Aggregatdaten unterscheiden
können,
Unter Methodentriangulation versteht man die 5 Primär- und Sekundärdaten unterscheiden
Kombination unterschiedlicher Forschungsmetho- können,
den, mit dem Ziel, ein vollständigeres, reichhaltige- 5 Selbst- und Fremdbeurteilung unterscheiden
res und möglichst auch valideres Bild des Unter- können,
suchungsgegenstands zu gewinnen. Man hofft, die 5 Interviewformen und Beobachtungsformen
Stärken unterschiedlicher Methoden zu nutzen und beschreiben können.
ihre jeweiligen Schwächen auszugleichen. Die Me-
thodentriangulation wird häufig innerhalb der
qualitativen Forschung verwandt (7 Abschn. 3.7.7). 3.5.1 Individual- und Aggregatdaten
Neuerdings werden aber auch qualitative Untersu-
chungen in Ergänzung zu quantitativen Studien ein- Individualdaten sind Daten, die bei einem ein-
gesetzt. Eine Studie, die quantitative und qualitative zelnen Individuum erhoben wurden. Beispiel: das
Methoden kombiniert, nennt man Mixed-method- individuelle Testergebnis einer Person. Aggregat-
78 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

daten sind Kennwerte, mit denen die Daten mehre- 3.5.3 Fremd- und Selbstbeurteilung
rer Individuen zusammengefasst (aggregiert) wur-
den. Beispiel: der Mittelwert der Testergebnisse Daten, die durch psychologische Tests und Frage-
einer Stichprobe, die sich aus 100  Individuen zu- bögen gewonnen werden, basieren meist auf der
sammensetzt. Aus Aggregatdaten kann nicht mehr Selbstbeurteilung des Probanden. Er gibt über sich
auf die Werte eines einzelnen Individuums zurück- selbst, sein Befinden etc. Auskunft. Daneben kön-
3 geschlossen werden. Aggregatdaten können selbst nen jedoch auch Fremdbeurteilungen durch ex-
wiederum Ausgangspunkt für Forschungsprojekte terne Beobachter eingeholt werden. Beispielsweise
werden. Beispiel: Die Krankheitshäufigkeiten in können der behandelnde Arzt oder ein Angehöriger
unterschiedlichen Regionen werden miteinander das Befinden des Patienten einschätzen. Oft stim-
verglichen, um Hinweise auf mögliche Risikofak- men Selbst- und Fremdbeurteilungen nur mäßig
toren zu finden (z. B. Stadt- vs. Landbevölkerung). miteinander überein. Generell tendieren Menschen
Studien, in denen aggregierte Daten aus Wohnbe- dazu, sich selbst günstiger darzustellen, als sie von
zirken (z. B. Arbeitslosenquote), Regionen, Ländern außen wahrgenommen werden. Dies gilt auch für
etc. die Untersuchungseinheiten bilden, nennt man die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die von
ökologische Studien. den Betroffenen meist höher beurteilt wird als von
externen Beurteilern, wie dem behandelnden Arzt,
der betreuenden Pflegekraft oder dem nächsten An-
3.5.2 Primär- und Sekundärdaten gehörigen. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt
die Einschätzung der Intensität von Schmerzen dar.
Primärdaten sind Daten, die von einem For- Schmerzen werden vom Betroffenen selbst meist
schungsprojekt oder auch im Rahmen einer Routine- stärker bewertet als von Außenstehenden. Generell
erhebung mit einer bestimmten Fragestellung er- gilt, dass die Übereinstimmung bei denjenigen
hoben werden. Wenn diese Daten später in einem Merkmalen höher ist, die man gut beobachten
neuen Forschungsprojekt benutzt werden, um eine kann, wie z.  B. Aktivitäten des täglichen Lebens,
ganz andere Fragstellung zu untersuchen, so nennt während sie geringer ist bei Merkmalen, die von
man sie Sekundärdaten. Sekundär deshalb, weil sie außen nicht wahrgenommen werden können, wie
ursprünglich nicht zu diesem Zweck erhoben wor- z.  B. Schmerzen oder das emotionale Befinden.
den waren und jetzt für eine andere, zusätzliche Selbst- und Fremdeinschätzungsskalen werden als
Fragestellung zum zweiten Mal herangezogen wer- Rating-Skalen (to rate, engl. bewerten) zusammen-
den. Beispiel: Daten eines Tumorregisters und Daten gefasst.
eines psychiatrischen Fallregisters, die primär
jeweils für unterschiedliche Zwecke erfasst wurden,
werden sekundär miteinander verknüpft, um Zu- 3.5.4 Interviewformen
sammenhänge zwischen psychischen Störungen
und dem Krebsrisiko zu analysieren. Man unterscheidet 3 Interviewformen:
4 offenes (qualitatives) Interview,
> Sekundäranalysen haben nur eine begrenzte
4 teilstrukturiertes (halbstandardisiertes)
Aussagekraft. Denn im Nachhinein ist es
Interview,
oft nicht möglich, alle interessierenden Stör-
4 strukturiertes (standardisiertes) Interview.
variablen (Confounder) zu berücksichtigen,
weil diese bei der ursprünglichen Datenerhe-
Offenes (qualitatives) Interview Das offene Inter-
bung nicht adäquat erfasst wurden. Die
view beginnt mit einer offenen Frage. Beispiel: »Was
Ergebnisse von Sekundärdatenanalysen sind
geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Ihre Er-
deshalb mit großer Vorsicht zu interpretieren.
krankung denken?« Dadurch soll der Befragte an-
geregt werden, möglichst ohne Einschränkungen
über seine Gedanken und Gefühle zu sprechen. Die
Auswahl der Themen, die besprochen werden, wird
3.5 · Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung
79 3
ganz dem Befragten überlassen oder ergibt sich aus Auswertungen über den Einzelfall hinaus möglich
dem natürlichen Verlauf des Gesprächs. Das offene sind. Nachteile: Die Auswertung ist sehr aufwändig.
Interview hat folgende Vorteile: Die Themen des Die Äußerungen der Befragten müssen erst mittels
Interviews werden vom Befragten nach seiner per- qualitativer Auswertungsverfahren weiterverarbei-
sönlichen Präferenz ausgewählt, was der Mitarbeit tet werden (Inhaltsanalyse, 7 Abschn. 3.7.7).
und Offenheit förderlich ist. Man gewinnt dadurch
reichhaltige und tiefe Information. Man nimmt je-
doch auch Nachteile in Kauf: Weil jeder Befragte 3.5.5 Interviewstile
möglicherweise andere Themenschwerpunkte
setzt, ist es schwierig, über den Einzelfall hinaus Direktiver Stil Beim direktiven Stil, der im struk-
verallgemeinernde Auswertungen durchzuführen. turierten Interview angewandt wird, wird der Gang
des Gesprächs vom Interviewer bestimmt. Merk-
Strukturiertes (standardisiertes) Interview Das male des direktiven Stils sind beispielsweise ge-
strukturierte Interview stellt den Gegenpol zum schlossene Fragen, bei denen der Antwortende nur
offenen Interview dar. Hier sind nicht nur die The- 2 (dichotome Frage) oder mehrere (polytome Frage,
men, sondern auch die Frageformulierungen und Katalogfrage) Antwortalternativen vorgelegt be-
sogar die Antwortmöglichkeiten im Voraus festge- kommt. Beispiel: »Ist Ihre Stimmung niedergeschla-
legt. Das strukturierte Interview entspricht einem gen?« Antwortmöglichkeiten: »ja« oder »nein«.
mündlichen Fragebogen. Vorteile: Jeder Befragte
wird dasselbe gefragt, so dass leicht Auswertungen Nondirektiver Stil Beim nondirektiven Stil nimmt
über die Gesamtgruppe der Befragten möglich sind. der Interviewer hingegen seinen Einfluss zurück
Die Auswertungen sind zudem ohne großen Auf- und erlaubt dem Gesprächspartner, den Gang des
wand in statistische Kennziffern zu überführen. Gesprächs mitzubestimmen. Er bemüht sich, die
Nachteil: Man muss schon sehr genau wissen, was Äußerungen des Gesprächspartners zu verstehen
man erfahren will, sonst läuft man Gefahr, wichtige (Empathie), und meldet, was er verstanden hat, dem
Dinge nicht anzusprechen. Bei einem Forschungsge- Befragten zurück, damit dieser ihn gegebenenfalls
genstand, über den noch wenig Vorwissen existiert, korrigieren kann. Eine charakteristische Technik
ist deshalb das vollstrukturierte Interview nicht ange- des nondirektiven Interviewstils ist die offene
bracht. Strukturierte klinische Interviews nach ICD Frage. Beispiel: »Wie ist Ihre Stimmung?« Die Ant-
oder DSM werden eingesetzt, um die Diagnose einer wortmöglichkeiten sind hier nicht von vornherein
psychischen Störung zu stellen (7 Abschn. 1.3.2). eingegrenzt.
Die Interviewstile spielen auch bei der Anam-
Teilstrukturiertes (halbstandardisiertes) Interview neseerhebung eine Rolle (7 Abschn. 6.2).
Das teilstrukturierte Interview versucht, die Vor- Fragebogen und Testverfahren wurden schon
teile der beiden anderen Verfahren miteinander zu in 7 Abschn. 3.3 behandelt.
kombinieren, ohne die Nachteile in Kauf zu neh-
men. Wie beim offenen Interview beginnt es mit
einer offenen Eingangsfrage, wodurch sich eine 3.5.6 Systematische und teilnehmende
narrative (erzählende) Interviewpassage ergibt. Im Beobachtung
Folgenden werden dann die in einem Interview-
leitfaden vorgegebenen Themen angesprochen. Was ein Mensch über seine Einstellungen und Mo-
Dabei können jedoch die Reihenfolge der Themen tive sagt und wie er sich in einer konkreten Situa-
und auch die konkrete Wortwahl der Fragen an tion verhält, stimmt oft nicht miteinander überein.
den Gesprächsverlauf angepasst werden. Vorteile: So mag sich jemand für sehr friedfertig halten und
größere Flexibilität bei der Berücksichtigung der gleichwohl gegenüber anderen Menschen aggressiv
Themenschwerpunkte des Befragten. Zugleich hat auftreten, ohne dies zu merken. Eine weitere wich-
man aber auch die Gewähr, dass alle Gesprächspart- tige Quelle der Datengewinnung ist deshalb die
ner zu denselben Themen befragt werden, so dass direkte Beobachtung des Verhaltens.
80 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Systematische Beobachtung Systematische Beob- Für den jeweiligen Tagebucheintrag werden oft
achtungen sind Beobachtungen anhand festge- feste Zeitpunkte vorgegeben, z. B. jeden Abend. Bei-
legter Regeln. Die Beobachtungseinheiten und die spiel: Studierende sollen in den Wochen vor einem
möglichen Kategorien des beobachteten Verhaltens Examen täglich ihr Stresslevel bewerten. Eine höhe-
werden vorher genau definiert, damit eine mög- re ökologische Validität wird erreicht, wenn der
lichst große Beobachterübereinstimmung erzielt Eintrag auf ein Erinnerungssignal (z. B. eine SMS)
3 wird. Die Qualität von Beobachtungen kann auch hin vorgenommen werden soll. Dieses Signal kann
dadurch erhöht werden, dass das zu beobachtende zufällig über den Tag verstreut gesandt werden, so
Verhalten aufgezeichnet wird, so dass ein- und die- dass tatsächlich das aktuelle, spontane Erleben er-
selbe Sequenz von mehreren Beobachtern beurteilt fasst wird. Eine retrospektive, zusammenfassende
werden kann. Wichtig ist, die Beobachter zu trainie- Bewertung des ganzen Tags, wie beim abendlichen
ren. Dies gilt auch für Expertenurteile, damit diese Eintragen, ist dann nicht nötig. Zusammenfassende
eine hohe Interrater-Übereinstimmung erzielen. Bewertungen, z. B. des Stresserlebens, werden näm-
Beispiele für systematische Beobachtungen: lich meist von dessen höchsten Niveau beeinflusst
Gesichtsausdruck bei primären Emotionen (7 Ab- und geben nicht unbedingt den durchschnittlichen
schn. 4.4.2), Beobachtung der Eltern-Kind-Inter- Wert akkurat wieder. Eine andere Methode, die v. a.
aktion im Rahmen entwicklungspsychologischer bei relativ seltenen Ereignissen verwandt wird, be-
Untersuchungen, Videoanalyse der Partnerinterak- steht darin, den Tagebucheintrag immer dann vor-
tion bei Paarkonflikten, Therapeut-Patient-Inter- zunehmen, wenn dieses Ereignis, z. B. ein Streit mit
aktion in der Psychotherapieprozessforschung, dem Partner bei einer Untersuchung von Paarkon-
Analyse der Arzt-Patient-Interaktion im Kranken- flikten, eintritt.
haus mittels Videokamera. Ein Nachteil von Tagebuchverfahren ist der
hohe Aufwand für die Befragten, die ein Tagebuch
Teilnehmende Beobachtung Teilnehmende Beob- mit sich führen und ggf. zu jeder Zeit damit rechnen
achtung bedeutet, dass sich der Beobachter in die müssen, einen Eintrag zu machen. Um diesen Auf-
Situation, die er beobachtet, hineinbegibt. Dies kann wand zu reduzieren, werden zunehmend IT-Tech-
dann notwendig werden, wenn eine offene Beobach- niken eingesetzt. Paper-und-Bleistift-Tagebücher
tung den natürlichen Ablauf der Situation stören werden dadurch überflüssig.
und das beobachtete Verhalten verfälschen würde. Wenn man mittels eines Tagebuchs von einer
Beispiel: Ein Soziologe lässt sich als Patient in ein Person viele Messwerte über die Zeit erhoben hat,
psychiatrisches Krankenhaus aufnehmen. Teilneh- lässt sich die zeitliche Abfolge von Ereignissen (z. B.
mende Beobachtung kann nicht so standardisiert Stressor) und Befinden (z. B. Stresserleben) detail-
sein wie eine systematische Beobachtung. In der liert beschreiben. Doch selbst wenn sich das Erle-
Regel werden erst nachträglich Notizen angefertigt. ben regelmäßig infolge des Stressors verändert,
muss man mit kausalen Schlussfolgerungen vor-
sichtig sein, insofern es sich um eine reine Beobach-
3.5.7 Tagebuchverfahren tungsstudie, keine experimentelle Studie handelt.
i Vertiefen
In Tagebuchverfahren berichten Menschen über Er-
Bortz J, Döring N (2006) Forschungsmethoden
eignisse und Erlebnisse in ihrem Alltag. Im Unter-
und Evaluation. 4. Aufl. Springer, Berlin (sehr an-
schied zu traditionellen Fragebögen, in denen man
schauliche Darstellung von Methoden der Daten-
sein Erleben und Verhalten rückblickend über
gewinnung mit vielen Beispielen)
einen größeren Zeitraum (z. B. 2 Wochen) beurtei-
len soll, beziehen sich Tagebücher auf die aktuelle
Situation, so dass Erinnerungsfehler (recall bias)
vermindert werden. Der Tagebucheintrag erfolgt
zudem im natürlichen Kontext des Alltagslebens
(ecological momentary assessment).
3.6 · Psychobiologische Methoden der Datengewinnung
81 3
3.6 Psychobiologische Methoden erlebnisbezogener (emotional bedeutsame Ereig-
der Datengewinnung nisse) Natur sein.
> Präsentiert man einer Person akustische,
Lernziele
visuelle oder taktile Reize, so treten spezifi-
Der Leser soll
sche evozierte Potenziale (ereigniskorre-
5 elektrophysiologische Parameter und ihre Aus-
lierte Potenziale) auf, die sich aus dem EEG
sagekraft beschreiben können,
durch Mittelungsprozesse herausfiltern
5 exogene und endogene ereigniskorrelierte
lassen. Sie spiegeln die Verarbeitung der
Potenziale unterscheiden können,
wahrgenommenen Reize wider.
5 bildgebende Verfahren und ihre Aussagekraft
beschreiben können. Der Mittelungsprozess ist notwendig, weil die ein-
zelnen Potenziale sehr schwach sind und im »Grund-
rauschen« des EEG untergehen (geringes Signal-to-
3.6.1 Elektrophysiologische noise-Verhältnis). Durch mehrfache Wiederholung
Parameter und Mittelung der Einzelmessungen tritt das Signal
hervor, weil sich das zufällige Rauschen aufhebt.
Elektrodermale Aktivität (EDA) Die EDA ist ein In-
> Man unterscheidet exogene (frühe)
dikator für Aktivierung und Stress (7 Abschn. 4.1.7).
Potenziale, die die sensorische Reizanalyse
Mittels Elektroden, die an der Handoberfläche an-
abbilden und innerhalb von 200 ms nach
gebracht werden, misst man die Leitfähigkeit der
Reizdarbietung auftreten, und endogene Po-
Haut und deren spontane Schwankungen (Spontan-
tenziale, die die psychische Verarbeitung
fluktuation).
der Reize widerspiegeln und zwischen
200 und 500 ms gemessen werden können.
Elektromyogramm (EMG) Mit dem EMG misst
man, z. B. im Rahmen von Stressexperimenten, die Eine frühe, negative Potenzialänderung ist N170.
elektrische Muskelaktivität als Zeichen der Muskel- Sie tritt nach 170 ms auf, wenn ein Gesicht oder ein
anspannung, die ebenfalls ein Aktivierungsindika- Körper präsentiert wird. Daraus lässt sich schließen,
tor ist. dass bestimmte Neuronen bei der Wahrnehmung
von Gesichtern bzw. Körpern aktiv sind, ohne dass
Elektroenzephalogramm (EEG) Mit dem EEG lässt es dazu einer kognitiven Verarbeitung (Top-down-
sich die Gehirnaktivität darstellen (7 Abschn. 4.1.7). Verarbeitung) bedarf. Gesichter zeigen Emotionen
Hierbei wird mit einer großen Zahl von Elektroden, an (z. B. Angst); Körperhaltung oder -bewegungen
die auf der Kopfhaut angebracht werden, die Akti- zeigen an, wie ein Mensch auf diese Emotion re-
vität großer Netzwerke gemessen. Aktivitätsände- agiert (z. B. Weglaufen). Solche spezialisierten Neu-
rungen können in Echtzeit, d. h. im Millisekunden- ronen haben sich deshalb herausgebildet, weil es
bereich, registriert werden, aber die räumliche Auf- evolutionär von Vorteil ist, früh zu erkennen, wenn
lösung ist schlecht, weil sich elektrische Potenziale eine Gefahr droht. Noch früher, nach 100 ms, tritt
im Gehirn ungehindert ausbreiten, so dass man eine Reaktion auf (erhöhte P1-Komponente), wenn
nicht mehr gut nachvollziehen kann, woher ein die Körperhaltung nicht zum Gesichtsausdruck
Signal kommt. Das von äußeren Reizen unbeein- passt, also eine Inkongruenz besteht.
flusste EEG wird Spontan-EEG genannt. Es zeigt Bedeutsam ist auch das als P300 bezeichnete,
den Wachheitsgrad bzw. die Schlafstadien an nach 300  ms auftretende, positive Potenzial. P300
(Schlaflabor). zeigt u. a. die kortikale Verarbeitung emotional be-
deutsamer Reize an. Beispiel: Bei Patienten mit einer
Ereigniskorrelierte (evozierte) Potentiale (EP) EPs Panikstörung ist P300 nach einem angstrelevanten
zeigen die Reaktion der Hirnaktivität auf Ereignisse Reiz (z. B. dem Bild einer medizinischen Notfallsitua-
an. Ereignisse können sensorischer (Lichtblitz, tion) besonderes stark ausgeprägt, ein Hinweis auf
Ton), motorischer (z. B. Heben eines Fingers) oder die intensive Verarbeitung des Reizes.
82 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

Langsame Hirnpotenziale Langsame Hirnpoten- Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Bei der


ziale treten bei der Vorbereitung einer motorischen TMS appliziert man ein Magnetfeld auf die Ober-
Reaktion (Bereitschaftspotenzial) oder eines In- fläche des Kopfes. Damit kann man Areale des Kor-
formationsverarbeitungsprozesses (kontingente ne- tex kurzfristig und reversibel elektrisch stimulieren
gative Variation, CNV) auf. Schon etwa 1000  ms und ihre Aktivität dadurch hemmen, was Auf-
vor einer Handlung tritt ein Bereitschaftspotenzial schluss über die Funktion des Areals gibt. Da durch
3 auf, das die Handlungsabsicht anzeigt. Dieses ist TMS die entsprechende Hirnregion für kurze Zeit
schon etwa eine halbe Sekunde früher messbar, »ausgeschaltet« wird, spricht man auch von einer
bevor die betreffende Person den bewussten Ent- »virtuellen Läsion«.
schluss zur Handlung fasst.
Wenn eine Versuchsperson nach einem 1. An- Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität Die Herz-
kündigungsreiz aufmerksam einen 2.  Reiz erwar- frequenz ist ein Indikator der psychophysiologi-
tet, auf den sie in bestimmter Weise reagieren soll schen Aktivierung. Die Herzfrequenzvariabilität,
(imperativer Reiz), z. B. auf ein durch den 1. Reiz d. h. die Variabilität des Abstands zwischen 2 Puls-
angekündigtes akustisches Signal (2.  Reiz) hin schlägen (bzw. 2 R-Zacken im EKG) ist ein Indika-
einen Knopf drücken, lässt sich eine langsame tor für das Verhältnis von sympathischer und para-
Negativierung des Potenzials messen (kontingente sympathischer Aktivität. Eine eingeschränkte Vari-
negative Variation, Erwartungswelle). Die CNV abilität, die sich z. B. bei einer Depression (infolge
misst die Erwartung des 2. Reizes und die Vorbe- des Überwiegens der sympathischen Aktivität) fin-
reitung darauf, nach dem 2.  Reiz eine Handlung det, ist ein kardiovaskulärer Risikofaktor.
auszuführen.

Einzelzellableitung Mittels einer Mikroelektrode 3.6.2 Endokrine und immunologische


lassen sich die Aktionspotenziale einzelner Neu- Parameter
rone ableiten. Dies ist eine invasive Methode,
die deshalb in der Regel nur im Tierexperiment Endokrine Parameter werden insbesondere in der
oder während einer Hirnoperation eingesetzt Stressforschung untersucht. Ein wichtiger Indikator
wird. Die Rate der Aktionspotenziale pro Zeit gibt von Stress ist die Kortisolausschüttung. Kortisol
die Aktivität des Neurons wieder. Durch Einzel- lässt sich einfach aus einer Speichelprobe bestim-
zellableitungen hat man beispielsweise heraus- men. In der experimentellen Stressforschung wird
gefunden, dass bestimmte Neuronen nur auf be- Stress in standardisierten Versuchsbedingungen
stimmte Gesichter reagieren, andere wiederum auf erzeugt. Die Probanden müssen beispielsweise vor
die Position eines Gesichts, z.  B. den nach unten Publikum eine kleine Rede halten oder laut kopf-
gewandten Blick. Umgekehrt kann man während rechnen. Vor und nach diesem Laborstress kann
einer bei Bewusstsein des Patienten durchgeführten man Kortisol bestimmen, um die Stressintensität zu
Hirnoperation einzelne Neurone stimulieren und untersuchen. Als weitere hormonelle Stressindika-
dadurch komplexe Wahrnehmungen auslösen, die toren werden Adrenalin und Noradrenalin heran-
so realistisch erlebt werden wie tatsächliche Er- gezogen.
lebnisse. Auch immunologische Parameter, wie z.  B.
Immunglobulin A, lassen sich im Speichel bestim-
Magnetenzephalographie (MEG) Die MEG ist eine men. Weitere immunologische Variablen wurden in
nichtinvasive Technik zur Erfassung der elektri- 7 Abschn. 2.2.1 beschrieben.
schen Aktivität des Gehirns. Sie misst die kleinen
magnetischen Felder, die in Neuronen entstehen.
Ihre zeitliche Auflösung ist so hoch wie diejenige
des EEG, die räumliche Auflösung aber besser.
Allerdings kann man mit der MEG nur kortikale
Regionen darstellen, weniger gut subkortikale.
3.6 · Psychobiologische Methoden der Datengewinnung
83 3
3.6.3 Bildgebende Verfahren stehen. Durch die Subtraktion der beiden Bilder
der Hirnforschung kann dann diejenige Hirnregion identifiziert wer-
und Psychobiologie den, deren Aktivität spezifisch für diese kognitive
Leistung ist. Die zeitliche Auflösung der fMRT be-
Psychische Funktionen und Aktivitäten, wie z.  B. trägt infolge der etwas trägen Reaktion der Durch-
Kognitionen und Emotionen, lassen sich aufgrund blutung auf eine kognitive Aktivität 1-4  sec, die
der rasanten Entwicklung der Hirnforschung in- räumliche Auflösung ca. 1 mm.
zwischen relativ genau der Aktivität bestimmter
Hirnregionen zuordnen. Hierzu wesentlich bei- Positronenemissionstomographie (PET) PET ver-
getragen haben die funktionellen bildgebenden wendet zur Bestimmung des Gehirnstoffwechsels
Verfahren. Funktionell heißen sie, weil sie nicht radioaktiv markierte Substanzen (Wasser, Sauer-
nur die physikalische Struktur des Gehirns, sondern stoff, Glukose). Durch radioaktiv markierte Ligan-
auch seine dynamische Funktion messen und gra- den können außerdem Rezeptorverteilungen dar-
phisch in Form von farbigen Bildern darstellen gestellt werden. PET eignet sich auch für die Dar-
können. Sie basieren auf dem gesteigerten Stoff- stellung von Neurotransmitterwirkungen und Me-
wechsel der Neuronen, der Ausdruck ihrer erhöh- dikamenteneffekten, weil auch Neurotransmitter
ten Aktivität ist. oder Pharmaka als radioaktive Tracer eingesetzt
Strukturelle bildgebende Verfahren wie CT werden können. Die zeitliche Auflösung ist mit
und MRT geben hingegen ein statisches Bild des ca. 30 sec schlechter als beim fMRT, weil die Ver-
Gehirns. Mittels MRT lässt sich das Volumen der teilung der Tracer eine längere zeitliche Dynamik
grauen und weißen Substanz in jeder beliebigen besitzt. Auch die räumliche Auflösung (10 mm) ist
Volumeneinheit (Voxel, analog zu Pixel) messen nicht ganz so gut wie beim fMRT.
(voxel-based morphometry). So lässt sich bei man-
chen psychischen Störungen ein reduziertes Volu- Nahinfrarot-Magnetspektroskopie (NIRS) NIRS ba-
men bestimmter Hirnstrukturen (z. B. des Hippo- siert auf der unterschiedlichen Absorption von nah-
campus) nachweisen. infrarotem Licht durch oxygeniertes und des-
oxygeniertes Hämoglobin und misst die Durch-
Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) blutung von Hirnarealen (analog zum BOLD-Signal
Die fMRT, die heute am häufigsten angewandt wird im fMRT). Sie liegt hinsichtlich der zeitlichen
(keine Radioaktivität erforderlich!), basiert auf (100 msec) und räumlichen (1 cm) Auflösung zwi-
einem magnetischen Signal, das Protonen abgeben, schen fMRT und EEG. Ihr Vorteil besteht im gerin-
wenn sie einem starken Magnetfeld ausgesetzt geren apparativen Aufwand, ihr Nachteil darin, dass
und durch Radiofrequenzimpulse kurz aus ihrer nur kortikale Strukturen erfasst werden.
Orientierung im Magnetfeld ausgelenkt werden. Im Vergleich mit den elektrophysiologischen
Sie benutzt als Indikator die Sauerstoffsättigung Verfahren besitzen die bildgebenden Verfahren eine
des Hämoglobins (blood oxygen level-dependent  = bessere räumliche, jedoch schlechtere zeitliche Auf-
BOLD-Signal), die den regionalen Blutfluss je nach lösung. Wegen der unterschiedlichen Vor- und
der neuronalen Aktivität einer Hirnregion wider- Nachteile der genannten Methoden ist es sinnvoll,
spiegelt. Dadurch kann jedoch nicht die absolute mehrere Verfahren miteinander zu kombinieren,
Durchblutungsstärke gemessen werden, sondern wenn man die Repräsentation psychischer Funk-
immer nur diejenige in Relation zu einem Ver- tionen im Gehirn untersucht.
gleichszustand. Wenn man die neuronalen Korre- Lassen sich mit bildgebenden Verfahren »Ge-
late einer bestimmten kognitiven Aktivität unter- danken lesen«? Kann man anhand der Aktivitäts-
suchen will, muss man also eine Kontrollbedingung muster erkennen, was eine Person denkt? So weit
zum Vergleich heranziehen, in der die zu unter- sind wir noch nicht (und werden wir vielleicht auch
suchende kognitive Aktivität nicht enthalten ist, nie kommen). Auf einer sehr basalen Ebene ist dies
aber alle anderen unspezifischen Gehirnaktivitäten, allerdings möglich. Aufgrund der regionalen Hirn-
die nicht im Zentrum des Interesses der Studie aktivität lässt sich mit großer Genauigkeit vorher-
84 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

sagen, welches Objekt (aus einer von 8 Kategorien, daraus weitergehende Schlussfolgerungen zieht.
wie z. B. Gesichter, Häuser, Katzen etc.) eine Person Mit den Verteilungskennwerten der deskriptiven
gerade wahrnimmt. Dies gilt auch für die bloße ge- Statistik versuche ich lediglich darzustellen, wie
dankliche Vorstellung dieses Objekts ohne reales die Verhältnisse in der von mir untersuchten Pa-
Bild. tientengruppe beschaffen sind. Mit der Inferenz-
statistik gehe ich einen Schritt weiter. Ich möchte
3 i Vertiefen
wissen, wie denn die Verhältnisse in der Realität
Förstl H, Hautzinger M, Roth G (Hrsg) (2006)
jenseits meiner Stichprobe beschaffen sind. Ich be-
Neurobiologie psychischer Störungen.
nutze die Stichprobendaten, um Forschungshypo-
Springer, Berlin (enthält eine sehr anschauliche
thesen zu prüfen, die für die Population gelten, aus
Darstellung neurobiologischer Untersuchungs-
der meine Stichprobe stammt (zur Logik der Hypo-
verfahren)
thesentestung, 7 Abschn. 3.1). Dazu verwende ich
statistische Tests.

3.7 Datenauswertung
und -interpretation 3.7.2 Deskriptive Statistik

Lernziele Angenommen, ich messe bei 100  Herzinfarktpa-


Der Leser soll tienten die Depressivität mit einem Fragebogen.
5 deskriptiv-statistische Kennwerte der zentralen Für jeden Patienten erhalte ich eine Zahl, welche
Tendenz (Lage) und der Variabilität nennen die Stärke der Depressivität angibt. Die Werte der
können, 100 Patienten verteilen sich über einen bestimmten
5 die Aussagekraft eines Korrelationskoeffizienten Bereich. Wie kann ich diese Verteilung am besten
beschreiben können, charakterisieren, so dass ich nicht mehr alle
5 die Begriffe Effektstärke und 95 %-Konfidenz- 100 Werte aufführen muss? Wie kann ich die indi-
intervall definieren können, viduellen Werte in möglichst wenigen Kennwerten
5 Risikokennwerte und die Number needed to so zusammenfassen, dass die Stichprobe gut be-
treat definieren und berechnen können. schrieben wird? Hier unterscheidet man 2  Arten
von Kennwerten, Kennwerte der zentralen Ten-
denz (Lage) einer Verteilung (Wo liegt der Mittel-
3.7.1 Quantitative Auswertungs- punkt der Daten?) und solche der Variabilität (Wie
verfahren stark streuen die Daten um ihren Mittelpunkt?).
Welche Kennwerte hierbei jeweils angemessen sind,
hängt vom Skalenniveau der Variablen ab (7 Ab-
schn. 3.2.3). Bei der deskriptiven Statistik wird zu-
Ziele quantitativer Auswertungsverfahren
nächst einmal jede Variable für sich genommen
5 Deskriptive Statistik: die individuellen
dargestellt (univariate Analyse).
Daten (Werte einzelner Personen) einer
Stichprobe zusammenzufassen und in we-
Zentrale Tendenz Liegen die Daten auf dem Niveau
nigen Kennwerten repräsentieren
einer Nominalskala (Kategorien), ist der Modal-
5 Inferenzstatistik: auf der Basis der Stich-
wert oder Modus, d. h. diejenige Kategorie, die am
probenergebnisse Hypothesen prüfen und
häufigsten vorkommt, das angemessene Maß der
Schlussfolgerungen für die Population
zentralen Tendenz. Bei einer Ordinalskala ist es der
(Grundgesamtheit) ziehen, aus der die
Median (Md), d.  h. derjenige Wert, der die Stich-
Stichprobe stammt
probe in 2 gleich große Hälften teilt. Die Werte der
einen Hälfte liegen unter, diejenigen der anderen
Deskriptive Statistik dient also allein der Beschrei- Hälfte über dem Median. Bei einer Intervallskala
bung der jeweiligen Stichprobe, ohne dass man wird der arithmetische Mittelwert (M) berechnet
3.7 · Datenauswertung und -interpretation
85 3
(Summe der einzelnen Messwerte, dividiert durch 3.7.3 Inferenzstatistik
die Zahl der Messwerte).
In Medizin und Psychologie stellt sich bei Mittels der Inferenzstatistik werden Schlussfolge-
kontinuierlichen Variablen meist die Frage, ob der rungen (Inferenzen) von den Daten meiner Stich-
Median oder der arithmetische Mittelwert an- probe auf die Verhältnisse in der Population gezo-
gemessen ist. Neben dem Skalenniveau spielt da- gen, aus der die Stichprobe stammt (»die Realität«).
bei  auch die Art der Verteilung der Daten eine Mittels eines statistischen Tests prüfe ich, ob meine
Rolle. Wenn die Daten normalverteilt sind (Gauß- Forschungshypothese zutrifft oder nicht (7 Abschn.
Glockenkurve), dann ist der Mittelwert ange- 3.1.2). Dabei kann man Zusammenhangshypothe-
messen. Wenn nicht, ist der Median besser geeig- sen und Unterschiedshypothesen unterscheiden.
net.  Beispiel: In einem Bus fahren 10  Personen: Diese Gegenüberstellung ist jedoch nur didaktisch,
9 davon verdienen 2.000 € pro Monat, einer 50.000 €. nicht absolut. Viele Fragestellungen lassen sich
Der Mittelwert würde diese Verteilung nicht an- sowohl als Zusammenhangshypothese als auch als
gemessen repräsentieren, weil er durch den einen Unterschiedshypothese formulieren. Beispiel: Die
sehr hohen Wert nach oben gezogen würde. Hier Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Ge-
wäre der Median der bessere Kennwert. Der Mittel- schlecht und der Häufigkeit einer Depression be-
wert ist sehr anfällig für Extremwerte (»Ausreißer«), steht, ist gleichbedeutend mit der Frage, ob sich
die ihn in ihre Richtung verzerren, der Median Männer und Frauen in der Häufigkeit einer Depres-
hingegen nicht. Für den Median ist es nämlich sion unterscheiden.
unerheblich, wie hoch die höheren Werte sind. Er
wird ja durch die niedrigeren 50 % der Werte fest- Zusammenhangshypothesen In einer Zusammen-
gelegt. hangshypothese wird ein Zusammenhang zwischen
2  Variablen geprüft (bivariate Analyse). Beispiel:
Variabilität Wie weit schwanken die Daten um den Die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Herz-
Mittelwert? Bei intervallskalierten, normalverteil- infarktpatienten hängt mit ihrer Depressivität zu-
ten Daten wird hierfür die Streuung berechnet. Die sammen: je höher die Depressivität, desto geringer
Streuung (s) (syn. Standardabweichung, SD) ist die Lebensqualität. Sind beide Variablen kontinu-
die Quadratwurzel aus der Varianz. Die Varianz ierlich (z. B. 2 Fragebogenskalen), so wird die Stärke
wiederum wird folgendermaßen berechnet: Man des Zusammenhangs zwischen beiden Variablen
bildet für jeden individuellen Wert die Differenz mit einem Korrelationskoeffizienten bestimmt.
zum Mittelwert. Damit positive und negative Ab- Wenn beide Variablen normalverteilt und inter-
weichungen sich nicht gegenseitig aufheben, wird vallskaliert sind, ist dies der Produkt-Moment-Kor-
diese Differenz quadriert. Die Abweichungsqua- relationskoeffizient (r) nach Pearson. Ist dies nicht
drate werden dann aufsummiert. Um wieder einen der Fall, kommen Rangkorrelationskoeffizienten
Durchschnittswert zu gewinnen, dividiert man zum Einsatz, z. B. derjenige nach Spearman. Korre-
diese Summe durch die Zahl der Messwerte (ge- lationskoeffizienten können Werte zwischen r =+1
nauer gesagt: n −1). Kennt man die Verteilung der und r =−1 annehmen. r  =+1 bedeutet perfekter
Daten (Normalverteilung), den Mittelwert und die linearer Zusammenhang: Je größer der Wert der ei-
Streuung, so kann man die Wahrscheinlichkeit nen Variable, desto größer derjenige der zweiten
individueller Werte bestimmen: Innerhalb eines Be- Variable. Ein Koeffizient von r =0 hingegen bein-
reichs M ±1 SD liegen 68 % der Werte, innerhalb haltet, dass zwischen den beiden Variablen kein Zu-
eines Bereichs M ±2 SD 95,5 %. Bei nicht normal- sammenhang besteht. Die eine Variable variiert
verteilten oder ordinalskalierten Daten gibt man vollkommen unabhängig von der anderen. Ein Wert
den Interquartilbereich an. Das ist derjenige Be- von r =−1 wiederum bedeutet einen perfekten ne-
reich, in dem die mittleren 50  % der Stichprobe gativen linearen Zusammenhang. Die beiden Varia-
liegen. Außerdem ist die Angabe des Bereichs (der blen sind also umgekehrt proportional: Je höher der
Spannweite) sinnvoll (niedrigster bis höchster Wert der einen, desto niedriger der Wert der ande-
Wert). ren. In der Psychologie liegen Korrelationskoeffi-
86 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

zienten meist nicht bei +1 oder −1, auch starke Zu- kann man in einer Kreuztabelle oder Vier-Felder-
sammenhänge erreichen selten höhere Werte als Tafel darstellen. In den 4 Feldern der Kreuztabelle
z. B. 0,6. Es hat sich deshalb die Konvention einge- werden die Häufigkeiten der 4  Kombinations-
bürgert, bei r =0,5 von einem starken Zusammen- möglichkeiten der beiden Variablenausprägungen
hang zu sprechen, bei r =0,3 von einem mittleren dargestellt. Beispiel: Geschlecht (männlich vs. weib-
und bei r =0,1 von einem schwachen Zusammen- lich)  ×  Raucherstatus (Nichtraucher vs. Raucher).
3 hang. Quadriert man den Wert des Korrelationsko- Ob ein Zusammenhang zwischen den beiden Varia-
effizienten, so erhält man ein Maß für die gemein- blen besteht, prüft der Chi2-Test. Er vergleicht die
same Varianz der beiden Variablen. Beispiel: 2 Vari- empirischen Häufigkeiten in den 4 Zellen der Vier-
ablen korrelieren mit r =0,3 miteinander. Das Qua- Felder-Tafel mit den durch Zufall zu erwartenden
drat von 0,3 ist 0,09, d. h. 9 %. 9 % der Varianz der Häufigkeiten. Handelt es sich nicht um dichotome,
einen Variablen wird also durch die andere Variable sondern um polytome Variablen, also Variablen mit
»determiniert«, 91 % der Varianz ist davon unab- mehr als 2 Kategorien, so ergibt sich entsprechend
hängig. eine Mehrfeldertafel.
Für Korrelationskoeffizienten bzw. Regressions-
koeffizienten (s. u.) lässt sich ein statistischer Test Multivariable Analyse In einer multivariablen
durchführen, der prüft, ob die Koeffizienten von Analyse prüft man den Zusammenhang zwischen
Null verschieden sind. Ebenso wichtig wie die Frage mehreren unabhängigen Variablen und einer ab-
der Signifikanz ist jedoch die Höhe des Koeffi- hängigen Variablen. Beispiel: Die Lebensqualität
zienten, da dieser die Stärke des Zusammenhangs von Herzinfarktpatienten (abhängige Variable, Kri-
zwischen 2 Variablen zum Ausdruck bringt (Effekt- terium) soll durch folgende unabhängige Variablen
stärke, s. u.). (Prädiktoren) vorhergesagt werden: Depressivität,
Schweregrad der koronaren Herzkrankheit, Alter,
> Aus einer Korrelation lässt sich keine Kausali-
Geschlecht. Dies leistet eine multiple Regressions-
tät ableiten. Man kann aufgrund des reinen
analyse. Mit ihr kann man herausfinden, wie wich-
Zahlenwerts nicht aussagen, ob Variable X
tig eine unabhängige Variable zur Vorhersage der
Variable Y beeinflusst oder umgekehrt oder
abhängigen Variablen ist, wobei der Beitrag der
ob eine Wechselwirkung zwischen beiden
anderen Prädiktoren herausgerechnet wird. Man
Variablen vorliegt oder ob beide Variablen von
gewinnt also denjenigen Vorhersagebeitrag einer
einer dritten Variable Z beeinflusst werden.
Variablen, der unabhängig von den anderen Vari-
Beispiel für die Wirkung einer Drittvariablen: Bei ablen ist. Man kann auf diese Weise Confounder
Kindern korreliert die Körpergröße mit dem Wort- (7 Abschn. 3.4.1) statistisch kontrollieren. Prädikto-
schatz. Wodurch kommt diese Korrelation zustan- ren, deren Vorhersagekraft allein auf dem Zusam-
de? Die dritte Variable, die die beiden anderen be- menhang mit einer Drittvariablen beruht, verlieren
einflusst, ist das Alter. Korrelationen dürfen nicht in der multiplen Regressionsanalyse ihre Vorher-
kausal fehlinterpretiert werden. Ob ein Zusammen- sagekraft.
hang zwischen 2 Variablen kausaler Natur ist, lässt Wenn eine Variable trotz Adjustierung (Kon-
sich nicht anhand des Zahlenwerts feststellen, son- trolle) für mögliche Confounder ihre Vorhersage-
dern allein aufgrund des Untersuchungsdesigns kraft behält, ist damit aber noch lange nicht gesagt,
(randomisierte kontrollierte Studie, 7 Abschn. 3.4). dass sie ein kausaler Einflussfaktor ist. Erstens hat
Studien, die lediglich Zusammenhänge zwischen man den Confounder vielleicht nicht gut genug ge-
Variablen untersuchen, werden auch korrelative messen. Zweitens hat man vielleicht nicht alle wich-
Studien (im Unterschied zu experimentellen Stu- tigen Confounder berücksichtigt. Und drittens han-
dien) genannt. Heute wird hierfür jedoch meist der delt es sich noch immer lediglich um einen korrela-
Begriff naturalistische oder Beobachtungsstudien tiven Zusammenhang. Wenn man bei der multiplen
verwandt. Regressionsanalyse von Vorhersagekraft oder Ein-
Die Verteilung zweier dichotomer Variablen, fluss spricht, so ist damit nur die mathematische
die jeweils nur 2  Ausprägungen haben können, Vorhersage angesprochen. Auch für Regressionen
3.7 · Datenauswertung und -interpretation
87 3
gilt wie schon bei Korrelationen, dass aus einem Zu- unterschied nicht zufallsbedingt ist, sondern einem
sammenhang zwischen einem Prädiktor und einem tatsächlichen Unterschied entspricht, d. h. dass die
Kriterium nicht abgeleitet werden kann, dass der Psychotherapie wirksam war. Die Berechtigung,
Prädiktor das Kriterium kausal beeinflusst. Auch von Wirksamkeit zu sprechen, speist sich natürlich
hier gilt, dass eine kausale Wirkung lediglich durch aus dem experimentellen Design. Der statistische
ein experimentelles Design nachgewiesen werden Test kann lediglich prüfen, ob signifikante Unter-
kann. schiede bestehen, nicht aber, wodurch diese ent-
Eine Erweiterung der multiplen Regressions- standen sind.
analyse unter Einbezug mehrerer Variablen stellen Man kann auch gleichzeitig Unterschiede so-
lineare Strukturgleichungsmodelle und Pfadana- wohl zwischen EG und KG als auch z. B. zwischen
lysen dar. Sie ermöglichen es, den Einfluss (im sta- Männern und Frauen als einer weiteren Variablen
tistischen Sinn, s. o.) mehrerer unabhängiger Varia- prüfen. Da hier 2 Faktoren (Intervention, Geschlecht)
blen auf mehrere abhängige Variablen zu model- einbezogen werden, spricht man von einem zweifak-
lieren. Damit kann man prüfen, ob der Zusammen- toriellen Design. Der geeignete statistische Test heißt
hang zwischen den Variablen mit bestimmten Varianzanalyse. Diese prüft folgende Hypothesen:
kausalen Modellen vereinbar ist, und wenn das 4 Die Depressivität ist in der KG höher als in der
nicht der Fall ist, das Modell widerlegen. Die An- EG (Haupteffekt der Intervention).
nahme der Kausalität ist jedoch eine rein theore- 4 Die Depressivität ist bei Frauen höher als bei
tische Annahme, die durch das Modell nicht be- Männern (Haupteffekt des Geschlechts).
wiesen werden kann. 4 Die Intervention wirkt bei Frauen besser als
bei Männern (Interaktionseffekt).
> Kausale Zusammenhänge lassen sich nicht
rein statistisch durch Berechnungen, sondern
Der Interaktionseffekt gibt darüber Auskunft, ob
lediglich auf der Grundlage des angemesse-
der Zusammenhang zwischen der unabhängigen
nen Designs (experimentelle Studie = rando-
Variablen (Intervention) und der abhängigen Vari-
misierte kontrollierte Studie) nachweisen.
ablen (Depressivität) durch eine dritte Variable
(Geschlecht) beeinflusst wird. Wenn dies der Fall
Unterschiedshypothesen Der häufigste Fall bei ist, dann ist das Geschlecht eine Moderatorvariable
experimentellen Studien ist derjenige, dass 2 Grup- (7 Abschn. 3.4.1). Die Varianzanalyse hat ein wei-
pen, die Experimentalgruppe und die Kontroll- teres Einsatzgebiet: der Vergleich von mehr als
gruppe, auf einer kontinuierlichen abhängigen Va- 2 Gruppen.
riable verglichen werden. Beispiel: Ein psychothe- Weitere Tests für Unterschiedsprüfungen sind
rapeutisches Verfahren (Intervention) soll in Bezug in . Tab. 3.3 aufgeführt. Ist die Variable intervall-
auf seine Wirksamkeit bei Depression überprüft skaliert und sind die Daten normalverteilt, werden
werden. Als abhängige Variable wird ein Depres- parametrische Tests verwandt, ansonsten nonpara-
sionsfragebogen, wie z.  B. das Beck-Depressions- metrische Tests. Wenn die beiden Gruppen, die
Inventar (BDI), verwendet. Der entscheidende sta- man vergleicht, verschiedene Personen umfassen,
tistische Test in dieser Situation ist der Vergleich der handelt es sich um unabhängige Stichproben. Wer-
Mittelwerte zwischen EG und KG nach dem Ende den dagegen ein und dieselben Personen zweimal
der Intervention. Dieser Test prüft, wie schon in untersucht, z. B. vor und nach einer Behandlung, so
7 Abschn. 3.1.2 ausgeführt, ob ein etwaiger Mittel- sind es abhängige (gepaarte) Stichproben. Abhängig
wertsunterschied so groß ist, dass er bei Gültigkeit nennt man sie, weil die beiden Messwerte meist mit-
der Nullhypothese nur sehr selten auftreten würde. einander korreliert sind.
Hier kommt der t-Test zur Anwendung (im eng-
lischsprachigen Raum auch als Student’s t-test be- Effektstärke Die Signifikanzprüfung ist nur ein
zeichnet, weil er unter dem Pseudonym »Student« 1. Schritt zur Beurteilung der inhaltlichen Bedeu-
publiziert wurde). Fällt der t-Test signifikant aus tung eines Ergebnisses. Im 2. Schritt geht es darum,
(p <0,05), so nehmen wir an, dass der Mittelwerts- etwas über die Größe eines Mittelwertsunterschieds,
88 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

. Tab. 3.3 Statistische Tests für die Prüfung von Unterschiedshypothesen

2 Gruppen Mehr als 2 Gruppen

Unabhängige Abhängige (gepaarte) Unabhängige Abhängige Stich-


Stichproben Stichproben Stichproben proben
3 Parametrisch t-Test t-Test für abhängige Varianzanalyse Varianzanalyse mit
(gepaarte) Stichproben Messwiederholung

Nonparametrisch Mann-Whitney-U-Test Wilcoxon-Vorzeichen- Kruskal-Wallis- Friedman-Rang-


(syn. Wilcoxon-Rang- Rangtest Test varianzanalyse
summentest)

d. h. die Stärke des Effekts der Intervention, zu er- dar, wie er in der Population herrscht. Deshalb ist es
fahren. wichtig, zusätzlich zur Effektstärke auch den Ver-
trauensbereich anzugeben, in dem der wahre Wert
> Unter Effektstärke versteht man die Größe
mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit liegt.
des durch eine Intervention hervorgerufenen
Unterschieds zwischen Interventionsgruppe > Das 95 %-Konfidenzintervall (95 %-KI)
und Kontrollgruppe auf einem Zielkriterium. beschreibt, vereinfacht gesagt, denjenigen
Bereich, in dem der Populationswert mit
Das gebräuchlichste Maß der Effektstärke ist
95 %iger Sicherheit liegt.
Cohen’s  d. Cohen’s d ist definiert als Mittelwerts-
unterschied in Einheiten der Standardabweichung. Genauer: Wenn eine Studie sehr oft wiederholt und
(Wenn die Standardabweichung in EG und KG jedes Mal ein 95  %-KI berechnet würde, würden
nicht gleich ist, verwendet man die sog. gepoolte 95 % dieser KI den wahren Wert einschließen (zur
Standardabweichung, Formel bei Cohen 1988.). Berechnung, 7 Altman et al. [2000]). Das 95  %-KI
Indem man den Mittelwertsunterschied durch die erlaubt es zudem, die klinische Bedeutung eines
Standardabweichung dividiert, wird er unabhängig Mittelwertsunterschieds zu beurteilen. In kleinen
von der jeweiligen Skalierung des Messinstruments. Studien kann es nämlich durchaus vorkommen,
Man kann dann über unterschiedliche Messinstru- dass das 95 %-KI sehr breit ist und sowohl große,
mente hinweg die Effektstärken vergleichen. Für die klinisch bedeutsame Effekte einschließt als auch
Beurteilung der Effektstärke hat sich folgende Kon- kleine, wenig relevante Effekte. In dieser Situation
vention eingebürgert: ist es notwendig, eine größere Studie durchzufüh-
4 d = 0,2 kleiner Effekt, ren, die eine präzisere Effektschätzung ermöglicht,
4 d = 0,5 mittlerer Effekt, so dass das Konfidenzintervall kleiner würde.
4 d = 0,8 großer Effekt. Wenn die Werte der abhängigen Variable all-
gemein verständlich sind, wie z.  B. der arterielle
Beispiel: Die Effektstärke von Psychotherapie im Blutdruck in mmHg, so kann man auch die unmit-
Vergleich zu keiner Behandlung beträgt d = 0,7. Es telbaren Mittelwertsunterschiede ohne vorherige
handelt sich um einen mittelgroßen bis großen Ef- Division durch die Standardabweichung zur Beur-
fekt. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Effekt- teilung der Effektstärke heranziehen. Beispiel: Eine
stärkemaße. Auch der Korrelationskoeffizient ist Behandlungsmaßnahme hat einen Unterschied
ein solches. Er gibt die Stärke des Zusammenhangs zwischen EG und KG beim diastolischen Blutdruck
zwischen 2 Variablen an. von 5 mmHg erbracht. Dies ist ein klinisch bedeut-
samer Unterschied. Das 95 %-KI reicht von 1 mmHg
Konfidenzintervall Die Effektstärke, die man aus bis 9 mmHg. Es umfasst also einen Bereich, der auf
einer Studie gewinnt, stellt immer nur eine mehr der einen Seite noch größere Blutdruckunterschie-
oder weniger präzise Schätzung des wahren Effekts de einschließt, auf der anderen Seite aber auch sehr
3.7 · Datenauswertung und -interpretation
89 3
kleine Unterschiede, deren klinische Relevanz in Relatives Risiko Das relative Risiko gibt an, um wie
Frage gestellt werden könnte. viel größer das Krankheitsrisiko ist, wenn ein Risi-
Das 95 %-KI enthält auch die Information, ob kofaktor vorliegt. Beispiel: Von 100  50-jährigen
ein Ergebnis statistisch signifikant ist oder nicht. Männern mit niedrigem Cholesterinwert erleiden
Wenn das 95 %-KI von d nämlich den Wert 0 ein- 4 einen Herzinfarkt, von 100 Männern mit hohem
schließt, d. h. kein Unterschied zwischen dem Mit- Cholesterinwert jedoch 6. Das relative Risiko ist das
telwert der EG und demjenigen der KG besteht, so Risiko in der exponierten Gruppe (hohes Choles-
heißt dies, dass das Ergebnis nicht signifikant ist. terin) im Vergleich zum Risiko in der nichtexpo-
Dass der Wert 0 im 95 %-KI liegt, impliziert, dass nierten Gruppe (niedriges Cholesterin). Man rech-
das Ergebnis der Studie auch mit einem fehlenden net also 6 %:4 %=1,5. Das relative Risiko für einen
Effekt der Intervention vereinbar ist. Dennoch Herzinfarkt, das mit einem erhöhten Cholesterin-
bringt das 95 %-KI mehr Information als der reine spiegel einhergeht, beträgt demnach 1,5. Prozentual
Signifikanztest, weil es auch Informationen über die ausgedrückt: Das Herzinfarktrisiko steigt um 50 %.
Größe eines etwaigen Effekts enthält. Kleine Stu-
dien verfehlen nämlich häufig wegen ihrer zu ge- Relative Risikoreduktion In Studien, in denen
ringen Teststärke (Power) die Signifikanz, obwohl durch eine Intervention das Krankheitsrisiko ge-
möglicherweise durchaus ein klinisch bedeutsamer senkt werden soll, wird oft die relative Risikoreduk-
Effekt vorhanden ist, wie man dem Konfidenz- tion (RRR) angegeben. Wir greifen auf das obige
intervall entnehmen kann, wenn dieses auch große Beispiel Herzinfarktrisiko infolge erhöhten Choles-
Effekte einschließt (aber »leider« eben auch den terins zurück. Durch eine Intervention zur Senkung
Wert 0). Was kann man in einer solchen Situation des Cholesterinspiegels über 10  Jahre kann das
tun? Die Lösung besteht darin, noch einmal eine Risiko in der Behandlungsgruppe von 6 % auf 4 %
größere, d. h. hinsichtlich der Fallzahl ausreichend verringert werden. Bei der RRR wird die Risiko-
dimensionierte Studie durchzuführen, die dann reduktion am Risiko der unbehandelten Kontroll-
ein engeres Konfidenzintervall erbringt, so dass der gruppe  (6 %) relativiert. Man bildet also zunächst
Wert 0 möglicherweise außerhalb des Intervalls zu die Differenz zwischen beiden Risikowerten
liegen kommt, was mit statistischer Signifikanz (6 %−4 %) und teilt diese danach durch 6 %.
identisch ist. Eine zweite, allerdings nicht unpro- (6 %−4 %):6 %=1/3=33 %. Die RRR für einen Herz-
blematische Möglichkeit besteht darin, die Effekte infarkt infolge der Senkung des Cholesterinspiegels
aus kleinen Stichproben in einer Metaanalyse zu- beträgt also 33 %. Ein Nachteil dieser Ziffer ist je-
sammenzufassen und quantitativ zu integrieren doch, dass sie ebenso hoch ausfällt, wenn das Risiko
(7 Abschn. 3.8.2). Nicht unproblematisch ist diese statt von 6 % auf 4 % von 6 ‰ auf 4 ‰ oder von
Lösung, weil kleine Studien oft nur dann publiziert 6/10.000 auf 4/10.000 reduziert würde. Immer wür-
werden, wenn sie signifikante Ergebnisse erbracht de eine RRR von 33 % resultieren. Die RRR ist des-
haben (publication bias; 7 Abschn. 3.8.2). Die Effek- halb nicht sehr aussagekräftig und führt eher zur
te sind dann entsprechend groß, sonst wären sie ja Überschätzung des Nutzens einer Maßnahme. Ge-
nicht signifikant geworden. Solche »Zufallstreffer« rade aus letzterem Grund wird sie aber oft in Be-
lassen sich in großen Studien oft nicht wiederholen. richten angegeben, wenn es darum geht, die Öffent-
lichkeit oder Patienten zu beeindrucken. Da dies
jedoch eher zur Verwirrung beiträgt, sollte statt-
3.7.4 Risikokennwerte dessen besser die absolute Risikoreduktion ange-
geben werden.
Absolutes Risiko Das absolute Risiko ist die Wahr-
scheinlichkeit, mit der eine Erkrankung auftritt. Absolute Risikoreduktion Die absolute Risikore-
Beispiel: Von 100 50-jährigen Männern, die einen duktion (ARR) ist einfach die Differenz zwischen
niedrigen Cholesterinwert haben, erleiden in den EG und KG, in unserem Beispiel also 6 %−4 %=2 %.
nächsten 10  Jahren 4  einen Herzinfarkt. Das ab- Die Ziffer 2 % wirkt natürlich längst nicht so ein-
solute Risiko beträgt also 4 %. drucksvoll wie 33 %. Sie kommt aber der Realität
90 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

deutlich näher: 2 von 100 Männern, die regelmäßig muss also 50 Männer 10 Jahre lang mit dem cho-
das cholesterinsenkende Medikament nehmen, lesterinsenkenden Medikament behandeln, um bei
können vor einem Herzinfarkt bewahrt werden. einem von ihnen in dieser Zeit einen Herzinfarkt zu
verhindern. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn wir
Klinik: Tipp für die Praxis uns noch einmal die ARR von 2 % ansehen. Wenn
Wie kann man die Risikoreduktion einem Patienten durch die Behandlung von 100 Männern das Risiko,
3 vermitteln, so dass er sie erstens nachvollziehen kann einen Herzinfarkt zu erleiden, bei 2 von ihnen ver-
und zweitens auch etwas über die Unsicherheit er- mieden wird, so muss man 50  Menschen behan-
fährt, die mit jeder individuellen Vorhersage verbun- deln, um bei einem einzigen einen Herzinfarkt zu
den ist? Hier ein Formulierungsvorschlag: »Wenn vermeiden. Je wirksamer eine Behandlung ist, umso
100 Personen wie Sie in den nächsten 10 Jahren kei- geringer ist die NNT, d. h. umso weniger Patienten
ne Behandlung erhalten, werden 94 überleben und muss man einer Maßnahme unterziehen, um bei
6 sterben. Ob Sie einer der 94 oder einer der 6 sind, einem von ihnen ein unerwünschtes Ereignis, wie
kann man im Voraus nicht wissen. Wenn 100 Leute eine Erkrankung oder den Tod, zu verhindern.
wie Sie jedoch jeden Tag für die nächsten 10 Jahre Die NNT hängt sehr von der Zielgruppe ab,
ein Medikament nehmen, werden 96 überleben und auf die eine Präventionsmaßnahme gerichtet ist
4 sterben. Wiederum weiß ich nicht, ob Sie einer der (. Tab. 3.4). In der primären Prävention, wo die
96 oder einer der 4 sein werden.« Auf der Basis dieser Zielgruppe die gesunde Allgemeinbevölkerung dar-
verständlichen und realistischen Risikokommunika- stellt, ist das Risiko für eine koronare Herzkrankheit
tion kann der Patient selbst mitentscheiden, ob er eher niedrig. In einer Interventionsstudie, in der ein
das Medikament nehmen will oder nicht. Medikament (Statin) zur Senkung des Cholesterin-
spiegels gegeben wurde, konnte das absolute Risiko
für einen kardialen Todesfall von 1,7 % in der Pla-
3.7.5 Number needed to treat (NNT) zebo-Kontrollgruppe auf 1,2 % in der Behandlungs-
gruppe, d.  h. um 0,5  % gesenkt werden. Entspre-
Ein anschauliches Maß für den Nutzen einer Inter- chend beträgt die NNT 200. 200 Patienten müssen
vention stellt die Number needed to treat (NNT) das Medikament nehmen, damit bei einem von
dar. Damit ist die Anzahl von Patienten gemeint, die ihnen ein kardialer Todesfall vermieden wird.
man behandeln muss, um ein einziges unerwünsch- Anders in der sekundären Prävention, wo das
tes Ereignis (in unserem Beispiel einen Herzinfarkt) Risiko eines erneuten Infarkts von vornherein hö-
zu verhindern. Die NNT stellt den Kehrwert der her ist und dementsprechend auch größere absolute
absoluten Risikoreduktion dar. In unserem Beispiel Risikoreduktionen erzielt werden können. In einer
gilt: NNT = 1/ARR = 1 dividiert durch 2 % = 50. Man Studie bei Patienten mit schon bestehender koro-

. Tab. 3.4 Risikoreduktion und Number needed to treat (NNT) in Primär- und Sekundärprävention (nach Skolbekken
1998)

Kardiale Kardiale- Absolute Risiko- Relative Risikoreduktion Number


Todesfälle Todesfälle reduktion (ARR) (RRR) needed to treat
ohne Statin mit Statin (NNT = 1/ARR)

Primär- 1,7 % 1,2 % 1,7 %−1,2 %=0,5 % (1,7 %−1,2 %)/1,7 %=29 % 1/0,5 %=200


prävention
(WOSCOPS-
Studie)

Sekundär- 8,5 % 5,0 % 8,5 %−5,0 %=3,5 % (8,5 %−5,0 %)/8,5 %=41 % 1/3,5 %=29


prävention
(4S-Studie)
3.7 · Datenauswertung und -interpretation
91 3
narer Herzkrankheit konnte durch ein Statin das ist dann 140/100.000−10/100.000=130/100.000.
absolute Risiko für einen kardialen Todesfall von Rechnerisch entspricht es der absoluten Risiko-
8,5 % in der Plazebo-Kontrollgruppe auf 5,0 % in reduktion in einer Interventionsstudie.
der Interventionsgruppe, d. h. um 3,5 % vermindert
werden. Die NNT betrug hier 29, war also deutlich Attributable Fraktion Die attributable Fraktion be-
geringer. Nur 29 Patienten müssen das Medikament schreibt denjenigen Anteil der Krankheitshäufigkeit
nehmen, damit einer von ihnen vor dem Herztod in der exponierten Gruppe, der durch den Risikofak-
gerettet wird. tor bedingt ist. Man dividiert hierzu das attributable
Risiko, also die Risikodifferenz, durch das Risiko bei
den Exponierten. Im Beispiel der Lungenkrebsmor-
3.7.6 Weitere Risikokennwerte talität: (140/100.000−10/100.000):140/100.000=
93 %. 93 % der Lungenkrebstodesfälle bei Rauchern
Odds Ratio Die Odds Ratio (Chancenverhältnis) ist gehen also auf das Rauchen zurück.
ein Näherungsmaß für das relative Risiko. Sie be-
rechnet sich als Quotient zweier odds (Chancen). Bevölkerungsbezogenes attributables Risiko Da-
Ein Odd ist selbst schon ein Quotient zwischen einer mit wird die Bedeutung eines Risikofaktors für die
Wahrscheinlichkeit (p) und ihrer Gegenwahrschein- Krankheitsentstehung in der Bevölkerung ins-
lichkeit  (1−p). Beispiel Lungenkrebsmortalität: gesamt berechnet. Er ergibt sich als Differenz der
Odds in der Gruppe der Exponierten (Raucher) = Erkrankungshäufigkeit in der Gesamtbevölkerung
Risiko : Gegenrisiko =140:99.860. Odds in der Grup- und der Erkrankungshäufigkeit bei den Nicht-
pe der Nichtexponierten (Nichtraucher) = 10:99.990. exponierten dividiert durch die Erkrankungshäu-
Odds Ratio = Quotient der beiden Odds =14. figkeit in der Gesamtbevölkerung. Analog geht
Die Odds Ratio wird meist verwandt, wenn die Berechnung für die Sterblichkeit. Beträgt die
man kein relatives Risiko berechnen kann, weil Lungenkrebsmortalität in der männlichen Gesamt-
Angaben zur Inzidenz oder Prävalenz fehlen. Wich- bevölkerung 90 von 100.000, diejenige bei den
tigstes Anwendungsgebiet sind Fall-Kontroll-Stu- Nichtexponierten 10 von 100.000, so resultiert ein
dien, weil man dort keine zufälligen Stichproben bevölkerungsbezogenes attributables Risiko von
aus der Population zieht, aus denen man Inzidenz- (90−10):90=0,89, d. h. 89% der Todesfälle an Lun-
schätzungen gewinnen kann, sondern mit vor- genkrebs bei allen Männern gehen auf das Rauchen
handenen Fällen einer Erkrankung vorliebnimmt zurück.
und diese mit einer Gruppe von Gesunden, den
Kontrollen, vergleicht (7 Abschn. 3.4.4). Hier be- Kriterien für das Vorliegen einer kausalen Beziehung
rechnet man die Odds Ratio in umgekehrter zwischen Risikofaktor und Krankheit In der Epide-
Richtung, nicht vom Expositionsstatus hin auf das miologie werden zur Identifizierung von Risiko-
Krankheitsrisiko, sondern vom Krankheitsstatus faktoren oft Längsschnittuntersuchungen (prospek-
hin auf das Expositionsrisiko. Man bildet also das tive Kohortenstudien) durchgeführt, um Zusam-
Verhältnis aus Rauchern zu Nichtrauchern in der menhänge zwischen einem Risikofaktor und dem
erkrankten Gruppe und Rauchern zu Nichtrau- Auftreten einer Krankheit zu finden. Dieses Design
chern in der Kontrollgruppe. erlaubt letztlich keinen sicheren Nachweis kausaler
Beziehungen. Hierfür wären Interventionsstudien
Attributables Risiko Das attributable Risiko ist notwendig (7 Abschn. 3.4.3). Gleichwohl hat man
derjenige Anteil des Risikos, der einem Risikofak- Kriterien definiert, die kausale Beziehungen wahr-
tor zugeschrieben (attribuiert) werden kann. Es be- scheinlich machen. Diese Kriterien sind jedoch le-
rechnet sich als Differenz der Krankheitshäufigkeit diglich als mehr oder weniger plausible Hinweise zu
bei den Exponierten und den Nichtexponierten. sehen, nicht als Beweise.
Beispiel: Die jährliche Mortalität an Lungenkrebs
beträgt bei Nichtrauchern 10 von 100.000 und bei
Rauchern 140 von 100.000. Das attributable Risiko
92 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

ziologie eine qualitative Forschungstradition, die


Hinweise auf eine kausale Beziehung diese Daten nicht weiter statistisch verarbeitet, son-
zwischen Risikofaktor und Krankheit in dern so, wie sie sind, interpretiert. Es spricht jedoch
nichtexperimentellen Studien prinzipiell nichts dagegen, beispielsweise Patienten-
5 Temporale Abfolge: Die Ursache muss der äußerungen aus Interviews in Kategorien einzuord-
Wirkung vorausgehen. Dies ist ein notwen- nen und diese nominalskalierten Daten quantitativ
3 diges Kriterium. auszuwerten. Insofern besteht zwischen qualita-
5 Stärke der Beziehung: Stärkere Zusam- tiven und quantitativen Verfahren kein prinzipieller
menhänge sprechen eher für Kausalität, Unterschied. Qualitative Datenerhebung, sofern
schwächere Zusammenhänge können sie den Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und
leichter durch methodische Fehler erzeugt Validität genügt, gehört ebenfalls zur empirischen
werden. Forschung.
5 Konsistenz der Beziehung: Wenn ein Zu-
sammenhang in mehreren unterschied- Inhaltsanalyse Das am häufigsten in der qualita-
lichen Studien festgestellt wurde, ist er ver- tiven Forschung verwandte Verfahren ist die Inhalts-
lässlicher. analyse. Dabei werden auf der Grundlage von Inter-
5 Spezifität der Beziehung: Ein Risikofaktor viewäußerungen, die aufgezeichnet und trans-
steht nur mit einer einzigen Krankheit in kribiert wurden, Auswertungskategorien entwickelt,
Zusammenhang. Dieses Kriterium ist eher anhand derer sich das Textmaterial strukturieren
schwach. Zigarettenrauchen erhöht z. B. un- und zusammenfassen lässt. Der erste Schritt der
spezifisch das Risiko für viele Krankheiten, Inhaltsanalyse ist dabei induktiv: Man versucht, aus
ohne dass dies gegen Kausalität spräche. den Interviewtexten heraus Kategorien zu finden,
5 Biologische Plausibilität: Der Zusammen- die die Äußerungen der Befragten möglichst gut
hang sollte nach unserem gegenwärtigen wiedergeben, so dass keine wesentliche Information
Wissen biologisch sinnvoll sein. verloren geht. In einem zweiten Durchlauf wird
5 Dosis-Wirkungs-Beziehung: Je stärker der dann dieses Kategoriensystem an anderen Inter-
Risikofaktor ausgeprägt ist, umso höher viewtexten erprobt und gegebenenfalls modifiziert,
sollte das Erkrankungsrisiko sein (z. B. steigt wenn neue Inhalte auftauchen, die mit der ersten
das Lungenkrebsrisiko linear mit den Jah- Version des Kategoriensystems noch nicht gut er-
ren, die jemand geraucht hat). fasst werden können. Jede Kategorie des Systems
wird genau definiert, mit Ankerbeispielen illustriert
und bei Zweifelsfällen anhand genauer Kodierregeln
Als bestes Kriterium gilt jedoch die experimentelle beschrieben. Wenn das Kategoriensystem inhaltlich
Evidenz. Diese gewinnt man allerdings nicht aus fertig ist, wird es im Hinblick auf seine Messgenau-
Längsschnittstudien, sondern aus randomisierten, igkeit überprüft. Zunächst findet eine Schulung der
kontrollierten Interventionsstudien. Wenn man zei- Kodierer statt. Nach Abschluss dieses Rater-Trai-
gen kann, dass das Krankheitsrisiko sinkt, sobald nings kodieren z. B. zwei Kodierer unabhängig von-
man den Risikofaktor eliminiert, liegt der stärkste einander dieselben Interviews, und man prüft ihre
Beleg für Kausalität vor. Übereinstimmung (Interrater-Reliabilität; Cohen’s
Kappa, 7 Abschn. 7.2.1).

3.7.7 Qualitative Auswertungs- Weitere Verfahren Gruppendiskussionen, wie z. B.


verfahren die sog. Fokusgruppe, werden eingesetzt, um ein
Thema explorativ zu untersuchen, über das noch
Qualitative Auswertungsverfahren erbringen Er- wenig Information existiert. Zu einer Fokusgruppe
gebnisse, die nicht von vornherein als Zahlenwerte können beispielsweise betroffene Patienten einge-
vorliegen, wie z. B. Patientenäußerungen in offenen laden werden, um Verbesserungsmöglichkeiten der
Interviews. Es gibt insbesondere im Bereich der So- Versorgung im Krankenhaus herauszufinden oder
3.8 · Ergebnisbewertung
93 3
ihre Bedürfnisse nach psychosozialer Unterstüt- können beispielsweise unentdeckte Störvariablen
zung zu erfahren. (Confounder) wirksam gewesen sein, die das Ergeb-
Bei der Soziometrie werden z. B. die Mitglieder nis zugunsten der geprüften Intervention verzerren,
eines Stationsteams gebeten, aus ihrer Gruppe den- oder in einer randomisierten Studie herrschten be-
jenigen auszuwählen, mit dem sie am liebsten zu- sonders günstige Bedingungen zugunsten der Inter-
sammenarbeiten, und denjenigen, mit dem sie dies vention, die nur in dieser einen Situation wirksam
am wenigsten gerne tun. Auf diese Weise lässt sich waren.
die informelle Struktur der Gruppe in Erfahrung Ein anderer Grund dafür, einem einmaligen For-
bringen. schungsergebnis zu misstrauen, liegt in der Logik
Als Dokumentenanalyse bezeichnet man die des Signifikanztests. Wie in 7 Abschn. 3.1.2 ausge-
Untersuchung von schon existierenden Materialien, führt, nehme ich bei der Festlegung der Irrtums-
wie z. B. Archivmaterial, Briefen, Krankenakten etc. wahrscheinlichkeit auf 5  % in Kauf, mich in 5  %
Vorteil der Dokumentenanalyse ist, dass die Daten- meiner Hypothesenprüfungen zu irren, d.  h. die
erhebung nicht reaktiv ist, d.  h. die Daten nicht Alternativhypothese fälschlicherweise anzunehmen,
durch den Erhebungsprozess selbst beeinflusst wer- obwohl in der Realität die Nullhypothese zutrifft.
den, wie z. B. bei Fragebogenuntersuchungen oder Leider kann ich nie sicher sein, ob mein signifikantes
Interviews. Andererseits ist man aber auf diejenige Ergebnis nicht gerade eines von diesen 5 von 100 ist,
Information angewiesen, die in den Dokumenten es sich also bei dem festgestellten Effekt lediglich um
enthalten ist, da keine Neuerhebung stattfindet. einen Zufallsbefund handelt.
Dies schränkt die Aussagekraft von Dokumenten- Aus diesen Gründen gilt in der Forschung:
analysen ein. »Einmal ist keinmal.« Erst wenn ein Ergebnis von
einer anderen Forschergruppe bestätigt wurde (Re-
i Vertiefen
plikation), hat man mehr Vertrauen in den Sachver-
Bortz J (2004) Statistik für Human- und Sozial-
halt. Replizierbarkeit ist ein wichtiges Kriterium
wissenschaftler, 6. Aufl. Springer, Berlin (gut ver-
für die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen.
ständliche, umfassende Darstellung)
Dies gilt umso mehr für nichtexperimentelle Stu-
dien, in denen beispielsweise versucht wird, den
Krankheitsverlauf durch prognostische Faktoren
3.8 Ergebnisbewertung vorherzusagen. Wegen der Anfälligkeit dieses Stu-
diendesigns für unentdeckte Einflussfaktoren und
Lernziele der Abhängigkeit von Regressionsmodellen von der
Der Leser soll jeweiligen Stichprobe geht man oft folgendermaßen
5 Vorgehensweise und Aussagekraft einer Meta- vor: Man entwickelt das prognostische Modell an-
analyse beschreiben können, hand einer Stichprobe und überprüft es dann an-
5 die Begriffe evidenzbasierte Medizin und Leitlinie hand einer neuen, davon unabhängigen Stichprobe.
definieren können, Dieses Vorgehen nennt man Kreuzvalidierung.
5 Effizienz und Effektivität unterscheiden Replikation eines Studienergebnisses in einer ande-
können. ren Stichprobe und einem anderen Setting (andere
Klinik etc.) erhöht seine Generalisierbarkeit (exter-
ne Validität; 7 Abschn. 3.4.4).
3.8.1 Replizierbarkeit, Generalisier-
barkeit, Kreuzvalidierung
3.8.2 Metaanalyse
Keine Studie ist perfekt. Auch wenn man sich be-
müht, eine Studie sorgfältig zu planen und korrekt Der Nachweis eines Interventionseffekts ist umso
durchzuführen, kann man doch nie hundertprozen- glaubwürdiger, je häufiger er in randomisierten
tig sicher sein, dass einem nicht Fehler unterlaufen Studien erbracht wurde. Liegen in einem For-
sind. In nichtrandomisierten Evaluationsstudien schungsfeld mehrere Studien vor, so können diese
94 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

in einer Metaanalyse quantitativ zusammengefasst schungsfeld viele kleine Studien mit großen Effek-
werden. ten vorliegen, während die großen Studien nur klei-
ne oder sogar Nulleffekte erbrachten. Die Kennwer-
> Eine Metaanalyse ist die quantitative
te kleiner Stichproben weichen allein zufallsbedingt
Zusammenfassung der Ergebnisse einzelner
mehr oder weniger stark vom wahren Wert ab, wie
Studien.
er in der Population gilt, aus dem die Stichprobe
3 Im Unterschied zu einer traditionellen (narrativen) stammt (Stichprobenfehler). Diese Abweichungen
Literaturübersicht, in dem der Autor eher unsyste- müssten aber in beiden Richtungen zu finden sein,
matisch und anhand seiner persönlichen Überzeu- hin zu größeren wie auch hin zu kleineren oder gar
gungen die Forschungsliteratur bewertet, geht man negativen Effekten. Wie kann man nun Hinweise
in einer Metaanalyse systematisch vor (systema- darauf gewinnen, dass (kleine) Studien mit großen
tisches Review). Man recherchiert zunächst anhand und signifikanten Effekten eher publiziert werden
definierter Stichworte möglichst vollständig die als (kleine) Studien mit kleinen und nicht signifi-
internationale Literatur. Will man die Forschung kanten Effekten? Man betrachtet dazu den Zusam-
zur Wirksamkeit einer Intervention untersuchen, menhang zwischen der Stichprobengröße und der
ist es sinnvoll, nur randomisierte Studien einzu- Größe des Effekts. Eigentlich sollte die Größe des
schließen und lediglich dann auf Studien geringerer Effekts nicht von der Stichprobengröße abhängen.
Qualität auszuweichen, wenn keine randomisierten Wenn nun aber die Größe des Effekts in den ver-
Studien vorliegen. öffentlichten Studien umgekehrt proportional zur
Nachdem man die Studien identifiziert und ein- Größe der Stichprobe ist, d. h. je kleiner die Stich-
geschlossen hat, fasst man ihre Ergebnisse sowohl probe ist, desto größer der Effekt, wertet man dies
inhaltlich als auch quantitativ zusammen. Man ent- als Hinweis auf einen Publication bias. Man nimmt
nimmt aus jeder Studie die jeweilige Effektstärke an, dass nur diejenigen kleinen Studien mit per Zu-
(z. B. Cohen’s  d) hinsichtlich des interessieren- fall besonders großem Effekt (und deshalb signi-
den Ergebniskriteriums. Aus den Effektstärken der fikantem Ergebnis) auch publiziert wurden. Die
einzelnen Studien kann dann eine Gesamteffekt- ebenfalls per Zufall zu erwartenden Studien mit
stärke berechnet werden, wobei die einzelnen Ef- kleinem, nicht signifikantem oder gar negativem
fektstärken je nach Stichprobengröße der ursprüng- Effekt blieben dagegen in der Schublade.
lichen Studie gewichtet werden. Die Gesamteffekt-
stärke stellt ein verlässlicheres Maß dar als die jewei- Inhaltliche/klinische Bedeutsamkeit Metaanalysen
ligen Einzeleffektstärken, weil sie auf einer sehr viel machen auch Aussagen darüber, ob der von den
größeren Fallzahl (den Teilnehmern aller Studien Einzelstudien erbrachte Effekt insgesamt so groß ist,
zusammengenommen) beruht. dass er inhaltlich oder klinisch bedeutsam ist. Klei-
In Sensitivitätsanalysen prüft man anschlie- ne Effekte, die in großen Studien durchaus signi-
ßend, ob sich die Effekte ändern, wenn man zusätzli- fikant werden können, besitzen oft keine Relevanz
che Kriterien heranzieht, wie z. B. die methodische für den klinischen Alltag. Große Effekte sind eher
Qualität. Man vergleicht also den Effekt, den die klinisch bedeutsam. Was inhaltlich bedeutsam ist,
besseren Studien erbracht haben, mit demjenigen der hängt aber auch von der jeweiligen Situation ab,
schlechteren Studien. Ist der Effekt in den besseren z. B. vom Krankheitsbild, um das es geht. Bei einer
Studien kleiner, so kann man daraus schließen, dass sehr weit verbreiteten Krankheit wie der arteriellen
die schlechteren Studien infolge systematischer Feh- Hypertonie, die einen Risikofaktor für koronare
ler künstlich überhöhte Effekte produziert haben. Herzkrankheit und Schlaganfall darstellt, können
auch kleine Blutdruckunterschiede praktisch sehr
Publication bias Metaanalysen können auch Hin- relevant sein. Es gibt auch statistische Verfahren,
weise auf einen Publication bias aufdecken. Damit um die klinische Bedeutsamkeit zu quantifizieren.
ist gemeint, dass Studien mit positivem und signi- Diese orientieren sich beispielsweise daran, wie
fikantem Ergebnis bevorzugt publiziert werden. viele Patienten nach der Behandlung Normalwerte
Hinweise darauf gewinnt man, wenn in einem For- aufweisen, also nicht mehr in die Kategorie einer
3.8 · Ergebnisbewertung
95 3
klinischen Störung fallen. Um die klinische Bedeut- basierten Medizin. Sie erscheinen sowohl in inter-
samkeit beurteilen zu können, benötigt man die national renommierten wissenschaftlichen Zeit-
Effektstärke. Ob ein Ergebnis statistisch signifikant schriften als auch in der Datenbank der Cochrane
ist oder nicht, sagt über die Größe des Effekts und Collaboration. Dies ist eine nichtkommerzielle
dessen klinische Bedeutsamkeit noch nichts aus. Organisation, die Metaanalysen zu allen Bereichen
der Medizin anfertigt und sie im Internet zugäng-
lich macht (http://www.cochrane.org). Evidenz-
3.8.3 Evidenzbasierte Medizin basierte Medizin ist jedoch nicht nur Anwendung
wissenschaftlich überprüfter Behandlungsmaßnah-
men, sondern auch Einbezug der klinischen Erfah-
> Evidenzbasierte Medizin (evidence-based
rung (Expertise) des Arztes und Berücksichtigung
medicine) ist eine Bewegung, die sich in den
der Präferenz des Patienten.
letzten Jahren über die ganze Medizin hinweg
ausgebreitet hat und inzwischen allgemein
Therapieempfehlungen Liegt bei einer bestimmten
als Standard akzeptiert wird. Ihr Ziel ist es,
Indikation (Krankheit) für bestimmte Behand-
nur noch Behandlungsmaßnahmen anzuwen-
lungsformen ausreichende Evidenz vor, so kann auf
den, für deren Wirksamkeit ausreichende
dieser Grundlage eine Leitlinie (guideline) erstellt
empirische Evidenz existiert.
werden. Eine Leitlinie ist eine Empfehlung, wie man
Die Geschichte der Medizin ist voll von Therapien, üblicherweise ein bestimmtes Krankheitsbild be-
die über viele Jahrzehnte aus dem Glauben heraus handeln sollte. Von diesen Therapieempfehlungen
angewandt wurden, dass sie wirkten, bei denen sich kann man im Einzelfall selbstverständlich begrün-
aber bei systematischen Prüfungen herausstellte, det abweichen, wenn die individuelle Situation dies
dass dies nicht der Fall war oder sie sogar Schaden erfordert. Leitlinien werden von den medizinischen
zufügten. So hat man in der Kardiologie Medika- Fachgesellschaften unter Beteiligung der maßgeb-
mente zur Behandlung von Herzrhythmusstörun- lichen Experten entwickelt. Da Leitlinien den aktu-
gen eingesetzt, die zwar den Herzrhythmus nor- ellen Stand des Wissens widerspiegeln sollten,
malisierten, das Risiko, am plötzlichen Herztod zu müssen sie regelmäßig aktualisiert werden. Empi-
sterben, jedoch erhöhten. Oder man verordnete rische Studien zeigen, dass Patienten, die nach Leit-
Frauen in den Wechseljahren Östrogene, um das linien behandelt werden, davon profitieren. Leider
Herzinfarktrisiko zu senken, erhöhte es dadurch werden längst nicht alle Patienten nach Leitlinien
jedoch eher. Auch in anderen Fällen erschienen behandelt. Das Leitlinienwissen von Ärzten in der
Therapien zunächst biologisch plausibel, zeigten Praxis ist teilweise begrenzt. Die leitliniengemäße
jedoch bei systematischer Überprüfung nicht den Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung
gewünschten Nutzen für die Patienten. stellt eine große Herausforderung dar.
Deshalb werden medizinische Maßnahmen
einer systematischen Wirksamkeitsprüfung mittels
randomisierter kontrollierter Studien (RCT) unter- 3.8.4 Kosten-Nutzen-Bewertung
zogen. Die höchste Stufe der Evidenz ist eine Meta-
analyse über mehrere gute RCT. Danach folgen Kosten Immer wieder ist von einer »Kostenexplo-
methodisch weniger hochwertige Studien. Auf der sion« im Gesundheitssystem die Rede. Damit ist
untersten Stufe ist das Expertenwissen angesiedelt, gemeint, dass die Kosten für medizinische Leistun-
das früher die Medizin maßgeblich bestimmte, gen immer mehr steigen. Es handelt sich jedoch
heute aber auf den Prüfstand der wissenschaftlichen nicht eigentlich um eine Kostenexplosion, sondern
Forschung gestellt wird. Inzwischen gibt es in vielen um eine Leistungsexplosion: Neue Behandlungs-
Bereichen der Medizin eine große Zahl von RCT, verfahren wurden eingeführt, die Indikationen für
die in Metaanalysen quantitativ zusammengefasst existierende Verfahren erweitert. Beispiel: Immer
werden. Diese Metaanalysen, die kontinuierlich ak- ältere Menschen profitieren von kardiologischen
tualisiert werden, bilden die Grundlage der evidenz- und kardiochirurgischen Behandlungen. Zugleich
96 Kapitel 3 · Methodische Grundlagen

stellt sich das Problem, wie die knappen Ressourcen stellt sich anschließend die Werturteilsfrage, wofür
eingesetzt werden sollen (Ressourcenallokation). man das Geld ausgeben will (7 Abschn. 9.3.3). Soll
Die Gesundheitsökonomie versucht, hierfür empi- man es eher in die Breite investieren, um für viele
rische Evidenz zu liefern. Sie ermittelt die Kosten Menschen einen eher geringen Effekt zu erzielen,
medizinischer Maßnahmen, so dass deren Effizienz wie z. B. in Präventionsprogrammen? Oder soll man
beurteilt werden kann. es für hoch belastete Patienten einsetzen, um für
3 wenige einen großen Effekt zu erzielen, z. B. für die
> Effizienz ist definiert als das Verhältnis von
Transplantationsmedizin?
Wirksamkeit und Kosten, während Effektivität
Eine Erweiterung der Kosten-Effektivitäts-Ana-
lediglich die Wirksamkeit bezeichnet.
lyse ist die Kosten-Nutzwert-Analyse. Dabei werden
An Kosten unterscheidet man zunächst direkte unterschiedliche Behandlungsergebnisse dadurch
Kosten, die durch die Behandlung selbst hervorge- vergleichbar gemacht, dass man sie auf einen gemein-
rufen werden. Hierunter fallen einerseits medizini- samen Nutzwertmaßstab bezieht: sog. qualitäts-
sche Kosten für ambulante und stationäre ärztliche adjustierte Lebensjahre (quality-adjusted life years,
Diagnostik und Therapie, Medikamente, Heil- und QALYs). Man berechnet sie, indem man die Lebens-
Hilfsmittel und andererseits nichtmedizinische zeit mit der jeweiligen Lebensqualität gewichtet:
Kosten wie Fahrtkosten. Indirekte Kosten entste- Jahre, die man in vollem Wohlbefinden verbringt,
hen durch den mittelbar durch die Krankheit her- erhalten den Gewichtungsfaktor 1, Jahre mit vermin-
vorgerufenen Produktivitätsausfall (Arbeitsun- derter Lebensqualität entsprechend verminderte
fähigkeit, Frühberentung). Als intangible Kosten Gewichte. Kosten-Nutzwert-Analysen erbringen
werden »psychologische« Kosten wie Schmerz und also »Kosten pro gewonnenem qualitätskorrigiertem
reduzierte Lebensqualität bezeichnet, die sich nicht Lebensjahr«. Der Nutzwert, den ein bestimmtes Maß
so einfach in Geld ausdrücken lassen. an Lebensqualität für das Individuum mit sich bringt,
wird oft von Gesunden beurteilt. Solche Bewertun-
Studientypen In der Gesundheitsökonomie gibt gen können sich jedoch radikal ändern, wenn man
es unterschiedliche Studientypen. Kosten-Nutzen- krank wird. Gleichwohl ist es positiv zu sehen, dass
Analysen versuchen, sowohl die Kosten als auch den der subjektive Nutzen aus Sicht der Patienten in die
Nutzen einer Maßnahme monetär zu bewerten, d. h. Therapieerfolgsbewertung einbezogen wird. Wäh-
in Geld auszudrücken. Hierzu ist es erforderlich, den rend man früher die Wirksamkeit beispielsweise von
subjektiven Gesundheitszustand in Geldeinheiten Chemotherapie bei Krebserkrankungen ausschließ-
umzurechnen, was naturgemäß schwierig ist. Eine lich am Gewinn an Überlebenszeit maß, zieht man
Strategie besteht darin, Menschen zu fragen, wie viel heute auch die Lebensqualität während der gewon-
Geld sie auszugeben bereit wären, um einen be- nenen Lebenszeit heran.
stimmten Gesundheitszustand (z.  B. Schmerzver-
minderung, Heilung, Lebensrettung) zu erreichen
(Zahlungsbereitschaft, willingness to pay). 3.8.5 Ethische Konsequenzen,
Kosten-Effektivitäts-Analysen (Kosten-Wirk- Werturteilsproblematik
samkeits-Analysen) erfassen lediglich die monetä-
ren Kosten einer Behandlungsmaßnahme, während Wissenschaftliche Untersuchungen können Evi-
der erzielte Nutzen nicht in Geld ausgedrückt wird. denz dafür erbringen, ob eine medizinische Maß-
Dadurch kann man beispielsweise feststellen, was es nahme wirksam und effizient ist. Sie können jedoch
kostet, in einer bestimmten Population den Blut- die Entscheidung nicht ersetzen, wofür die begrenz-
druck um 10 mmHg zu senken oder das Rezidiv- ten Ressourcen im Gesundheitssystem eingesetzt
risiko eines Herzinfarkts um einen bestimmten werden sollen. Hier müssen Werturteilsentschei-
Prozentsatz zu vermindern oder durch Impfungen dungen gefällt werden, die nur durch demokratisch
den Ausbruch von Infektionskrankheiten zu ver- legitimierte Gremien getroffen werden dürfen.
hüten etc. Nachdem man weiß, was man mit einem Diese Entscheidungen haben insbesondere dann
bestimmten finanziellen Betrag erreichen kann, eine gravierende Tragweite, wenn medizinische
3.8 · Ergebnisbewertung
97 3
Maßnahmen priorisiert oder sogar rationiert wer-
den müssen (7 Abschn. 9.3.3).
Werturteile, die gefällt werden müssen, folgen
ethischen Überlegungen. Dabei können Positionen
unterschieden werden,
4 die vom Erreichen eines Ziels (teleologische
Ethik) bzw.
4 dem gesellschaftlichen Nutzen einer Maß-
nahme und den Präferenzen der Menschen
ausgehen (Utilitarismus),
4 die allgemeingültige Werte und Prinzipien
zugrunde legen (deontologische Ethik, z. B.
Kants kategorischer Imperativ),
4 die sich am subjektiven Bedarf an Gesund-
heitsgütern für die Lebensgestaltung orien-
tieren (Sozialethik) oder
4 die die Autonomie des Einzelnen und dessen
Schutz gegen Eingriffe des Staates betonen
(libertäre Ethik).

Wichtig ist auch die Unterscheidung von Verant-


wortungsethik und Gesinnungsethik. Ein Vertre-
ter der Verantwortungsethik beurteilt eine Hand-
lung nach ihren Ergebnissen, ein Vertreter der Ge-
sinnungsethik nach ihren Motiven (Hauptsache
»gut gemeint«). Je nach ethischer Position fallen
Entscheidungen und Güterabwägungen unter-
schiedlich aus.

3.8.6 Formative und summative


Evaluation

Evaluation befasst sich mit der Bewertung von Maß-


nahmen. Man unterscheidet zwischen formativer
und summativer Evaluation. Im Zuge der forma-
tiven Evaluation wird eine Intervention entwickelt
und kontinuierlich verbessert. Wenn sie dann fertig
ist, wird sie in der summativen Evaluation mittels
einer randomisierten kontrollierten Studie auf ihre
Wirksamkeit geprüft.
i Vertiefen
Straus SE, Richardson WS, Glasziou P, Haynes
RB (2010) Evidence-based medicine. 4th ed.
Elsevier, Oxford (grundlegendes Werk, das eine
gut verständliche Einführung in die Prinzipien der
evidenzbasierten Medizin bietet)
99 4

Theoretische Grundlagen
H. Faller, M. Schowalter

4.1 Psychobiologische Grundlagen – 102


H. Faller
4.1.1 Repräsentation psychischer Funktionen im Gehirn – 102
4.1.2 Funktionen der Amygdala – 103
4.1.3 Lateralisation, Hemisphärendominanz – 105
4.1.4 Neuronale Plastizität, Regeneration – 106
4.1.5 Neurotransmitter, Neuropeptide und Verhalten – 107
4.1.6 Genetische Einflüsse auf das Verhalten – 108
4.1.7 Aktivations- und Bewusstseinszustände – 109
4.1.8 Gehirn und Verhalten – 113

4.2 Lernen – 114


H. Faller
4.2.1 Assoziatives und nichtassoziatives Lernen – 114
4.2.2 Lerntheorien – 115
4.2.3 Klassische Konditionierung – 115
4.2.4 Operante Konditionierung – 116
4.2.5 Determinanten der Konditionierungsstärke
und -geschwindigkeit – 117
4.2.6 Neurobiologische Grundlage der Verstärkung – 117
4.2.7 Lernen durch Beobachtung, Modelllernen – 118
4.2.8 Lernen durch Eigensteuerung – 118
4.2.9 Lernen durch Einsicht – 119

4.3 Kognition – 119


H. Faller
4.3.1 Neuropsychobiologische Grundlagen
der Informationsverarbeitung – 119
4.3.2 Sprache – 125
4.3.3 Gedächtnis – 126
4.3.4 Demenz – 128
4.3.5 Denken – 128
4.3.6 Intelligenz – 129
H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,
DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
4.4 Emotion – 131
H. Faller
4.4.1 Emotionskomponenten – 132
4.4.2 Primäre Emotionen – 132
4.4.3 Emotionstheorien – 133
4.4.4 Funktionen von Emotionen – 136
4.4.5 Spezifische neurobiologische Emotionssysteme – 137
4.4.6 Spezifische Emotionen: Furcht und Angst – 140
4.4.7 Spezifische Emotionen: Aggression – 141
4.4.8 Spezifische Emotionen: Trauer – 143
4.4.9 Soziale Kontrolle von Affekten – 144

4.5 Motivation – 144


H. Faller
4.5.1 Primäre Motive – 144
4.5.2 Sekundäre Motive – 146
4.5.3 Motivationstheorien – 147
4.5.4 Motivationshierarchie – 148
4.5.5 Motivationskonflikte – 149
4.5.6 Leistungsmotivation – 149
4.5.7 Anschlussmotivation – 151
4.5.8 Machtmotivation – 151
4.5.9 Sucht – 152

4.6 Persönlichkeit und Verhaltensstile – 155


H. Faller
4.6.1 Persönlichkeit – 156
4.6.2 Persönlichkeitstheorien – 157
4.6.3 Big-Five-Persönlichkeitsmodell – 158
4.6.4 Selbstkonzept – 160
4.6.5 Kognitive und Verhaltensstile – 161
4.6.6 Interaktion Gen, Persönlichkeit und soziale Umwelt – 162
4.6.7 Persönlichkeitsentwicklung und -fehlentwicklung – 163
101 4
4.7 Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit) – 164
M. Schowalter, H. Faller
4.7.1 Neuropsychobiologische Grundlagen – 165
4.7.2 Intrauterine Entwicklung – 165
4.7.3 Entwicklung in der frühen Kindheit und primäre Sozialisation – 166
4.7.4 Soziokulturelle Einflüsse auf Entwicklung und Sozialisation – 173
4.7.5 Gesellschaftliche Einflüsse – 174

4.8 Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf


(Adoleszenz, mittleres Erwachsenenalter, Senium)
und sekundäre Sozialisation – 176
M. Schowalter, H. Faller
4.8.1 Merkmale der Adoleszenz – 176
4.8.2 Statuserwerb im frühen und mittleren Erwachsenenalter – 179
4.8.3 Rollenkonflikte und psychosoziale Belastung in Familie
und Beruf – 180
4.8.4 Entwicklung und Sozialisation im Alter – 181
4.8.5 Psychosoziale Entwicklung im höheren Lebensalter – 182
4.8.6 Soziale Situation alter Menschen – 183

4.9 Soziodemographische Determinanten


des Lebenslaufs – 184
H. Faller
4.9.1 Demographisches Altern – 184
4.9.2 Generatives Verhalten – 186
4.9.3 Schema der demographischen Transformation – 188
4.9.4 Determinanten des generativen Verhaltens – 189
4.9.5 Alter und Gesundheit/Krankheit – 190
4.9.6 Gesundheit von Männern und Frauen – 191
4.9.7 Migration und Akkulturation – 193
4.9.8 Entwicklung der Weltbevölkerung – 193

4.10 Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs – 194


H. Faller
4.10.1 Modernisierungsprozess von Gesellschaften – 195
4.10.2 Änderungen der Erwerbsstruktur – 196
4.10.3 Soziale Differenzierung – 196
4.10.4 Soziale Mobilität – 197
4.10.5 Einfluss von Bildung auf Lebensstil und Gesundheit – 198
102 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Psychische Funktionen, wie Lernen, Kognition, nalen Analyse, generiert Wünsche und Bedürfnisse
Emotion und Motivation, sowie Strukturen, wie die und hat die emotionale Bewertung der Folgen unse-
menschliche Persönlichkeit und deren Entwick- res Handelns zur Aufgabe: Es beurteilt, was wir tun,
lung im Lebenslauf, sind Gegenstand des folgenden nach »gut« oder »schlecht« und steuert demgemäß
Kapitels. Biologische, psychologische und soziale unser Verhalten, ohne dass uns das bewusst wird.
Faktoren wirken hier meist zusammen. Nur einen Letztlich entscheidet es darüber, was getan wird und
einzelnen Faktor zu betrachten, ergäbe ein unvoll- was nicht.
ständiges Bild. Die bewusste Handlungsplanung und Hand-
4 lungsvorbereitung geschieht im präfrontalen Kor-
tex. Die Überprüfung der längerfristigen Folgen
4.1 Psychobiologische Grundlagen unseres Handelns, die Berücksichtigung sozialer
Erwartungen und Regeln und die Kontrolle im-
H. Faller pulsiv-egoistischen Verhaltens finden im orbitalen
Teil des präfrontalen Kortex statt. Dessen Fein-
Lernziele struktur wird erst in der Pubertät ausgebildet. Erst
Der Leser soll dann lernen Kinder, ihr impulsives Verhalten zu
5 Funktionen der Amygdala bei der Emotions- zügeln, also ruhig zu bleiben, wo das limbische Sys-
wahrnehmung und -regulation nennen tem spontan »Draufhauen!« oder »Abhauen!« sagen
können, würde. Hier schlägt sich die Wirkung von Erziehung
5 Indikatoren der Aktivierung nennen können, und Sozialisation nieder (7 Abschn. 4.7). Unser
5 die Orientierungsreaktion beschreiben können, Handeln wird also dadurch »vernünftig«, dass
5 die 4 Schlafstadien beschreiben können, die Großhirnrinde eingreift. Handlungsplanungen
5 den REM-Schlaf beschreiben können. werden aber erst dann ausgeführt, wenn auch das
limbische System seine Zustimmung gegeben hat,
d. h. wenn sie auch emotional akzeptabel sind.
4.1.1 Repräsentation psychischer Bewegungen müssen vor ihrer Ausführung
Funktionen im Gehirn mehrere Schleifen durch die Basalganglien durch-
laufen, damit sich ein ausreichend starkes Bereit-
schaftspotenzial aufbaut (7 Abschn. 3.6.1). Die end-
> Beim Zustandekommen psychischer Funk-
gültige Freischaltung von Bewegungsmustern in
tionen wie Denken, Fühlen und Handeln
den Basalganglien geschieht durch den Neurotrans-
wirken meist mehrere Hirnregionen zusam-
mitter Dopamin. Die Ausschüttung von Dopamin
men. Psychische Funktionen basieren auf
wird wiederum vom limbischen System kontrol-
der Aktivität von mehreren Schaltkreisen, die
liert. Amygdala und Hippocampus, 2 Zentren des
wiederum zu größeren neuronalen Netz-
limbischen Systems, prüfen, welche Vorerfahrun-
werken organisiert sind.
gen mit einer Handlung vorliegen. Sind diese posi-
tiv, wird Dopamin ausgeschüttet. Im Verlauf von
Handlungsplanung Beispielhaft soll dieses Zusam- mehreren Probedurchläufen wird das Bereit-
menspiel für die Entstehung einer Handlung be- schaftspotenzial immer größer, bis es zur Auslösung
schrieben werden (orientiert an Roth 2003). Limbi- der Handlung ausreicht.
sches System, Großhirnrinde und Basalganglien
spielen bei der neuronalen Planung und Ausfüh- Klinik: Parkinson-Syndrom
rung einer Handlung eine wichtige Rolle. Ein Mangel an Dopamin liegt dem Morbus Parkinson
Das limbische System ist zentral an der Verar- zugrunde. Parkinson-Patienten fehlt die Möglich-
beitung von Emotionen beteiligt. Es liegt am inne- keit, den Willen, eine Bewegung zu starten, in die Tat
ren Rand der Großhirnrinde und umschließt wie umzusetzen. Ihre Bereitschaftspotenziale sind we-
ein Saum den Hirnstamm (limbus, lat. Saum). Es gen des Dopaminmangels zu schwach. Dieses Defizit
unterzieht unsere Wahrnehmungen einer emotio- kann durch L-Dopa-Gabe ausgeglichen werden.
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
103 4
Lokalisation Die folgende Übersicht gibt eine grobe
Orientierung über die Lokalisation psychischer Speichern neuer Erfahrungen, Konso-
Funktionen im Gehirn. Dabei ist der Hinweis vom lidierung; kontextuelles Lernen; räumli-
Beginn des Kapitels wichtig, dass psychische Funk- ches Gedächtnis.
tionen nicht in einer einzigen Region zu lokalisieren 5 Basalganglien: Bewegungsplanung und
sind, sondern auf dem Zusammenwirken mehrerer -ausführung, Motivation und Antrieb, Auf-
Netzwerke basieren. Umgekehrt können dieselben merksamkeit, Gedächtnis (für Handlungen).
Netzwerke bei unterschiedlichen Funktionen be- 5 Kleinhirn: Gleichgewicht, Steuerung der
teiligt sein. Beispiel: Dieselben Hirnstrukturen im Feinmotorik, Lernen, Gedächtnis.
prämotorischen Kortex, die bei der Vorbereitung 5 Großhirnrinde: bewusstes Erleben.
einer Handlung aktiv sind, sind auch aktiv, wenn – Primärsensorischer Kortex: Sinneswahr-
man sich eine Handlung nur vorstellt, ohne sie aus- nehmung.
führen zu wollen, ja, sogar, wenn man diese Hand- – Motorischer Kortex: Bewegungs-
lung bei einem anderen Menschen beobachtet steuerung.
(»Spiegelneurone«). Spiegelneurone reagieren auf – Assoziativer Kortex: polysensorische
zielgerichtetes Verhalten, und zwar jeweils spezi- Informationsverarbeitung, Speichern von
fisch auf eine bestimmte Bewegung. Wissen und Fertigkeiten.
– Frontallappen: Handlungssteuerung,
Handlungsplanung, Antizipation von
Lokalisation psychischer Funktionen Handlungsfolgen (präfrontaler Kortex);
5 Hypothalamus: Modulation des autono- Sprachproduktion (Broca-Areal).
men Nervensystems und der körperinter- – Temporallappen: Hören, Verstehen
nen Homöostase, durch enge Verbindun- akustischer Information, Sprachverständ-
gen mit dem limbischen System auch an nis (Wernicke-Areal), visuelles Erkennen
der Steuerung von Lernen, Emotion und (Störung: Agnosie).
nichthomöostatischen Motiven (Sexualität, – Parietallappen: sensorische Repräsenta-
Aggression) beteiligt, Steuerung hormo- tion des Körpers, räumliche Funktionen
neller Funktionen (über die Hypophyse). (Wahrnehmung und Bewegung; Störung
5 Thalamus: Weiterleitung sensorischer von Handlungsabfolgen: Apraxie); Auf-
Afferenzen zur Großhirnrinde (»Tor zum merksamkeit.
Kortex«), Steuerung der Aufmerksamkeit, – Okzipitallappen: visuelle Informations-
über Verbindungen zu Basalganglien verarbeitung.
und limbischem System an der Handlungs-
planung beteiligt.
5 Limbisches System: an der Steuerung aller
Verhaltens- und Denkprozesse beteiligt. 4.1.2 Funktionen der Amygdala
– Amygdala: unbewusste emotionale
Bewertung von Informationen (insbeson- Die Amygdala besitzt wichtige Funktionen bei der
dere Gesichtswahrnehmung) und Hand- Emotionswahrnehmung und -regulation.
lungen, Emotionsverarbeitung. Lateraler In der Amygdala lassen sich ein lateraler und
Kern: Input von Sinnesinformation. Zen- ein zentraler Kern unterscheiden. Der laterale Kern
traler Kern: Auslösung von physiologi- nimmt Information aus der Außenwelt auf, die er
schen (Hypothalamus) und Verhaltens- direkt vom Thalamus unter Umgehung des Kortex
reaktionen (zentrales Höhlengrau). erhält. Er scannt diese Information bezüglich Ge-
– Hippocampus: Organisator des deklara- fahr und aktiviert, wenn er eine Gefahrenquelle
tiven Gedächtnisses, Vergleich ankom- identifiziert hat, den zentralen Kern. Von diesem
mender mit gespeicherter Information, gehen Verbindungen zum Hypothalamus aus, in
dem physiologische Veränderungen vorbereitet
104 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

werden. Zugleich aktiviert der zentrale Nukleus


auch das zentrale Höhlengrau, das Verhaltensreak- 5 Aufmerksamkeitslenkung: Aus den vielen
tionen, wie z. B. das Erstarren, auslöst. Im Rahmen in jeder Sekunde auf uns einströmenden
der Furchtkonditionierung, wenn eine ursprünglich Informationseinheiten wählt die Amygdala
neutrale Sinnesinformation zu einem Gefahrsignal diejenigen aus, die emotional bedeutsam
wird (z. B. das Geräusch beim Herannahen eines sind, und verarbeitet sie in intensiverer
Raubtiers), werden diese Verbindungen verstärkt Weise, so dass sie in den Fokus der Aufmerk-
(Aktivierung von Synapsen und Synapsenneubil- samkeit und damit der bewussten Wahrneh-
4 dung). Auf diese Weise wird ein bisher neutraler mung geraten.
Reiz in die Lage versetzt, physiologische und Hand-
lungsreaktionen auszulösen, die es dem Organis-
mus ermöglichen, der Gefahr zu entkommen.
Angstregulation Wie wird Angst reguliert? Hierbei
spielen 2 Schaltkreise eine wichtige Rolle, in denen
Funktionen der Amygdala neben der Amygdala 2 weitere Hirnstrukturen be-
5 Erleben von Emotionen (insbesondere teiligt sind: 1. der anteriore zinguläre Kortex und
Angst): Die Amygdala ist diejenige Hirn- 2. der präfrontale Kortex.
region, die für das Erleben von Emotionen, Zunächst zum 1. Schaltkreis und dem anterio-
insbesondere Angst, zentral ist. Patienten ren zingulären Kortex (ACC, anteriorer Gyrus cin-
mit Schädigung der Amygdala sind meist guli): Eine Aktivierung der Amygdala bei Angst
nicht mehr in der Lage, Angst zu erleben. (und anderen negativen Emotionen) führt zu einer
Sie wissen wohl verstandesmäßig, dass eine Aktivierung des subgenualen ACC. Dieser aktiviert
Situation gefährlich ist, spüren dies aber wiederum den supragenualen ACC, welcher die
nicht mehr. Amygdala hemmt. Auf diese Weise wird ein nega-
5 Wahrnehmung des Gesichtsausdrucks an- tives Feedback ausgeübt und Angst herunterregu-
derer Menschen: Wenn man einem Men- liert. Bei Menschen, die das kurze Allel des Seroton-
schen Bilder ängstlicher oder ärgerlicher intransporter-Gens besitzen, ist dieser Schaltkreis
Gesichter zeigt, wird dadurch regelmäßig anatomisch weniger gut ausgebildet und auch funk-
eine Amygdalaaktivierung ausgelöst. Selbst tionell weniger aktiv. Dies ist eine Folge des Sero-
wenn man die Gesichter nur eine so kurze toninmangels bei der Entwicklung dieses Schalt-
Zeit (wenige ms) präsentiert, dass sie nicht kreises.
bewusst wahrgenommen werden können, Ein 2. regulativer Schaltkreis verläuft über den
löst dies eine Amygdalaaktivierung aus. präfrontalen Kortex (PFC). Angststimuli erreichen
5 Furchtkonditionierung: Die klassische Kon- parallel sowohl die Amygdala als auch den prä-
ditionierung (7 Abschn. 2.1) von Furcht- frontalen Kortex, letzteren jedoch mit etwas Ver-
reaktionen findet ebenfalls in der Amygdala zögerung. Hier kommt es zu einer Aktivierung im
statt, wo als Folge davon die impliziten rechten ventrolateralen PFC. Dieser aktiviert wie-
(unbewussten) Erinnerungen an Angst aus- derum den medialen PFC, der schließlich die
lösende Situationen gespeichert werden. Amygdalaaktivität hemmt. Der Schaltkreis ist aktiv,
5 Markierung deklarativer Erinnerungen: wenn Versuchspersonen ein Bild mit einem ärger-
Die Amygdala übt jedoch auch Einfluss auf lichen Gesichtsausdruck gezeigt bekommen und
die vom Hippocampus gesteuerte Speiche- die Aufgabe haben, diesem Gesichtsausdruck eine
rung von deklarativen (bewussten) Erinne- verbale Bezeichnung (Ärger) zuzuordnen. Vermit-
rungen aus. Sie markiert emotional bedeut- telt über den PFC, reduziert sich durch die Benen-
same Erinnerungen, die daraufhin besser nung des Gefühls mit Worten die Aktivität der
gespeichert werden und leichter abgerufen Amygdala. Ein Wirkprinzip vieler Psychotherapie-
werden können. verfahren, nämlich Gefühle in Worte zu fassen, hat
hierin seine neurobiologische Grundlage.
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
105 4
Gesichtswahrnehmung Wenn wir das Gesicht eines außer der Steuerung der linken Körperhälfte ihre
anderen Menschen sehen, beurteilen wir automa- speziellen Aufgaben.
tisch seine Vertrauenswürdigkeit, Attraktivität und
Kompetenz. Dies geschieht auf den ersten Blick und
Zuordnung von psychischen Funktionen
sehr schnell (100 ms genügen). Die Beurteilung der
zu den Hemisphären
Vertrauenswürdigkeit erfolgt anhand subtiler Hin-
5 Linkes Gehirn: Sprache, sprachlich-se-
weise auf primäre Emotionen (Freude vs. Ärger). Je
quenzielles Denken, neutrale und positive
niedriger die Vertrauenswürdigkeit beurteilt wird,
Emotionen, Welt- und Allgemeinwissen.
desto stärker ist die Amygdala aktiv. Dieser Zu-
5 Rechtes Gehirn: räumliche Wahrnehmung,
sammenhang ist auch dann nachweisbar, wenn die
visuell-räumliches Denken, musikalische
Bewertung nicht bewusst ist. Die Beurteilungen
Leistungen, Gesichter erkennen; Wahrneh-
müssen nicht unbedingt zutreffen, aber sie steuern
mung und Verarbeitung von Emotionen
unser Verhalten im Hinblick auf Annäherung oder
(v. a. negative Stimmungen wie Depression);
Vermeidung. Beurteilungen der Kompetenz von
episodisches, affektgeladenes Gedächtnis.
Politikern auf der Basis von Fotos, die für nur
100 ms präsentiert wurden, sagten sogar den Wahl-
ausgang mit 70 % Treffsicherheit voraus. Bei manchen Menschen ist der linke präfrontale
Depressive Menschen interpretieren ihre Um- Kortex stärker aktiviert: Sie erleben mehr positive
welt negativer als Gesunde. Wenn man ihnen Bilder Gefühle, setzen sich Annäherungsziele. Bei anderen
von Gesichtern präsentiert, nehmen sie in mehr- ist der rechte präfrontale Kortex stärker aktiv: Sie
deutigen Gesichtern eher negative Affekte wahr und empfinden mehr negative Gefühle, sind zur Depres-
reagieren stärker auf traurige Gesichter. Diese Ver- sion prädisponiert und versuchen eher, unangeneh-
zerrung geschieht automatisch und fällt umso stärker me Situationen zu vermeiden (Vermeidungsziele).
aus, je aktiver die Amygdala ist. Manche dieser Effek- Dieser Unterschied ist ein stabiles Persönlichkeits-
te finden sich auch schon bei Personen mit erhöhtem merkmal. Durch Psychotherapie oder Pharmako-
Risiko für eine Depression, die selbst nicht depressiv therapie lassen sich die rechts-präfrontalen Überak-
sind. Durch eine medikamentöse antidepressive Be- tivitäten bei einer Depression vermindern.
handlung lässt sich die negative Verzerrung reduzie-
Hintergrundinformation
ren, und parallel dazu nimmt die Amygdalaaktivität Linkshändigkeit
ab. Dass dies nicht nur die Folge der Abnahme der Auch bei Linkshändern ist die Sprache meist links lokalisiert.
depressiven Stimmung ist, kann man daran erken- Linkshändigkeit, sofern sie genetisch bedingt ist (im Unter-
nen, dass dieser Effekt auch bei Gesunden auftritt, schied zu kompensatorischer Linkshändigkeit bei perinatalen
Schädigungen der linken Hemisphäre), geht mit einer größe-
ohne dass sich deren Stimmung ändert.
ren musikalischen und künstlerischen Begabung (Lokalisa-
tion in der rechten Hemisphäre!), aber auch einer Anfälligkeit
für immunologische Störungen (Allergien) einher. Intelligenz-
4.1.3 Lateralisation, unterschiede bestehen nicht.
Hemisphärendominanz
Klinik: Split brain
Psychische Funktionen werden von den beiden Die isolierte Arbeitsweise einer Hemisphäre lässt sich
Hirnhälften meist nicht symmetrisch ausgeübt, die gut bei Split-brain-Patienten studieren. Bei diesen
beiden Hemisphären haben sich vielmehr schwer- wurde der Balken, die Verbindung zwischen den bei-
punktmäßig spezialisiert (Lateralisation). Dies ist den Hirnhälften, durchtrennt (Kommissurektomie),
auch anatomisch nachweisbar. Da die Sprache in meist deshalb, weil nur auf diese Weise eine schwere
der linken Hirnhälfte lokalisiert ist und die meisten Epilepsie in den Griff zu bekommen war. Infolge der
Menschen Rechtshänder sind, wurde früher die teilweisen Kreuzung der Sehnerven gelangen visu-
linke Hemisphäre (die ja die rechte Körperhälfte elle Reize, die man dem rechten Gesichtsfeld präsen-
steuert) als die überlegene betrachtet (Hemisphä- tiert, in die linke Gehirnhälfte (und umgekehrt). Die
rendominanz). Aber auch die rechte Hirnhälfte hat rechte Hälfte weiß bei Split-brain-Patienten jedoch
106 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

nicht, was die linke sieht (und umgekehrt), weil die 4.1.4 Neuronale Plastizität,
Verbindung ja durchtrennt ist. Zeigt man nun dem Regeneration
linken Gesichtsfeld, d. h. der rechten Gehirnhälfte ein
Objekt, so kann das Individuum nicht sagen, was
> Unter neuronaler Plastizität versteht man
es gesehen hat, weil das Sprachzentrum ja links sitzt.
die Fähigkeit des Gehirns zu strukturellen Ver-
Es reagiert aber auf der Handlungsebene auf das
änderungen, insbesondere die Neubildung
Gesehene, kann beispielsweise auf Aufforderung ein
von Verbindungen (Synapsen) zwischen
ähnliches Objekt auswählen.
Nervenzellen. Neuronale Plastizität ist eine
4 In einem Experiment wurde einem Split-brain-Patien-
Grundlage von Lernen und Gedächtnis.
ten im linken Gesichtsfeld (also der rechten Hirn-
hälfte) eine Schneeszene präsentiert. Obwohl der Gedächtnisinhalte (Engramme) entstehen zunächst
Proband nicht angeben konnte, was er gesehen hatte, durch kreisende Erregungen miteinander verbun-
gelang es ihm ohne weiteres, mit der linken Hand dener Zellen (reverberatorischer Kreisverband). Bei
(die ja von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird) der Konsolidierung der Gedächtnisinhalte kommt
aus 4 Kärtchen (Schaufel, Schraubenzieher, Dosen- es kurzfristig zur funktionellen Verstärkung vor-
öffner, Säge) das passende Gerät (Schaufel, zum handener Verbindungen, indem Auflageflächen
Schneeschippen) auszuwählen. Interessant wurde vergrößert und zusätzliche Rezeptormoleküle ein-
es, als man dem rechten und dem linken Hirn unter- gebaut werden, sowie zur Aktivierung vorher stiller
schiedliche Dinge präsentierte: Das rechte Hirn be- Synapsen und schließlich zu synaptischen Neubil-
kam wieder die Schneeszene gezeigt, das linke eine dungen und synaptischem Wachstum (sprouting,
Hühnerkralle. Daraufhin wählte der Proband mit der Sprossung). So weisen professionelle Violinspieler,
rechten Hand das zu einer Hühnerkralle passende die schon als Kind Geigespielen gelernt haben, eine
Huhn aus, und mit der linken wieder die Schnee- Vergrößerung derjenigen Hirnregionen auf, die für
schaufel. So weit, so gut. Danach gefragt, warum er die Finger der linken Hand verantwortlich sind.
die Schneeschaufel ausgewählt habe, antwortete Londoner Taxifahrer haben einen vergrößerten
er jedoch: »Um den Hühnerstall sauberzumachen!« Hippocampus, die Hirnstruktur, die u. a. für die
Er war also um eine Begründung nicht verlegen und Langzeitspeicherung räumlicher Repräsentationen
hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dies auch der Umwelt zuständig ist.
die zutreffende Erklärung seines Verhaltens war. Auch die Regeneration von Hirnfunktionen,
Eine derartige erfundene, aber nicht zutreffende Er- die aufgrund von Krankheiten oder Verletzungen
klärung, von deren Wahrheitsgehalt der Betroffene verlorengegangen sind, basiert auf neuronaler Plas-
jedoch überzeugt ist, nennt man eine Konfabula- tizität. Nach dem Tod einer Nervenzelle kommt es
tion. Man findet sie regelmäßig bei Gedächtnisstö- entlang des degenerierten Axons zu einem kollate-
rungen, wenn sich die Betroffenen nicht mehr an ralen Sprossen, das mit der Erholung einer Verhal-
die wirklichen Ursachen ihres Verhaltens erinnern tensfunktion einhergeht. Selbst die Bildung neuer
(Korsakoff-Syndrom). Aber auch im Alltag »konfabu- Neurone im erwachsenen Gehirn (adulte Neuro-
lieren« wir wohl häufig eine Erklärung für unser Ver- genese), die früher als ausgeschlossen galt, wurde
halten, wenn uns die wahren Motive unbekannt sind. in Hippocampus, Striatum und Riechhirn nachge-
Dies gilt insbesondere für Emotionen, die subkortikal wiesen.
generiert werden und sich in beiden Hemisphären Plastizität besteht allerdings vornehmlich in
auswirken. Zeigt man Split-brain-Patienten emotio- Kindheit und Jugend bis zur Pubertät. So können
nal bedeutungsvolle Wörter so, dass diese nur von blind geborene Kinder, deren Hornhauttrübung
der rechten Hemisphäre wahrgenommen werden erst im Erwachsenenalter operativ beseitigt wird,
können, so kann die linke Hemisphäre dennoch eine kein vollständiges Sehvermögen mehr erlangen,
emotionale Bewertung des Reizes nach »gut« oder weil die dafür notwendigen Hirnstrukturen sich
»schlecht« abgeben, obwohl sie den Inhalt der Wör- mangels Stimulation nicht adäquat entwickeln
ter nicht angeben kann. Der emotionale Gehalt hat konnten.
sich subkortikal von rechts nach links ausgebreitet.
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
107 4
> Die Plastizität nimmt im späteren Alter ton vor, einer erblichen neurologischen Erkrankung,
deutlich ab. Deshalb ist es wichtig, die frühen die durch unkontrollierte Bewegungen gekenn-
Entwicklungsjahre so intensiv wie möglich zeichnet ist. Acetylcholin, das meist erregend wirkt,
für das Lernen und die Entwicklung von Be- hat eine wichtige Bedeutung für kognitive Funktio-
gabungen zu nutzen. nen wie Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und
Bewusstsein. Bei einer Demenz (Alzheimer-Erkran-
Epigenetik Die Steuerung der Genaktivität durch kung) besteht ein Acetylcholin-Defizit.
Umwelterfahrungen nennt man Epigenetik. Die Neurotransmitter werden von Neuromodulato-
wichtigsten epigenetischen Mechanismen, die die ren abgegrenzt. Als Neurotransmitter werden Sub-
Aktivität eines Gens regulieren, sind die Methylie- stanzen wie GABA eingeordnet, die sehr schnell
rung der DNA und die Modifikation von Histon- und kurz (Millisekunden) wirken. Unter Neuromo-
proteinen. Sie beeinflussen die Transkription (Ab- dulatoren fasst man hingegen Neuropeptide, Amine
lesung) eines Gens. Frühe Umwelterfahrungen und Hormone, die langsamer und länger wirken
können auf diese Weise lang anhaltende Wirkungen und eher unspezifische aktivierende oder hemmen-
auf physiologische Prozesse und das Verhalten aus- de Wirkungen entfalten. Beispiele sind Endorphine,
üben. Beispiel: Rattenbabys, die von ihren Müttern Monoamine (Serotonin, Dopamin, Adrenalin, Nor-
gut versorgt werden, erfahren dadurch eine gene- adrenalin) oder Oxytozin.
tische Programmierung, die sie lebenslang vor Serotonin (5-Hydroxy-Tryptamin, 5-HT) ent-
Stress schützt (7 Abschn. 4.7). Die DNA-Methylie- steht aus der Aminosäure L-Tryptophan. Eine tryp-
rung kann auch vererbt werden, so dass erworbene tophanarme Diät löst bei disponierten Personen
Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben depressive Symptome aus. Gebildet wird Serotonin
werden können. in den Raphekernen des Hirnstamms. Serotonerge
Axone erstrecken sich aber über das gesamte Ge-
hirn und erreichen u. a. den Hypothalamus, das
4.1.5 Neurotransmitter, Neuropeptide limbische System, den Neokortex und insbesondere
und Verhalten das Frontalhirn. Es existieren zahlreiche Serotonin-
Rezeptortypen mit komplexen Wirkungen. Gene-
rell fördert Serotonin das Wohlbefinden, dämpft
> Bei der Steuerung des Verhaltens spielen
Stress und Aggression. Serotonin wirkt auch bei der
Signalübertragungsstoffe, sog. Neurotrans-
Regulation des Schlafs, des Schmerzempfindens
mitter, eine wichtige Rolle. Im Gehirn finden
und des Essverhaltens mit. Es spielt eine wichtige
sich ausgedehnte Transmitternetze. Ein
Rolle bei psychischen Störungen wie der Depres-
und derselbe Transmitter entfaltet je nach
sion, aber auch der Angst- und Zwangsstörung.
Rezeptortyp unterschiedliche Wirkungen an
einer Nervenzelle. Über seine Funktion ent-
Klinik: Neurobiologie der Depression
scheidet der Schaltkreis, in welchem er wirk-
Um die Entstehung einer Depression zu erklären,
sam ist. Ein und derselbe Transmitter kann
werden 2 Hypothesen herangezogen: die Mono-
deshalb bei vielen unterschiedlichen Funk-
amin-Hypothese und die Neurotrophin-Hypothese
tionen beteiligt sein.
(Hamann et al. 2010).
Mehr als 50 unterschiedliche Neurotransmitter wur- 4 Monoamin-Hypothese: Die derzeit am häufigs-
den bisher identifiziert. GABA (Gamma-Amino- ten eingesetzten Medikamente zur Behandlung
Buttersäure) ist der wichtigste inhibitorische Trans- einer Depression (Antidepressiva) sind Pharmaka,
mitter. Bei einem Panikanfall ist seine dämpfende die die Wiederaufnahme von Monoaminen
Aktivität zu gering ausgeprägt. Benzodiazepine, die (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin) aus dem
zur kurzfristigen Angstlösung eingesetzt werden synaptischen Spalt in das präsynaptische Neuron
(Anxiolytika), wirken über GABA-Rezeptoren (bei hemmen, so dass die Monoamine länger im
Langzeitgabe Vorsicht: Abhängigkeitsgefahr!). Ein synaptischen Spalt verbleiben und ihre Wirkung
GABA-Mangel liegt auch bei der Chorea Hunting- entfalten. Dies kann beispielsweise durch die
108 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Blockade des entsprechenden Transporters ge- und die negative Bewertung emotionaler Stimuli.
schehen. Allerdings kann die Wiederaufnahme- Dies spricht dafür, dass die Amygdalaaktivierung ur-
hemmung der Monoamine nicht der alleinige sächlich an der Depressionsentstehung beteiligt ist.
Wirkmechanismus sein, weil die Blockade sehr
schnell erfolgt, die therapeutische Wirkung Dopamin und Schizophrenie Eine Überaktivität des
aber erst nach ca. 2 Wochen eintritt. Deshalb wer- Neurotransmitters Dopamin im mesolimbischen
den auch längerfristige strukturelle Verände- System spielt wahrscheinlich bei der Schizophrenie
rungen, z. B. eine verminderte Expression post- eine Rolle. Die Schizophrenie ist eine schwere
4 synaptischer Rezeptoren, angenommen (neuro- psychische Störung (Psychose), die während einer
nale Plastizität). akuten Episode mit Einschränkung des Realitäts-
4 Neurotrophin-Hypothese: Auch ein Mangel an bezugs, Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen
neurotrophen Faktoren (z. B. brain derived neuro- einhergeht. Dopaminagonisten wie Kokain und
trophic factor) und ein stressbedingter Anstieg Amphetamine können auch beim Gesunden schizo-
von Glukokortikoiden mit einer Schädigung hip- phrenieartige Symptome auslösen. Die bei einer
pocampaler Neurone werden als mögliche Wirk- Schizophrenie wirksamen Medikamente, Neuro-
faktoren diskutiert. Eine Volumenminderung des leptika, sind Dopaminantagonisten. Sie blockieren
Hippocampus bei Depression ist nachgewiesen. den D2-Dopaminrezeptor. Dadurch können sich
Im Tiermodell (Maus) fördern umgekehrt anti- aber auch motorische Nebenwirkungen ergeben,
depressive Pharmaka, aber auch anregende Um- wie Bewegungsstörungen (Dyskinesien), Zittern
weltbedingungen die Neurogenese im Hippo- (Tremor) und Muskelstarre (Rigor), die einem Par-
campus, vermittelt über den Transkriptionsfaktor kinson-Syndrom ähneln. Möglicherweise spielt eine
CREB (cAMP response element binding protein) zu große Zahl an D2-Dopaminrezeptoren eine Rolle
und neurotrophe Faktoren. Ein CREB-Anstieg lässt als Risikofaktor der Schizophrenie.
sich beim Menschen aber auch nach Psychothera-
pie nachweisen. Auch wenn die Befunde noch
nicht einheitlich sind, gibt es doch Hinweise da- 4.1.6 Genetische Einflüsse
rauf, dass Pharmakotherapie und Psychotherapie auf das Verhalten
ähnliche neurobiologische Wirkungen entfalten.
Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher untersuch-
Genetische Disposition: Auf der Basis von Zwillings- ten psychischen Eigenschaften Einflüsse der Gene
studien kann die Erblichkeit bei Depression mit festgestellt (7 Abschn. 2.1.4). Bei der Schizophrenie
37 % berechnet werden. Welche Gene im Einzelnen sinkt das Erkrankungsrisiko mit abnehmendem
beteiligt sind, ist noch unklar; Gene des Monoamin- Verwandtschaftsgrad linear ab, und dies unabhän-
stoffwechsels sind in erster Linie Kandidaten. Das gig davon, ob ein Individuum in seiner Herkunfts-
Serotonintransportergen gehört dazu. Es entfaltet familie oder in einer Adoptivfamilie aufwächst.
seine Wirkung aber auch in Interaktion mit der Um- Daraus kann man schließen, dass genetische Ein-
welt: Belastende Lebensereignisse können eine flüsse von großer Bedeutung sind. Umfangreiche
Depression auslösen, und sie tun dies insbesondere Forschung hat erbracht, dass 80 % der Varianz
dann, wenn eine genetische Disposition besteht. (Unterschiedlichkeit) der Menschen hinsichtlich
Bildgebung: Bei einer Depression ist die Aktivität des Auftretens einer Schizophrenie sich durch den
der Amygdala erhöht. Diese Aktivität korreliert mit Einfluss von Genen erklären lässt. Dabei ist es un-
der Tendenz, Wahrnehmungen negativ zu bewerten. wahrscheinlich, dass ein einzelnes Gen für die
Unter antidepressiver Behandlung reduziert sich Krankheit verantwortlich ist; vielmehr wirken ver-
die Amygdala-Aktivierung, und zugleich nimmt die mutlich mehrere Gene sowie prä-, peri- und post-
negative Verzerrung emotionaler Wahrnehmungs- natale Umwelteinflüsse zusammen. Es wird jedoch
inhalte ab. Selbst bei Gesunden, bei denen Antide- nur die Vulnerabilität für die Erkrankung vererbt,
pressiva keine Stimmungsveränderung bewirken, nicht die Erkrankung selbst. Die Krankheit selbst
beeinflussen sie gleichwohl die Amgydalaktivierung hat eine Prävalenz von 1 % in allen untersuchten
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
109 4
Populationen, die Disposition ist aber möglicher- 4.1.7 Aktivations-
weise bei 10 % der Bevölkerung vorhanden. Sie be- und Bewusstseinszustände
steht wahrscheinlich in einer Störung der Aufmerk-
samkeitssteuerung und Informationsverarbeitung. Psychische Erregung oder Anspannung wird als
Diese kann durch ereigniskorrelierte Potenziale Aktivierung (Aktivation) bezeichnet. Sie geht mit
(Amplitudenverminderung und Latenzverzöge- physiologischen Veränderungen einher.
rung der P300-Komponente) objektiviert werden.
Ob diese Disposition jemals manifest wird, hängt
Physiologische Indikatoren
wiederum von Umweltfaktoren, z. B. belastenden
der Aktivierung
Lebensereignissen, ab (Diathese-Stress-Modell).
5 Anstieg der Herzfrequenz
Ein Risikofaktor für ein Rezidiv der Erkrankung
5 Anstieg der Atemfrequenz
liegt in der Familienumwelt: Ein überfürsorgliches
5 Vermindertes Fingerpulsvolumen
Verhalten mit viel emotionaler Einmischung und
5 Verminderter Hautwiderstand, Anstieg
Kritik (expressed emotion) erhöht die Rückfall-
der Hautleitfähigkeit (psychogalvanische
gefahr.
Reaktion)
Auch für die Alkoholabhängigkeit, und zwar
5 Zunahme der Spontanfluktuation der Haut-
bei Männern mehr als bei Frauen, sind Gene von
leitfähigkeit,
Bedeutung, wenn auch nicht so sehr wie bei der
5 Anstieg der Muskelspannung,
Schizophrenie. Möglicherweise spielen ein Gen für
5 Anstieg der Lidschlagfrequenz,
den Dopaminrezeptor D4 und ein GABA-Rezep-
5 β-Wellen im Elektroenzephalogramm
tor-Gen als Risikofaktoren eine Rolle.
(α-Blockade, EEG-Desynchronisation)
> Genwirkungen auf Verhalten sind nicht deter-
ministisch, d. h. dass jemand, der ein be-
stimmtes Gen besitzt, nicht unausweichlich
Polygraph Ein Gerät, das diese Indikatoren misst,
das entsprechende psychische Merkmal oder
nennt man Polygraph. In den USA wird er als
eine psychische Störung entwickeln wird. Die
»Lügendetektor« eingesetzt. Da man über Indika-
meisten Genwirkungen sind probabilistisch
toren der unspezifischen Aktivation jedoch nur die
und multifaktoriell: Das Vorhandensein eines
Aufregung eines Menschen, nicht den Wahrheits-
Gens erhöht lediglich die Wahrscheinlichkeit,
gehalt seiner Aussagen zu fassen bekommt, hängt
ein bestimmtes Merkmal zu entwickeln. Meist
die Aussagekraft eines Lügendetektortests im We-
sind darüber hinaus sehr viele Gene beteiligt,
sentlichen von der geschickten Fragetechnik ab.
so dass der Einfluss eines einzelnen Gens für
sich genommen nur gering ist.
Yerkes-Dodson-Regel Die Yerkes-Dodson-Regel
Es gibt auch keinen festen Wert der Erblichkeit für beschreibt den Zusammenhang zwischen Aktivie-
ein psychisches Merkmal, die Höhe der Erblichkeit rung und Leistung. Sie sagt aus, dass die Leistung
hängt vielmehr von der untersuchten Population bei einem mittleren Aktivierungsniveau optimal ist.
und deren Umweltbedingungen ab. Eine hohe Erb- Bei zu niedriger, aber auch zu hoher Aktivierung
lichkeit bedeutet auch keineswegs, dass Umwelt- fällt die Leistung wieder ab. Der Zusammenhang ist
interventionen nutzlos sind (Beispiel: Diät bei Phe- also kurvilinear, der Graph sieht aus wie ein auf dem
nylketonurie). Gentherapie ist auf der anderen Seite Kopf stehendes »U« (umgekehrt U-förmige Kurve).
problematisch, weil praktisch alle Menschen Risiko- Der optimale Aktivierungsgrad verschiebt sich
gene in sich tragen. Dadurch sind auch einem allerdings je nach Aufgabenschwierigkeit: Bei
Screening auf diese Gene Grenzen gesetzt. schwierigen Aufgaben ist eine geringere Aktivie-
rung besser, bei leichteren eine höhere.

Bewusstseinsgrad Anhand der EEG-Frequenz


lässt sich der Bewusstseinsgrad beurteilen. Je höher
110 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Delta

Theta

Alpha
4
50 μV

Beta

Augen auf zu

1s
. Abb. 4.1 Die häufigsten Arten rhythmischer Aktivität im Spontan-EEG

die Frequenz, desto höher der Wachheitsgrad (Zunahme der Hautleitfähigkeit; Vasokonstriktion
(. Abb. 4.1). in der Peripherie, Vasodilatation im Kopf; sofort
Herzfrequenzabfall, danach Herzfrequenzanstieg).
Ihre Intensität ist proportional zum Ausmaß der
EEG und Bewusstseinsgrad
Neuheit des Reizes, also seiner Nichtübereinstim-
5 Alpha- (α-)Wellen (8–12 Hz): entspannter
mung mit den erwarteten, gespeicherten Mustern.
Wachzustand
Nach Wiederholung des neuen Reizes nimmt ihre
5 Beta- (β-)Wellen (13–30 Hz): Aufmerksam-
Intensität ab und bleibt schließlich aus (Habituation).
keit, Aktivation
Habituation wird von Adaptation (Erhöhung der
5 Theta- (θ-)Wellen (4–7 Hz): Ermüdung,
Reizschwelle) differenziert. Die Orientierungsreak-
Einschlafen
tion wird von der Defensivreaktion (z. B. Wegzie-
5 Delta- (δ-)Wellen (0,5–3 Hz): Tiefschlaf,
hen der Hand von einer heißen Herdplatte) und dem
Bewusstlosigkeit
Schreckreflex (Startle-Reflex, Blinkreflex; Blinzeln
bei plötzlichen lauten Geräuschen) unterschieden.
> Eine Orientierungsreaktion tritt auf,
Chronobiologie Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist
wenn ein neuer, unerwarteter Reiz ins Wahr-
einer von vielen zirkadianen Rhythmen (zirkadi-
nehmungsfeld kommt (»Was ist das?«).
an = »ungefähr ein Tag«), die von der Chronobiolo-
gie untersucht werden. Gene werden zu bestimmten
Orientierungsreaktion Die Orientierungsreaktion Zeiten an- und abgeschaltet, Enzyme aktiviert oder
besteht aus Veränderungen in den Sinnesorganen deaktiviert. Endokrine Systeme wie z. B. die Korti-
(Erniedrigung der Reizschwelle für die entsprechen- solsekretion unterliegen ebenso einem Tagesrhyth-
de Sinnesmodalität, Erhöhung der Reizschwelle mus wie die Leistungsfähigkeit (Minimum der Auf-
für andere Sinnesmodalitäten), der Muskulatur merksamkeit am Nachmittag: Siesta!), Schmerz-
(Anstieg des Tonus, Hinwendebewegung), im ZNS empfinden, Körpertemperatur oder Medikamen-
(β-EEG; α-Blockade) und vegetativen Nervensystem tenwirkungen.
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
111 4

. Abb. 4.2 Einteilung der Schlafstadien (EOG Elektrookulogramm, EMG Elektromyogramm)

Das zentrale Steuerungszentrum für diese zirka- Schlaf Zwei Formen des Schlafs werden unter-
dianen Rhythmen, die »biologische Uhr«, befindet schieden, der REM-Schlaf und der Non-REM-Schlaf.
sich im Nucleus suprachiasmaticus. Er erhält über Die Tiefe des Non-REM-Schlafs wird durch die
die Sehnerven Lichtinformation und passt den inne- Schlafstadien beschrieben, deren Einteilung an-
ren Rhythmus an den äußeren Zeitgeber an. Ohne hand des EEG vorgenommen wird (. Abb. 4.2).
äußeren Zeitgeber, z. B. in Isolationsexperimenten, Vom Wachzustand (W) wird manchmal noch eine
werden die Rhythmen meist länger. Die zeitlichen Übergangsphase (A) abgegrenzt. Dann folgen die
Körpervorgänge werden u. a. durch den Signalstoff Schlafstadien 1–4.
Melatonin gesteuert, der in der Epiphyse (Zirbel-
drüse) gebildet wird, einem evolutionären Relikt, das
bei niederen Wirbeltieren als 3. Auge Helligkeitsun- Schlafstadien
terschiede wahrnimmt. Weiterhin spielt die Forma- 5 Stadium 1: Einschlafphase, niedrig-ampli-
tio reticularis (insbesondere der Locus coeruleus) tudiges EEG, nur noch einzelne Alpha- und
eine wichtige Rolle bei der Regulation der Wachheit. Beta-Wellen; Theta-Wellen
Als Neurotransmitter sind Noradrenalin, Acetyl- 5 Stadium 2: Theta-Wellen, Schlafspindeln,
cholin und Serotonin beteiligt. Schlafprobleme im K-Komplexe
Alter oder bei einer Depression können durch eine 5 Stadium 3: zusätzlich Delta-Wellen
Störung dieser Steuerung erklärt werden. 5 Stadium 4: mehr als 50 % Delta-Wellen
mit hoher Amplitude, Stadium 3 und 4
> Regelmäßiger Schlaf ist für Immun- und endo- werden als Tiefschlaf oder slow-wave sleep
krines System wichtig. Schicht- und Nacht- zusammengefasst.
arbeit, Jetlag oder früher Schulbeginn am
Morgen bewirken eine Desynchronisation von
innerem und sozialem Rhythmus, vermindern REM-Schlaf Der REM-Schlaf hat seinen Namen von
die Leistungsfähigkeit und erhöhen die Infekt- den dabei auftretenden raschen Augenbewegungen
und Krankheitsanfälligkeit. (rapid eye movements). Das EEG ist relativ hochfre-
112 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

quent, niedrig-amplitudig, desynchron und ähnelt arbeitung und Speicherung von deklarativem Wis-
Schlafstadium 1. Die Muskulatur ist jedoch voll- sen (Faktenwissen) erfolgt wahrscheinlich im Tief-
ständig entspannt (atonisch). Wegen der Diskre- schlaf, diejenige von prozeduralem Wissen (Hand-
panz zwischen relativ »wachem« EEG einerseits, lungsabfolgen) im REM-Schlaf. Möglicherweise
aber hoher Weckschwelle und tief entspannter Mus- werden zu diesem Zweck die tagsüber in der Groß-
kulatur andererseits wird er auch paradoxer Schlaf hirnrinde gespeicherten Informationen in den
genannt. Vereinzelt kommt es zu Muskelzuckun- Hippocampus übertragen, der sie noch einmal »ab-
gen. Auch Herz- und Atemfrequenz steigen zeit- spielt« und dabei überarbeitet. Zur endgültigen
4 weise an und sind sehr wechselhaft. Erektionen Speicherung werden sie danach erneut in der Groß-
beim Mann bzw. eine vermehrte vaginale Durch- hirnrinde »abgelegt«. Wären wir währenddessen
blutung bei der Frau treten – unabhängig vom wach, würden wir dieses Abspielen wahrscheinlich
Trauminhalt – auf. Weckt man einen Menschen als Halluzination erleben. Die Weiterverarbeitung
während des REM-Schlafs, berichtet er meist einen von Gelerntem im Schlaf erklärt, warum einem
sehr bildhaften Traum. Auch in den anderen Schlaf- manchmal die Lösung von Problemen »über Nacht«
phasen kommen jedoch Träume vor. Dass diese oft einfällt. Nach intensivem Nachdenken über ein Pro-
nicht so lebhaft und bizarr sind wie REM-Träume, blem oder Lernen von neuem Stoff sollte man des-
liegt möglicherweise daran, dass sie kürzer sind und halb erst einmal »darüber schlafen«, um seine Leis-
nicht so gut erinnert werden. Noch immer gibt es tung am nächsten Tag zu verbessern.
keine klare Theorie über die neurologischen Grund-
lagen des Träumens. Manche Wissenschaftler glau- Schlafentzug Ein selektiver REM-Schlaf-Entzug
ben, dass der REM-Schlaf eine besondere Art des führt zu Hyperaktivität und Reizbarkeit. In den
Bewusstseins darstellt, die sich evolutionsgeschicht- Nächten nach einem selektiven REM-Entzug tritt
lich aus einer Zeit erhalten hat, bevor sich das ratio- eine kompensatorische REM-Erhöhung auf (REM-
nal arbeitende Wachbewusstsein herausgebildet rebound). Non-REM-Schlaf lässt sich nicht selektiv
hat. entziehen, weil REM-Schlaf »pur« nicht zu haben
ist. Non-REM-Schlaf muss immer zuerst durchlau-
Zeitliche Abfolge Jede Nacht wird die charakteris- fen werden, bevor man wieder aus dem Tiefschlaf in
tische Abfolge von Stadium 1 bis Stadium 4, dann den REM-Schlaf »auftaucht«. Totaler Schlafentzug
wieder zurück über Stadium 2 in die REM-Phase führt zunächst zu Konzentrations- und Aufmerk-
(oder ein kurzes Erwachen) und von der wieder ab- samkeitsstörungen (Unfallgefahr!) und bei längerer
wärts in den Tiefschlaf etwa 5-mal durchlaufen. In Dauer zum »Durchsickern« von Mikroschlafepi-
der 2. Nachthälfte wird das Tiefschlafstadium aller- soden in das Wachbewusstsein, die als Sinnestäu-
dings nicht mehr erreicht, und die REM-Phasen schungen erlebt werden. Bei einer Depression kann
werden gegen Morgen länger. Die meiste Zeit ver- Schlafentzug allerdings eine (wenn auch meist kurz-
bringt man in Stadium 2. Die Schlafdauer und der fristige) Besserung der Symptomatik bewirken. Im
Anteil des REM-Schlafs nehmen im Laufe des Le- Erholungsschlaf nach Schlafentzug wird zunächst
bens ab. Der REM-Schlaf macht beim Erwachsenen der Tiefschlaf, erst danach der REM-Schlaf nach-
etwa 20 % des Schlafes einer Nacht aus (Säuglinge: geholt, beides jedoch nicht proportional zur Dauer
mehr als 50 %). Wie viel Schlaf ein Mensch braucht, des Entzugs, sondern sehr viel kürzer.
ist individuell sehr unterschiedlich: 7–8 Stunden
sind Durchschnitt. Schlafstörungen Schlafstörungen sind häufig. Etwa
25 % der Erwachsenen leiden daran. Das Ausmaß
Funktion des Schlafs Während man früher die einer Schlafstörung wird nicht nach der Qualität
Funktion des Schlafs allein in der Erholung wichti- des Schlafs in der Nacht, sondern nach den Folgen
ger Körperfunktionen sah (was allerdings nicht den eines nicht erholsamen Schlafs für die Leistungs-
Umstand erklärt, dass man dabei das Bewusstsein fähigkeit am Tag bewertet (Schlafeffizienz). Nächtli-
verliert), sieht man heute die Konsolidierung von che Schlaflosigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen
Lernerfahrungen als wichtige Funktion. Die Über- oder vorzeitiges morgendliches Erwachen werden
4.1 · Psychobiologische Grundlagen
113 4
als Insomnie bezeichnet. Eine Schlafstörung kommt 4.1.8 Gehirn und Verhalten
häufig durch körperliche Anspannung und über-
triebene Anstrengungen einzuschlafen zustande, Evozierte Potenziale und langsame Hirnpotenziale
verbunden mit der Sorge, dass zu wenig Schlaf die spiegeln Informationsverarbeitungsprozesse wider
Leistung am folgenden Tag beeinträchtigt (psycho- (7 Abschn. 3.6.1). Das Bereitschaftspotenzial, das
physiologische Insomnie). Manche Patienten haben der Ausführung einer Handlung vorausgeht, lässt
die feste Überzeugung, nachts wach zu liegen, ob- sich schon vor der bewussten Willensentscheidung
wohl dies gar nicht der Fall ist (Fehlbeurteilung des zu dieser Handlung nachweisen. Der bewusste
Schlafzustandes). Schlafstörungen können auch die Willensentschluss wird erst 300–500 ms nach dem
Folge von anderen körperlichen oder psychischen Beginn des Bereitschaftspotenzials erlebt. Wäh-
Erkrankungen (z. B. Depression) sein (sekundäre renddessen wurde die Handlung schon unbewusst
Insomnien). Hinzu kommen Atmungsstörungen, vorbereitet. Ebenso kann man aufgrund von in
die den Schlaf beeinträchtigen (Schlafapnoe). bildgebenden Verfahren dargestellten Aktivitäts-
Hypersomnie ist dagegen ein erhöhtes Schlaf- mustern im präfrontalen und parietalen Kortex
bedürfnis oder eine übermäßige Schläfrigkeit am schon 10 sec bevor eine Person die bewusste Ent-
Tage. Zu den Hypersomnien gehört die Narko- scheidung trifft eine bestimmte Handlung aus-
lepsie, die durch eine exzessive Tagesschläfrigkeit zuführen (z. B. Knopfdrücken mit dem rechten
und plötzlichen Tonusverlust der Streckmuskula- oder dem linken Zeigefinger) voraussagen, welche
tur mit der Gefahr eines Sturzes (Kataplexie) cha- Handlung sie ausführen wird, d. h. lange bevor sie
rakterisiert ist. Als Parasomnien fasst man Alb- den willentlichen Entschluss dazu fasst. Der Wil-
träume, Pavor nocturnus (Erwachen aus dem Tief- lensakt steht am Abschluss eines unbewussten Ent-
schlaf mit starker Angst), Schlafwandeln, Um-sich- scheidungsprozesses und ist nicht seine Ursache.
schlagen, Kopfschlagen, Zähneknirschen, Reden, Aus diesen Befunden haben Hirnforscher die
Schreien und gewisse Formen des Einnässens zu- Schlussfolgerung gezogen, dass die Empfindung
sammen. eines freien Willens eine Illusion ist: Aus der regel-
Bei der Anamneseerhebung prüft man, ob der mäßigen Abfolge von bewusster Handlungsabsicht
nicht erholsame Schlaf durch das Verhalten des Be- und Handlung schließen wir darauf, dass die Ab-
troffenen (mangelnde Schlafhygiene), eine fehlende sicht die Handlung verursache. Wahrscheinlich
Anpassung an den zirkadianen Rhythmus oder Ein- sind aber sowohl Absicht als auch Handlung Folgen
nahme von schlafstörenden Substanzen (Alkohol) eines zuvor ablaufenden unbewussten Prozesses.
bedingt oder aber Symptom einer anderen Erkran- Das Gefühl des freien Willens wäre demnach ledig-
kung ist, die behandelt werden muss. Nur bei einem lich die Zustimmung zu einer auf unbewusstem
geringen Anteil liegen jedoch spezifische schlaf- Weg vorbereiteten Handlung, die einen Probelauf
medizinische Erkrankungen vor, und nur selten ist absolviert hat und vor dem Hintergrund der bis-
eine Untersuchung im Schlaflabor (Polysomno- herigen Lebenserfahrungen als sinnvoll bewertet
graphie) erforderlich. Zur Therapie können kurz- wurde. Die Gedanken, die wir subjektiv als die
fristig und vorübergehend schlafinduzierende Sub- Ursachen unserer Handlung wahrnehmen, wären
stanzen (z. B. Benzodiazepine) verwandt werden, dann eher als eine Art von Preview zu verstehen,
wegen der Abhängigkeitsgefahr aber nicht länger als eine Vorschau darauf, was wir demnächst tun
3–4 Wochen. Wirksam ist auch eine kognitive Ver- werden.
haltenstherapie von 4–6 Sitzungen. Das Gefühl, eine Handlung gewollt zu haben,
Psychobiologische, -endokrinologische und entsteht, wenn wir einen Zusammenhang zwischen
-immunologische Zusammenhänge wurden in unseren Gedanken und einer nachfolgenden Hand-
7 Abschn. 2.2.1 im Kontext des Stressmodells be- lung wahrnehmen. Diese Empfindung des freien
handelt. Willens ist durchaus real. Aber das ist nicht unbe-
dingt ein Indikator dafür, dass unser Gedanke auch
die Handlung verursacht hat. Wozu dann die Emp-
findung, einen freien Willen zu besitzen? Ist der
114 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

freie Wille ein reines Epiphänomen, auf das wir tung eines Satzes zu erkennen oder komplizierte
ebenso gut verzichten könnten? Keineswegs. Das Bewegungsabläufe einzustudieren, erfordern Auf-
Gefühl des freien Willens ist ein klares Zeichen für merksamkeit und Bewusstsein. Emotionales Ler-
meine Autorschaft. Es zeigt mir an, dass eine Hand- nen geschieht meist nicht aufgrund einmaliger
lung, die ich ausgeführt habe, das Resultat meiner Erlebnisse, sondern infolge wiederholter Erfahrun-
Motive, Wünsche und Ziele ist: »Ich habe das getan gen. Einmalige Erfahrungen hinterlassen nur dann
und kann/muss mir die Folgen auch selbst zuschrei- ihre Spuren, wenn sie emotional sehr intensiv sind,
ben.« Ich darf stolz darauf sein, wenn ich etwas ge- wie z. B. traumatische Erlebnisse.
4 leistet habe, oder muss die Verantwortung überneh-
men, wenn ich einen Fehler gemacht habe.
4.2.1 Assoziatives und
i Vertiefen
nichtassoziatives Lernen
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische
Psychologie, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidel-
Assoziatives Lernen Assoziatives Lernen basiert auf
berg New York (dokumentiert den Stand des
der Verknüpfung (Assoziation) von Reizen oder Er-
Wissens in umfassender Weise)
eignissen. Zwei einfache Formen des assoziativen
Roth G (2009) Aus Sicht des Gehirns. Suhr-
Lernens sind die klassische Konditionierung und
kamp, Frankfurt (stellt die Hirnforschung vor
die operante Konditionierung (7 Abschn. 2.1). Bei
und zieht Konsequenzen für unser Menschenbild)
der klassischen Konditionierung werden 2 Reize
Schandry R (2011) Biologische Psychologie,
miteinander verknüpft: der unkonditionierte Reiz
3. Aufl. Beltz, Weinheim (leicht verständliche,
(UCS; z. B. Futter) und der konditionierte Reiz (CS;
didaktisch gut aufbereitete Einführung, die sich
z. B. Glocke). Durch mehrmalige Koppelung des
auf das Wesentliche beschränkt)
unkonditionierten und des konditionierten Reizes
wird der konditionierte Reiz (CS) in die Lage ver-
setzt, auch alleine eine Reaktion auszulösen (kondi-
4.2 Lernen tionierte Reaktion, CR). Bei der operanten Kondi-
tionierung werden ein Verhalten und eine Verhal-
H. Faller tenskonsequenz (Belohnung, Verstärker) miteinan-
der verknüpft.
Lernziele
Der Leser soll Nichtassoziatives Lernen Nichtassoziatives Lernen
5 assoziatives und nichtassoziatives Lernen geschieht ohne solche Verknüpfungen. Formen
unterscheiden können, nichtassoziativen Lernens sind Habituation, Dis-
5 wichtige Begriffe der klassischen und der habituation und Sensitivierung.
operanten Konditionierung definieren können, Sensitivierung hat einen biologischen Sinn.
5 negative Verstärkung und Bestrafung unter- Beispiel: Wenn ein Tier seinem Fressfeind begegnet
scheiden können, ist (aversiver Reiz), werden auch sonst harmlose
5 Verstärkerpläne und operante Techniken des Geräusche bedeutsam, denn sie könnten signalisie-
Verhaltensaufbaus beschreiben können, ren, dass der Feind noch in der Nähe ist. In dieser
5 Lernen durch Beobachtung beschreiben können, Situation können viele Reize Gefahr bedeuten, des-
5 die Bedeutung der Preparedness für das Lernen halb muss auf alles geachtet werden. Die Sensitivie-
erläutern können. rung wird durch eine erhöhte Neurotransmitteraus-
schüttung (Glutamat) vermittelt, so dass Aktions-
> Lernen ist definiert als Erwerb von Wissen
potenziale leichter ausgelöst werden können.
und Fertigkeiten.

Einfache Inhalte und zwischenmenschliches, emo-


tionales Verhalten werden meist unbewusst gelernt.
Schwierigere Aufgaben, wie die komplexe Bedeu-
4.2 · Lernen
115 4
die klassische Konditionierung erklären: Wenn konditionier-
Formen des nichtassoziativen Lernens ter und unkonditionierter Stimulus ungefähr zeitgleich auf
das postsynaptische Neuron weitergeleitet werden, so kann
5 Habituation: Die Reaktion wird bei wieder-
der konditionierte Stimulus das postsynaptische Neuron
holter Darbietung eines Reizes immer aktivieren, was er »aus eigener Kraft« nicht vermocht hätte.
schwächer. Habituation bedeutet, dass der Durch das gleichzeitige Feuern der beiden präsynaptischen
Reiz als harmlos erkannt wird und ignoriert Neuronen wird die Verbindung zwischen ihnen und dem
werden kann. postsynaptischen Neuron verstärkt.
5 Dishabituation: Wenn der Habituationsvor-
gang durch einen neuen Reiz unterbrochen Das Ergebnis von Lernprozessen bildet sich im Ge-
wird, steigt die Reaktion auf den ursprüng- hirn ab. Beispiele: Das Training eines nach einem
lichen Reiz wieder etwas an. Schlaganfall gelähmten Arms unter gleichzeitiger
5 Sensitivierung: In der Folge eines unange- Immobilisierung des gesunden Arms (Constraint-
nehmen (aversiven) Reizes, z. B. eines lauten Induced Movement Therapy) führt zu einer Re-
Geräuschs, nimmt auch die Reaktion auf organisation des kortikalen Repräsentationsareals
einen schon mehrfach präsentierten »harm- des gelähmten Arms. Die Funktion des gelähmten
losen« Reiz wieder zu, sogar noch über das Arms kann damit langfristig verbessert werden.
Ausgangsniveau hinaus. Eine kortikale Reorganisation zur Folge hat auch die
Spiegeltherapie zur Verminderung des Phantom-
scherzes. Dabei platziert man vor dem Patienten
Neurobiologische Grundlagen Lernen erfolgt auf einen Spiegel in der Weise, dass er das Spiegelbild
der Basis von Strukturveränderungen im Gehirn des vorhandenen Arms genau an der Stelle sieht, wo
(7 Abschn. 4.1.4). Obwohl die generelle Architektur der amputierte Arm zu sehen wäre. Das Gehirn lässt
des Gehirns genetisch vorgegeben ist, führen Lern- sich von dieser Illusion täuschen: Bewegungen und
erfahrungen (insbesondere während Kindheit und Empfindungen des gesunden Arms werden wahrge-
Jugend) zur Verstärkung der synaptischen Verbin- nommen, als gehörten sie zum Phantom. Der visu-
dungen zwischen den Nervenzellen. Vorgegebene elle Input vom Phantom verdrängt nun den Input
Verbindungen können in Abhängigkeit von Lern- von anderen Körperregionen, welcher die Phan-
prozessen stabilisiert oder aber auch aufgegeben tomschmerzen hervorgerufen hat (7 Abschn. 2.2.2).
werden. Generell werden kurzzeitige Effekte durch
funktionelle, langfristige Effekte durch strukturelle
Änderungen von Synapsen bewirkt (7 Abschn. 4.3.3, 4.2.2 Lerntheorien
»Kognition«). Neurophysiologischer Ausgangspunkt
des Lernens ist die Langzeitpotenzierung (7 Hin-
> Folgende Theorien des Lernens können
tergrundinformation, »Langzeitpotenzierung«).
unterschieden werden:
Hintergrundinformation 5 klassische Konditionierung,
Langzeitpotenzierung 5 operante Konditionierung,
Eine hochfrequente elektrische Stimulierung von präsynap-
5 Lernen durch Beobachtung (syn. Modell-
tischen Neuronen induziert eine mehrere Tage anhaltende
Verstärkung der synaptischen Übertragung (Langzeitpoten- lernen, Imitationslernen),
zierung). Man nimmt an, dass bei Lernvorgängen ähnliche, 5 Lernen durch Eigensteuerung,
wenn auch nicht so starke Stimulierungen stattfinden. Lang- 5 Lernen durch Einsicht.
zeitpotenzierung wurde vor allem im Hippocampus nach-
gewiesen, der für Lernen und Gedächtnis von großer Bedeu-
tung ist. Sie wurde am umfassendsten am NMDA-Rezeptor
untersucht, einem Rezeptor für Glutamat, den wichtigsten 4.2.3 Klassische Konditionierung
exzitatorischen Neurotransmitter. Die volle Reaktion dieses
Rezeptors verlangt, dass das postsynaptische Neuron bereits
teilweise depolarisiert ist. Dies ist dann der Fall, wenn dieses
Die Theorie der klassischen Konditionierung wurde
Neuron schon durch einen anderen Stimulus aktiviert wurde, unter der Überschrift »Respondentes Modell« schon
d. h. wenn 2 Stimuli zusammenkommen. Hiermit lässt sich in 7 Abschn. 2.2 dargestellt (Beispiele: Pawlowscher
116 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Hund, der kleine Albert). Als medizinische Anwen- nannt; diese »Verstärkerreize« dürfen nicht mit den
dungen wurden die Entstehung einer Phobie, die an- Auslösereizen in der klassischen Konditionierung
tizipatorische Übelkeit bei einer Chemotherapie und verwechselt werden.
die Konditionierung von Immunfunktionen beschrie-
> Negative Verstärkung ist die Grundlage des
ben. Hier sollen noch einige Details ergänzt werden.
Vermeidungslernens: Vermeidungsverhalten
Mit Reizgeneralisierung bezeichnet man das
wird dadurch negativ verstärkt, dass eine
Phänomen, dass eine klassisch konditionierte Reak-
aversive Situation, in der man sich unwohl
tion auch durch ähnliche, nicht völlig identische
fühlen würde, gar nicht erst aufgesucht wird.
4 Reize ausgelöst werden kann (z. B. Töne unterschied-
licher Höhe). Werden die Reize jedoch zu unähnlich, Beispiel: Ein Patient mit Agoraphobie (Angst vor
funktioniert die konditionierte Reaktion nicht mehr offenen Plätzen und Straßen) geht nicht auf die
(Reizdiskrimination). Wenn ein sprachlicher Begriff Straße, um die angsterregende Situation zu vermei-
zum konditionierten Stimulus wird, nennt man dies den. Er erlebt infolgedessen keine Angst mehr. In-
semantische Konditionierung. Beispiel: Eine Pati- folge dieses operant konditionierten Vermeidungs-
entin mit einer Rosenallergie bekommt allergische verhaltens kann er aber auch nicht die Erfahrung
Symptome, wenn sie nur das Wort »Rose« hört. Man machen, dass nichts Schlimmes passieren würde,
kann auch an einen schon konditionierten Reiz einen wenn er auf die Straße ginge. Seine klassisch kondi-
zweiten, neutralen Reiz anknüpfen, der dann eben- tionierte Angst kann deshalb nicht gelöscht werden.
falls zum konditionierten Reiz wird (Konditionie- Hierzu wäre erforderlich, dass er sich mit der angst-
rung höherer Ordnung). Wenn ein neutraler Reiz auslösenden Situation konfrontiert, sich ihr expo-
mehrfach ohne einen unkonditionierten Reiz prä- niert (Konfrontationstherapie bzw. Expositions-
sentiert wurde, dann eignet er sich nicht mehr so gut therapie; 7 Abschn. 8.2.2).
für eine Konditionierung (latente Hemmung).
Wichtige Begriffe Wenn ein Organismus bei der
operanten Konditionierung lernt, dass ein Verhal-
4.2.4 Operante Konditionierung ten nur in einer ganz bestimmten Situation belohnt
wird, nicht jedoch in einer anderen, nennt man dies
Die Theorie der operanten Konditionierung wur- Reizdiskrimination. Der Hinweisreiz, der anzeigt,
de als »operantes Modell« ebenfalls schon in 7 Ab- dass ein Verstärker zu erwarten ist, heißt diskrimi-
schn. 2.1 dargestellt. Synonyme für operante Kondi- nativer Reiz (nicht zu verwechseln mit dem aus-
tionierung sind instrumentelle Konditionierung lösenden Reiz in der klassischen Konditionierung).
und Lernen am Erfolg. Grundgedanke der operan- Reizgeneralisation bedeutet entsprechend,
ten Konditionierung ist, dass die Häufigkeit eines dass das Verhalten auch in anderen als der ur-
Verhaltens zunimmt (Verstärkung), wenn dem Ver- sprünglichen Situation ausgeführt wird.
halten eine angenehme Konsequenz nachfolgt (Ef- Primäre Verstärker befriedigen elementare Be-
fektgesetz des Lernens). Daher kommen auch die dürfnisse (z. B. Nahrung), sekundäre Verstärker
verschiedenen Bezeichnungen für dieses Modell: haben ihre Verstärkerqualität durch Koppelung mit
Das Verhalten übt eine Wirkung aus (operantes Ver- primären Verstärkern gewonnen (z. B. Geld, soziale
halten), es ist ein Werkzeug (Instrument), um einen Anerkennung).
angenehmen Folgezustand (Erfolg) herzustellen. Tokens sind Gutscheine oder Wertmarken, die
beispielsweise bei Kindern als Verstärker eingesetzt
> Negative Verstärkung ist Häufigkeitszunah-
werden.
me eines Verhaltens (Verstärkung), aber nicht
Time-out (Auszeit) wird die Strategie genannt,
durch die Gabe einer angenehmen Konse-
unerwünschtes Verhalten dadurch zu löschen, dass
quenz, sondern durch die Wegnahme einer
man es nicht beachtet. Beispiel: Ein hyperaktiver Jun-
unangenehmen Konsequenz.
ge, der häufig mit seinen Klassenkameraden streitet,
Die Verhaltenskonsequenzen bei der operanten wird vom Lehrer jeweils kurzzeitig in einen anderen
Konditionierung werden oft ebenfalls Reize ge- Raum geschickt, sobald er einen Streit anfängt.
4.2 · Lernen
117 4
4.2.5 Determinanten 4.2.6 Neurobiologische Grundlage
der Konditionierungsstärke der Verstärkung
und -geschwindigkeit
Die Verstärkung von Verhalten hat ihre neuro-
Verstärkerpläne Der Aufbau eines Verhaltens ge- biologische Grundlage in Belohnungssystemen im
schieht am schnellsten mit regelmäßiger, kontinu- Gehirn (mediales Vorderhirnbündel, ventrales Teg-
ierlicher Verstärkung. Intermittierende Verstär- mentum, Nukleus accumbens). Diese Zentren ver-
kung bedeutet hingegen, dass ein Verhalten nicht mitteln über die Ausschüttung von Dopamin posi-
jedes Mal verstärkt wird, sondern nur unregelmä- tive Gefühle. Sie werden aktiv, wenn ein Organismus
ßig. Damit wird ein besonders stabiles, löschungs- eine positive Konsequenz erwartet oder erhält.
resistentes Verhalten erzielt. Schnell und dauer- Bringt man bei Versuchstieren in die entsprechen-
haft lernt man also durch eine Kombination von den Regionen Mikroelektroden ein und ermöglicht
beiden Verstärkerplänen: zuerst kontinuierliche, es ihnen, über einen Hebel Strom auf diese Mikro-
dann intermittierende Verstärkung. Man kann ein elektroden zu applizieren, so stimulieren sie sich
erwünschtes Verhalten (z. B. Zimmer aufräumen selbst (intrakranielle Selbststimulation).
bei einem Kind) auch dadurch verstärken, dass man Dopaminerge Neurone reagieren auf Belohnun-
es an ein häufig vorkommendes Verhalten (z. B. gen, wenn diese unverhofft sind oder höher als er-
Fernsehen) koppelt (regelmäßig vor dem Fernsehen wartet. Ihre Aktivität ist aber am höchsten während
zuerst das Zimmer aufräumen). Dies nennt man der Erwartung von Belohnungen. Trifft eine Beloh-
Premack-Prinzip. Ein anderes Beispiel: Ein de- nung dann wie erwartet ein, zeigen sie keine erhöh-
pressiver Patient gibt sich jeden Morgen, wenn er in te Aktivität mehr. Ihre Aktivität bringt also den An-
den Spiegel schaut, eine positive Selbstinstruktion: reizwert einer Belohnung zum Ausdruck. Sie stimu-
»Kopf hoch!« Auch der Applikationszeitpunkt eines liert Neugier und Exploration, d. h. die Suche nach
Verstärkers ist wichtig: Die Belohnung (oder Be- Situationen, die Belohnungen versprechen. Auch
strafung) sollte möglichst unmittelbar auf das je- der Reiz, den Glücksspiele auf viele Menschen aus-
weilige Verhalten folgen, um wirksam zu sein. Ver- üben, lässt sich so erklären.
halten wird von kurzfristigen Folgen gesteuert. Die Fähigkeit, auf kurzfristige Belohnungen zu
Um komplexe Verhaltensweisen aufzubauen, verzichten, sei es, weil egoistisches Verhalten die
haben sich folgende Strategien bewährt. Rechte anderer Menschen beeinträchtigen würde,
sei es wegen übergeordneter eigener langfristiger
Ziele (Verstärkeraufschub), ist im Frontalhirn
Operante Techniken
(orbitofrontaler Kortex) lokalisiert. Diese Fähigkeit
des Verhaltensaufbaus
ist u. a. dann gefragt, wenn man um des langfristi-
5 Chaining: das Verhalten in einfache Ele-
gen Erhalts der eigenen Gesundheit willen auf kurz-
mente aufspalten. Das erste Element verstär-
fristige Genüsse verzichten muss.
ken, bis es erlernt ist, dann mit dem zweiten
Element fortfahren etc.: auf diese Weise alle
Klinik: Kortikales Biofeedback
Elemente aneinanderketten.
Durch die visuelle Rückmeldung der EEG-Aktivität
5 Shaping: Verhalten verstärken, auch wenn es
auf einem Bildschirm können Menschen lernen, ihre
zunächst nur in die Richtung des gewünsch-
EEG-Aktivität zu verändern. Sie können lernen, einen
ten Verhaltens geht, so dass es stufenweise
bestimmten EEG-Rhythmus herzustellen oder ein
dem Zielverhalten immer ähnlicher wird.
bestimmtes Potenzial zu positivieren. Diese Fähigkeit
5 Prompting: Verhalten von außen anstoßen
macht man sich bei Patienten mit medikamentös
(z. B. die Hand führen).
schwer einstellbarer Epilepsie zunutze, die auf diese
Weise anfallsförderliche EEG-Frequenzen vermindern
können. Ein anderes Anwendungsfeld sind Kranke,
die aufgrund einer Hirnstammläsion vollständig
gelähmt sind und dadurch auch die Möglichkeit zu
118 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

kommunizieren verloren haben (Locked-in-Syn- dieses Verhalten selbst aus, zunächst in der Thera-
drom). Die Betroffenen können lernen, über operant piesituation, danach in der Realität.
beeinflusste Hirnpotenziale Buchstaben am Bild-
schirm auszuwählen, Wörter und Sätze zu bilden und Preparedness Allerdings lässt sich durch Beob-
so wieder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. achtung nicht jedes beliebige Verhalten erlernen, es
muss vielmehr eine biologische Bereitschaft dafür
bestehen (preparedness). So zeigten Rhesusaffen, die
4.2.7 Lernen durch Beobachtung, im Zoo aufwuchsen und noch nie in ihrem Leben
4 Modelllernen mit einer Schlange konfrontiert waren, ängstliches
Verhalten angesichts einer Schlange, nachdem sie
Lernen durch Beobachtung bedeutet, dass man ein Video gesehen hatten, in dem ein Artgenosse
ein Verhalten dadurch lernen kann, dass man einen Angst vor einer Schlange zeigte. Wenn man in die-
anderen Menschen beobachtet und dessen Verhal- sem Video die Schlange durch einen Hasen ersetzte,
ten übernimmt (imitiert; syn. Imitationslernen). so dass es so aussah, als würde das Modell Angst vor
Der andere, den man beobachtet, fungiert als dem Hasen haben, so führte dies beim Beobachter
Modell (syn. Lernen am Modell, Modelllernen). nicht zum Erlernen von Hasenangst. Für Angst vor
Beobachtungslernen spielt bei der Übernahme Schlangen hat sich in der Evolution ein Verhaltens-
des zwischenmenschlichen und emotionalen Ver- programm herausgebildet, das nur noch aktiviert
haltens zeitlebens eine große Rolle (Theorie des werden musste, für Angst vor Hasen hingegen nicht.
sozialen Lernens, Begründer: Albert Bandura):
Kinder lernen von ihren Eltern, Jugendliche von
Gleichaltrigen (peers), Assistenzärzte von Ober- 4.2.8 Lernen durch Eigensteuerung
ärzten etc. Experimentell ließ sich das Modelllernen
z. B. in einer Studie demonstrieren, in der Kinder, In den einfachen Lernmodellen wie klassischer und
die einen Film sahen, in dem ein Kind sich aggres- operanter Konditionierung und auch, wenngleich
siv gegenüber einer Spielzeugpuppe verhielt, später schon etwas weniger, beim Lernen durch Beobach-
selbst aggressiver mit ihren Spielsachen umgin- tung spielt die Umwelt die wichtigste Rolle als Agent
gen. Das imitierte Verhalten muss nicht selbst ver- der Verhaltenssteuerung. Demgegenüber betont das
stärkt werden, es genügt, wenn das Modell vom Lernen durch Eigensteuerung die Fähigkeit des
Lernenden positiv bewertet (z. B. ein Jugendidol) Menschen, sein Verhalten selbst zu steuern, indem
oder für sein Verhalten belohnt wird (stellvertre- er sich ein Ziel setzt und sich selbst belohnt, wenn
tende Verstärkung). Viele gesundheitsschädigende er das Ziel erreicht hat. Diese Selbstverstärkung
Verhaltensweisen werden von Modellen übernom- kann eine materielle Belohnung sein, wie Süßigkei-
men, z. B. Zigarettenrauchen bei Jugendlichen, die ten, ins Kino gehen etc., die man sich gönnt, wenn
sich an den beliebtesten Mitgliedern ihrer Peer- man beispielsweise beim Lernen auf eine Prüfung
group orientieren. Hier setzen Präventionspro- das Pensum eines Tages geschafft hat. Es kann aber
gramme an, in denen gesundheitsförderliches Ver- auch einfach das angenehme Gefühl der Zufrieden-
halten von Modellen mit hohem Prestige (z. B. heit sein. Da innere, kognitive Prozesse wie Ziele,
Medienstars) propagiert wird. In der Medizin ist Erwartungen und Bewertungen hierbei eine große
ein Zigaretten rauchender Arzt sicher kein gutes Rolle spielen, kann dieses Lernmodell den kogniti-
Modell. ven Modellen zugerechnet werden. In 7 Abschn. 2.1
In der Verhaltenstherapie wird Modelllernen waren als Anwendungsbeispiele die kognitive Ver-
beim Rollenspiel, z. B. im Rahmen der kognitiven haltenstherapie der Panikstörung und der Depres-
Therapie einer Depression oder bei einem Selbst- sion skizziert worden. Lernen durch Eigensteuerung
sicherheitstraining eingesetzt. Der Therapeut fun- findet auch in verhaltensmedizinischen Schulungs-
giert dabei als Modell. Er macht dem Patienten vor, programmen statt, in denen Patienten lernen, ei-
wie man sich in einer bestimmten Situation sicher genverantwortlich mit ihrer chronischen Krankheit
und kompetent verhält, und der Patient führt dann umzugehen (Selbstmanagement; 7 Abschn. 8.1.3).
4.3 · Kognition
119 4
4.2.9 Lernen durch Einsicht Bewertungen, Interpretationen, Gedächtnis
und andere intellektuelle Leistungen. Hierbei
Lernen durch Einsicht gehört ebenfalls zu den können unbewusste, automatische und be-
kognitiven Modellen. Hier geht es darum, die inne- wusste, kontrollierte Prozesse unterschieden
re Struktur eines Problems zu erkennen und durch werden. Die Informationsverarbeitung er-
Nachdenken die Lösung zu finden, die sich dann folgt großenteils unbewusst und parallel.
mit einem »Aha-Erlebnis« einstellt. Lernen durch
Einsicht ist Anwendung der fluiden Intelligenz
(7 Abschn. 4.3.6). Eine neue, komplexe Situation 4.3.1 Neuropsychobiologische
erfordert eine sinnvolle Lösung, die nicht allein Grundlagen
durch einfache Strategien wie Versuch und Irrtum der Informationsverarbeitung
zu finden ist. Vielmehr ist ein Erkenntnispro-
zess  notwendig, der eine neue Qualität des Ver- Automatische Informationsverarbeitung In jeder
stehens mit sich bringt: Verständnis des Sinns Sekunde nimmt das menschliche Gehirn 11 Mio.
statt bloßem Auswendiglernen. Dieser Suchprozess Einheiten an Information auf, davon allein 10 Mio.
wird durch rigide Routinen eher behindert. Als Signale der Netzhaut. Das Gehirn ist jedoch nur in
negativer Transfer wird die Anwendung einer der Lage, maximal 4 Informationseinheiten pro
früher bewährten Problemlösungsstrategie auf eine Sekunde bewusst zu verarbeiten. Es wäre eine gigan-
neue Situation bezeichnet, für die sie nicht geeig- tische Verschwendung, wenn die übrigen Signale
net ist. ungenutzt blieben. Dies ist aber nicht der Fall: Der
Rest wird automatisch und unbewusst verarbeitet.
i Vertiefen
Ein einfaches Beispiel ist die Abstimmung von
Lefrancois G (2014) Psychologie des Lernens.
Schrittgröße, Körperhaltung und Bewegungen
5. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch)
beim Anstieg auf einen Hügel. All dies geschieht
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch
ohne bewusste Steuerung. Befragt man Personen
der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin
hingegen nach ihrem bewussten Urteil über Länge
(stellt die Anwendung der Lernpsychologie auf
und Steilheit der zu gehenden Strecke, so überschät-
die Psychotherapie dar)
zen sie üblicherweise die Steile und unterschätzen
die Länge. Zum Glück hängt unsere Leistungsfähig-
keit beim Abschätzen dieser Parameter beim Gehen
4.3 Kognition nicht von unserem bewussten Urteil ab, sondern
erfolgt sehr effizient unbewusst. Ein anderes Bei-
H. Faller spiel ist die Propriozeption: Ohne diese unbewusst
ablaufende Sinnesempfindung würde die Abstim-
Lernziele mung aller unserer Bewegungen und der Körper-
Der Leser soll haltung eine große, kontinuierliche Anstrengung
5 unbewusste und bewusste kognitive Verarbei- und Konzentration erfordern, die es uns unmöglich
tung unterscheiden können, machen würden, gleichzeitig mit dem Stehen oder
5 Sprachstörungen beschreiben können, Gehen noch irgendetwas anderes zu tun oder zu
5 Formen des Gedächtnisses unterscheiden denken. Sobald eine Steuerung von Bewegungen
können, auf Sicht nicht mehr möglich wäre, z. B. wenn wir
5 Einflussfaktoren auf und Folgen von Intelligenz das Licht ausschalten, würden wir rettungslos hin-
benennen können. stürzen. So jedenfalls passiert es Patienten, bei
denen wegen einer neurologischen Erkrankung die
> Kognition heißt, vereinfacht gesagt, Denken. Propriozeption ausfällt. Aber nicht nur die Bewe-
Unter Kognition werden unterschiedliche ge- gungssteuerung erfolgt größtenteils automatisiert,
dankliche Informationsverarbeitungsprozes- sondern auch Situationsbewertungen, insbesondere
se zusammengefasst, wie Wahrnehmungen, Interaktionen mit anderen Personen.
120 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Diejenige Information, die nicht ins Bewusst- Klinik: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-


sein vordringt, wird keinesfalls einfach ungeprüft Störung (ADHS)
ausgefiltert, sondern zuvor einer unbewussten Ana- Diese Störung tritt vor allem bei Jungen im Grund-
lyse unterzogen wird. Wie eine Internet-Suchma- schulalter auf. Symptome sind:
schine, die Millionen von Dateien scannt, entschei- 4 Mangelnde Aufmerksamkeit: Die Kinder sind
det diese Analyse darüber, ob ein Reiz weitergeleitet unkonzentriert, machen viele Flüchtigkeitsfehler,
wird oder nicht. Schon im sensorischen Speicher bleiben nicht bei der Sache, hören nicht zu.
(7 Abschn. 4.3.3), der zwar viel Information enthält, 4 Hyperaktivität und Impulsivität: Sie zappeln
4 sie aber nur für ganz kurze Zeit zur Verfügung hat, herum, können nicht sitzen bleiben, laufen um-
erfolgt die Mustererkennung der ankommenden her, sind immer auf Achse. Sie platzen mit ihren
Reize. Passt das Muster zu einem schon vorhande- Antworten heraus, unterbrechen andere und
nen Schema, wird eine entsprechende Reaktion können nicht warten, bis sie an der Reihe sind.
automatisch ausgelöst. Eine erste unbewusste emo-
tionale Bewertung der Information wird zudem Wegen ihrer Lernschwierigkeiten brechen diese
vom limbischen System durchgeführt. Kinder häufig die Schule ab. Schon im Säuglingsalter
fielen sie oft als schwierige Babys (»Schreibabys«) auf.
Aufmerksamkeit Bewusste Informationsverarbei- Die ADHS ist ein Risikofaktor für eine antisoziale Per-
tung baut immer auf unbewusster Informations- sönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter. Oft schi-
verarbeitung auf. Sie setzt erst dann ein, wenn neue kanieren die Kinder ihre Umwelt und werden später
oder komplexe Information auftritt, die neue oder gewalttätig. Genetische Faktoren (Erblichkeit 80 %)
komplexe Handlungspläne erfordert. Dann wird sowie vorgeburtliche (Alkohol, Nikotin, Drogenge-
auf die ankommende Information kontrollierte brauch der Mutter) und geburtliche Schädigungen
Aufmerksamkeit gerichtet (im Gegensatz zur schon werden als Ursache angesehen, aber auch das Erzie-
vorher vorhandenen automatischen Aufmerksam- hungsverhalten der Eltern spielt möglicherweise
keit). Das bewusste Aufmerksamkeitssystem erfor- eine Rolle. Wahrscheinlich liegt eine Funktionsstörung
dert Ressourcen, deren Kapazität begrenzt ist (limi- in denjenigen Hirnregionen zugrunde, die für die
tiertes Kapazitäts-Kontroll-System, LCCS). Dieses Handlungskontrolle zuständig sind. Dort besteht eine
System der Aufmerksamkeit ist sowohl für die Störung des Dopamin- und Serotoninstoffwechsels.
Daueraufmerksamkeit (Vigilanz) wie auch für die Ein Überschuss an Dopamin ist für die Hyperaktivität
nur auf bestimmte Reize gerichtete, selektive Auf- verantwortlich, ein Mangel an Serotonin für die ge-
merksamkeit verantwortlich. Die bewusste Infor- ringe Frustrationstoleranz und die Unfähigkeit, sich
mationsverarbeitung erfolgt im Arbeitsgedächtnis beruhigen zu lassen. Ein Allel des Dopamintranspor-
(Kurzzeitgedächtnis; 7 Abschn. 4.3.3). Zudem erfol- ter-Gens erhöht die Disposition, Symptome einer
gen ständig Vergleiche mit den im Langzeitgedächt- ADHS zu entwickeln. Wenn zusätzlich ungünstige fa-
nis gespeicherten Erfahrungen. Die Instanzen, die miliäre Bedingungen vorliegen (die ebenfalls gene-
über die Lenkung der Aufmerksamkeit entschei- tisch vermittelt sein können), zeigen die Träger dieses
den, liegen im präfrontalen Kortex und im Gyrus Allels mehr Symptome der Aufmerksamkeitsstörung
cinguli. Diese Hirnstrukturen erhalten Information und Impulsivität als die Träger anderer Allele dieses
aus dem inferior-parietalen Assoziationskortex, wo Gens. Die ADHS wird mit Stimulanzien (Methylphe-
der Vergleich der ankommen Information mit nidat) und Verhaltenstherapie unter Einbezug der
schon vorhandenen Schemata erfolgt, und aus dem Familie behandelt. Unter Stimulanzientherapie ver-
limbischen System, wo die ankommenden Reize mindert sich die Anzahl der Dopamintransporter im
nach ihrer emotionalen und motivationalen Be- Striatum. Die Abgabe von Dopamin in den synapti-
deutung bewertet werden. schen Spalt wird reduziert, so dass sich der Dopamin-
stoffwechsel normalisiert.

Unbewusste Verhaltenssteuerung Bewusste, kon-


trollierte kognitive Verarbeitung ist eine begrenzte
4.3 · Kognition
121 4
Ressource, die nur wenn unbedingt notwendig ein-
. Tab. 4.1 Bewusste und unbewusste kognitive
gesetzt wird. Dies gilt für schätzungsweise 5 % der Verarbeitung
Entscheidungen, die wir im Laufe eines Tages tref-
fen. Nicht nur in Gefahrsituationen, in denen Effi- Unbewusste kognitive Bewusste kognitive
zienz und Geschwindigkeit besonders wichtig sind, Verarbeitung Verarbeitung
auch im Alltag nehmen wir kontinuierlich unbe-
Automatisch Kontrolliert, absichtlich
wusste Bewertungen der Situationen vor, in denen
wir uns befinden, und diese Bewertungen steuern Schnell Langsam
unser Handeln. Dieses unbewusste Bewertungs-
Scannt und bewertet Setzt nur dann ein, wenn
system kann man mit der Autopilot-Funktion eines kontinuierlich die neue Entscheidungen
Flugzeugs vergleichen. Es ermöglicht uns, effektiv aus der Umgebung getroffen werden müssen
die eingehende Information zu analysieren und kommende Information
unser Verhalten entsprechend anzupassen, ohne
Subliminale Wahr- Erfordert Aufmerksamkeit
dass hierfür bewusste Überlegungen notwendig nehmung, Priming
wären.
Wir beobachten und bewerten zum Beispiel das Handlungsroutinen Exekutive Funktionen,
neue Handlungen
Verhalten anderer Menschen kontinuierlich, gewin-
nen einen Eindruck von ihren Gefühlen und ihrer Große Kapazität Begrenzte Ressourcen
Persönlichkeit und orientieren unser eigenes Ver-
Ohne Anstrengung/ Anstrengend
halten daran. Wie anstrengend es wäre, alle diese
mit Leichtigkeit
Bewertungen bewusst vorzunehmen, kann man aus
den Berichten autistischer Menschen entnehmen, Lokalisation: Arbeitsgedächtnis (präfrontaler Kortex)
denen eine solche automatische Interpretation der
Intentionen anderer Menschen nicht gelingt, so dass
sie jede verbale und nonverbale Äußerung eines
Gegenübers einer bewussten kognitiven Analyse ständen auswählen, die alle mit unterschiedlichen
unterziehen müssen. Unser automatischer erster Vor- und Nachteilen behaftet sind. Man würde nun
Eindruck ist zudem meist genauer, als wenn wir annehmen, dass man die beste Entscheidung trifft,
lange überlegen würden. Auch die Verhaltenssteue- wenn man für jeden Gegenstand die Vor- und
rung muss nicht bewusst und absichtlich geleistet Nachteile anhand eines Kriterienkatalogs auflistet,
werden. Wenn ein globales Ziel, z. B. Leistung zu sie gewichtet, eine Summe bildet und auf diese
erbringen, erst einmal aktiviert ist, wird die Ziel- Weise zu einem rationalen Gesamturteil kommt.
erreichung automatisch gesteuert. Dieses Phänomen Dies funktioniert aber nicht so gut, wie man meinen
lässt sich in Priming-Experimenten nachweisen, in könnte, weil unser rationales Entscheidungssystem
denen bei den Versuchspersonen das Leistungs- damit überfordert ist. Experimente haben etwas
motiv aktiviert wurde, ohne dass sie das merken anderes gezeigt: Die besten Entscheidungen trafen
konnten, mit der Folge, dass sie intensiver und diejenigen Teilnehmer, die sich eine Zeitlang nicht
ausdauernder an ihren Aufgaben arbeiteten. Die un- bewusst mit dem Problem befassten, weil sie durch
bewussten, automatischen kognitiven Prozesse ge- eine andere Aufgabe abgelenkt wurden. Während-
schehen absichtslos, ohne Anstrengung, sehr schnell dessen hat ihr Gehirn die vorliegenden Informa-
und mit großer Kapazität. Bewusste kognitive Pro- tionen selbständig weiterverarbeitet und integriert.
zesse setzen eine Absicht voraus, kosten Anstren- Sie mussten sich dann nur noch auf das verlassen,
gung und können stärker kontrolliert werden. Beide was ihnen intuitiv als die beste Lösung vorkam.
Prozesse finden im Arbeitsgedächtnis statt, das im Deshalb ist es manchmal auch hilfreich, wichtige
präfrontalen Kortex lokalisiert ist (. Tab. 4.1). Entscheidungen erst noch einmal zu überschlafen.
Am nächsten Morgen fällt einem die Wahl dann oft
Unbewusstes Problemlösen Stellen Sie sich vor, Sie leicht. Dies ist auch der Grund dafür, dass Wissen-
müssen zwischen mehreren komplexen Gegen- schaftler immer wieder berichten, dass ihnen die
122 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Lösung eines schwierigen Problems beim morgend- (Perseveration). Beim Stroop-Test werden den
lichen Aufwachen (oder unter der Dusche) einge- Probanden Wörter (z. B. das Wort »blau«) präsen-
fallen ist. tiert, die in unterschiedlichen Farben (z. B. in rot)
geschrieben sind, und sie müssen möglichst schnell
Klinik: Hemineglekt die Druckfarbe (also rot) benennen, ohne sich vom
Eine Störung der räumlichen Aufmerksamkeit liegt Inhalt des Worts (also »blau«) ablenken zu lassen
wahrscheinlich einem Phänomen zugrunde, das (Interferenz). Damit kann man prüfen, inwieweit
man bei manchen Schlaganfallpatienten findet: Sie es Probanden gelingt, hoch automatisierte Hand-
4 ignorieren die gelähmte Körperhälfte vollständig, lungen wie das Lesen zu unterdrücken (und statt-
so als wäre sie nicht mehr vorhanden. Da sich die dessen die Druckfarbe eines Wortes zu benennen).
Aufmerksamkeit nicht von der gesunden Körperseite Die exekutiven Funktionen sind im lateralen prä-
löst und auf die gelähmte Seite richtet, wird diese frontalen Kortex (PFC) angesiedelt. Innerhalb des
auch nicht bewusst wahrgenommen. Ein solcher lateralen PFC und zwischen linker und rechter
kontralateraler Neglekt tritt vor allem nach Läsionen Hemisphäre gibt es eine gewisse funktionale Spe-
des rechten unteren Parietallappens auf. Objekte, die zialisierung. So hat beispielsweise der linke dorso-
auf der Neglekt-Seite dargeboten werden, werden laterale PFC eine besondere Bedeutung für die
zwar nicht bewusst wahrgenommen, unbewusst Auswahl von Handlungen. Bei der Entdeckung von
aber schon. Dies kann man daran ablesen, dass ähn- Handlungskonflikten, Fehlern oder anderen nega-
liche Objekte, die anschließend auf der Nicht- tiven Konsequenzen ist der anteriore zinguläre Kor-
Neglekt-Seite präsentiert werden, schneller erkannt tex beteiligt.
werden. Die Wahrnehmungsleistung wurde also Man darf sich den PFC jedoch nicht als eine Art
durch die vorangegangene, nicht bewusste Wahr- von Homunculus, als kleinen Mann im Gehirn,
nehmung gefördert (Priming). vorstellen, der unser Handeln steuert. Welche
Handlungen wir auswählen, hängt davon ab, welche
Exekutive Funktionen Funktionen der Steuerung, Ziele gerade aktiviert sind, wie diese mit anderen,
Koordination und Kontrolle kognitiver Prozesse konkurrierenden Zielen interagieren, welche Mo-
werden als exekutive Funktionen bezeichnet. Diese tive am stärksten sind, welche Einflüsse Umweltan-
kommen in neuen oder komplexen Situationen reize ausüben etc., und das alles vor dem Hinter-
zum Einsatz, wenn Handlungsstrategien geplant, grund der Persönlichkeit und Lerngeschichte. Dies
Entscheidungen getroffen, Fehler korrigiert oder ist ein Prozess von hoher Komplexität, an dem viele
habituelle Reaktionsweisen überwunden werden Hirnregionen und -netzwerke beteiligt sind.
müssen. Die Leistung der exekutiven Funktionen
kann mit Hilfe von Tests beurteilt werden, in denen Subliminale Wahrnehmung Unter subliminaler
derartige Situationen simuliert werden. Beispiele: Wahrnehmung versteht man die Wahrnehmung von
Im Tower-of-London-Test, der die Handlungspla- Reizen, die unterhalb der Schwelle für bewusste
nung erfasst, müssen die Probanden unterschied- Wahrnehmung liegen. Die Wirkung der sublimi-
liche Kugeln, die auf Stäben in mehreren Stapeln nalen Wahrnehmung lässt sich experimentell nach-
(Türmen) in einer bestimmten Weise aufgeschichtet weisen. In diesen Experimenten werden beispiels-
sind, über möglichst wenige Zwischenschritte in weise Wörter nur sehr kurz (wenige Millisekunden)
eine vorgegebene neue Anordnung überführen. präsentiert und danach durch andere Stimuli über-
Beim Wisconsin-Card-Sorting-Test müssen sie deckt (maskiert), so dass sie nicht bewusst wahr-
Spielkarten nach einem bestimmten Prinzip sortie- genommen werden. Eine Auswirkung auf das Ver-
ren (entweder nach der Farbe, Form oder Anzahl halten haben sie trotzdem. Beispiele: Präsentiert
der Symbole), wobei sich das Prinzip ohne ihr Wis- man den Versuchspersonen subliminal den Begriff
sen ändert und sie möglichst schnell ihre Strategie »höflich«, so trauen sie sich anschließend nicht,
der Änderung anpassen müssen. Patienten mit Menschen auf dem Flur in deren Unterhaltung zu
einer Schädigung im dorsolateralen präfrontalen unterbrechen, um ihnen eine Frage zu stellen. Wenn
Kortex fällt es schwer, ihre Strategie umzustellen man subliminal das Wort »feindlich« präsentiert,
4.3 · Kognition
123 4
0,35
Schlangen
Hautleitfähigkeitsreaktion 0,3 Spinnen
0,25 Blumen
Pilze
0,2

0,15

0,1

0,05

0
Schlangen- Spinnen- Kontroll-
phobiker phobiker probanden

. Abb. 4.3 Hautleitfähigkeitsreaktionen bei subliminaler Wahrnehmung phobiespezifischer Stimuli. (Mod. nach Öhman u.
Soares 1994)

wird das Verhalten anderer negativer bewertet. Prä- Primat des Affekts Gefühle treten häufig schon vor
sentiert man subliminal »alt«, so gehen die Ver- der bewussten Wahrnehmung einer Situation auf.
suchspersonen anschließend langsamer und ge- In einer Schrecksituation, wenn mir z. B. auf der
beugter über den Gang. Spinnenphobiker, denen Autobahn im Bereich einer Baustelle auf meiner
man subliminal Bilder von Spinnen zeigt, reagieren Spur ein anderes Fahrzeug entgegenkommt, han-
mit physiologischen Angstindikatoren (Änderung dele ich sofort und ziehe das Lenkrad nach rechts,
der Hautleitfähigkeit), ohne dass sie den Grund da- möglichst ohne mit dem auf der rechten Spur fah-
für nennen können (. Abb. 4.3). Selbst einfache renden LKW zu kollidieren. Erst nachher wird mir
quantitative Beurteilungen sind unbewusst möglich: bewusst, in welcher Gefahr ich mich befand. Dieses
In einem Experiment konnten die Teilnehmer Prinzip »erst handeln, dann denken« ist evolutionär
Geld erhalten, wenn sie einen Hebel möglichst fest sinnvoll, weil eine bewusste Analyse in dieser Situa-
drückten, nachdem ihnen unterschwellig eine tion zu lange dauern würde, als dass eine rechtzeiti-
Münze präsentierte wurde. Je nach dem Wert der ge Antwort auf die Gefahr möglich wäre. Sinnes-
Münze, den die Teilnehmer wegen der kurzen Zeit reize werden deshalb schnell und direkt an Gehirn-
und der Maskierung gar nicht bewusst wahrnehmen zentren weitergeleitet, die für die emotionale Be-
konnten, fiel der Händedruck dennoch unterschied- wertung zuständig sind (Amygdala) und kommen
lich stark aus: Für wertvollere Münzen wurde stärker auf einem langsameren Weg erst etwas später im
gedrückt. Großhirn an, wo die bewusste Verarbeitung statt-
Durch subliminal präsentierte ängstliche Ge- findet. Die Hirnzentren, die die emotionale Verar-
sichter lässt sich genauso eine Amygdalaaktivierung beitung steuern, sind evolutionsgeschichtlich älter
auslösen wie durch bewusst wahrgenommene Ge- als diejenigen Zentren, die die kognitive Analyse
sichter. Auch zum Nachweis rassistischer Stereotype durchführen (7 Abschn. 4.4). Sie stellen ein Früh-
und ihrer Verhaltensauswirkungen wurden Expe- warnsystem dar, das sofort vegetative und verhal-
rimente mit subliminalen Reizen verwandt. Dass in tensmäßige Reaktionen auslöst, um Kampf oder
Werbespots versteckte subliminale Botschaften das Flucht zu ermöglichen (fight/flight). Obwohl die
spontane Kaufverhalten beeinflussen, wurde zwar meisten Gefahrensituationen aus der Frühzeit des
noch nicht nachgewiesen, ist aber durchaus denk- Menschen, wie Angriffe wilder Tiere, in der moder-
bar. Allerdings halten subliminale Effekte nur sehr nen Zivilisation nicht mehr vorkommen, hat sich
kurz an und sind schwächer als Effekte bewusster doch dieses Frühwarnsystem erhalten. Wird es
Wahrnehmung. kontinuierlich aktiviert, wie unter chronischem
124 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Stress oder bei einer Depression, kann es schädliche Eine Schädigung der ventralen Bahn in einer
körperliche Effekte haben und zur Entstehung von als fusiformes Gesichtsareal (fusiform face area)
Krankheiten beitragen. bezeichneten Region führt zu Prosopagnosie, der
Unfähigkeit, unterschiedliche Gesichter zu erken-
Biologische Grundlagen der Wahrnehmung Im nen. Unbewusst reagieren betroffene Personen
visuellen System existieren multiple Hierarchien, jedoch durchaus, was man an der stärkeren physio-
durch welche Informationen in immer komplexerer logischen Reaktion bei vertrauten Gesichtern ab-
und abstrakterer Form verarbeitet werden. Schon lesen kann. Sie interagieren also mit den Gesichtern
4 auf der Ebene der individuellen Nervenzelle gibt (dorsale Bahn), auch wenn das bewusste Erkennen
es Spezialisierungen: Manche Zellen sind auf be- (ventrale Bahn) nicht möglich ist. Eine zur fusiform
stimmte Reizeigenschaften spezialisiert wie z. B. face area analoge Region, die speziell bei der Wahr-
Kanten, Balken oder Bewegungen in einer be- nehmung von Körpern aktiviert ist, liegt im latera-
stimmten Richtung. Es gibt aber auch Zellen, die auf len Okzipitalkortex (extrastriate body area). Sie er-
komplexe Objekte wie Gesichter oder Hände rea- möglicht es, automatisch Bewegungen von Lebewe-
gieren. Wieder andere Zellen reagieren auf den sen zu unterscheiden von Bewegungen von physi-
Gesichtsausdruck. Je komplexer das Objekt, umso kalischen Objekten.
mehr Neuronen oder Neuronengruppen müssen
zusammenwirken. Schon das neugeborene visuelle Wahrnehmung als aktiver Prozess Die Wahrneh-
System enthält ein beachtliches Maß an Integration. mung ist ein aktiver Prozess, keine bloße Wider-
Für die Aufrechterhaltung und Feinabstimmung spiegelung der Dinge in der Außenwelt. Die Zahl
dieser Ordnung sind aber visuelle Erfahrungen der Verbindungen der Hirnzellen untereinander
nötig. Im Laufe der Gehirnentwicklung werden vie- ist 100.000-mal größer als die Zahl der Eingänge
le Verbindungen, die angelegt sind, wieder aufge- von außen. Dies deutet darauf hin, dass die In-
geben, wenn sie nicht gebraucht werden, d. h. keine formationsvermittlung innerhalb des Gehirns eine
Stimulation erfahren. Diejenigen neuronalen Netz- viel größere Rolle spielt als der von den Sinnes-
werke, die durch Umwelteindrücke stimuliert wer- zellen geleistete Input. Die Ergebnisse des Wahr-
den, werden hingegen verstärkt. nehmungsprozesses stellen ausschnitthafte, vom
Visuelle Information wird aus dem primären Gehirn bearbeitete Repräsentationen der Welt dar:
visuellen Kortex auf 2 Pfaden weitergeleitet: dem Der Wahrnehmungsprozess greift dasjenige heraus,
dorsalen und dem ventralen Pfad. Der dorsale Pfad was für das Überleben wichtig ist. Wahrnehmung
läuft zum posterioren Parietalkortex, der ventrale muss nicht die Wirklichkeit objektiv wiedergeben.
zum inferotemporalen Kortex. Der dorsale Pfad Sie ist vielmehr dann »zutreffend«, wenn das aus ihr
leitet Information darüber weiter, »wo« sich ein Ob- folgende Verhalten gegenüber der Umwelt ange-
jekt befindet, der ventrale, um »was« für ein Objekt messen ist. Weil sie sich über lange Zeit im Verlauf
es sich handelt. Dementsprechend scheinen die bei- der Evolution herausgebildet hat, arbeitet sie so zu-
den Pfade unterschiedliche Funktionen zu repräsen- verlässig. Wahrnehmungsergebnisse sind also nicht
tieren, nämlich Verhaltenskontrolle (Wo-Pfad) und direkte Folge der physikalischen Reize der Um-
bewusste Wahrnehmung (Was-Pfad). Personen mit gebung, sondern Ergebnis von Berechnungen in
einer bilateralen Läsion der ventralen Bahn haben neuronalen Netzwerken. Da diese in verlässlicher
keine bewusste Wahrnehmung von Objekten mehr, Weise immer wieder zustande kommen, werden sie
können aber mit den Objekten interagieren, z. B. ge- von uns jedoch für Eigenschaften der äußeren
zielt nach ihnen greifen (obwohl sie bewusst nichts Wirklichkeit gehalten.
sehen). Umgekehrt können Personen mit einer
Schädigung der dorsalen Bahn Objekte erkennen, Wahrnehmung als Hypothesenprüfung Wahrneh-
aber nicht präzise danach greifen. Da der Wo-Pfad mung ist, wie erwähnt, kein direktes Abbild der
Informationen darüber enthält, wie ich eine Hand- Wirklichkeit, sondern Hypothesenprüfung und
lung ausführen kann, wird er auch Wie-Pfad ge- Interpretation, die meist nicht bewusst verlaufen
nannt. und willkürlich wenig veränderbar sind. Beispiel:
4.3 · Kognition
125 4
Wir nehmen die Farbe einer Rose immer in gleicher 4.3.2 Sprache
Weise als »rot« wahr, obwohl die jeweiligen Wellen-
längen ja nach der Helligkeit der Umgebung (z. B. Die neuroanatomischen Grundlagen der Sprache
im Tageslicht oder in der Abenddämmerung) sehr haben sich vor etwa 100.000 Jahren herausgebildet.
unterschiedlich sein können. Bewusste Wahrneh- Schon bei Geburt ist der menschliche Organismus
mung entsteht, wenn Wahrnehmungsinformation, optimal darauf vorbereitet, Sprache zu erkennen.
die außerhalb der Großhirnrinde vorbereitet wurde, Säuglinge können z. B. schon früh Laute unterschei-
in den assoziativen Arealen des Kortex mit Informa- den. Beim Spracherwerb wird die Grammatik nicht
tionen des deklarativen Gedächtnisses verglichen als Regelwerk gelernt, sondern vermittelt sich bei-
und daraus ein sinnvoller Wahrnehmungsinhalt läufig. Da die Grundstrukturen aller (etwa 5.000)
konstruiert wird. Anschließend werden Wahrneh- Sprachen gleich sind (»Universalgrammatik«), liegt
mungsdetails hinzugenommen, ein Prozess, der es nahe, dass ein kulturübergreifendes Programm
verhältnismäßig lange dauert (300 ms bis zu 1 s bei zum Erwerb der Sprache existiert, das nur noch mit
komplexen Wahrnehmungen) und viel Energie der jeweiligen Information gefüttert werden muss.
braucht. Da sich Wahrnehmungsprozesse im indi- Dieses Programm ist neuronal verankert und er-
viduellen Leben schon sehr früh ausbilden und ver- möglicht es dem Kind, sich Sprache automatisiert
festigen, sind sie wenig veränderbar. anzueignen.
Sprachliche Kommunikation ist sequentiell: Sie
Hintergrundinformation besteht in der Verwendung einer Folge von Zeichen.
Signaturen des Bewusstseins
Dies unterscheidet sie von den Prozessen der Sin-
In jüngster Zeit ist die neurowissenschaftliche Forschung
den Mechanismen auf die Spur gekommen, mit denen das
neswahrnehmung, bei denen viele Informationen
Gehirn Bewusstsein erzeugt. Die bei subliminaler, unbewuss- (Form, Farbe, Bewegung, Intensität, Rhythmik etc.)
ter Wahrnehmung z. B. von visuell präsentierten Wörtern gleichzeitig parallel verarbeitet werden. Deshalb
ausgelöste Hirnaktivität beschränkt sich auf die Sehrinde gelingt es oft nicht, mit Sprache Wahrnehmungs-
und den Temporallappen, wo die Wörter unbewusst analy-
und emotionale Inhalte ganzheitlich wiederzu-
siert werden. Im Unterschied dazu werden bei bewusster
Wahrnehmung auch der präfrontale und der parietale Kortex
geben. Sprachliche Kommunikation kann zu einer
aktiviert. An die Stelle einer nur lokalen Aktivierung tritt eine Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten führen.
globale Aktivierung des Gehirns. Diese ist eine Alles-oder-
Nichts-Reaktion. Sobald die Schwelle zur bewussten Wahr- Sprachstörungen Wenngleich es Hirnregionen
nehmung überschritten wird, weil ein Wort lange genug prä-
gibt, die für manche Sprachfunktionen besonders
sentiert wurde, wird eine »Lawine« an Aktivierung ausgelöst,
die viele Hirnregionen ergreift. Stanislas Dehaene hat 4 Indi-
wichtig sind, so wirken doch bei der Sprache wie
katoren identifiziert, an denen man Bewusstsein erkennen auch bei anderen psychischen Funktionen mehrere
kann (»Signaturen des Bewusstsein«): Module zusammen. Die Sprachzentren sind bei den
1. eine plötzliche Aktivierung präfrontaler und parietaler allermeisten Menschen in der linken Hemisphäre
Schaltkreise,
angesiedelt (7 Abschn. 4.1.3). Das Broca-Areal im
2. eine ca. 300 ms nach dem Einsetzen des Reizes auftre-
tende P3-Welle im EEG,
Frontallappen ist für die Sprachproduktion, das
3. eine hochfrequente, synchrone Oszillation im Gamma- Wernicke-Areal im oberen Temporallappen für das
Band (>30 Hertz) über viele voneinander entfernte Hirn- Sprachverständnis wichtig. Bei Läsionen dieser
regionen, Regionen, am häufigsten durch einen Schlagfall im
4. synchrone Prozesse des Informationsaustauschs über
Versorgungsgebiet der A. cerebri media bedingt,
ferne Hirnregionen hinweg.
treten Sprachstörungen (Aphasien) auf:
Dieser Informationsaustausch erfolgt in beiden Richtungen
(bidirektional), von unten nach oben und von oben nach un-
ten: Sinneseindrücke werden von den primären sensorischen
Regionen nach oben, an den präfrontalen und parietalen
Kortex gemeldet – ihre Verarbeitung und Interpretation aber
auch von oben nach unten. An dieser Aktivierung des »glo-
balen Arbeitsbereichs« kann man bewusste Informationsver-
arbeitung erkennen.
126 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

4.3.3 Gedächtnis
Aphasien
5 Broca-Aphasie: Die Sprachproduktion ist Gedächtnis ist definiert als Speicherung von Ge-
gestört – kaum spontane Sprache, auf Auf- lerntem, um es wieder verwenden zu können. Nach
forderung langsame, angestrengte Sprache, der Dauer des Behaltens (Retention) unterscheidet
kurze Sätze, einfacher Satzbau. Phonema- man 3 Speicher.
tische Paraphasien (Auslassen oder Umstel-
len von Lauten, z. B. Beilstift statt Bleistift).
Einteilung des Gedächtnisses
4 Störung der Aussprache (Dysarthrie). Ver-
nach der Zeitdauer des Behaltens
ständnis komplexer Sätze ebenfalls gestört.
5 Sensorisches Gedächtnis (sensorischer
5 Wernicke-Aphasie: reichliche, unkontrol-
Speicher; Ultrakurzgedächtnis): Speichert
lierte Sprachproduktion (Unterschied zur
Sinnesinhalte für sehr kurze Zeit (ms)
Broca-Aphasie!). Spontansprache flüssig,
(Enkodierung). Visuelle Information: ikoni-
aber unverständlich infolge vieler phone-
scher Speicher (<1 s); akustische Informa-
matischer und semantischer Paraphasien
tion: echoischer Speicher (2 s). Lokalisation:
(Verwendung eines zwar bedeutungs-
präfrontaler Kortex, medialer Temporal-
verwandten, im jeweiligen Kontext aber
lappen (Hippocampus, parahippocampaler
falschen Wortes, z. B. Mutter statt Frau) und
Kortex).
Neologismen (Wortneubildungen). Satzbau
5 Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis:
ist gestört, Sprachverständnis erheblich
Untereinheiten: phonologische Schleife
beeinträchtigt.
(phonological loop): akustische Information;
5 Globale Aphasie: schwere, kombinierte
visuell-räumlicher Notizblock (visuo-spatial
Störung. Kaum Sprachproduktion, erheb-
sketchpad): visuelle Information; episo-
lich gestörtes Sprachverständnis.
discher Speicher (episodic buffer): Erlebnisse.
5 Amnestische Aphasie: leichtere Sprach-
Die in den Untereinheiten gespeicherte In-
störung, die durch Wortfindungsstörungen
formation wird von der zentralen Exekutive
gekennzeichnet ist.
verarbeitet. Kapazität (Gedächtnisspanne):
nach klassicher Auffassung 7±2 Informa-
tionseinheiten, nach moderner nur 4. Wie-
Eine Aphasie wird meist von entsprechenden Störun-
derholung erforderlich, Dauer der Retention
gen des Lesens (Alexie) und Schreibens (Agraphie)
ohne Wiederholung: 2 s. Lokalisation:
begleitet. Weitere neuropsychologische Störungen:
präfrontaler Kortex.
4 Apraxie ist die Unfähigkeit, eine bestimmte
5 Langzeitgedächtnis: Dauer und Kapazität
Handlung auszuführen.
unbegrenzt. Zunächst Zwischenspeiche-
4 Perseveration wird ein Symptom genannt,
rung im Hippocampus (Langzeitpotenzie-
bei dem der Betroffene ein Wort oder eine
rung, Konsolidierung). Bei Läsion des Hip-
Bewegung immer wieder wiederholt.
pocampus keine Speicherung neuer Infor-
4 Agnosie ist die Störung des Erkennens ver-
mation möglich (anterograde Amnesie).
trauter Objekte,
Endgültige Ablage im Assoziationskortex
4 Prosopagnosie des Erkennens von Gesichtern.
(synaptische Veränderungen).

Die genaue Diagnostik der genannten kognitiven


Funktionsstörungen mit Hilfe von Testbatterien ist Das Kurzzeitgedächtnis basiert auf der Stärkung
Aufgabe der Neuropsychologie. Ein neuropsycho- bestehender Verbindungen zwischen Nervenzel-
logisches Training, durch das diese Störungen ver- len, also auf Veränderungen der Funktion von Syn-
bessert werden können, ist wichtiger Bestandteil der apsen. Diese wird durch die Bildung von cAMP
neurologischen Rehabilitation nach einem Schlag- (zyklisches Adenosinmonophosphat) als second
anfall oder einer Hirnverletzung. messenger vermittelt, die mehrere Minuten anhält.
4.3 · Kognition
127 4
cAMP wiederum aktiviert eine cAMP-abhängige der Kindheit) zum Tragen. Suggestive Befragung,
Proteinkinase, die Proteine phosphoryliert und insbesondere bei Verwendung von Hypnose, kann
dadurch deren Aktivität erhöht (oder auch er- dabei zu Erinnerungsverfälschungen führen, die,
niedrigt). auch wenn sie sehr konkret ausgemalt werden, nicht
der Wahrheit entsprechen müssen. Vergessen ist
Speicherung Um vom Arbeitsgedächtnis in den möglicherweise meist durch mangelnden Zugang
Langzeitspeicher zu gelangen, muss Material mehr- zum gespeicherten Material bedingt, nicht durch
fach wiederholt werden. Aber nicht nur die reine dessen Verlust.
Häufigkeit der Wiederholung ist wichtig, sondern
> Nach den gespeicherten Inhalten unterschei-
auch die Tiefe der Verarbeitung. Durch Vernetzung
det man deklaratives (explizites, bewusstes)
können Informationen besser gespeichert werden
und prozedurales (implizites, unbewusstes)
(elaboriertes Memorieren: z. B. Einbetten von Be-
Gedächtnis.
griffen innerhalb eines theoretischen Kontexts
statt bloßem Auswendiglernen; gedankliche Ver- Auf ein separates implizites Gedächtnis stieß man,
bindung von Information mit einem bestimmten als man feststellte, dass Menschen mit einer Störung
Ort [Loci-Methode], mit einer visuellen Vorstellung des deklarativen Gedächtnisses sich zwar nicht be-
(imagery) oder von Namen mit Gesichtsmerk- wusst daran erinnern konnten, bestimmte Lernauf-
malen  der betreffenden Person). Den Prozess des gaben schon einmal geübt zu haben, aber gleich-
Übergangs vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis wohl einen klaren Lernfortschritt zeigten. Ein erster
nennt man Konsolidierung. Mehrfaches »Kreisen« Hinweis fand sich schon in einer Beobachtung eines
der Information in neuronalen Netzen führt über französischen Arztes zu Beginn des 20. Jahrhun-
Langzeitpotenzierung zu anatomischen Verän- derts, der eine Patientin mit einer Hirnschädigung
derungen, nämlich der Bildung neuer Synapsen. behandelte. Ihre Fähigkeit, neue Erinnerungen zu
Diese Strukturänderung wird u. a. über Protein- speichern, war verloren gegangen. Bei jeder Visite
kinase A vermittelt, die in den Zellkern wandert musste er sich ihr deshalb neu vorstellen, weil sie
und dort CREB (cAMP response element-binding ihn nicht wiedererkannte. An einem Tag zuckte die
protein) aktiviert: Dieses bindet an der Promotor- Patientin beim Händeschütteln zurück: Der Arzt
region von Genen und bewirkt dadurch die hatte eine Reißzwecke in der Handfläche verborgen
Genexpression und Proteinsynthese. Dadurch wer- gehalten, als er ihr guten Tag sagte. Am nächsten
den die Gedächtnisinhalte verfestigt, wenn auch Tag konnte sie sich wie üblich nicht daran erinnern,
nicht völlig: Sie können lebenslang umgebaut ihn jemals gesehen zu haben. Aber sie weigerte sich,
werden. ihm die Hand zu geben. Offensichtlich hatte sich
doch etwas in ihr Gedächtnis eingegraben, wenn
Abruf Bei jedem Abruf erfolgt eine Neueinspeiche- auch nicht auf der deklarativen, sondern der proze-
rung (Re-Enkodierung), die die Speicherung einer- duralen Ebene.
seits verfestigt, andererseits aber im gegenwärtigen Die beiden Formen des Gedächtnisses werden
Kontext und mit neuem Wissen verändert, so dass noch weiter untergliedert:
sie nicht mehr die ursprüngliche Erinnerung dar-
stellt. Auf diese Weise entsprechen unsere Erinne-
rungen schließlich mehr dem aktuellen Wunschbild Einteilung des Gedächtnisses
als dem ursprünglich Erlebten. Im Extremfall wer- nach den Gedächtnisinhalten
den Ereignisse »erinnert«, die gar nicht stattgefun- 1. Deklaratives Gedächtnis:
den haben. Solche »falschen Erinnerungen« (false – Episodisches (biographisches) Gedächt-
memories) können auch von außen induziert wer- nis: Lebensereignisse (Hippocampus,
den. Oft werden sie nachträglich mit Details aus- Frontallappen)
geschmückt, so dass sie sehr glaubwürdig wirken. – Semantisches Gedächtnis: Begriffe,
Dies kommt bei Zeugenaussagen zu lange zurück- Faktenwissen (Temporallappen)
liegenden Ereignissen (z. B. sexueller Missbrauch in
128 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

dächtnis lässt nach, die Betroffenen können keine


2. Prozedurales Gedächtnis: neue Information mehr speichern. Ihre zeitliche
– Habit-Gedächtnis: Fertigkeiten und räumliche Orientierung schwindet, sie ver-
(habits, skills) (Basalganglien, Kleinhirn, laufen sich häufig, selbst innerhalb der eigenen
motorischer Kortex) Wohnung. Schließlich erkennen die Betroffenen
– Priming-Gedächtnis (Bahnung): Lern- ihre nächsten Angehörigen nicht mehr. Im fortge-
effekte durch frühere Konfrontation mit schrittenen Stadium sind sie völlig unselbständig
dem Lerngegenstand (Temporal- und und benötigen kontinuierliche Betreuung. Zu den
4 Okzipitallappen) Störungen von Gedächtnis und Denkvermögen
kommen Störungen der Impulskontrolle und des
Sozialverhaltens hinzu. Die Pflege eines Alzheimer-
Gedächtnisstörungen Eine Gedächtnisstörung wird Kranken stellt deshalb für die Angehörigen eine
Amnesie genannt. Sie kann sich auf früher Gelerntes schwere Belastung dar.
beziehen (retrograde Amnesie, z. B. nach Gehirn-
erschütterung) oder auf neue Information (antero- Demenzformen Die häufigste Form ist die Alz-
grade Amnesie, bei Hippocampusläsion). Wenn ein heimer-Krankheit (60 %), gefolgt von der vasku-
Lernvorgang einen anderen Lernvorgang beeinträch- lären Demenz und anderen Demenzformen. Im
tigt, nennt man das Interferenz. Zwei Formen wer- Gehirn von Alzheimer-Kranken findet man sog.
den unterschieden: Amyloidplaques (Verklumpungen von Proteinen),
Aktuell Gelerntes behindert die Reproduktion deren genaue Ursache noch nicht bekannt ist. Ein
von früher Gelerntem (retroaktive Hemmung), ak- genetischer Risikofaktor ist das Apolipoprotein-E4-
tuell Gelerntes behindert zukünftiges Lernen (pro- Allel, aber wahrscheinlich nur in Kombination mit
aktive Hemmung). verhaltensabhängigen Risikofaktoren, wie man-
Das Phänomen, dass ungelöste Aufgaben beson- gelnder Bewegung und Fehlernährung. Die vasku-
ders leicht erinnert werden, heißt Zeigarnik-Effekt. läre Demenz kommt durch eine Verminderung
der Blutversorgung des Gehirns infolge von arterio-
sklerotischen Gefäßverengungen oder zahlreichen
4.3.4 Demenz Mikrohirninfarkten zustande.

Die Demenz gehört zu den häufigsten Erkrankungen Therapie Bisher gibt es noch keine wirksame The-
im Alter. Ihre Häufigkeit beträgt bei über 65-Jährigen rapie, die den fortschreitenden Abbauprozess bei
im Mittel 7,2 %. Sie ist jedoch stark altersabhängig einer Demenz aufhält. Allerdings lässt sich die Pro-
und steigt von etwa 1 % bei den 65- bis 69-Jährigen gression durch verschiedene medikamentöse und
auf etwa ein Drittel der über 90-Jährigen. In Deutsch- nichtmedikamentöse Maßnahmen verlangsamen
land gibt es derzeit etwa 1 Mio. Demenzkranke. (z. B. Acetylcholinesterasehemmer; körperliche und
Ein erhöhtes Demenzrisiko haben Personen, die geistige Aktivität). Die Überlebenszeit beträgt
eine leichte kognitive Störung (mild cognitive im- durchschnittlich 5–10 Jahre.
pairment) aufweisen. Damit sind Beeinträchtigun-
gen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Denk-
vermögen gemeint, die bedeutsam unter der alters- 4.3.5 Denken
üblichen Leistung liegen, aber keine wesentliche
Alltagseinschränkung mit sich bringen. Sie kann Grundelemente des Denkens sind Vorstellungen,
durch neuropsychologische Testung näher charak- Konzeptbildung und Problemlösung. Vorstellun-
terisiert werden und sollte abgeklärt werden, um ggf. gen sind Bilder, aber auch abstrakte Bedeutungs-
frühzeitig mit einer Therapie zu beginnen. einheiten (Propositionen). Schon die Vorstellung
einer Situation kann die entsprechenden Gefühle
Symptome Die Demenz ist durch den Abbau einschließlich vegetativer Begleiterscheinungen
intellektueller Fähigkeiten gekennzeichnet. Das Ge- oder elektromyographisch messbarer motorischer
4.3 · Kognition
129 4
Reaktionen auslösen, ohne dass es dabei zu einer 4.3.6 Intelligenz
manifesten Bewegung kommt. Vorstellungen be-
einflussen die Wahrnehmung, ohne dass uns dies
> Intelligenz kann als Fähigkeit zum Problem-
bewusst wird.
lösen definiert werden. Intelligenz ist ein
Konzeptbildung heißt Gemeinsamkeiten von
theoretisches Konzept (hypothetisches Kons-
Objekten erkennen und Oberbegriffe bilden. Sie
trukt), das aus der Leistung in Intelligenztests
erfolgt über Prototypen (z. B. Schwalbe), die den
erschlossen wird.
Inhalt einer Kategorie (z. B. Vogel) besonderes gut
darstellen. Schon unmittelbar nach der Geburt lernt Dass man den Kennwert dieser Fähigkeit als Intelli-
der Säugling sehr schnell, Wahrnehmungsobjekte genzquotienten (IQ) bezeichnet, hat historische
nach einfachen Kategorien, wie Form, Farbe etc., zu Gründe: Früher wurde Intelligenz als Quotient
unterscheiden. Es existieren hierfür vorgefertigte zwischen dem Intelligenzalter und dem Lebens-
neuronale Netzwerke, die nur noch darauf warten, alter ×100 quantifiziert. Ein Kind, das die für die
informiert zu werden. Altersgruppe der 10-Jährigen typischen Aufgaben
Bei der Problemlösung müssen die problema- löste, aber erst 8 Jahre alt war, hatte demnach einen
tische Ausgangssituation, der zu erreichende Ziel- IQ von 125. Heute bestimmt man den IQ anders:
zustand und die Handlungen (Operatoren), die zur Man summiert die richtig gelösten Testaufgaben
Zielerreichung führen, analysiert werden. Cha- und schaut, wie weit die Summe positiv oder negativ
rakteristisch für den Problemlöseprozess ist eine vom Durchschnittswert der Altersgruppe abweicht
plötzliche Einsicht (»Aha«-Erlebnis). Heuristiken (Abweichungs-IQ). Da die Testwerte normal verteilt
(Daumenregeln) werden häufiger verwendet als sind, lässt sich über das Ausmaß der Abweichung
zeitaufwändige systematische Algorithmen (7 Ab- auch die Position eines Individuums in seiner Refe-
schn. 7.2.3), vor allem, wenn das Problem nicht sehr renzgruppe bestimmen. Intelligenztests sind meist
klar definiert ist oder wichtige Information fehlt, so standardisiert, dass der Mittelwert (M) 100 und
wie dies bei diagnostischen Problemen in der Medi- die Standardabweichung (SD) 15 beträgt. Bei Nor-
zin häufig der Fall ist. Manchmal ist es geradezu malverteilung liegen in einem Bereich von M ±1 SD,
notwendig, Strategien, die sich früher als hilfreich also 100±15, d. h. in einem Bereich von 85–115,
erwiesen haben, zu verlassen, um neue Lösungs- 68 % der Personen; in einem Bereich von M ±2 SD,
möglichkeiten zu finden. also 100±30 (70–130), ca. 95 % und in einem Bereich
von M ±3 SD, also zwischen 55 und 145, ca. 99 %.
Hintergrundinformation
Framing-Effekt Intelligenz lässt sich mit Intelligenztest sehr prä-
Der Rahmen, in dem Information dargeboten wird, spielt zise messen (hohe Reliabilität). Sie weist im Laufe
eine Rolle für ihre Bewertung. Durch unterschiedliche Einbet- des Lebens eine sehr hohe Stabilität auf.
tung der Information (framing) lassen sich Entscheidungen
beeinflussen. Beispiel: Eine Behandlung geht mit einer Über-
lebensrate von 90 % und einer entsprechenden Sterberate Modelle zur Intelligenzstruktur
von 10 % einher. Stellt man den Nutzen einer Behandlung 5 Zwei-Faktoren-Modell (Spearman): Die
dar, indem man die Überlebensrate angibt, fördert man die
Leistung bei einer Testaufgabe setzt sich
Entscheidung zugunsten dieser Behandlung. Gibt man hin-
gegen die (komplementäre) Sterblichkeitsrate an, vermin- aus einem gemeinsamen Intelligenzfak-
dert man die Präferenz. Generell neigen wir nämlich dazu, tor (g) und einem für die jeweilige Aufgabe
eher defensive Entscheidungen zu treffen, um Verluste zu spezifischen Faktor (s) zusammen.
vermeiden. Ärzte sollten nach Möglichkeit beides tun, so- 5 Primärfaktorenmodell (Thurstone): Es gibt
wohl den Nutzen als auch den Schaden nennen.
eine begrenzte Zahl von relativ unabhängi-
gen Intelligenzfaktoren, die die Testleistung
bestimmen.

Aktuell werden beide Vorstellungen miteinander


kombiniert. Intelligenz ist hierarchisch struktu-
130 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

riert.  Ganz oben steht der Generalfaktor (g), der terschied zu Persönlichkeitsmerkmalen (7 Abschn.
den größten Anteil der intellektuellen Leistung er- 4.6.3) spielt bis zur Adoleszenz auch die von den
klärt. Darunter stehen mehrere Gruppenfaktoren, Mitgliedern einer Familie geteilte (und nicht nur
die diejenige Leistung in Aufgaben erklären, die die individuelle) Umwelt eine Rolle. Der Anstieg
nicht von g erklärt werden. Am spezifischsten des genetischen Einflusses mit zunehmendem Alter
schließlich sind Faktoren, die nur in einzelnen Auf- kommt wahrscheinlich durch eine aktive Gen-
gaben abgerufen werden. g ist am ehesten mit der Umwelt-Korrelation zustande (7 Abschn. 2.1.4). Da-
Geschwindigkeit elementarer Informationsverar- mit ist gemeint, dass Menschen immer mehr selbst
4 beitungsprozesse und der Kapazität des Arbeits- bestimmen, in welcher Umwelt sie leben, wäh-
gedächtnisses zu identifizieren und hat wohl eine rend der Einfluss der Eltern zurückgeht. Menschen
neurobiologische Grundlage. schaffen sich zunehmend die Umgebung, die ihren
(genetisch mitbedingten) Begabungen förder-
Formen der Intelligenz Man unterscheidet fluide lich ist.
und kristalline Intelligenz: Der Anteil der Erblichkeit unterscheidet sich
4 Fluide Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme auch je nach sozialem Status. In Familien mit
zu lösen, Schlussfolgerungen zu ziehen, hohem Status bzw. bei gut ausgebildeten Eltern lässt
komplexe Beziehungen zu erkennen und neue sich die Unterschiedlichkeit in der Intelligenz der
Situationen zu bewältigen. Kinder nahezu ausschließlich genetisch erklären. In
4 Kristalline Intelligenz ist dagegen die Fähig- Familien mit geringem sozialem Status spielt hin-
keit, Wissen zu erwerben und es auf Probleme gegen die gemeinsame (geteilte) Umwelt eine große
anzuwenden. Rolle für die Erklärung von Intelligenzunterschie-
den. Dies bedeutet, dass dieses Kinder nicht die not-
Die fluide Intelligenz ist am höchsten im jungen wendige Förderung bekommen, um ihr volles gene-
Erwachsenenalter und nimmt mit dem Alter ab. Die tisches Potenzial zu entwickeln.
kristalline Intelligenz steigt hingegen im Erwach- In vielen Ländern der Welt nimmt die durch-
senenalter an und nimmt erst spät und auch nur schnittliche Intelligenz seit Jahrzehnten konti-
langsam ab. Ein hohes Bildungsniveau und fortge- nuierlich zu. Hierfür ist vermutlich die industrielle
setzte intellektuelle Aktivitäten fördern den Erhalt Revolution verantwortlich, die zu einer besseren
der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter. Schulbildung und anspruchsvolleren Berufen ge-
führt hat, aber auch zu besseren Lebensverhält-
Genetik Intelligenz ist stark genetisch beeinflusst. nisse  für Schwangere und kleine Kinder. Längere
Adoptivgeschwister korrelieren mit ihren biologi- Schulbildung schlägt sich in höherer Intelligenz
schen Eltern höher als mit ihren Adoptiveltern, und nieder.
die Korrelation zwischen gemeinsam aufgewachse-
nen eineiigen Zwillingen ist nur unwesentlich höher Heritabilität (Erblichkeit) Unter Heritabilität ver-
als diejenige zwischen getrennt aufgewachsenen. steht man denjenigen Anteil an der Unterschied-
Die Varianz (Unterschiedlichkeit) der Individuen lichkeit von Personen in einem bestimmten Merk-
einer Population hinsichtlich des IQ lässt sich zu mal, der auf die Unterschiedlichkeit in ihren Genen
50 % durch genetische Unterschiede erklären (für zurückgeht. Quantifizierungen der Erblichkeit be-
den g-Faktor sogar 80 %). Dies gilt allerdings nur ziehen sich also immer auf eine Gruppe von Per-
bis zur Adoleszenz. Im Erwachsenenalter steigt der sonen, nicht auf die Ausprägung eines Merkmals bei
genetische Einfluss immer mehr an und beträgt im einem bestimmten Menschen. Eine Erblichkeits-
Alter von 64 Jahren 82 %. Dies zeigt sich auch darin, schätzung stellt eine Momentaufnahme einer Po-
dass die Korrelation zwischen Adoptivgeschwistern pulation zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Wenn
nach der Adoleszenz gegen Null geht, obwohl sie in sich die Zusammensetzung einer Population oder
derselben Umwelt aufgewachsen sind. auch die Umweltverhältnisse ändern, ändert sich
Der starke genetische Einfluss schließt nicht auch die Erblichkeitsschätzung. Nehmen wir ein-
aus, dass Intelligenz gefördert werden kann. Im Un- mal an, alle Menschen würden im Schulunterricht
4.4 · Emotion
131 4
die optimale Förderung für die Entwicklung ihrer Sie werden durch Geschlechtsstereotype verstärkt.
Anlagen erhalten, dann würden auftretende Unter- Sie treten dann besonders stark auf, wenn man
schiede in der intellektuellen Leistung allein auf Mädchen und Jungen vor der Testung in Erinne-
genetische Unterschiede zurückgeführt werden rung ruft, dass sie Mädchen bzw. Jungen sind.
können. Erblichkeitsschätzungen gelten auch nur
innerhalb einer Population, nicht für den Vergleich Intelligenz und Mortalität Intelligente Menschen
zwischen 2 Populationen. Auch bei einem hoch leben länger. Intelligenz sagt Gesundheit und Mor-
erblichen Merkmal können Unterschiede zwischen talität voraus, auch unabhängig vom sozialen Status.
Populationen allein durch Umwelteinflüsse bedingt Ein möglicher Mechanismus, der diesen Zusam-
sein. Hohe Erblichkeit schließt die Wirkung menhang erklären könnte, ist das Gesundheits-
von Umwelteinflüssen keineswegs aus. Psychische verhalten.
Merkmale wie Intelligenz, Persönlichkeitseigen-
i Vertiefen
schaften und psychische Störungen werden von
Asendorpf JB, Neyer JF (2012) Psychologie
vielen einzelnen Genen (und vielen Umweltfak-
der Persönlichkeit. 5. Aufl. Springer, Berlin
toren) beeinflusst. Es gibt also nicht das eine Gen
(präsentiert den aktuellen Stand der Intelligenz-
für Intelligenz, Depression usw. Jedes der einzelnen
forschung)
Gene hat für sich genommen nur einen sehr kleinen
Dehaene S (2014) Denken. Wie das Gehirn
Einfluss auf die Entwicklung des Merkmals. Es er-
Bewusstsein schafft. Knaus, München (span-
höht lediglich die Wahrscheinlichkeit für dessen
nender Einblick in die Forschung zu bewusster
Auftreten, determiniert es aber nicht. Die Zusam-
und unbewusster Informationsverarbeitung)
menhänge zwischen Genen und psychischen Merk-
Markowitsch HJ (2009) Dem Gedächtnis auf
malen sind also probabilistischer, nicht determinis-
der Spur. 3. Auflage. Wissenschaftliche Buchge-
tischer Natur.
sellschaft, Darmstadt (umfassende Darstellung
der Gedächtnisforschung)
Intelligenz und Bildungsniveau Intelligenz ist die
Ward J (2015) The student’s guide to cognitive
Fähigkeit zu höherer Bildung. Der IQ korreliert zu
neuroscience. 3. Aufl. Taylor &Francis, Oxford
r =0,70 mit dem Bildungsniveau und ebenso hoch
(gut verständliche Einführung in die kognitive
mit dem Berufsstatus. Je komplexer die Anforde-
Neurowissenschaft mit vielen Abbildungen)
rungen in einem Beruf sind, desto höher ist die
durchschnittliche Intelligenz der in diesem Beruf
tätigen Menschen. Da der sozioökonomische Status
mittels Bildung und Beruf bestimmt wird, fließen 4.4 Emotion
hier auch Intelligenzunterschiede ein. Sozialer
Status kann deshalb nicht ohne weiteres als Um- H. Faller
weltfaktor interpretiert werden, sondern stellt ge-
wissermaßen auch ein Personenmerkmal dar. Dies Lernziele
ist wichtig zu bedenken, wenn man Zusammen- Der Leser soll
hänge zwischen Sozialstatus und Krankheit inter- 5 die Komponenten einer Emotion unterscheiden
pretiert. können,
5 die primären Emotionen nennen und ihre Merk-
Intelligenz und Geschlecht Mädchen und Jungen male beschreiben können,
haben dieselbe durchschnittliche Intelligenz, bei 5 Ebenen der Emotionsverarbeitung beschreiben
Jungen ist die Streubreite aber größer. Hinsichtlich können,
Teilbereichen gibt es Geschlechtsunterschiede: 5 Funktionen von Emotionen nennen können,
Frauen sind eher besser in verbalen Fähigkeiten, 5 Wutsystem, Furchtsystem und Trennungsdistress-
Männer bei mentaler Rotation (Gegenstände ge- System beschreiben können,
danklich rotieren). Für diese Unterschiede gibt es 5 Angst, Aggression und Trauer und ihre Korrelate
vermutlich biologische und kulturelle Ursachen. beschreiben können.
132 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

4.4.1 Emotionskomponenten Freiheitsspielraum: Eine Emotion muss nicht un-


mittelbar in eine Handlung umgesetzt werden. Bei-
Emotionen werden auf der einen Seite von Affekten spiel: Wenn ich wütend bin, muss ich deshalb noch
(sehr kurze und intensive Zustände) und auf der lange nicht gleich aggressiv werden. Ich kann ver-
anderen Seite von Stimmungen (länger dauernde, suchen, meine Wut zu kontrollieren und konstruk-
weniger intensive Zustände) abgegrenzt. tiv zu verarbeiten.

Ausdruckskomponente Emotionen drücken sich in


Komponenten von Emotionen
4 5 Gefühlskomponente
Mimik, Gestik, Stimmlage und Körperhaltung aus.
Unsere Gefühle werden dadurch einem Interak-
5 Kognitive Komponente
tionspartner gezeigt, ohne dass uns dies bewusst sein
5 Motivationale Komponente
muss. Der Emotionsausdruck wird ebenso schnell
5 Ausdruckskomponente
und automatisch vom Interaktionspartner deko-
5 Neurobiologische Komponente
diert. Infolgedessen gehen soziale Interaktionen
meist ohne Anstrengung und sehr reibungslos von-
statten. Die Erkennung des emotionalen Gesichts-
Gefühlskomponente Sie beschreibt, wie sich eine ausdrucks geschieht in der Amygdala. Die Wahr-
Emotion im bewussten Erleben eines Menschen nehmung einer Emotion löst beim Wahrnehmen-
»anfühlt«. Die Gefühlskomponente ist der Intros- den in abgeschwächter Form ebenfalls diese Emo-
pektion zugänglich: Ein Mensch kann angeben, tion aus. Dies ist die Grundlage der Empathie
wie er sich fühlt, wenn man ihn danach fragt. Er (Einfühlungsvermögen).
versucht dabei, die Informationen aus den anderen
Ebenen des emotionalen Prozesses zu integrieren. Neurobiologische Komponente Hier lassen sich pe-
Gefühle müssen aber nicht unbedingt bewusst wer- riphere Korrelate von Emotionen (7 Abschn. 4.1.7,
den. Beispiel: Aus einem unerfindlichen Grund bin »Aktivierung«) und zentralnervöse Strukturen und
ich innerlich gereizt, ohne dies zu merken. Meiner Prozesse (7 Abschn. 4.4.5) unterscheiden. Die Ak-
Umgebung fällt jedoch auf, dass ich auf geringfügige tivierung des limbischen Systems (insbesondere der
Anlässe aggressiv reagiere. Amygdala) ist essentiell für die Entstehung eines
vollständigen Gefühls.
Kognitive Komponente Hier geht es um die Bewer-
tung einer Situation: Ist diese angenehm oder un-
angenehm? Ist sie neu oder vertraut? Werde ich sie 4.4.2 Primäre Emotionen
bewältigen können oder stellt sich mir ein Hinder-
nis in den Weg? In kognitiv-sozialpsychologischen
> Primäre Emotionen (Basisemotionen) sind
Theorien wurde die bewusste kognitive Bewertung
voneinander abgrenzbare Emotionen, die
als »Ursache« eines Gefühls betrachtet. Gefühle
die Grundbausteine des emotionalen Lebens
entstehen jedoch auch ohne bewusste Bewertung.
darstellen. Zu den primären Emotionen
Heute nimmt man an, dass kognitive Bewertungen
werden meist gezählt: Freude, Überraschung,
meist unbewusst erfolgen (7 Abschn. 4.3.1). Auf rein
Ärger, Ekel, Angst, Trauer, Verachtung.
kognitiver, gedanklicher Ebene ließe sich jedoch
kein Gefühl erzeugen, höchstens die Erinnerung an Der Katalog der primären Emotionen wird jedoch
ein Gefühl oder die Vorstellung davon. nicht von allen Forschern ganz einheitlich verwandt.
Sekundäre Emotionen, wie Scham, Schuldgefühle,
Motivationale Komponente Emotionszustände ha- Neid, Eifersucht, Stolz u. a., lassen sich durch Mi-
ben motivationale Auswirkungen. Sie dienen der schungen aus primären Emotionen ableiten.
Vorbereitung von Handlungen. Angst motiviert
zur Flucht, Ärger zum Angriff. Im Unterschied zu
Instinkten bieten Emotionen jedoch einen größeren
4.4 · Emotion
133 4
> Der Gesichtsausdruck spielt für die Klassifi- sind, den Mundwinkel willkürlich zu heben. Wenn
kation der primären Emotionen eine zentrale man ihnen jedoch einen Witz erzählt, können sie
Rolle. Jede primäre Emotion besitzt einen normal lachen. Gleichwohl kann man durch will-
spezifischen Gesichtsausdruck, der durch die kürliches mimisches Darstellen einer primären
Aktivierung definierter Muskelgruppen zu- Emotion auch die entsprechenden physiologischen
stande kommt und sich zuverlässig anhand Muster hervorrufen.
von Kodiersystemen klassifizieren lässt (faci-
al action coding system).
4.4.3 Emotionstheorien
Der für eine primäre Emotion spezifische Gesichts-
ausdruck ist in allen bisher untersuchten Kulturen Die Emotionstheorien unterscheiden sich darin,
gleich. Auch in nicht westlichen Kulturen erkennen wie sie den Zusammenhang zwischen den Kompo-
Menschen, denen man ein Foto mit einem lachen- nenten einer Emotion beschreiben. Alle im Folgen-
den Gesicht zeigt, dass diese Person Freude zum den vorgestellten Theorien beschreiben einen be-
Ausdruck bringt. Primäre Emotionen werden in stimmten Ausschnitt des emotionalen Prozesses
definierten Situationen ausgelöst und helfen, diese zutreffend, greifen jedoch jeweils zu kurz. Daran
Situationen zu bewältigen. Trauer signalisiert einen anschließend wird deshalb ein integratives Modell
Verlust und den Wunsch nach sozialer Bindung, vorgestellt.
Ärger signalisiert einen möglicherweise bevor-
stehenden Angriff, Angst signalisiert Bedrohung. Alltagsvorstellung Im Alltag nehmen wir an, dass
Panikgefühle können auf andere so ansteckend die Wahrnehmung und Bewertung einer Situation
wirken, dass eine Massenpanik entsteht. Eine ur- ein Gefühl auslöst und dieses wiederum den kör-
sprünglich adaptive Funktion, andere Menschen perlichen Zustand und das Verhalten beeinflusst
auf Gefahren hinzuweisen, kann dadurch dysfunk- (. Abb. 4.4). Dies ist jedoch zu einfach.
tional werden.
James-Lange-Theorie Sie vertauscht die Reihenfol-
Physiologische Muster Primäre Emotionen weisen ge der letzten beiden Komponenten (. Abb. 4.4). Sie
auch spezifische physiologische Muster auf. Diese besagt, dass durch die Wahrnehmung einer Situa-
Unterschiede sind jedoch nicht sehr stark und oft tion körperliche Veränderungen und Veränderun-
von der allgemeinen Aktivierung nur schwer abzu- gen des Verhaltens ausgelöst werden und erst infol-
grenzen. Beispiel: Angst geht stärker mit einer Er- gedessen ein Gefühl erlebt wird (»Ich bin traurig,
höhung des systolischen Blutdrucks, Wut mit einer weil ich weine«). Diese Abfolge entspricht dem Er-
Erhöhung des diastolischen Blutdrucks einher. Ne- leben in einer Situation, in der man unmittelbar auf
gative Emotionen sind generell durch stärkere vege- eine Gefahr reagiert (Beispiel: entgegenkommendes
tative Aktivierung gekennzeichnet als positive Auto auf der Autobahn), und einem erst hinterher
Emotionen. Insgesamt lassen sich die primären bewusst wird, in welcher Gefahr man schwebte,
Emotionen aber nicht allein aufgrund ihrer peri- wenn man das Herzklopfen und den Schweißaus-
pheren physiologischen Muster unterscheiden. bruch wahrnimmt. Insgesamt hat sich jedoch die
Primäre Emotionen sind angeboren und treten James-Lange-Theorie nicht als generell zutreffend
wenige Wochen bis Monate nach der Geburt spon- erwiesen. Hormonbedingte Organreaktionen sind
tan auf. Sie müssen nicht erlernt werden: Auch bei zu langsam, als dass sie eine wichtige Rolle bei der
blind geborenen Kindern ist der Gesichtsausdruck Entstehung eines Gefühls spielen könnten. Gleich-
derselbe. Die Hirnzentren, die den Gesichtsaus- wohl gehören körperliche Reaktionen natürlich
druck bei Emotionen auslösen, sind nicht identisch zum Vollbild eines Gefühls dazu.
mit denjenigen Zentren, die die willkürliche Ge-
sichtsbewegung steuern. Dies lässt sich bei Schlag- Cannon-Bard-Theorie Sie sagt aus, dass als Folge
anfallpatienten sehen, die eine halbseitige Gesichts- einer Situationswahrnehmung gleichzeitig das emo-
lähmung aufweisen, so dass sie nicht in der Lage tionale Erleben und die physiologische Erregung
134 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Alltagsvorstellung pe 3 erhielt eine pharmakologisch unwirksame Kochsalz-


lösung. Zuvor hatten die Probanden einen Fragebogen über
Wahrnehmung Gefühl physiol. Zustand/Verhalten ihre Stimmung ausgefüllt. Sie wurden anschließend gebeten,
noch etwas zu warten, bis das Experiment beginne. Im War-
tezimmer war jeweils noch eine weitere Person anwesend,
James-Lange-Theorie die anscheinend ebenfalls auf das Experiment wartete,
die aber tatsächlich ein Mitarbeiter des Versuchsleiters war.
Wahrnehmung physiol. Zustand/Verhalten Gefühl Diese Person verhielt sich entweder ausgesprochen fröhlich
oder aber verbreitete eine ärgerliche Stimmung. Nach dem
Ende der Wartezeit füllten die Probanden erneut einen Stim-
4 mungsfragebogen aus. Dann wurden sie wieder nach Hause
Cannon-Bard-Theorie
geschickt, da das Experiment an diesem Tage doch nicht
stattfinden könne. Tatsächlich ging es bei diesem Versuch
Gefühl
überhaupt nicht um Gedächtnisleistungen, sondern um die
Stimmung.
Wahrnehmung
Das Ergebnis war wie folgt: Gruppe 1 zeigte bei der 2. Mes-
sung eine Zunahme an fröhlicher bzw. ärgerlicher Stimmung
physiol. Erregung
(je nach Wartezimmerbedingung), während Gruppe 2 und 3
keine Veränderung der Stimmung bemerkten. Dieses Ergeb-
nis wurde so interpretiert: Wenn eine körperliche Erregung
Lazarus-Schachter-Theorie auftritt, für die keine Erklärung existiert (Gruppe 1, im Unter-
schied zu Gruppe 2, der die körperlichen Erregungszeichen
physiologische Erregung
als mögliche Nebenwirkungen des Medikaments angekün-
digt worden waren), suchen die Betroffenen nach einem Hin-
Gefühl
weis in ihrer Umgebung, der ihrem inneren Zustand einen
Sinn gibt. Sie lassen sich deshalb von der Stimmung in ihrer
kognitive Bewertung
Umgebung anstecken. Unspezifische Aktivierung und kogni-
tives Etikett gemeinsam machen dann ein Gefühl aus.
. Abb. 4.4 Emotionstheorien
Kritisch muss man zu diesem Experiment anmerken, dass es
sich um eine sehr unrealistische Laborsituation handelt und
man im Alltagsleben nicht von unmotivierten Adrenalin-
auftreten (. Abb. 4.4) Hier wird eine parallele Verar- stößen überfallen wird. Das schränkt den Geltungsbereich
der Lazarus-Schachter-Theorie ein.
beitung vorgeschlagen, die den wirklichen Verhält-
nissen näher kommt.
Integratives Modell In einem integrativen Modell
Lazarus-Schachter-Theorie Sie besagt, dass Gefühle können die bisher vorgestellten Emotionstheorien
dann zustande kommen, wenn eine unspezifische zusammengefasst werden (. Abb. 4.5). Ausgehend
körperliche Aktivierung mit einer kognitiven Be- von einer (unbewussten) Wahrnehmung erfolgt zu-
wertung versehen (etikettiert) wird, die der Erre- erst die Verarbeitung auf unbewusster Ebene im
gung erst eine konkrete Bedeutung gibt (. Abb. 4.4). limbischen System (Amygdala), wo die Situation
Diese Theorie basiert auf einem klassischen Experi- vorab grob geprüft und eine erste emotionale Reak-
ment von Schachter und Singer (7 Hintergrundinfor- tion generiert wird (direkter, schneller Weg). Die
mation, »Experiment von Schachter und Singer«). Verarbeitung im limbischen System geschieht
schneller als diejenige im Kortex, weil visuelle In-
Hintergrundinformation
formation über den Thalamus unter Umgehung
Experiment von Schachter und Singer
Im Experiment von Schachter und Singer wurden Versuchs-
des Kortex direkt in die Amygdala geleitet wird.
personen glauben gemacht, dass sie an einem Versuch zur Parallel, jedoch zeitlich etwas verzögert vollzieht
Prüfung der Wirkung eines Medikaments auf die Gedächt- sich die Verarbeitung im präfrontalen Kortex (PFC),
nisleistung teilnehmen würden. Die Probanden wurden in wo eine (teilweise bewusste) kognitive Analyse vor-
3 Gruppen aufgeteilt. Als vermeintlich gedächtnissteigern-
genommen wird (indirekter, langsamer Weg). Im
des Medikament erhielt Gruppe 1 Adrenalin intravenös ge-
spritzt. Gruppe 2 erhielt ebenfalls Adrenalin, dazu jedoch die
orbitofrontalen Kortex, einem Teil des PFC, werden
Information, dass dieses Medikament bestimmte Nebenwir- emotional bedeutsame Erinnerungen mit Reprä-
kungen, wie vermehrtes Herzklopfen, auslösen könne. Grup- sentationen körperlicher Zustände (somatische
4.4 · Emotion
135 4

. Abb. 4.5 Integratives Modell

Marker; »Bauchgefühle«) assoziiert. Dort wird zu- (zentraler Kern) werden über den Hypothalamus
dem Regelwissen einbezogen: »Welches Verhalten physiologische Reaktionen in Gang gesetzt und
erzeugt unter welchen Bedingungen welche Konse- auch über Striatum und Hirnstamm die Ausdrucks-
quenzen?« Die Aufgabe des präfrontalen Kortex ist komponente gesteuert. Das bewusste subjektive
es insbesondere, unangemessene Reaktionen zu Erleben (lokalisiert im Arbeitsgedächtnis) erhält
verhindern. Sekundär erhält das limbische System nun Informationen aus all den bisherigen Prozes-
dann auch Informationen aus dem Kortex, übt sen, versucht, diese zu integrieren, und kann selbst
andererseits aber auch selbst einen Einfluss auf die wiederum Wirkungen auf Ausdrucks- und phy-
kortikale Verarbeitung aus, wobei die Verbindun- siologische Komponente ausüben. Die zentralner-
gen vom limbischen System zum Kortex sehr viel vösen Strukturen dieser Verarbeitungsprozesse sind
stärker sind als umgekehrt. Von der Amygdala in . Abb. 4.6 genauer dargestellt.

Bewusste kognitive, emotionale Schnelles, explizites


und exekutive Zustände Lernen und
Umlernen
Dorsolateraler, orbitofrontaler PFC,
cingulärer, parietaler Details
und temporaler Cortex

Emotionale positive und Episodisch–autobiografisches


Langsames,
negative Konditionierung Gedächtnis, nicht emotional
implizites,
nachhaltiges
Lernen Basolaterale Amygdala, Cortex – Hippocampus
und Umlernen mesolimbisches System,
limbische thalamische Kerne, Insel

Angeborene Affektzustände

Autonomes NS, Hypothalamus, retikuläre


Formation, PAG, mesolimbisches System,
zentrale Amygdala

. Abb. 4.6 Drei Ebenen der Emotionsverarbeitung


136 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

subkortikale Zentren aktiv, während kortikale Zen-


Ebenen der Emotionsverarbeitung tren eine reduzierte Aktivität aufweisen. Bei Kogni-
5 Auf der unteren Ebene, deren Strukturen tionen hingegen sind die aktiven Areale neokortikal
angeboren sind, werden elementare Affekte lokalisiert. Die emotionale »Energie« stammt aus
und spontane Reaktionen generiert, die auf subkortikalen Prozessen, während das Objekt einer
einer unbewussten globalen Bewertung in Emotion, z. B. auf welche Person sich mein Ärger
emotional intensiven Situationen basieren. richtet, von kortikalen Prozessen festgelegt wird.
5 Auf der mittleren Ebene findet frühes emo- Auf diese Weise sind emotionale und kognitive Pro-
4 tionales Lernen statt, das die Bewertung zesse miteinander verknüpft. Emotionen erhalten
von Situationen als positiv oder negativ ihren inhaltlichen Reichtum von kognitiven Pro-
aufgrund der bisherigen Erfahrung ermög- zessen, lassen sich aber auch auf unterschiedlichen
licht. Emotionales Lernen erfolgt langsam, subkortikalen Ebenen auslösen, z. B. wenn allein
aber sehr nachhaltig. Unsere Persönlich- der Ton einer Stimme durch Konditionierungspro-
keitseigenschaften, die sich im Zusammen- zesse zum Emotionsauslöser wurde, unabhängig
spiel von Genen und Umwelterfahrungen davon, was der andere gesagt hat. Die subkortikalen
herausbilden, sind hier anzusiedeln (7 Ab- Prozesse liefern sozusagen die emotionale Energie,
schn. 4.6). Auch diese Ebene arbeitet meist die von Kognitionen genutzt und verarbeitet wer-
unbewusst und basiert auf dem impliziten, den kann. Die Amygdala ist wohl deshalb so wichtig
prozeduralen Gedächtnis (7 Abschn. 4.3.3). für die Entstehung von Emotionen, weil sie als eine
5 Die obere Ebene, die durch Erziehung und Art Interface zwischen der höheren Informations-
Umwelt beeinflusst wird, dient dem verarbeitung einerseits und der emotionalen Erre-
Abwägen und Planen in komplexen Situa- gung aus tieferen Hirnregionen, wie dem zentralen
tionen, die eine vorausschauende Per- Höhlengrau, andererseits fungiert.
spektive erfordern. Sie ist bewusstseins-
fähig und zieht das deklarative Gedächtnis
(7 Abschn. 4.3.3) heran, das vom Hippo- 4.4.4 Funktionen von Emotionen
campus organisiert wird. Ihre Hauptauf-
gabe ist es, subkortikale Impulse zu hem- Emotionen zeigen an, dass etwas für unser Wohl-
men, wenn sie unangemessen sind, oder sie befinden von großer Bedeutung ist. Sie haben sich
sich zu eigen zu machen, wenn sie als ange- während der Evolution entwickelt, damit wir rasch
messen bewertet wurden, sowie die ent- auf bedeutsame, lebenswichtige Ereignisse reagie-
sprechenden Handlungen nach außen hin ren können. Sie machen es uns möglich, wichtige
darzustellen, in Analogie zum Communiqué Entscheidungen zu treffen, ohne erst lange darüber
eines Regierungssprechers, der nachdenken zu müssen. Sie setzen ein, ohne dass
auch nicht immer weiß, auf welche Weise wir der beteiligten Prozesse gewahr werden müssen.
Beschlüsse zustande gekommen sind, sie Wir verfügen über automatische Bewertungsme-
aber der Umgebung vermitteln muss. chanismen, die unsere Umwelt unablässig durch-
Generell gilt, dass die Einflüsse von unten mustern und sofort erkennen, wenn etwas passiert,
nach oben stärker sind als diejenigen von das für unser Wohlbefinden relevant ist. Ursprüng-
oben nach unten. lich ging es dabei um Ereignisse, die überlebens-
wichtig waren. Emotionen brachten deshalb einen
Evolutionsvorteil. An diese überlebenswichtigen
Emotion und Kognition Gefühle unterscheiden sich Auslöser knüpfen sich im Laufe der Lebensge-
von Kognitionen dadurch, dass sie viel mehr Hirn- schichte für uns persönlich wichtige Emotionsaus-
systeme beanspruchen. Sie benötigen mehr Res- löser an. Diese erwerben wir in unserer individu-
sourcen als Kognitionen, weil es bei ihnen u. U. um ellen Biographie aufgrund der Erfahrungen mit
lebenswichtige Dinge geht. Wie bildgebende Ver- unseren Bezugspersonen. Emotionsauslösung und
fahren zeigen, sind bei einer Emotion weitgehend -regulation hängen von Lernerfahrungen ab. Wenn
4.4 · Emotion
137 4
eine Emotion einmal ausgelöst ist, läuft sie jedoch sich an die blauen Stapel zu halten. Wann, glauben Sie, haben
so ab, wie sie in der Evolution entstanden ist. Sie das herausgefunden? Nach ca. 50 Karten haben die meis-
ten Teilnehmer eine erste Ahnung, was vor sich geht, und
Auch wenn in jüngster Zeit durch die neurowis-
nehmen nur noch von dem blauen Stapeln. Nach ca. 80 Kar-
senschaftliche Forschung die große Bedeutung der ten haben die meisten schließlich das Prinzip des Spiels ver-
Biologie für die menschlichen Emotionen demons- standen und können erklären, warum die roten Stapel die
triert wurde, so heißt dies keinesfalls, dass Umwelt schlechtere Wahl sind. Aber, und das ist das Spannende: Die
und Erfahrung unwichtig wären. Menschen teilen Wissenschaftler haben in diesem Experiment Elektroden an
den Handflächen der Spieler befestigt, um deren Stressreak-
zwar mit anderen Säugetieren evolutionär entstan-
tion zu messen. Diese trat schon nach 10 Karten auf: Immer
dene subkortikale Prozesse, die jedoch durchaus wenn die Spieler erwogen eine rote Karte aufzunehmen,
in ihrer jeweiligen Ausprägungsstärke, auch gene- stieg die Hautleitfähigkeit an, und ebenso früh begannen sie
tisch bedingt, eine beträchtliche Variabilität zwi- auch, die blauen Karten zu bevorzugen, und nahmen immer
schen unterschiedlichen Individuen aufweisen. Was seltener rote Karten auf. Sie spielten also schon erfolgreich,
lange bevor sie überhaupt wussten, dass es eine erfolgreiche
den Menschen hingegen spezifisch auszeichnet,
Strategie gibt. Die emotionale Reaktion, die schon viel früher
sind kognitive Regulationsmöglichkeiten, durch auftrat als das bewusste Verständnis, half ihnen, ihr Handeln
die emotionale Prozesse gefiltert werden. Sie sind zu steuern und erfolgreich zu spielen.
Resultat individueller Lernerfahrungen. Schließlich Diese emotionale Reaktion fehlte jedoch bei Patienten mit
spielen auch Einflüsse der sozialen Umwelt als Aus- einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen (orbito-
frontalen) Kortex. Sie zeigten auch keine Verhaltensänderung,
löser von Emotionen eine wichtige Rolle.
nahmen immer wieder rote Karten auf, obwohl sie dabei viel
Geld verloren. Intellektuell verstanden die meisten Patienten
das Prinzip des Spiels irgendwann durchaus, aber dieses Ver-
Funktion von Emotionen
ständnis nutzte ihnen nicht viel, weil sie es nicht auf ihr eige-
Emotionen haben eine Reihe von nützlichen nes Handeln anwandten. Den Patienten war es unmöglich,
Funktionen. Sie emotionale Bewertungen von Situationen vorzunehmen und
5 lenken die Aufmerksamkeit auf bedeut- diese bei Entscheidungen einzubeziehen. Sie berücksichtig-
same Umweltreize, ten die emotionalen Konsequenzen ihrer Handlungen nicht.
Ein Zugang zu unbewussten emotionalen Bewertungen kann
5 markieren Situationen und Handlungsfol-
also die Handlungssteuerung fördern (Bechara et al. 1997).
gen nach ihrer Bedeutsamkeit (evolutionär
und persönlich),
5 können dem Verstand helfen, die richtige
4.4.5 Spezifische neurobiologische
Entscheidung zu treffen,
Emotionssysteme
5 können selbst Verhalten steuern,
5 fördern die Erinnerung.
> Emotionen sind in neuronalen Netzwerken
biologisch verankert. In bildgebenden Ver-
Emotionen verstärken die Erinnerung. Leider wer-
fahren lassen sich für Emotionen wie Traurig-
den negative Erlebnisse am besten erinnert. Dies
keit, Freude, Ärger und Furcht jeweils klar
ist jedoch evolutionär sinnvoll. Wir lernen durch
abgrenzbare Aktivitätsmuster darstellen.
unangenehme Erfahrungen und können uns, wenn
eine ähnliche Situation erneut auftritt, dann besser Jaak Panksepp hat mehrere Emotionssysteme von-
mit ihr auseinandersetzen. einander abgegrenzt, die sich im Verlauf der Evo-
lution der Säugetiere und des Menschen entwickelt
Hintergrundinformation
Iowa Gambling Task haben, um bestimmte Lebenssituationen besser
Stellen Sie sich vor, Sie sind eingeladen, bei einem einfachen bewältigen zu können. Sie organisieren das Ver-
Kartenspiel mitzumachen: Sie haben 4 Stapel Karten vor sich, halten, indem sie motorische und autonome Sub-
2 rote und 2 blaue. Sie sollen nun aus einem der Stapel eine routinen aktivieren, die sich als adaptiv in diesen
Karte ziehen, diese umdrehen und ablesen, ob Sie Geld ge-
Situationen erwiesen haben. Diese Programme
wonnen oder verloren haben. Ziel des Spiels ist es, möglichst
viel Geld zu gewinnen. Was Sie zu diesem Zeitpunkt noch werden durch entsprechende Auslöser abgerufen,
nicht wissen: Die roten Stapel sind gefährlich. Man gewinnt können aber auch direkt durch Stimulation der be-
zwar viel, verliert aber noch mehr. Auf Dauer ist es besser, treffenden Hirnregionen aktiviert werden. In dieser
138 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Taxonomie werden (neben anderen) die folgenden system entstanden, das genetisch angelegt ist. Das
emotionalen Systeme unterschieden: Furchtsystem hat die Funktion, die Wahrscheinlich-
4 Wutsystem, keit von körperlichen Verletzungen und Schmerzen
4 Furchtsystem, zu reduzieren. Es motiviert das Gefühl Angst und
4 Trennungsdistress-System. das Verhalten Flucht bzw. Angststarre. Bei seiner
Aktivierung in milderer Form verstecken sich
Wutsystem Das Wutsystem wird bei Frustrationen Tiere zunächst oder stellen sich tot, bei intensive-
und Freiheitseinschränkungen aktiviert. Frustra- rer Stimulierung fliehen sie. Die genetische Anlage
4 tion tritt auf, wenn ein Organismus nicht die Beloh- lässt sich z. B. dadurch zeigen, dass Laborratten,
nung erhält, die er erwartet. Die Aktivierung des die noch nie eine Katze gesehen haben, ängstliches
Systems durch Freiheitseinschränkungen lässt sich Verhalten zeigen, wenn man ein Katzenhaar in
schon bei Säuglingen beobachten, die wütend re- ihren Käfig legt und sie dadurch den Geruch einer
agieren, wenn man ihre Arme festhält. Das System Katze wahrnehmen. Durch Lernen können kondi-
vermittelt auf der Gefühlsebene Ärger, auf der tionierte Stimuli jedoch Zugang zu diesem System
Handlungsebene aggressives Verhalten. Kognitiv bekommen.
legt es die Beschuldigung anderer Menschen als Als Neurotransmitter spielen das exzitatorische
Ursache der Frustration nahe, wodurch die eigene Glutamat sowie eine Reihe von Neuropeptiden eine
Motivation verstärkt wird, doch noch sein Ziel zu Rolle. Hemmend wirken GABA sowie Benzodiaze-
erreichen. Selbstverständlich sind jedoch nicht pine. Lokalisiert ist das System in der zentralen und
die anderen die eigentliche Ursache der eigenen lateralen Amygdala, dem Hypothalamus und spezi-
Frustrationsgefühle, sondern sie lösen diese nur fischen Regionen des zentralen Höhlengrau. Wenn
aus. Sie triggern die bereitliegenden neuronalen man bei Menschen diese Regionen stimuliert, wer-
Netzwerke. den Furchterlebnisse berichtet, die meist meta-
Die neuronalen Netzwerke des Wutsystems sind phorisch beschrieben werden (z. B. »eine Welle
zum Großteil subkortikal angesiedelt. Homologe stürzt über mir zusammen«).
Strukturen finden sich in allen Säugetiergehirnen.
Diese umfassen als grundlegende Struktur das zen- Trennungsdistress Einsamkeit, das Fehlen von so-
trale Höhlengrau (periaquäduktales Grau, PAG), zialem Kontakt und Trennungserfahrungen gehö-
darüber Hypothalamus und Amygdala. Das System ren zu den stärksten emotionalen Belastungen. Um
ist hierarchisch organisiert, die Funktionsfähigkeit Alleinsein zu verhindern, suchen Menschen und
tieferer Regionen ist Voraussetzung für die Funk- Säugetiere nach sozialer Bindung (7 Abschn. 4.5.1).
tionsfähigkeit höherer Regionen. Das männliche Ab ungefähr einem halben Jahr, wenn das moto-
Sexualhormon Testosteron spielt in diesem System rische System sich so weit entwickelt hat, dass sich
eine wichtige Rolle. Es wird durch Erfolgserlebnisse die Säuglinge von der Mutter weg bewegen und
oder den Sieg über einen Konkurrenten stimuliert. dadurch verloren gehen können, reagieren sie mit
Östrogen und Progesteron führen dagegen zu einer Protest, Weinen und traurigen oder ängstlichen
Verminderung von Aggressivität, ebenso Sexualität Lautäußerungen, wenn sie zu lange allein gelassen
und körperliche Berührung (»make love not war«). werden. Diese Trennungsreaktionen hören sofort
Die Rückmeldung der autonomen Begleiterschei- auf, wenn die Bezugsperson wieder in der Nähe ist.
nung von Aggression (Blutdruckanstieg) moduliert Bei Trennungsschmerz sind teilweise dieselben
wiederum die Empfindlichkeit des Wutsystems. neuronalen Netzwerke aktiv, die auch bei körper-
lichem Schmerz reagieren und den emotionalen
Furchtsystem Angst ist nicht einfach die gelernte Aspekt des Schmerzes vermitteln (anteriorer zingu-
Erwartung einer Bedrohung. Die Fähigkeit, Gefah- lärer Kortex, anteriore Insel). Die Aktivierung des
ren zu antizipieren und darauf zu reagieren, ist für rechten präfrontalen Kortex wiederum hemmt so-
das Überleben zu wichtig, als dass sie den Zufällig- wohl die körperliche Schmerzempfindung als auch
keiten individuellen Lernens überlassen werden den Trennungsdistress. Die beteiligten Neurotrans-
konnte. Deshalb ist in der Evolution ein Furcht- mitter (Opioide) sind ebenfalls teilweise dieselben.
4.4 · Emotion
139 4
Auch im Erleben der Eltern wird Distress ausgelöst, schon an Brustkrebs erkrankten Patientinnen bei-
wenn sie die Schreie ihres Kindes hören, und da- spielsweise bringen Verlusterlebnisse, die im weite-
durch werden ihre Aufmerksamkeit und Sorge für ren Verlauf auftreten, keine Risikoerhöhung für ein
das Kind aktiviert. Rezidiv oder die Sterblichkeit mit sich.
Trennungsdistress kann durch ganz unter-
schiedliche Erfahrungen ausgelöst werden: Tod Lebensereignisse und Genetik Ob eine Person ein
eines geliebten Menschen, Trennung von einem belastendes Lebensereignis erleidet oder nicht, steht
Partner, Heimweh oder auch Situationen, in denen ebenfalls unter dem Einfluss der Gene. Dies gilt
man sich zurückgewiesen oder ausgeschlossen natürlich nur für Ereignisse, an deren Zustande-
fühlt. Es gibt auch eine genetische Disposition, die kommen man selbst einen Anteil hat, wie eine Schei-
einen anfällig für Trennungsschmerz wie auch für dung, nicht aber für persönlich unbeeinflussbare
körperlichen Schmerz macht. Umgekehrt vermin- Ereignisse, wie den Tod des Ehepartners infolge
dert die reale oder auch nur vorgestellte Anwesen- einer Krankheit. Selbstverständlich gibt es kein Gen
heit des Partners sozialen wie auch körperlichen für Scheidung. Aber viele Lebensereignisse werden
Schmerz und senkt die Aktivität in den genannten durch das eigene Verhalten gefördert, und dieses
Hirnregionen. Die den Trennungsdistress mildern- steht wiederum unter dem Einfluss der (auch gene-
de Wirkung sozialer Bindung wird u. a. durch Oxy- tisch verankerten) Persönlichkeit (7 Abschn. 4.6.3).
tozin vermittelt. Es ist vor allem das Persönlichkeitsmerkmal »Offen-
heit für Erfahrungen«, das hier eine Rolle spielt.
> Verlusterlebnisse können eine Depression
Positive, erwünschte Lebensereignisse werden zu-
auslösen. Sie gelten als wichtigster um-
dem von »Extraversion« gefördert, unerwünschte
weltabhängiger Risikofaktor für das Auftreten
Lebensereignisse von »Neurotizismus«. Doch selbst
einer depressiven Episode.
wenn das Lebensereignis genetisch beeinflusst ist,
kann es wiederum zu einem umweltvermittelten
Hintergrundinformation
Depression Risikofaktor werden, wenn z. B. infolge der Schei-
Die durch Verlusterlebnisse ausgelöste Depression lässt sich dung die psychische Belastung der betroffenen Kin-
auf eine evolutionär sinnvolle Reaktion zurückführen. Junge der ansteigt.
Säugetiere, die von ihren Eltern getrennt werden, reagieren
zunächst mit Protest, danach mit Verzweiflung. Sie schreien > Menschen, die in einer bestimmten Lebens-
zunächst, damit die Eltern sie finden. Die anschließende situation die Erfahrung gemacht haben, dass
Verhaltenshemmung (Depression) hat möglicherweise den sie keinen Einfluss auf ihre Umwelt ausüben
Zweck, Energie zu konservieren und nicht allzu weit wegzu-
konnten, entwickeln die Erwartung, dass dies
laufen, um nicht von Feinden entdeckt zu werden. Wenn der
erste Protest also nicht erfolgreich war, war es evolutionär auch in Zukunft gilt (gelernte Hilflosigkeit).
adaptiv, still zu warten, bis das Muttertier den verloren ge- Sie fühlen sich generell hilflos, verhalten sich
gangenen Nachwuchs eventuell doch noch findet. passiv und unternehmen nichts, um ihre
Situation zu verbessern. Dieses Gefühl der
Hilflosigkeit ist ein Risikofaktor für eine De-
Verlusterlebnisse und körperliche Krankheit Verlus-
pression.
terlebnisse erhöhen möglicherweise auch das Risiko
für somatische Krankheiten. So scheint die Wahr-
scheinlichkeit, an einer Herzkrankheit zu sterben, Gelernte Hilflosigkeit im Tierexperiment Das Kon-
nach dem Verlust des Partners erhöht zu sein. Auch zept der gelernten Hilflosigkeit beruht auf Tierexpe-
bei Krebs wurden entsprechende Befunde publi- rimenten. Hunde, die unter einer experimentellen
ziert.  Allerdings kommen die meisten Übersichts- Bedingung leicht unangenehmen Stromreizen aus-
arbeiten zu dem Schluss, dass Verlusterlebnisse das gesetzt waren, denen sie nicht entgehen konnten,
Krebsrisiko nicht verstärken, zumal in diesem For- unternahmen auch unter einer anderen Bedingung,
schungsfeld ein Publication bias festgestellt wurde: unter der sie durchaus vor dem Reiz hätten fliehen
Studien mit positivem Ergebnis werden eher publi- können, keine entsprechenden Anstrengungen und
ziert als Studien mit negativem (7 Abschn. 3.8.2). Bei ließen die Stromreize passiv über sich ergehen.
140 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

4.4.6 Spezifische Emotionen: merkmal (trait anxiety). Die dispositionelle Ängst-


Furcht und Angst lichkeit kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
Man erkennt das am jeweiligen Verhalten: Men-
Furcht und Angst sind weit verbreitete Gefühle, die schen mit einer hohen Ausprägung reagieren auf
als solche keineswegs krankhaft sein müssen. Angst bestimmte Situationen eher mit Angst als Menschen
stellt vielmehr ein Warnsignal dar und ermöglicht mit einer geringen Ausprägung. Eine hohe Ausprä-
es dem Individuum, bedrohlichen Situationen zu gung stellt einen Risikofaktor für eine Angststörung
entkommen. Ohne Angst wären wir nicht lebens- (Angst als Krankheit) dar.
4 fähig, weil wir kein Gespür für Gefahren hätten
und ihnen arglos ausgesetzt wären. Manche Men- Körperliche Angstkorrelate Angst geht auch mit
schen, wie z. B. Extremsportler, scheinen eher an zu körperlichen Empfindungen einher, die schon im
wenig als zu viel Angst zu leiden. In der deutschen Wortstamm von »Angst« (angustia, lat. Enge) an-
Sprache unterscheidet man zwischen Furcht und gedeutet sind. Manche Menschen nehmen, wenn sie
Angst. Furcht richtet sich auf ein konkretes Objekt Angst haben, vor allem diese körperlichen Emp-
der Gefahr, Angst hat keinen Gegenstand. Diese findungen wahr, nicht jedoch das Angstgefühl
Unterscheidung wird jedoch schon im Deutschen selbst. Sie missinterpretieren ihren Zustand dann
sprachlich nicht durchgehalten (»Ich habe Angst z. B. als Herzerkrankung und sind nur schwer da-
vor …«) und auch in anderen Sprachen nicht vor- von zu überzeugen, dass es sich tatsächlich um
genommen. einen Angstanfall und nicht um einen Herzanfall
handelt. In einer kardiologischen Notfallambulanz
Angst in der Medizin In der Medizin spielt die werden deshalb häufig Patienten vorstellig, die in
Angst vor diagnostischen und therapeutischen Wirklichkeit einen Panikanfall haben.
Eingriffen eine große Rolle. Häufige Ängste sind die
Angst vor einer Blutentnahme oder einer Spritze, Körperliche Beschwerden bei einer Panikattacke
Angst vor einer zahnärztlichen Behandlung, Angst 5 Herzklopfen, Herzrasen
vor Operation und Narkose. Während man früher 5 Brustschmerzen
annahm, dass ein mittleres Ausmaß an Angst die 5 Atemnot
besten Voraussetzungen für die Bewältigung belas- 5 Schwindel
tender medizinischer Maßnahmen bietet, sprechen 5 Benommenheit
die jüngsten Forschungsergebnisse dafür, dass 5 Schweißausbruch
eine geringe Angst günstiger ist als eine hohe Angst. 5 Zittern
Die Angst vor medizinischen Maßnahmen lässt 5 Übelkeit
sich durch unterschiedliche Interventionen, wie In- 5 Taubheitsgefühl
formation über die bevorstehenden Prozeduren, 5 Hitze- oder Kältegefühl
eine Vergrößerung des Entscheidungsspielraums
des Patienten und Entspannungsverfahren, abmil- Angststörungen Eine Reihe von psychischen Stö-
dern. Bei Kindern spielt die Trennungsangst eine rungen ist durch Angst als vorherrschendes Symp-
große Rolle (7 Abschn. 4.7.3). Ihr begegnet man tom charakterisiert (. Tab. 4.2).
durch die Mitaufnahme der Eltern ins Krankenhaus
(rooming-in). Bei Menschen mit schweren Erkran- Prävalenz Angststörungen sind neben der Depres-
kungen, wie einem Herzinfarkt oder Krebs, tritt sion die häufigste psychische Störung. Ihre Punkt-
nicht selten Angst vor dem Fortschreiten der Er- prävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt
krankung (Progredienzangst) und zeitweise auch 7 %, die Lebenszeitprävalenz 15 %. Die 12-Monats-
Todesangst auf (7 Abschn. 8.7.3). Prävalenz bei Patienten mit chronischen körper-
lichen Erkrankungen beträgt 18 %. Behandlungs-
State- vs. Trait-Angst Je nach der Dauer unterschei- bedürftig davon sind jedoch nur 8 %, weil viele
det man Angst als Zustand (state anxiety) und spezifische Phobien (z. B. Spinnenphobie) nicht so
Ängstlichkeit als dispositionelles Persönlichkeits- stark ausgeprägt sind, dass die Betroffenen des-
4.4 · Emotion
141 4
erlebt wird, ist individuell sehr unterschiedlich. So-
. Tab. 4.2 Angststörungen
ziales Lernen und Verstärkung aggressiven Verhal-
Panikstörung »Aus heiterem Himmel« auftretende tens, z. B. Beifall durch die Peergroup bei Jugend-
Angstanfälle lichen, spielen eine wichtige Rolle.
Generalisierte Andauernde Angst ohne konkretes
Angststörung Objekt Subtypen der Aggression Umfangreiche tierexpe-
rimentelle Forschungen legen nahe 2 Subtypen der
Agoraphobie Angst vor offenen Plätzen
(Klaustrophobie, die Angst
Aggression zu unterscheiden, deren Bedeutung für
vor geschlossenen Räumen, menschliches Verhalten allerdings noch nicht aus-
wird hierunter subsumiert) reichend untersucht wurde:
Soziale Phobie Angst vor Beschämung in sozialen 4 Beuteaggression (instrumentelle Aggression,
Situationen geplante Aggression) und
4 defensive/offensive Aggression (impulsive
Spezifische Angst vor bestimmten Objekten
(isolierte) oder Situationen, wie z. B. Spinnen- Aggression).
Phobie angst, Brückenangst u. a.
Beide Formen der Aggression dienen unterschied-
lichen Zwecken, gehen mit unterschiedlichem Ver-
halten und physiologischen Begleiterscheinungen
wegen therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen einher und sind in unterschiedlichen Hirnstruk-
würden. turen lokalisiert.
Beuteaggression tritt auf, wenn ein Tier ein
> Eine Phobie wird diagnostiziert, wenn die
Bedürfnis, z. B. Hunger, hat, das befriedigt werden
Situation, vor der sich der Betreffende fürch-
muss. Es macht sich auf die Suche nach Nahrungs-
tet, harmlos ist und die Angst demgemäß
quellen, z. B. auf die Jagd nach Beute, wenn es ein
übertrieben und der Situation unangemessen.
fleischfressendes Tier ist. Dieses explorative Ver-
halten ist methodisch und systematisch und wird als
angenehm erlebt, Vorfreude auf die Bedürfnis-
4.4.7 Spezifische Emotionen: befriedigung kommt auf. Die physiologischen Be-
Aggression gleiterscheinungen sind gering. Lokalisiert ist dieses
System im lateralen Hypothalamus, wo Dopamin
Mit Ärger/Wut bezeichnet man die primäre Emo- eine große Rolle spielt (Belohnungssystem des Ge-
tion, mit Aggressivität eine entsprechende Verhal- hirns; 7 Abschn. 4.2.6). Beim Menschen muss man
tensdisposition im Sinne eines Persönlichkeits- nach subtileren Analogien suchen. Konstruktive
merkmals, das unterschiedlich stark ausgeprägt Aggressivität und Selbstbehauptung könnten das
sein kann, und mit Aggression eine Handlung, mit entsprechende menschliche Verhalten sein, beharr-
der eine andere Person verletzt oder geschädigt lich und energisch ein Ziel verfolgen, z. B. ein Exa-
werden soll. Ärger entsteht, wenn ein Mensch daran men zu bestehen, das Studium abzuschließen oder
gehindert wird, ein Ziel zu erreichen (Frustration). eine Doktorarbeit zu schreiben.
Aggressives Handeln hat dann den Zweck, dieses Defensive/offensive Aggression zeigt sich in
Hindernis zu beseitigen (Frustrations-Aggres- einem affektiven Angriff, wenn ein Organismus
sions-Hypothese). Allerdings gibt es hier keinen frustriert oder bedroht wird. Ziel des Angriffs ist es,
Automatismus: Frustration muss keineswegs immer das Hindernis zu beseitigen oder den Angreifer
von Aggression gefolgt sein, und umgekehrt kann zu besiegen. Der emotionale Ausdruck der Wut ist
Aggression vorkommen, ohne dass eine Frustration über viele Arten hinweg sehr ähnlich (primäre
vorausging. Frustration schafft lediglich eine Be- Emotion). Sie wird von intensiven physiologischen
reitschaft zu aggressivem Handeln. Ob manifeste Korrelaten begleitet, wie Blutdruckanstieg und An-
Aggression auftritt, hängt auch von provozierenden spannung der Muskulatur. Dieser Zustand wird als
Umgebungsreizen ab. Was aber als provozierend unangenehm erlebt, man wünscht, dass er schnell
142 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

vorübergeht. Lokalisiert ist dieses System in der (»narzisstische Kränkung«; Beispiel: Amokläufer).
kortikomedialen Amygdala, dem medialen Hypo- Die Angst, verletzt und zurückgewiesen zu werden,
thalamus und dem periaquäduktalen Grau (PAG). spielt auch für die Auslösung von Gewalt in Partner-
Es ist glutamaterg, wird gefördert von Dopamin, beziehungen eine große Rolle. Männer, die ihre
Noradrenalin, Substanz P und Cholezystokinin, Frauen geschlagen haben, gaben eine große Angst
gehemmt von Opioiden, GABA und Serotonin. vor dem Verlassenwerden an, schrieben ihren Part-
Medialer Hypothalamus und PAG stimulieren sich nerinnen negative Absichten zu und litten an Eifer-
wechselseitig in einem Rückkopplungskreis, was sucht und einem unsicheren Gefühl der Verbun-
4 dazu führt, dass das System für eine gewisse Zeit denheit.
von Sekunden bis Minuten aufrechterhalten wird. Für die größere Aggressivität von Männern im
Deshalb lässt sich Ärger oft nicht so schnell abstel- Vergleich zu Frauen spielt wahrscheinlich neben
len, wie man es sich wünscht. dem Geschlechtsrollenstereotyp auch die unter-
Menschen können Wut und Ärger jedoch kon- schiedliche hormonelle Ausstattung (Testosteron)
trollieren. Hemmend wirkt vor allem der präfron- eine Rolle. Vor einiger Zeit erhielten Frauen wäh-
tale Kortex (orbitofrontaler Kortex, anteriorer zin- rend der Schwangerschaft Progesteron verschrie-
gulärer Kortex), vermittelt durch Serotonin. Ärger ben, um Fehlgeburten vorzubeugen. Sowohl männ-
muss deshalb nicht zur Gewalt führen. Vielmehr liche als auch weibliche Kinder, die im Embryonal-
gibt es auch subtile Ausdrucksformen, wie beispiels- stadium geringe Mengen dieses Hormons aufge-
weise eine sarkastische Bemerkung oder ein ent- nommen hatten, waren deutlich aggressiver als ihre
rüsteter Seufzer. Obwohl die beiden Subtypen der unbehandelten Geschwister.
Aggression bei Säugetieren einander wechselseitig Verhaltensgenetische Forschungen haben ge-
ausschließen (offener Aggressionsausdruck wäre zeigt, dass erhöhte Gewaltbereitschaft unter einem
bei der systematischen Beutesuche sehr unzweck- starken genetischen Einfluss steht. Die Disposition
mäßig), scheinen beim Menschen die beiden Sys- für Impulsivität und Gewalt ist bei Männern erhöht,
teme Verbindungen zueinander aufnehmen zu wenn sie eine Variante des Monoaminoxidase-A-
können. Wenn ein Mensch das Ziel, das er energisch Gens besitzen, die zu einer geringeren Expression
verfolgt, nicht erreicht, kann Wut auftreten. Umge- dieses Gens führt. Während emotionaler Erregung
kehrt scheinen manche menschlichen Verfolger zeigen die Träger dieses Allels eine hyperresponsive
ihren Opfern Furcht einflößen zu wollen, was bei Amygdala und eine verminderte Aktivität regula-
der Beuteaggression des Tieres nicht vorkommt. tiver präfrontaler Regionen. Während der Erinne-
Beim Menschen scheinen die Verhältnisse also rung an aversive Reize ist ebenfalls die Amygdala
durchaus komplizierter zu sein. Dennoch sind die hyperreaktiv, aber zusätzlich auch der Hippo-
neurobiologischen Erkenntnisse wichtig, um Ag- campus.  Während der Hemmung von Impulsen
gression beim Menschen mit ihren häufig sehr des- findet man eine beeinträchtigte Aktivierung des
truktiven Folgen besser verstehen und sie auf psy- Gyrus cinguli. Insgesamt besteht also ein Ungleich-
chologischer und sozialer Ebene beeinflussen zu gewicht zwischen erhöhter Aktivierung der Amyg-
können. Personen mit einer antisozialen Persön- dala einerseits und zu geringer Aktivierung von
lichkeit und impulsiver Aggressivität zeigen Über- Hirnregionen, die der Emotions- und Impulsregu-
aktivität in der Amygdala und strukturell sowie lierung dienen.
funktionell verminderte Aktivität im präfrontalen Aber auch die Umwelt, nämlich das Verhalten
Kortex. Der in 7 Abschn. 2.1.4 erwähnte Schaltkreis von Mutter und Vater, spielt eine Rolle. Insbeson-
zwischen Amygdala und anteriorem zingulärem dere körperliche Misshandlung fördert die Ent-
Kortex ist auch bei Menschen mit Aggressionsnei- wicklung antisozialen Verhaltens. Hier liegt eine
gung vermindert ausgebildet. Ausnahme von der sonst geltenden Regel vor, dass
vollständige Familien für die kindliche Entwicklung
Einflussfaktoren Die Psychoanalyse weist darauf günstiger sind als unvollständige. Für Kinder, deren
hin, dass aggressiven Handlungen häufig psychi- Väter zur Gewalttätigkeit neigen, gilt dies nicht:
sche Kränkungen und Beschämungen vorausgehen Hier ist es besser, wenn die Väter nicht in der Fa-
4.4 · Emotion
143 4
milie präsent sind. Die Kinder haben dann ein ge- hörigen. Akute Trauer zeichnet sich aus durch eine
ringeres Risiko, selbst antisoziales Verhalten auszu- starke Sehnsucht nach dem Verstorbenen, Traurig-
bilden, als wenn der Vater an der Erziehung beteiligt keit und häufige Gedanken an die verstorbene Per-
ist. Gleichwohl ist wegen der genetischen Belastung son. Manche Trauernde hören deren Stimme oder
auch dann noch das Risiko für antisoziales Verhal- spüren ihre Anwesenheit, können nicht glauben,
ten höher als bei Kindern, deren Väter keine anti- dass der oder die Verstorbene für immer verloren
sozialen Tendenzen zeigen. ist, ziehen sich möglicherweise von sozialen Akti-
Unterdrückte aggressive Impulse können sich vitäten zurück. Auch wenn die intensiven Trauer-
gegen das eigene Selbst wenden und zur Entstehung gefühle mit der Zeit nachlassen mögen, kehren sie
einer Depression bzw. Selbstmordgefährdung bei- bei bestimmten Anlässen der Erinnerung oft wieder
tragen. Feindseligkeit, ob unterdrückt oder nicht, zurück.
gilt auch als Risikofaktor für Hypertonie und koro- Es ist jedoch nicht so, dass alle Menschen trauern
nare Herzkrankheit. Die Emotion Ärger, aber auch würden oder dass Trauern ein notwendiger Bestand-
deren Hemmung, geht mit einer physiologischen teil der Verlustverarbeitung darstellt. Erstaunlich
Erregung, insbesondere einer diastolischen Blut- viele Menschen kommen mit Verlusterlebnissen
druckerhöhung, einher. oder einer Krankheit zurecht, ohne nachhaltig im
Der Umgang mit Aggression lässt sich durch emotionalen Befinden und der Alltagsbewältigung
Ärgerbewältigungstraining verhaltenstherapeutisch beeinträchtigt zu sein, und dies heißt nicht, dass sie
beeinflussen. Dabei wird versucht, aggressives Ver- ihre Belastung verleugnen würden und diese dann
halten durch konstruktive Formen der Konflikt- später umso stärker zum Ausbruch kommen würde.
lösung zu ersetzen. Über Ärger zu sprechen, vermin- Die Bedingungen dieser Resilienz genannten Fähig-
dert Aggression. Aggressives Verhalten einfach her- keit sind noch weitgehend unerforscht.
auszulassen (Katharsis), verstärkt sie eher.
Als Arzt oder Ärztin kann man insbesondere
Phasen im Trauerprozess
dann zur Zielscheibe der Aggression von Patien-
5 Schock und Betäubung
ten werden, wenn diese z. B. mit dem ungerechten
5 Sehnsucht und Protest
Schicksal hadern, schwer krank zu sein (»Warum
5 Anerkennen des Verlusts
gerade ich?«), und ihre Wut vom Schicksal auf den
5 Auflösung und Eingehen neuer Bindungen
Arzt verschieben. Auch wenn es manchmal schwer
fällt, ist es wichtig, in diesen Situationen gelassen zu
bleiben und nicht mit Gegenaggression zu reagie- Diese Phasenabfolge ist jedoch eher idealtypisch
ren. Zugleich sollte man sich gewissenhaft fragen, und lässt sich empirisch so nicht bestätigen. Auch
ob man selbst etwas dazu beigetragen hat, dass der die Auflösung des Trauerprozesses gelingt nicht
Patient ärgerlich wurde, beispielsweise durch eine immer. So ergab eine Untersuchung bei Menschen,
wenig einfühlsame Diagnosemitteilung. Für den die in jungen Jahren ihren Partner verloren hatten,
Patienten ist die Mobilisation von Ärger allerdings dass viele auch noch Jahre später manchmal das
immer noch besser, als den Ärger nach innen zu Gefühl hatten, dass der verstorbene Partner körper-
wenden und depressiv zu werden. Wenn der Arzt lich anwesend sei. Die Hälfte sprach noch gelegent-
verständnisvoll auf die Wut des Patienten eingeht, lich mit ihrem toten Partner wichtige Entschei-
kann dieser die Nachricht, an einer schweren dungen durch. Auch Eltern, die ein Kind verloren
Krankheit zu leiden, leichter verarbeiten, so dass haben, sind oft noch viele Jahre später in Gedanken
seine Wut wieder nachlässt. mit ihrem toten Kind beschäftigt. Für manche
Betroffenen hört die Trauer nie auf. Die normativen
Vorstellungen über das »richtige« Trauern und seine
4.4.8 Spezifische Emotionen: Trauer Dauer sind sehr zeit- und kulturgebunden. Vor
diesem Hintergrund ist es schwierig, normale und
Trauer ist die Reaktion eines Menschen auf einen komplizierte Trauerprozesse voneinander abzugren-
schweren Verlust, z. B. den Tod eines nahen Ange- zen (7 Abschn. 8.7.5).
144 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Trauer und Depression Trauer unterscheidet sich weil die äußeren Lagen des M. orbicularis oculi nur
von Depression. Während Traurigkeit eine primäre beim spontanen Lachen, nicht aber beim absicht-
Emotion ist, setzt sich die Stimmung bei einer De- lichen Lächeln kontrahiert werden.
pression aus einem Gemisch unterschiedlicher
i Vertiefen
Gefühle, wie Traurigkeit, Wut, Angst und Ekel, zu-
Panksepp J (2004) Affective Neuroscience.
sammen. Oft können depressive Menschen gerade
Oxford University Press, New York (grund-
keine Traurigkeit empfinden, sondern spüren nur
legendes Werk, das einen breiten Horizont von
noch eine innere Leere. Menschen, die trauern,
der Biologie bis in die Gesellschaft aufspannt)
4 können sich auch zumindest zeitweise ablenken. Sie
Roth G (2003) Fühlen, Denken, Handeln. Wie
können auch Freude oder Humor empfinden, z. B.
das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp,
wenn sie an frühere gemeinsame Erlebnisse denken.
Frankfurt (detaillierte Darstellung der neurobio-
Der Schmerz im Rahmen eines Trauerprozesses
logischen Emotionsverarbeitung)
tritt oft wellenförmig auf, vor allem dann, wenn der
Trauernde an den Verstorbenen denkt, während
Depressive durchgehend unglücklich sind. Im
Unterschied zu einer Depression ist bei Trauernden 4.5 Motivation
das Selbstwertgefühl in der Regel nicht vermindert,
auch wenn sich Trauernde Selbstvorwürfe machen H. Faller
können. Während Trauernde sich von ihrer Um-
gebung trösten lassen, weisen Depressive oft jede Lernziele
Hilfe zurück und entwerten gut gemeinte Ratschlä- Der Leser soll
ge. Eine Depression braucht dementsprechend pro- 5 die Bedeutung des Bindungsmotivs beschreiben
fessionelle Therapie und lässt sich nicht allein durch können,
emotionale Unterstützung der Angehörigen wieder 5 Motivationskonflikte beschreiben können,
auflösen. Trauernde hingegen profitieren davon, 5 die Attributionstheorie der Leistungsmotivation
wenn ein Gesprächspartner zuhört und ihre Gefüh- beschreiben können,
le einfühlsam widerspiegelt, ohne sie durch bloßes 5 Kriterien der Abhängigkeit nennen können.
Aufmuntern über die Traurigkeit hinweg zu trösten.
> Motive sind die Beweggründe und Trieb-
Wenn Gefühle der Traurigkeit ausgesprochen wer-
kräfte des Handelns. Als Motivation bezeich-
den, lösen sie sich leichter wieder auf.
net man den Prozess, durch den Motive in
Wechselwirkung mit situativen Anreizen aus
der Umgebung Handeln auslösen, steuern
4.4.9 Soziale Kontrolle von Affekten
und aufrechterhalten.

Darstellung von Emotionen Im Verlauf des Soziali-


sationsprozesses nimmt die soziale Kontrolle von
Emotionen zu. Als Endergebnis können wir Emo- 4.5.1 Primäre Motive
tionen verspüren, ohne sie mit anderen teilen zu
müssen. Allerdings gelingt es Menschen nur bis zu Primäre Motive sind biologisch verankert und
einem gewissen Grad, den Ausdruck von Emotio- dienen dem Überleben des Individuums (Hunger,
nen zu unterdrücken. Die unterdrückte Emotion Durst, Bedürfnis nach Atemluft, Konstanthaltung
wird oft für sehr kurze Zeit sichtbar (Mikroaus- der Körpertemperatur, Schmerzvermeidung, Explo-
druck, leakage). Außerdem werden mimisches Ver- ration, soziale Bindung) oder der Art (Sexualität).
halten und Sprachmelodie rigider, wenn wir uns Unter den primären Motiven gibt es homöosta-
verstellen, was bei Beobachtern den Eindruck tische Motive, die der Behebung eines Mangel-
von mangelnder Glaubwürdigkeit hervorruft. Beim zustands dienen (Vergleich des Ist-Werts mit einem
Lachen ist der Unterschied zwischen spontaner und Soll-Wert im Hypothalamus, z. B. Hunger) und
künstlicher Freude besonders deutlich zu sehen, nichthomöostatische Motive (z. B. Sexualität).
4.5 · Motivation
145 4
Beim Menschen hat sich die Sexualität von der Re- geborenen noch verstärkt. Saugreize stimulieren die
produktionsfunktion teilweise abgelöst. Dies kann Oxytozin-Sekretion im Gehirn der Mutter, um die
schon daran ersehen werden, dass auch in Zeiten, Milchproduktion und die mütterliche Stimmung
in denen keine Fortpflanzung möglich ist, wie im aufrecht zu erhalten. Wenn diese nach mehreren
Alter oder während der Schwangerschaft, das Tagen einmal etabliert ist, muss sie nicht mehr kon-
Sexualmotiv erhalten bleibt. tinuierlich durch Oxytozin gefördert werden, son-
dern läuft auch ohne Stimulation weiter. Oxytozin
Sexualität Für die menschliche Sexualität spie- fördert die Mutter-Kind-Bindung und bewirkt eine
len  die Hormone Vasopressin und Oxytozin eine Beruhigung von Mutter und Säugling.
wichtige Rolle (zum menschlichen Sexualverhalten,
> Das Bedürfnis nach sozialer Bindung ist
7 Abschn. 8.6). Diese haben sich aus dem evolutio-
ein angeborenes, nichthomöostatisches Mo-
nären Vorläufer Vasotozin (Frösche, Eidechsen)
tiv. Bindung kann definiert werden als die
entwickelt und unterscheiden sich davon jeweils in
Fähigkeit, Trennungsdistress zu empfinden,
nur einer Aminosäure. Vasopressin spielt bei der
wenn man sich von sozialen Unterstützungs-
männlichen Sexualität, Oxytozin bei der weiblichen
systemen isoliert fühlt, sowie Trost zu emp-
Sexualität sowie bei der Sorge um die Nachkommen
finden, wenn der soziale Kontakt wieder her-
eine wichtige Rolle. Während das Sexualverhalten
gestellt ist.
als solches gelernt ist, haben die darunter liegenden
Emotionen eine biologische Basis. Die Natur hat die Das biologische System, das soziale Bindung ver-
Sorge für die Nachkommen und für die Eltern- mittelt, hat demnach 2 Komponenten:
Kind-Beziehung nicht dem Zufall oder individu- 1. Trennungsdistress, d. h. Gefühle von Hilflosig-
ellem Lernen überlassen. Alle Säugetiere haben keit und Depression beim Verlassenwerden,
neuronale Systeme, die sie bei der Vorbereitung 2. positive Gefühle bei sozialem Kontakt.
der Elternschaft unterstützen. Oxytozin, endogene
Opioide und Prolaktin sind bei der Entstehung von Die positiven Gefühle bei Bindung werden durch
Gefühlen der Akzeptanz, Sorge und Liebe gegen- endogene Opiate (Opioide, Endorphine, Enkepha-
über dem Kind beteiligt. Dabei greifen neuronale line) vermittelt. Die Gefühle des Verbundenseins
Netzwerke, die für die Sexualität zuständig sind, lassen sich auch durch exogene Opiate künstlich
und diejenigen, die die Sorge für die Nachkommen erzeugen. Opiatabhängige ziehen sich deshalb
vermitteln, ineinander. häufig von anderen Menschen zurück, weil sie die
durch Verbundensein ausgelösten Gefühle auch
> Wenn Kinder gut versorgt werden, werden
ohne den Kontakt mit anderen Menschen herstellen
bei ihnen die neuronalen Voraussetzungen
können.
dafür geschaffen, dass sie die Welt als gut
Das Gefühl der Bindung zwischen Mutter und
und sicher erleben. Wenn Kinder vernachläs-
Neugeborenem wird, wie erwähnt, durch Oxytozin
sigt werden, entsteht umgekehrt kein Selbst-
vermittelt. Oxytozin hemmt auch bei Säugetieren
vertrauen, sondern Distress und Ressen-
sog. Distress-Vokalisationen (Schreie), die bei der
timent – Dispositionen für eine Depression.
Trennung von der Mutter auftreten. Offensichtlich
Oxytozin trägt dazu bei, den Geburtsprozess, die werden die sozialen Wohlgefühle also durch die-
Wehenbildung und die Milchproduktion einzulei- selben chemischen Substanzen vermittelt, die auch
ten, und stimmt die Gebärende auf mütterliches in der Sexualität eine wichtige Rolle spielen. Die
Verhalten ein, zusammen mit anderen hormonellen Wirkungen von Oxytozin werden vermutlich über
Veränderungen. Vor der Geburt kommt es zu einem endogene Opioide erzeugt. Oxytozin steigert die
Anstieg von Oxytozin und Neuropeptiden, kontrol- Empfindlichkeit der Opioidsysteme. Mäusebabys,
liert durch den Anstieg von Östrogen am Ende der denen ein Opioidrezeptorgen fehlt (sog. Knock-out-
Schwangerschaft. Diese Änderung der Genexpres- Mäuse), spüren nicht, dass es angenehm ist, wenn
sion von Oxytozin-Synthese und Rezeptorprolife- ihre Mutter da ist, und schreien dementsprechend
ration wird durch stimulierende Effekte des Neu- auch weniger, wenn die Mutter abwesend ist. Sie
146 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

zeigen ein defizitäres Bindungsverhalten, suchen sonders starke Form an, wenn Menschen einander nicht nur
die Mutter seltener auf und sind weniger trennungs- für Kooperation belohnen, sondern auch denjenigen be-
strafen, der sich der Kooperation verweigert. Beispiel: Beim
empfindlich, wodurch sich ihre Überlebenschancen
Ultimatum-Spiel besitzt Person A eine Summe Geld und
vermindern. kann frei darüber entscheiden, wie viel sie davon an Person B
Oxytozin hat weitere psychische Effekte: An- abgibt. Person B kann diesen Anteil entweder akzeptieren
stieg der Schmerzschwelle, Stressmilderung, Ent- oder ablehnen, wenn er ihr zu gering erscheint. Wenn Per-
spannung und Beruhigung und Verbesserung der son B den Anteil jedoch ablehnt, erhalten beide kein Geld.
Dieses Experiment wurde in vielen Kulturen durchgeführt,
Lernfähigkeit. Es fördert die Emotionswahrneh-
wobei die Partner füreinander anonym blieben. Das immer
4 mung im Gesichtsausdruck und Empathie, die Er- wieder bestätigte Ergebnis: Wenn der angebotene Anteil
innerung an Gesichter, das Gefühl von Vertrauen unter 25 % fällt, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit ab-
gegenüber anderen Menschen, positive Kommuni- gelehnt, obwohl auch der Ablehnende dadurch Geld aus-
kation und Zusammenarbeit sowie Körperkontakt. schlägt, das er hätte bekommen können. Dies widerspricht
dem gängigen Menschenbild der Ökonomie, dass jeder auf
Psychischer Schmerz beim Verlust der sozialen
Gewinnoptimierung aus ist. Dann müsste man nämlich jeden
Bindung wird teilweise über dieselben Hirnsysteme Betrag annehmen, auch wenn er noch so klein ist. Gewinn-
vermittelt wie körperlicher Schmerz (zingulärer maximierung ist also nicht alles, sondern es gibt ein stärkeres
Kortex, anteriore Insel; 7 Abschn. 4.4.5). Deshalb Motiv: fair behandelt zu werden. Da sie dieses Gerechtig-
kann Trennungsschmerz, z. B. wenn man von keitsmotiv voraussieht, bietet Person A im Ultimatum-Spiel
üblicherweise von vornherein 50 % an. Altruistisches Han-
einem geliebten Menschen verlassen wird, genauso
deln hat auch eine neuronale Basis: Die Belohnungsschalt-
wehtun wie eine physische Verletzung. Diese Kop- kreise des Gehirns, das mesolimbische Dopaminsystem ein-
pelung ist evolutionspsychologisch sinnvoll, weil schließlich Striatum und orbitofrontalem Kortex, sind bei
für ein junges Säugetier der Verlust der Mutter Kooperation mit menschlichen Spielpartnern (nicht aber mit
ebenso lebensbedrohlich ist wie eine körperliche Computern) aktiv (Fehr u. Fischbacher 2003).
Schädigung. Die Evolution hat sich gewissermaßen
für die Etablierung eines Reaktionssystems auf dro-
henden sozialen Ausschluss das schon vorhandene 4.5.2 Sekundäre Motive
Schmerzsystem zunutze gemacht.
Möglicherweise sind frühe Trennungserfahrun-
> Als sekundäre Motive werden Motive be-
gen ein Risikofaktor für die Entstehung von chro-
zeichnet, die erlernt werden und deren
nischem somatoformem Schmerz (7 Abschn. 2.2.2).
biologische Basis geringer ist (z. B. Leistungs-
Umgekehrt kann eine ausreichende Befriedigung
motiv, Streben nach sozialer Anerkennung,
der Bindungsbedürfnisse, also das Erleben von Ge-
Machtbedürfnis, süchtige Motive).
borgenheit in der frühen Kindheit, einen lebenslan-
gen Schutzfaktor gegen Stress darstellen (Resilienz). Früher glaubte man, für jedes sekundäre Motiv ein
Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass mütter- primäres Motiv angeben zu können, aus dem es sich
liches Pflegeverhalten wie Lecken der Babys eine im Rahmen von Lernprozessen entwickelt hat. Dies
epigenetische Programmierung zur Folge hat: Bei ist aber nicht möglich. Der Unterschied zwischen
Rattenbabys, die von ihren Müttern gut versorgt primären und sekundären Motiven ist teilweise eher
wurden, wird ein Gen vermehrt abgelesen, das eine graduell: Auch sekundäre Motive haben eine mehr
Dämpfung von Stressreaktionen ermöglicht. oder weniger stark ausgeprägte genetische Basis,
und umgekehrt werden primäre Motive durch
Hintergrundinformation
Altruismus und Kooperation Lernprozesse ausgestaltet. Beispiel: Das Essverhal-
Menschliche Gesellschaften weisen im Unterschied zur Welt ten, das vom primären Motiv Hunger angetrieben
der Tiere eine erstaunliche Besonderheit auf: Menschen ko- wird, gerät im Laufe der Entwicklung unter Kon-
operieren in großen Gruppen, deren Mitglieder nicht gene- trolle von Lernerfahrungen in der Familie (z. B.
tisch miteinander verwandt sind. Auch wenn man 2 einander
»Der Teller wird leer gegessen!«) und kulturellen
völlig fremde Menschen aus modernen Gesellschaften in
einem Laborexperiment zusammenbringt, wird mit hoher Rahmenbedingungen (z. B. feste Essenszeiten).
Wahrscheinlichkeit spontan ein reziprok altruistisches Ver- Psychosoziale Einflussfaktoren werden beson-
halten entstehen. Altruistisches Verhalten nimmt eine be- ders deutlich bei den sog. Essstörungen. Bei der
4.5 · Motivation
147 4
psychogenen Adipositas wird das Essen dazu be- tritt. Beispiel: Verlegenheitsgesten, wie Sich-am-
nutzt, Gefühle des Alleinseins oder der Enttäu- Kopf-Kratzen, bei einer Auseinandersetzung.
schung zu kompensieren (»Kummerspeck«). Bei
> Die primären Motive des Menschen sind keine
den vor allem bei jungen Frauen vorkommenden
Instinkte. Sie stehen nicht unter der völligen
Essstörungen Anorexia nervosa (extremes Unter-
Kontrolle eines Schlüsselreizes und laufen
gewicht, Körperschemastörung: trotz des Unter-
nicht stereotyp und »blind für die Folgen« ab,
gewichts sind die Betroffenen davon überzeugt, zu
sondern sind durch intrapsychische wie auch
dick zu sein) und Bulimia nervosa (Essanfälle mit
Umgebungsfaktoren modulierbar.
nachträglichem Erbrechen) haben psychosoziale
Faktoren einen großen Einfluss (7 Abschn. 4.8.1). In
erster Linie wird hierfür das in den Medien ver- Psychodynamischer Ansatz Der psychodynamische
breitete Schlankheitsideal verantwortlich gemacht, (psychoanalytische) Ansatz (7 Abschn. 2.3) stellt
aber auch die vielfältigen und teilweise widersprüch- unbewusste intrapsychische Konflikte (Psychody-
lichen Anforderungen an junge Frauen wie Fitness, namik) in den Mittelpunkt. Ein Konflikt entsteht,
körperliche Leistungsfähigkeit und berufliche Kom- wenn widersprechende Motive aufeinandertreffen.
petenz einerseits sowie sexuelle Attraktivität und Ein häufiger Konflikt ist der Abhängigkeits-Auto-
Weiblichkeit andererseits. Auslösend für eine Ess- nomie-Konflikt. Wünsche nach Geborgenheit und
störung wirken meist Diäten, wie sie in Frauenzeit- Sicherheit (Abhängigkeit) einerseits und nach Selb-
schriften und dem Fernsehen propagiert werden. ständigkeit und Selbstbestimmung (Autonomie)
andererseits werden hier nicht unter einen Hut ge-
bracht. Beide Bedürfnisse sind für den Menschen
4.5.3 Motivationstheorien jedoch grundlegend. Können sie nicht in ausrei-
chender Weise zu ihrem Recht kommen, kann die
Ethologie In der Ethologie (vergleichende Verhal- Disposition für eine psychische Störung gelegt wer-
tensforschung, nicht zu verwechseln mit Verhaltens- den (z. B. Angststörung mit übermäßigem Ausdruck
psychologie = Lerntheorie, Verhaltenstherapie), die des Abhängigkeitsbedürfnisses und gleichzeitiger
das Verhalten von Tieren untersucht, werden Mo- Unterdrückung des Autonomiebedürfnisses).
tive als Instinkte bezeichnet. Ein Instinkt ist ein an- Ein weiterer zentraler Konflikt ist der ödipale
geborenes, stereotyp ablaufendes Verhalten, das von Konflikt. Hierbei treten folgende 2 Strebungen mit-
einem spezifischen Schlüsselreiz ausgelöst wird (an- einander in Widerspruch: einerseits der Wunsch,
geborener Auslösemechanismus). Beispiel: Stich- das gleichgeschlechtliche Elternteil als Rivalen zu
linge reagieren aggressiv auf den roten Brustfleck beseitigen, andererseits der Wunsch, eine liebevolle
eines Stichlingsmännchens (und auch auf eine ent- Beziehung zu ihm aufrechtzuerhalten. Ein ungelös-
sprechend gefärbte Attrappe). Schlüsselreize wer- ter ödipaler Konflikt kann aus psychoanalytischer
den manchmal nur während einer ganz bestimmten Sicht ebenfalls zur Entstehung einer neurotischen
sensiblen Phase erlernt (Prägung). Beispiel: Junge Störung beitragen. Konflikte können auch entste-
Graugänse folgen dem ersten Lebewesen, das ihnen hen zwischen dem Streben nach Lustgewinn (»Es«)
begegnet. Dies ist biologisch sinnvoll, weil es sich und dem Bedürfnis, moralischen Geboten zu folgen
dabei üblicherweise um die Mutter handelt. Konrad (»Über-Ich«). Sind die Konflikte mit intensiven, un-
Lorenz, dem bekanntesten Vertreter der Verhaltens- erträglichen Gefühlen, wie Angst oder Scham, ver-
forschung, gelang es jedoch auch, Gänse auf sich bunden, werden sie durch Abwehrprozesse unbe-
selbst zu prägen, so dass sie ihm nachliefen. wusst gemacht (7 Abschn. 2.3.5).
Instinkte spielen beim Menschen nur eine un- Unser Verhalten wird in hohem Maße von un-
tergeordnete Rolle. Bei widersprüchlichen Motiven, bewussten, impliziten Motiven gesteuert, die sich
wie einem Konflikt zwischen Angriff und Flucht im im Laufe des Lebens herausgebildet haben. Es gibt
Rahmen einer Auseinandersetzung, können sog. Hinweise dafür, dass diese impliziten Motive auf
Übersprungshandlungen auftreten, bei der ein Ver- der Basis früher Kindheitserfahrungen entstehen,
halten aus einem ganz anderen Motivbereich auf- während die mehr expliziten bewussten Motive
148 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

spätere Erziehungsanforderungen der Eltern wider-


spiegeln.

Lerntheorie Die Lerntheorie betont situative Fak-


toren, die motiviertes Verhalten kanalisieren (7 Ab-
schn. 2.1, 7 Abschn. 4.2). Diese spielen beispiels-
weise beim süchtigen Verhalten eine große Rolle.
Durch klassische Konditionierung kann Sucht-
4 verhalten durch Umgebungsreize ausgelöst werden.
Beispiel: Für einen Raucher genügt der Anblick
von Zigaretten, das süchtige Verhalten auszulösen:
Er zündet sich eine Zigarette an. Deshalb sollte er
keine Zigaretten in seinem Blickfeld liegen lassen,
wenn er mit dem Rauchen aufhören will (Stimulus-
kontrolle). Auch bei Heroinabhängigen spielt das
Milieu für die Auslösung des Suchtverhaltens eine
große Rolle. Langfristige Abstinenz ist deshalb nur
zu erreichen, wenn der Süchtige das Drogenmilieu
verlässt. Operante Konditionierung kann die Auf-
rechterhaltung von Verhalten erklären: Wenn auf
eine Verhaltensweise eine angenehme Konsequenz
folgt, so wird dieses Verhalten häufiger (Verstär-
kung). Beim Menschen bilden sich infolge seiner
Lernerfahrungen Erwartungen heraus, in denen die
. Abb. 4.7 Bedürfnishierarchie nach Maslow
positive Konsequenz des Verhaltens antizipiert wird
(z. B. der Entspannungseffekt einer Zigarette). Ver-
halten wird von Erwartungen gesteuert.
von biologischen Bedürfnissen an der Basis bis
Handlungstheorie In der Handlungstheorie spielen zu Bedürfnissen nach Transzendenz an der Spitze
Erwartungen und Bewertungen eine große Rolle. reicht (. Abb. 4.7). Nach dieser Theorie müssen zu-
Menschen fragen sich: Lohnt es sich, das Ziel zu nächst grundlegende Bedürfnisse erfüllt sein, bevor
erreichen (Wert)? Und: Habe ich eine realistische die nächst höheren Bedürfnisse erreicht werden
Erfolgswahrscheinlichkeit (Erwartung)? Die Stärke können. Hintergrund der Theorie ist die Annahme,
eines Motivs ergibt sich aus dem Produkt von Er- dass Menschen eine innewohnende Tendenz zur
wartung und Wert (Erwartungs-mal-Wert-Theorie). Entfaltung ihres Potenzials besitzen. Die Vorstellung
Sie ist am stärksten, wenn beide Komponenten ist jedoch einerseits idealistisch, insofern negativ
mindestens eine mittlere Ausprägung haben. Er- bewertete Motive wie Aggression gar nicht vor-
wartungs-mal-Wert-Theorien spielen vor allem in kommen. Zum anderen ist sie zu mechanistisch, da
der Leistungsmotivation eine wichtige Rolle (7 Ab- Menschen durchaus auch höhere Bedürfnisse zu
schn. 4.5.6). Weitere moderne handlungstheoretische befriedigen versuchen, obwohl die grundlegenden
Ansätze werden in 7 Abschn. 10.2 im Rahmen der Bedürfnisse noch nicht befriedigt sind. Beispiele:
Motivation zum Gesundheitsverhalten vorgestellt. religiöse Bedürfnisse angesichts existenzieller Not;
Hungerstreik zur Durchsetzung politischer Ziele;
Kontrolle des Hungerbedürfnisses, wie bei der
4.5.4 Motivationshierarchie Anorexia nervosa, im Rahmen eines Autonomie-
strebens. Das materialistische Bonmot Brechts, »Erst
Abraham Maslow, ein Vertreter der humanistischen kommt das Fressen, dann die Moral!«, scheint für
Psychologie, entwarf eine Bedürfnishierarchie, die Menschen nicht unbedingt zu gelten.
4.5 · Motivation
149 4
4.5.5 Motivationskonflikte hat, und ein kognitives Kontrollsystem, das lang-
fristige Ziele im Auge hat, unmittelbare Reaktionen
Im psychodynamischen Modell hatten wir schon hemmt und mit einer Aktivierung des dorsolatera-
die Bedeutung unbewusster Konflikte kennen ge- len präfrontalen Kortex einhergeht. Bei abhängigem
lernt. Auch in der Sozialpsychologie werden Moti- Verhalten wie z. B. Drogensucht besteht ein Un-
vationskonflikte beschrieben. gleichgewicht der beiden Systeme.

Konflikttypen
4.5.6 Leistungsmotivation
5 Appetenz-Appetenz-Konflikt: Beim Appe-
tenz-Appetenz-Konflikt (Annäherungs-
Menschen unterscheiden sich im Bedürfnis, Leis-
Annäherungs-Konflikt) werden 2 miteinan-
tungen zu vollbringen, »etwas gut zu machen«, sich
der unvereinbare Ziele angestrebt. Motto:
an ihrem eigenen Anspruchsniveau als Gütemaß-
»Wer die Wahl hat, hat die Qual.«
stab zu messen oder andere in der Leistung zu über-
5 Aversions-Aversions-Konflikt: Beim Aver-
treffen. Das Leistungsmotiv ist ein sekundäres
sions-Aversions-Konflikt (Vermeidungs-
Motiv, bei dem zwar auch genetische Faktoren eine
Vermeidungs-Konflikt) muss eine Wahl zwi-
Rolle spielen, das jedoch größtenteils durch die
schen 2 gleich negativ bewerteten Zielen
frühen Umwelterfahrungen in der Familie erlernt
getroffen werden. Motto: »Egal, was ich tue,
wird. Wie schon im Abschnitt »Handlungstheorie«
in jedem Fall wird es unangenehm.«
erwähnt, spielen für die Stärke des Leistungsmotivs
5 Appetenz-Aversions-Konflikt: Beim Appe-
sowohl der Wert, der einem Ziel beigemessen wird,
tenz-Aversions-Konflikt (Annäherungs-
als auch die Erwartung, dieses Ziel zu erreichen,
Vermeidungs-Konflikt) hat ein und dasselbe
eine Rolle (Erwartungs-mal-Wert-Theorie). Hier
Ziel sowohl positive als auch negative
ist die Unterscheidung zwischen kurzfristigen und
Seiten (Ambivalenzkonflikt). Beispiel: Ein
langfristigen Zielen wichtig. Leistungsmotivierten
Jurastudent will auf bewusster Ebene un-
Menschen gelingt es, zugunsten langfristiger Ziele
bedingt sein Examen absolvieren, auf der
(z. B. anspruchsvolle Berufstätigkeit) eine lang-
unbewussten Ebene sträubt er sich jedoch
wierige Ausbildung zu absolvieren und während
dagegen, weil er den Wunsch, den ihm
dieser Zeit auf kurzfristige Ziele (Geldverdienen,
sein Vater aufgedrängt hat, dessen Kanzlei
Konsum) zu verzichten.
zu übernehmen, nicht erfüllen will. Wenn
Bei den Gütemaßstäben lassen sich individuelle
eine Person sogar zwischen 2 solchen ambi-
Bezugsnorm (Vergleich mit eigenen früheren Leis-
valenten Zielen gefangen ist, handelt es
tungen), soziale Bezugsnorm (Vergleich mit der
sich um einen doppelten Annäherungs-Ver-
Leistung anderer) und sachliche Norm (eine Auf-
meidungs-Konflikt.
gabe erfolgreich gelöst haben) unterscheiden. Die
individuelle Bezugsnorm fördert leistungsmotivier-
tes Verhalten besonderes gut, weil realistische Ziele
Intertemporale Konflikte Beim Gesundheitsverhal- gesetzt werden können und der Erfolg von der
ten spielen Konflikte zwischen kleineren, kurzfris- eigenen Anstrengung abhängig ist. Auch leistungs-
tigen (jetzt ein Dessert essen) und größeren, aber schwächere Schüler haben dadurch häufiger Er-
langfristigen Anreizen (in 10 Jahren noch schlank folgserlebnisse, mit der Folge von Stolz und Zufrie-
sein) eine Rolle. Je weiter ein Nutzen in der Zukunft denheit, als bei einer sozialen Bezugsnorm.
liegt, desto stärker wird er jedoch abgewertet. Hier- Eine Aufgabe gut lösen zu wollen (sachliche
bei spielen 2 Bewertungssysteme eine Rolle: ein Norm) und dabei seine Leistungsfähigkeit zu ver-
impulsives, automatisches System, das auf kurz- bessern (individuelle Norm), sind Anreize für das
fristige Bedürfnisbefriedigung reagiert, seinen Sitz implizite Leistungsmotiv. Dieses entwickelt sich
in Strukturen des limbischen Systems und enge schon vorsprachlich und kann durch Bilder-Ge-
Beziehungen zum Dopaminsystem des Mittelhirns schichten-Tests erfasst werden, bei denen Proban-
150 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

den zu Bildern Geschichten erzählen sollen, die


. Tab. 4.3 Vierfelderschema der Attribution
ihnen dazu einfallen. Sich mit anderen zu verglei-
chen und Anerkennung zu erhalten (soziale Be- Verlauf Beeinflussungsbereich
zugsnorm), ist Anreiz für das explizite Leistungs- über die Zeit
Internal External
motiv, das sich erst während der Grundschulzeit
entwickelt und durch Selbsteinschätzung (Frage- Stabil Fähigkeit Aufgaben-
schwierigkeit
bogen) erfasst wird. Implizites und explizites Leis-
tungsmotiv korrelieren kaum miteinander, sagen Variabel Anstrengung Zufall
4 jedoch unterschiedliches Verhalten voraus: das im-
plizite Motiv spontanes, selbst initiiertes Verhalten,
das explizite Motiv, welche Aufgabe man bewusst oder zu schwere Aufgaben in Angriff zu nehmen:
und überlegt auswählt; das implizite Motiv be- Bei sehr leichten Aufgaben können sie relativ sicher
stimmt dann wieder, wie sehr man sich anstrengt sein, einen Misserfolg zu vermeiden, bei zu schwe-
und wie lange man durchhält. ren ist es nicht so schlimm, wenn man versagt. Hin-
ter diesen beiden Einstellungen stehen unterschied-
Attributionstheorie Die Erwartung, ein Ziel zu er- liche Erwartungen eines Erfolgs oder Misserfolgs:
reichen, hängt davon ab, auf welche Ursache ich das Erfolgsmotivierte sind sich sicherer, Erfolg zu haben,
Ergebnis meines Handelns zurückführe (Kausalatt- und sie schätzen auch ihre Kompetenzen höher ein
ribution). Beispiel: Wenn ich eine Prüfung bestan- als Misserfolgsmotivierte.
den habe, kann ich den Erfolg meinen Fähigkeiten Menschen neigen generell dazu, für positive Er-
zuschreiben oder meiner Anstrengung beim Ler- eignisse eher internale, stabile und globale Attribu-
nen. Es könnte aber auch daran gelegen haben, dass tionen vorzunehmen als für negative. Diese selbst-
die gestellten Aufgaben leicht waren oder ich ein- wertförderliche Voreingenommenheit ist universell,
fach Glück hatte. Umgekehrt kann ich einen Miss- sie lässt sich in allen bisher untersuchten Kulturen
erfolg auf Pech oder zu schwierige Aufgaben, ande- und auch sämtlichen Altersstufen nachweisen. Bei
rerseits aber auch auf Mangel an Anstrengung oder Menschen mit psychischen Störungen ist der »Posi-
sogar geringe Fähigkeiten attribuieren. Diese Mög- tivitätsfehler« jedoch nicht ganz so stark ausgeprägt.
lichkeiten lassen sich anhand der Lage zum eigenen Am geringsten ist er bei depressiven Patienten. Sie
Einflussbereich (internal vs. external) und der Ver- machen für ihre Misserfolge häufiger als Gesunde
änderbarkeit im Laufe der Zeit (stabil vs. variabel) internale, globale und stabile Attributionen: »Ich
klassifizieren (. Tab. 4.3). Außerdem kann unter- bin ein Versager, und zwar auf jedem Gebiet, und
schieden werden, ob die Ursachenattribution für das wird sich auch nicht ändern.«
alle Lebensbereiche oder nur für ganz spezielle vor- Als »fundamentaler Attributionsfehler« wird
genommen wird (global vs. spezifisch). Leistungs- ein Akteur-Beobachter-Unterschied der Attribu-
handeln kann sowohl durch die Hoffnung auf Er- tion bezeichnet: Beobachter attribuieren das Ver-
folg als auch die Furcht vor Misserfolg motiviert halten eines Menschen vor allem auf dessen Person
sein. (internal: »Er greift einen anderen Menschen an,
Optimistische, erfolgsmotivierte Menschen weil er aggressiv ist.«), während die Handelnden
führen Erfolge auf ihre Fähigkeiten (internal, stabil), selbst stärker situative Anreize zur Erklärung ihres
Misserfolge hingegen auf Pech oder mangelnde An- Verhaltens heranziehen (external: »Ich greife ihn
strengung (variabel) zurück. Sie sind deshalb zu- an, weil er mich provoziert hat.«). Allerdings ist
versichtlich, Erfolge zu erzielen, und setzen sich gern dieser Fehler gar nicht so fundamental, wie man
Leistungssituationen aus. Misserfolgsmotivierte, bisher dachte. Er ist erstens von nur geringer Stärke
pessimistische Menschen schreiben Erfolge exter- und zweitens nicht generisch. Er scheint nur für
nalen Faktoren wie leichten Aufgaben oder Glück negative Ereignisse zu gelten, während er bei positi-
zu, Misserfolge hingegen ihrer mangelnden Fähig- ven Ereignissen sogar umgekehrt ausfällt: Erfolge
keit (internal, stabil). Sie scheuen vor Leistungssitua- schreiben wir uns lieber selbst zu, während Beob-
tionen zurück und neigen dazu, entweder zu leichte achter sie auf glückliche Umstände zurückführen.
4.5 · Motivation
151 4
Durch diese für negative und positive Ereignisse doch die Furcht vor Zurückweisung, und man geht
unterschiedlichen Attributionsmuster fördern wir wieder auf sichere Distanz. Infolgedessen tritt das
unser Selbstwertgefühl. Annäherungsmotiv wieder in den Vordergrund,
und der Kreislauf beginnt von neuem. Dieser Nähe-
Distanz-Konflikt ist vor allem bei schüchternen
4.5.7 Anschlussmotivation Menschen stark ausgeprägt.
Das implizite Annäherungsmotiv kann (wie
Ziel des Anschlussmotivs ist es, mit anderen Men- auch andere Motive) dadurch erfasst werden, dass
schen Kontakt aufzunehmen und eine positive Be- man Probanden bittet, zu einem Bild, in welchem
ziehung herzustellen. Es wird vor allem in Situa- 2 Personen in Interaktion dargestellt sind, eine Ge-
tionen angeregt, in denen man fremden oder wenig schichte zu erzählen. Handelt die Geschichte eher
bekannten Personen begegnet. Das Anschlussmotiv von der persönlichen Beziehung der beiden oder
basiert auf dem Bindungsbedürfnis, einem primä- geht es darin eher um Leistung oder Macht? Je nach
ren Bedürfnis, das sich in der Evolution heraus- dem Inhalt dieser Geschichten kann man auf die
gebildet hat, um die Versorgung der Kinder sicher- Ausprägung der entsprechenden Motive schließen.
zustellen. An die primären Vertrauensbeziehungen Man erfährt dabei etwas über unbewusste Bedürf-
innerhalb der Familie schließen sich im späteren nisse, die in Fragebogenantworten nicht zum Aus-
Leben die Beziehungen zu anderen Menschen druck kommen würden. In einer Längsschnitt-
außerhalb der Familie an. Die Erfahrungen, die man untersuchung mit Medizinstudenten zu Beginn ih-
in der Familie gemacht hat, sind hierfür prägend. res Studiums konnte gezeigt werden, dass diejeni-
Je nach der Zuwendung und Feinfühligkeit der gen Studenten, die eine hohe Anschlussmotivation
Mutter (7 Abschn. 2.3.1) bilden Menschen unter- besaßen, sich aber eher Leistungsziele gesetzt hatten
schiedliche Bindungsstile aus: sichere, unsicher- (und diese auch erreichten), am Ende des Semesters
ambivalente oder unsicher-vermeidende Bindun- ein geringeres Wohlbefinden aufwiesen als die-
gen (7 Abschn. 4.7.3). jenigen, bei denen bewusste Zielsetzung und unbe-
Das Anschlussmotiv setzt sich aus 2 Kom- wusste Bedürfnisse besser miteinander überein-
ponenten zusammen, der Hoffnung auf Anschluss stimmten.
und der Furcht vor Zurückweisung. Die beiden Wie kann man die Übereinstimmung zwischen
Komponenten sind nicht einfach nur Gegenpole, impliziten Motiven und bewussten Lebenszielen
sondern können unabhängig voneinander in unter- verbessern? Hierfür scheint es hilfreich zu sein, sich
schiedlicher Stärke ausgeprägt sein. Menschen mit die Ziele und die Handlungen auf dem Weg dorthin
starker Hoffnung auf Anschluss gehen optimistisch möglichst lebhaft und anschaulich vorzustellen. Eine
in eine Begegnung mit einem anderen Menschen solche Zielimagination erleichtert es, Ziele auszu-
hinein und fühlen sich im Kontakt mit anderen wählen, die zu den impliziten Bedürfnissen passen,
wohl. Sie wirken auf andere freundlich und sind und macht auch die Zielverfolgung effektiver.
auch erfolgreich, Kontakt herzustellen. Durch die
positive Reaktion der anderen bestätigen sich ihre
positiven Erwartungen. Menschen mit großer 4.5.8 Machtmotivation
Furcht vor Zurückweisung gehen hingegen eher
vorsichtig und distanziert in Begegnungen mit an- Macht auszuüben bedeutet, andere Menschen im
deren Menschen. Sie fühlen sich überfordert, zeigen eigenen Sinne zu beeinflussen und dabei ein Gefühl
wenig soziales Geschick und interpretieren unein- von Stärke und Kontrolle zu empfinden. Auch beim
deutige Signale eher im Sinne einer Zurückweisung. Machtmotiv lassen sich eine Annäherungs- und
So bestätigen sich ihre negativen Erwartungen. eine furchtorientierte (hemmende) Komponente
In der Begegnung mit einem anderen Menschen unterscheiden. Das Machtmotiv hat eine evolutio-
kann ein Annäherungs-Vermeidungskonflikt auf- näre Wurzel: In nicht menschlichen Gesellschaften
treten. Erst ist das Annäherungsmotiv stärker. (z. B. bei Schimpansen) ist Dominanz mit der bio-
Je näher man sich kommt, umso stärker wird je- logischen Fitness, d. h. einer höheren Chance, sich
152 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

fortzupflanzen, verbunden. Beim Menschen sind spielen für den Erwerb einer Abhängigkeit psycho-
Dominanz und hoher sozialer Status wichtige Kri- soziale Faktoren und erlernte Verhaltensmuster
terien, nach denen Frauen die sexuelle Attraktivität eine wichtige Rolle. Die Aufrechterhaltung einer
eines Mannes beurteilen und ihre Partner auswäh- Sucht wird schließlich durch zentralnervöse Prozes-
len. Ab einem bestimmten Mindest-Statusniveau se begünstigt. Dabei beruht das suchterzeugende
spielen aber auch noch andere Faktoren, wie Kom- Potenzial unterschiedlicher Substanzen auf sehr
petenz und Umgänglichkeit, eine Rolle. ähnlichen neurobiologischen Basisprozessen. Die
Menschen mit einem stark ausgeprägten Macht- gemeinsame Endstrecke der Suchtwirkung ist das
4 motiv streben hohe soziale Positionen an und wäh- mesolimbische Dopaminsystem, das die neuro-
len Berufe, die ihnen Einfluss auf andere ermög- biologische Grundlage positiver Gefühle darstellt
lichen. Sie konkurrieren gerne mit anderen und (Belohnungssystem, 7 Abschn. 4.2.6). Dies lässt sich
treiben gern Wettkampfsport. In Gruppen entfalten tierexperimentell zeigen: Wenn man Ratten die
sie Initiative und setzen sich durch, auch auf Kosten Möglichkeit gibt, in die entsprechenden Hirnre-
anderer. Manager großer Firmen haben ein starkes gionen Drogen, z. B. Alkohol zuzuführen, so entwi-
Macht- und Leistungsmotiv bei geringem An- ckeln sie Suchtverhalten. Mit zunehmendem Subs-
schlussmotiv. Je ausgeprägter diese Kombination tanzgebrauch treten jedoch gegenregulatorische,
ist, desto günstiger verläuft die zukünftige ökono- kompensatorische Prozesse ein (Hochregulation
mische Entwicklung einer Firma. des dopamingesteuerten Second-messenger-Sys-
Die Aktivierung des Machtmotivs geht mit der tems, Rezeptorveränderungen). Dies führt dazu,
Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin dass zum einen eine immer höhere Dosis der Subs-
einher. Bei Gewinnern einer Machtsituation tritt ein tanz notwendig ist, um deren Wirkungen zu er-
Testosteron-Anstieg auf. zielen (Toleranzentwicklung), zum anderen, dass
körperliche und psychische Entzugssymptome auf-
treten, wenn die Substanz abgesetzt wird.
4.5.9 Sucht Während Dopamin eher den energetisieren-
den Aspekt des Suchtverhaltens vermittelt, spielen
Anstelle des schwer definierbaren Begriffs Sucht Opioide für die positive affektive Tönung eine
wird heute in den medizinischen Diagnosesyste- große Rolle. Das endogene Opioidsystem bewirkt
men der Begriff Abhängigkeit verwandt. Schmerzhemmung, Unterdrückung negativer Ge-
fühle, insbesondere auch bei Einsamkeit und Isola-
> Eine Abhängigkeit liegt nach ICD-10
tion. Deshalb können Suchtmittel für viele Drogen-
dann vor, wenn mindestens 3 der folgenden
abhängige sozusagen soziale Bindungen ersetzen
Kriterien erfüllt sind:
und tragen damit zum sozialen Rückzug bei.
5 ein starkes Verlangen oder eine Art
Zwang, die Substanz zu konsumieren,
Alkohol Alkohol ist die in der westlichen Welt am
5 verminderte Kontrolle über den Substanz-
weitesten verbreitete Droge. Deutschland liegt in-
gebrauch,
ternational auf den vorderen Plätzen beim Alkohol-
5 körperliches Entzugssyndrom,
konsum. 9,5 Mio. Menschen in Deutschland neh-
5 Toleranzentwicklung, d. h. es müssen
men mehr Alkohol zu sich, als ihrer Gesundheit gut
immer größere Mengen konsumiert
tut. Bei 3,1 % (1,8 Mio.) liegt eine Alkoholabhängig-
werden,
keit, bei 3,4 % (1,6 Mio.) ein Alkoholmissbrauch
5 Einengung des Lebens auf den Substanz-
vor. Riskanter Konsum ist bei jungen Menschen
gebrauch unter Vernachlässigung anderer
besonders häufig (über die Hälfte der Männer, über
wichtiger Interessensbereiche,
ein Drittel der Frauen). Bei Jugendlichen ist das
5 anhaltender Substanzgebrauch trotz
Rauschtrinken (»Komasaufen«, binge drinking) ver-
schädlicher Folgen.
breitet. Alkohol hat schädliche Gesundheitswirkun-
Obwohl auch eine genetische Disposition besteht gen, wie Leberzirrhose, Kardiomyopathie und
(vor allem bei Männern, weniger stark bei Frauen), Krebserkrankungen des oberen Verdauungstrakts.
4.5 · Motivation
153 4
Die psychischen Wirkungen des Alkohols be- Kettenrauchen). Es erhöht Reaktionszeit, Konzent-
stehen in einer Sedierung und einer milden Eupho- ration und Muskelanspannung, vermindert Aggres-
risierung. Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksam- sion, Angst und Langeweile. Die stimulierende Wir-
keit, Urteilsvermögen, Kritikfähigkeit und psycho- kung erfolgt durch Stimulation der nikotinergen
motorische Fähigkeiten nehmen ab. Es kommt zu Acetylcholinrezeptoren. Da Nikotin länger am Re-
einer Enthemmung, die Neigung zur Gewalttätig- zeptor verbleibt als Acetylcholin selbst, erfolgt eine
keit nimmt zu. Alkohol unterdrückt die Schmerz- Hochregulation. Diese ist für die Entzugssympto-
empfindung. me, wie Nervosität, Unruhe, aggressives Verhalten
Für die Alkoholwirkung ist eine ganze Reihe von und Konzentrationsstörungen, verantwortlich. Da-
zentralnervösen Prozessen bedeutsam. Neben den neben spielt wieder das dopaminerge mesolimbi-
schon erwähnten Dopamin- und Opioidsystemen sche Belohnungssystem eine Rolle.
spielen 2 weitere Neurotransmitter eine wichtige
Rolle: Glutamat und GABA. Glutamat, ein erregen- Kokain Kokain wird in Deutschland von 0,8 % der
der Neurotransmitter, wird durch Alkoholwirkung erwachsenen Bevölkerung mindestens 1-mal im
gehemmt, GABA, ein hemmender Transmitter, hin- Jahr konsumiert, 0,2 % sind abhängig (Stand 2012).
gegen verstärkt. Auch hier kommt es zu kompensa- Die entsprechenden Häufigkeiten für Ampheta-
torischen Gegenregulationen, die Toleranz und Ent- mine betragen 0,7 % bzw. 0,1 %. Kokain gehört in
zugssymptome infolge Übererregung bewirken. die Klasse der Stimulanzien und bewirkt positive
Auflösung sozialer Beziehungen sowie Verlust Stimmung, Euphorie, Energie, Steigerung der
des Arbeitsplatzes und der Wohnung sind häufige Konzentrationsfähigkeit, Selbstsicherheit, Kontakt-
Folgen einer Alkoholabhängigkeit. In der Therapie freude und sexuelle Anregung sowie eine Unter-
der Alkoholabhängigkeit werden Verhaltensthe- drückung des Müdigkeitsgefühls. Diese Wirkung
rapie und Pharmakotherapie eingesetzt. Die Er- kommt durch eine Hemmung der Wiederaufnahme
folgsaussichten einer stationären Behandlung liegen von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in die
nach einem Jahr bei ca. 50 %. Die Rückfallgefahr ist präsynaptische Endigung zustande. Als Gegenregu-
hoch. Günstige Faktoren für den Therapieerfolg lation nimmt die Zahl der Dopaminrezeptoren ab,
sind Vertrauen in die eigene Kompetenz (Selbst- die Zahl der Transportermoleküle zu. Dies bewirkt
wirksamkeit), zuverlässige Mitarbeit bei der Be- Toleranzentwicklung und Entzugssymptome, wie
handlung und ein unterstützendes soziales Netz- Angstzustände, erhöhte Aggressivität und Hallu-
werk. Für die Aufrechterhaltung einer langfristigen zinationen. Typisch ist das starke Verlangen nach
Abstinenz sind Selbsthilfegruppen, wie die Anony- Kokain (craving). Körperliche Folgen umfassen
men Alkoholiker, von großer Bedeutung. Herzrhythmusstörungen, erhöhtes Risiko für Herz-
infarkt, Schlaganfall und tödliche Krampfanfälle.
Nikotin Ein Problembewusstsein dafür, dass Ziga- Schon während des akuten Gebrauchs können
rettenrauchen ebenfalls eine Sucht darstellt, beginnt Gefäßverengung, Blutdruckerhöhung, Schwitzen
sich zunehmend zu entwickeln. Zur Häufigkeit und und bei höherer Dosierung Kopfschmerzen, Übel-
Behandlung der Nikotinabhängigkeit, 7 Abschn. keit, Zittern, Muskelkrämpfe, Schwindel und Ohn-
10.3.1. Raucher leiden doppelt so häufig wie Nicht- machtsgefühle auftreten.
raucher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Herzin-
farkt, Schlaganfall, arterielle Verschlusskrankheit). Opiate Die Wirksubstanz des Opiums ist Morphin
Das Risiko für Lungenkrebs und andere Krebser- und (in geringerem Umfang) Kodein. Aus Morphin
krankungen ist dramatisch erhöht. Dabei besteht wird Heroin hergestellt, das eine höhere Potenz hat
eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Zahl und extrem abhängigkeitserzeugend ist. Zur Häu-
der Zigaretten pro Tag und der Höhe des Risikos. figkeit der Heroinabhängigkeit in Deutschland gibt
Raucher sterben im Durchschnitt 10 Jahre früher es nur unzuverlässige Schätzungen. Körperliche
als Nichtraucher. Folgen umfassen Abszesse, Herzschädigungen und
Nikotin hat wegen seiner geringen Halbwerts- Atemdepression. Die Mortalität ist hoch und liegt
zeit nur eine relativ kurzfristige Wirkung (Folge: bei 20 % im Verlauf von 10 Jahren. Häufigste Ur-
154 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

sache ist eine Überdosis. Bei regelmäßigem Opiat- und Depression auftreten (Horrortrip). Der wich-
konsum entwickelt sich schnell Toleranz, bedingt tigste Vertreter ist LSD (Lysergsäurediethylamid).
durch eine Abnahme der Empfindlichkeit von Gewohnheitsmäßiger Konsum geht mit Toleranz-
Opiatrezeptoren. Die psychische Wirkung besteht entwicklung infolge einer schwächeren Ansprech-
in Euphorie, Wärme und Wohlbefinden bis hin zu barkeit der Serotoninrezeptoren einher. Während
einem ekstatischen Zustand. Wichtig ist, dass körperliche Entzugserscheinungen selten sind, be-
eine klassische Konditionierung eintritt, wenn der steht die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit.
Drogenkonsum immer im selben sozialen Um- Ecstasy hat eine entspannende, anregende und
4 feld erfolgt. Dann kann diese Umgebung selbst zu emotionssteigernde Wirkung. Es löst euphorische
einem konditionierten Reiz für Toleranzentwick- Gefühle bis hin zur Ekstase aus und fördert die
lung werden, so dass umso stärkere Entzugserschei- Kommunikation, hat aber manchmal auch Wahr-
nungen auftreten und die Dosis gesteigert werden nehmungsveränderungen zur Folge, wie ein inten-
muss. siveres Empfinden der Musik bis hin zu Hallu-
Die Behandlung besteht aus mehreren Kompo- zinationen. Blutdruck und Puls steigen an, der
nenten. Dazu gehört die Methadonsubstitution, Appetit nimmt ab. Eine Gefahr liegt darin, dass der
um die Abhängigen aus der Beschaffungskrimina- Flüssigkeits- und Mineralverlust während inten-
lität herauszulösen, ihnen den Ausstieg aus dem siver körperlicher Anstrengungen, wie stunden-
Drogenmilieu zu erleichtern und sie in ständigen langem Tanzen, nicht mehr rechtzeitig wahrge-
Kontakt mit medizinischem und sozialtherapeu- nommen wird, so dass tödliches Nierenversagen
tischem Personal zu halten. Infolgedessen sinkt und Herz-Kreislauf-Versagen auftreten können.
die Mortalität, soziale Integration und subjektiver Zudem ist wegen der illegalen Herstellung die ge-
Gesundheitszustand verbessern sich. Nach abge- naue Zusammensetzung der Ecstasy-Pillen nicht
schlossener stationärer Entgiftung kann der Opiat- bekannt, toxische Verunreinigungen kommen vor.
antagonist Naloxon eingesetzt werden, der die Ecstasy fördert die Serotoninfreisetzung und
euphorisierende Wirkung der Droge unterdrückt. hemmt die Wiederaufnahme aus dem synaptischen
Spalt. Langfristig wird die Serotoninsynthese redu-
> Unerlässlich, um langfristige Abstinenz zu
ziert, und es kommt zum Synapsenabbau. Es wirkt
erreichen, ist eine durch spezialisierte Psy-
neurotoxisch und schädigt kognitive Funktionen,
chotherapeuten durchgeführte ambulante
wie Gedächtnis, Lernen und strategisches Planen.
oder (meist) stationäre Drogentherapie. Die
Das psychische Abhängigkeitspotential resultiert
Erfolgsaussichten sind jedoch begrenzt. Nach
aus einer nachlassenden Wirkung bei längerem Ge-
einem Jahr werden 80 % der Drogenabhän-
brauch, so dass zusätzliche Drogen eingenommen
gigen rückfällig. Nur wer sich radikal aus dem
werden.
Drogenmilieu herauslöst bleibt abstinent.
70 % der Opiatabhängigen verzichten trotz
Cannabis Cannabis (Marihuana, Haschisch) ist die
eines großen Angebots auf eine therapeuti-
am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutsch-
sche Betreuung.
land. Erfahrung mit Cannabis haben 23 %, im letz-
ten Jahr konsumiert haben es 4,5 %, abhängig sind
Halluzinogene Halluzinogene bewirken Halluzina- 0,5 % (Stand 2012). Die Tendenz ist jedoch rückläu-
tionen und Illusionen, d. h. Wahrnehmungsver- fig, insbesondere bei Jugendlichen. Cannabis ent-
änderungen wie z. B. ein reichhaltigeres Farben- hält 60 Cannabinoide, z. B. Delta-9-Tetra-Hydro-
spektrum oder Verschmelzungen von Wahrneh- cannabinol. Es hat vegetative und zentralnervöse
mungsobjekten, die sehr bizarr sein und eine Nähe Wirkungen, steigert das Hungergefühl, beschleu-
zu psychotischen Erlebnissen besitzen können. Sie nigt den Herzschlag, führt zu Pupillenerweiterung
wurden früher auch als bewusstseinserweiternde und Mundtrockenheit. Psychisch bewirkt es Ent-
(psychedelische) Drogen bezeichnet. Während des spannung, mäßige Euphorie, aber auch Apathie,
Rausches besteht eine positive Stimmung. In der verlangsamtes Zeiterleben und verstärkte Wahr-
Nachwirkungsphase können jedoch Angst, Unruhe nehmungsintensität bis hin zu Illusionen und Hal-
4.6 · Persönlichkeit und Verhaltensstile
155 4
luzinationen. Das Selbstvertrauen und auch das zu Rückfällen kommen. Darauf sollte man den
sexuelle Verlangen werden gesteigert. An Neben- Patienten vorbereiten: »Rückfälle sind nor-
wirkungen treten Ängste, Depression und Verfol- mal.« Der Patient sollte versuchen zu verste-
gungswahn auf. Die motorische Koordinations- hen, weshalb es zum Rückfall kam, und be-
fähigkeit ist beeinträchtigt, die Tiefenwahrneh- stärkt werden, indem man ihn auf seine frühe-
mung ungenau, so dass beim Autofahren eine er- ren Erfolge hinweist, damit er sich nicht als
höhte Unfallgefahr besteht. Versager fühlt.
Die Wirkung wird über Cannabinoid-Rezep-
toren vermittelt, die eine hemmende Wirkung auf Prävention Kurzfristige Medienkampagnen waren
die Neurotransmitterfreisetzung besitzen. Derartige bisher wenig erfolgreich. Erfolg versprechender sind
Rezeptoren finden sich z. B. in der Amygdala und langfristige Anstrengungen, die den Erwerb von
dem Hippocampus. Es gibt auch körpereigene Kompetenzen und die soziale Einbindung fördern.
Liganden, wie das Anandamid. Zwar wird bei
i Vertiefen
Cannabis eine geringere Toleranzentwicklung be-
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische
schrieben, bei höheren Dosen und häufigem
Psychologie, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
Gebrauch tritt jedoch ebenfalls Toleranz ein. Eine
New York (ausführliche Darstellung der biologi-
Abhängigkeit besteht bei 10 % der starken Konsu-
schen Grundlagen der Motivation)
menten.
Heckhausen J, Heckhausen H (2010) Moti-
> Die Gefahren von Cannabis liegen zum einen vation und Handeln, 4. Aufl. Springer, Berlin
darin, dass infolge der belohnenden Eigen- (klassisches Lehrbuch)
schaften der Substanz andere Aktivitäten, Schandry R (2011) Biologische Psychologie,
wie Schule, Hobbies und soziale Kontakte, 3. Aufl. Beltz, Weinheim (knappe, gut verständ-
vernachlässigt werden, und zum zweiten liche Einführung in die biologischen Aspekte der
in kognitiven Störungen (Konzentration, Ge- Sucht)
dächtnis) sowie einem erhöhten Risiko einer
Psychose.

4.6 Persönlichkeit
Beratung Bei der Beratung von Patienten mit und Verhaltensstile
Substanzmissbrauch ist es wichtig zu erfahren, auf
welcher Motivationsstufe sie sich befinden (7 Ab- H. Faller
schn. 10.2.2). Wenn sie sich noch keine Gedanken
darüber gemacht haben, mit dem Missbrauch auf- Lernziele
zuhören, ist es wichtig, ein Gespräch ohne die un- Der Leser soll
realistische Erwartung zu beginnen, dass sich kurz- 5 Kriterien für Persönlichkeitseigenschaften
fristig etwas daran ändern wird. Erst muss ein Be- nennen und beschreiben können,
wusstsein für die möglichen Schäden geschaffen 5 Vorteile dimensionaler Persönlichkeitsmodelle
werden, indem Vor- und Nachteile des Drogen- gegenüber typologischen Persönlichkeitsmo-
gebrauchs diskutiert werden. Beispiel: »Alkohol dellen nennen können,
kann einem helfen, sich zu entspannen und sich in 5 die 5 Persönlichkeitsfaktoren des Big-Five-
Gesellschaft wohl zu fühlen. Aber wenn man be- Modells benennen können,
trunken ist, wirkt das auf andere sehr abstoßend. 5 Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Wohlbe-
Wie sind da Ihre Erfahrungen?« finden als Persönlichkeitsmerkmale einordnen
können,
> Erst wenn eine Motivation hergestellt ist, 5 kognitive und Verhaltensstile beschreiben
kann man über Strategien reden, den Drogen- können,
gebrauch durch sinnvollere Beschäftigungen 5 die Komplexität der Entwicklung einer anti-
zu ersetzen. Gleichwohl wird es regelmäßig sozialen Persönlichkeit beschreiben können.
156 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

4.6.1 Persönlichkeit Extraversion und Offenheit für neue Erfahrungen


ab. Dabei ist noch offen, ob es sich bei diesen in
Persönlichkeit ist definiert als die Gesamtheit vielen Kulturen zu beobachtenden Entwicklungen
der Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen. um intrinsische Reifungsprozesse handelt oder um
Menschen unterscheiden sich in der Ausprägung eine Folge der Umweltanforderungen, die Berufs-
ihrer Persönlichkeitseigenschaften. Deshalb wird tätigkeit und Familiengründung mit sich bringen.
die Persönlichkeitspsychologie auch Psychologie
der interindividuellen Unterschiede oder differen- Transsituative Konsistenz Persönlichkeitseigen-
4 zielle Psychologie genannt. schaften sind Verhaltensdispositionen, die bewir-
Persönlichkeitseigenschaften sind Konstrukte, ken, dass Menschen auf eine bestimmte Situation in
die nicht beobachtbar sind, sondern aus dem Ver- einer bestimmten Weise reagieren. Eine Person, die
halten eines Menschen erschlossen werden. Am beispielsweise eine hohe Ausprägung der Persön-
aussagekräftigsten ist die direkte Beobachtung des lichkeitseigenschaft »Ängstlichkeit« besitzt, wird in
Verhaltens einer Person in einer bestimmten Situa- bestimmten Situationen eher ängstlicher reagieren
tion. Die am häufigsten verwandte Methode der als eine Person, die eine geringe Ausprägung der
Persönlichkeitsmessung ist jedoch der Persönlich- Ängstlichkeit aufweist. Sie muss natürlich keines-
keitsfragebogen (Test), der auf Selbsteinschätzun- falls in allen Situationen ängstlich reagieren, gleich-
gen der Probanden basiert. wohl wird sie innerhalb einer Vergleichsgruppe
eher zu den ängstlicheren gehören. Die transsitua-
> Damit ein Merkmal als Persönlichkeits-
tive Konsistenz fällt meist geringer aus als die zeit-
eigenschaft gelten kann, muss es folgende
liche Stabilität, da neben der Persönlichkeit auch
Kriterien erfüllen:
Merkmale der jeweiligen Situation eine Rolle spie-
5 zeitliche Stabilität,
len (Person-Situation-Interaktion). Je ähnlicher die
5 transsituative Konsistenz.
Situation, desto ähnlicher aber das Verhalten. In der
Psychophysiologie spricht man von einer indivi-
Zeitliche Stabilität Persönlichkeitseigenschaften dualspezifischen Reaktion, wenn ein Individuum
sind mittelfristig zeitlich stabil. Mittelfristig bedeu- auf viele unterschiedliche Situationen (Stimuli) in
tet über Monate oder Jahre. Zeitlich stabile Merk- gleicher Weise reagiert (z. B. mit Herzklopfen), im
male werden Trait-Merkmale genannt, im Unter- Unterschied zu stimulusspezifischen Reaktionen,
schied zu zeitlich instabilen, kurzfristig wechseln- die je nach Situation wechseln.
den State-Merkmalen, wie z. B. Stimmungen. Die Hintergrundinformation
zeitliche Stabilität wird mittels einer Korrelation Dunedin-Studie
zwischen 2 Testungen bestimmt. Eine Korrelation Eine wichtige, aufwendige Längsschnittuntersuchung zur
von r =1 bedeutet einen perfekten Zusammenhang. Persönlichkeitsentwicklung stellt die Dunedin-Studie dar
(Caspi 2000). Sie hat ihren Namen von einer neuseelän-
Beim Persönlichkeitsmerkmal Extraversion korre-
dischen Kleinstadt, in der eine komplette Kohorte der Kinder,
lieren beispielsweise 2 Messungen, die im Abstand die im Verlauf eines Jahres geboren wurden (1.037 Indivi-
eines Jahres vorgenommen werden, mit r =0,98 duen), ab dem Alter von 3 Jahren in 2-jährigen Abständen bis
(wahre, um den Messfehler bereinigte Korrelation). ins Erwachsenenalter psychologisch untersucht wurden. Im
Auch langfristig liegen die Stabilitätskoeffizienten Alter von 3 Jahren wurde eine eineinhalbstündige struktu-
rierte Verhaltensbeobachtung in mehreren definierten Situa-
nicht viel niedriger. Für die Big-Five-Persönlich-
tionen durchgeführt. Das erstaunlichste Ergebnis der Studie
keitsmerkmale (7 Abschn. 4.6.3) konnten Kontinui- ist, dass Temperamentsmerkmale im Alter von 3 Jahren die
täten vom Kindesgartenalter bis ins Erwachsenen- Persönlichkeit im Alter von 18 Jahren ebenso vorhersagten
leben nachgewiesen werden, selbst bei wechselnder wie die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen,
Erfassungsmethode und wechselnden Beurteilern. die Verfügbarkeit sozialer Unterstützung, Arbeitslosigkeit,
psychische Störungen und kriminelles Verhalten im Alter von
Hohe mittelfristige Stabilität schließt langfris-
21 Jahren. Beispiele: Unterkontrollierte Kinder (motorisch
tige Persönlichkeitsveränderungen nicht aus: Im unruhig, leicht ablenkbar) hatten eine größere Häufigkeit an
Verlauf des Erwachsenenalters nehmen Gewissen- Selbstmordversuchen, Alkoholmissbrauch, antisozialer Per-
haftigkeit und Verträglichkeit zu, Neurotizismus, sönlichkeit und Gewalttaten. Gehemmte Kinder (schüchtern,
4.6 · Persönlichkeit und Verhaltensstile
157 4
ängstlich) wiesen eine größere Häufigkeit von Depression Emotionalität (Neurotizismus), positive Emotiona-
und auch Gewalttaten auf, jeweils im Vergleich zu unauffäl- lität (Extraversion) und Disinhibition (Psychotizis-
ligen, gut angepassten Kindern. (Allerdings ist es keinesfalls
mus) werden auch als die Big Three bezeichnet.
so, dass die Mehrheit der unterkontrollierten bzw. gehemm-
ten Kinder psychisch auffällig würden: Über 90 % der unter- Unter Disinhibition wird das Fehlen von Zurück-
kontrollierten begingen beispielsweise keinen Selbstmord- haltung verstanden, was sich z. B. in Impulsivität
versuch bzw. keine Gewalttat.) Temperamentsmerkmale, die oder mangelndem Respekt vor sozialen Konven-
schon in jungen Jahren gemessen werden können, zeigen tionen äußert.
also eine Kontinuität bis ins Erwachsenenalter, die sich in
Persönlichkeitsdimensionen werden durch einen
vielen Lebensbereichen manifestiert.
Persönlichkeitsfragebogen (Persönlichkeitstest) ge-
messen. Bei der Konstruktion eines solchen Tests
Typologische Modelle Dem alltagspsychologischen geht der Forscher folgendermaßen vor: Er grenzt zu-
Denken kommt eine Einteilung der Menschen in nächst den Eigenschaftsbereich ein, der durch den
Persönlichkeitstypen nahe: Ein extravertierter Typ Test erfasst werden soll. Dann sammelt er einzelne
geht gerne auf Partys, ein ängstlicher Typ macht sich Fragen, in der die zu messenden Persönlichkeits-
wegen der bevorstehenden Prüfung Sorgen. In der eigenschaften zum Ausdruck kommen. Diese Fragen
Vergangenheit war die Persönlichkeitspsychologie sind meist als Aussagen formuliert (z. B. »Ich bin im
von Typologien dominiert. Heute jedoch nur noch Allgemeinen eher ängstlich.«), deren Zutreffen vom
von historischem Interesse sind Klassifikationen Probanden beurteilt werden soll. Im nächsten Schritt
wie diejenige von Hippokrates (460–377 v. Chr.) geht es darum, die erfragten Merkmale auf wenige
nach den Körpersäften – Sanguiniker, Melancho- voneinander unabhängige Dimensionen zu reduzie-
liker, Choleriker, Phlegmatiker – oder die Körper- ren. Dies geschieht mit dem statistischen Verfahren
bautypologie von Kretschmer – Leptosome, Pykni- der Faktorenanalyse. Die Faktorenanalyse fasst
ker, Athletiker. Zusammenhänge zwischen kör- diejenigen Fragen in einer Gruppe (einem Faktor)
perlichen und psychischen Merkmalen haben sich zusammen, die hoch miteinander korrelieren, d. h.
empirisch nicht bestätigt. Zudem kann sich der die von den Probanden in ähnlicher Weise beantwor-
Körperbau im Lauf des Lebens ändern. tet werden. Die Dimension »Ängstlichkeit« könnte
Der große Nachteil typologischer Modelle liegt beispielsweise neben anderen die Einzelfragen »Ich
darin, dass die Vielfalt menschlicher Persönlich- bin im Allgemeinen eher ängstlich« und »Ich bin im
keiten extrem vereinfacht wird, indem alle Men- Allgemeinen eher überempfindlich« enthalten. Die
schen in wenige Kategorien eingeordnet werden. Antworten auf die Einzelfragen werden zu einem
Ein solches Schubladendenken wird der Vielgestal- Summenwert der jeweiligen Dimension addiert.
tigkeit der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht. Wenn man die Werte auf den Dimensionen eines
Dieser Mangel wird auch darin deutlich, dass reale Tests (z. B. den 5 Dimensionen des Big-Five-Modells)
Personen meist keinen reinen Typ repräsentieren graphisch miteinander verbindet, gewinnt man ein
und Mischtypen sehr häufig sind. sog. Persönlichkeitsprofil. Wegen der Bedeutung
der Faktorenanalyse, eines statistischen Verfahrens,
> Moderne Persönlichkeitstheorien sind
werden die dimensionalen Modelle auch statistische
dimensionale Modelle.
Modelle genannt.

Dimensionale Modelle In dimensionalen Modellen


setzt sich die Persönlichkeit aus mehreren Dimen- 4.6.2 Persönlichkeitstheorien
sionen zusammen, die bei unterschiedlichen Men-
schen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Diese Psychodynamischer Ansatz Der psychodynami-
Dimensionen sind frei miteinander kombinierbar. sche Ansatz basiert auf einem entwicklungspsycho-
Das wichtigste dimensionale Persönlichkeitsmodell logischen Phasenmodell, in dem für jede Phase be-
ist das Big-Five-Modell (7 Abschn. 4.6.3). Ein an- stimmte Konflikte beschrieben werden (7 Abschn.
deres Beispiel ist das Persönlichkeitsmodell von 2.3.2). Er nimmt nun an, dass die Bewältigung die-
Eysenck. Dessen 3 Persönlichkeitsfaktoren negative ser phasenspezifischen Konflikte misslingen kann,
158 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

wenn durch die Erziehung die entsprechenden gressivem Verhalten. Kinder sind also nicht nur
Triebwünsche entweder zu stark (Versagung) oder »Opfer« ihrer Eltern, sondern Eltern auch »Opfer«
aber zu wenig (Verwöhnung) eingeengt werden. ihrer Kinder.
Dann kommt es zu einer Fixierung auf der entspre- Der naive Optimismus, dass man durch eine
chenden Phase, die die Persönlichkeit prägt. entsprechende Gestaltung der Umwelt die Persön-
lichkeit eines Menschen beliebig verändern könne,
Psychodynamische Charaktertypen wie er den Behaviorismus prägte, wirkt noch heute
5 Schizoider Charakter: kontaktarm, einzel- in der Alltagspsychologie nach. Viele Menschen
4 gängerisch, unsicher im Umgang mit glauben, dass Persönlichkeit durch geeignete Erzie-
anderen Menschen, wenig Zugang zu deren hung in hohem Maße formbar wäre. Dies scheint
Gefühlswelt (nicht zu verwechseln mit jedoch nicht der Fall zu sein.
Schizophrenie)
5 Oraler (depressiver) Charakter: Gier nach Dynamisch-interaktionistischer Ansatz Auch wenn
Speisen, Suchttendenzen, Bedürfnis Persönlichkeit und Umwelt einer Person mittelfris-
nach Harmonie und Abhängigkeit, großes tig konstant sind, beeinflussen Persönlichkeit und
Einfühlungsvermögen, Konfliktvermeidung Umwelt einander wechselseitig, so dass sich lang-
5 Analer (zwanghafter) Charakter: ordent- fristig beide ändern können. Dies ist Kerngedanke
lich, sparsam, eigensinnig, gewissenhaft, des dynamisch-interaktionistischen Ansatzes. Vor
genau, pünktlich allem, dass Personen ihre Umwelt verändern kön-
5 Phallischer (hysterischer) Charakter: nen, ist ein neuer Gesichtspunkt, der von den klas-
rivalisiert gern, dominiert gern andere, sischen Persönlichkeitstheorien nicht ausreichend
großzügig, unbekümmert, phantasievoll, berücksichtigt wird. Beispiel für Veränderung der
überemotional. Umwelt durch die Persönlichkeit ist die Wahl eines
Partners oder der Beginn einer Freundschaft. Bei-
spiel für die Wechselwirkung zwischen Person und
Umwelt ist die Interaktion zwischen der Persön-
Lerntheoretischer Ansatz Im lerntheoretischen An- lichkeit des Kindes und dem Erziehungsstil der
satz wird die Rolle der Umwelt stark betont: Per- Eltern. Erziehung beeinflusst die Persönlichkeit,
sönlichkeit ist Ergebnis der Lerngeschichte eines aber die Persönlichkeit des Kindes beeinflusst auch
Menschen, d. h. der Erfahrungen, die er mit seiner das elterliche Verhalten, und zwar von Geburt an
Umwelt gemacht hat (7 Abschn. 2.1, 7 Abschn. 4.2). (7 Abschn. 4.7). Ein sog. Schreikind, das kaum zu
Es wird weniger gesehen, dass Menschen umgekehrt beruhigen ist, macht es seinen Eltern schwer, ein
auch Einfluss auf ihre Umwelt ausüben, indem sie angemessenes Verhalten zu zeigen. Am Beispiel der
die zu ihrer Persönlichkeit passenden Umweltsitua- antisozialen Persönlichkeit wird der dynamisch-
tionen auswählen, herstellen oder verändern. Wenn interaktionistische Ansatz weiter unten noch aus-
z. B. bei aggressiven Kindern ein rigider Erziehungs- führlicher illustriert.
stil der Mutter beobachtet wird, so würde der lern-
theoretische Ansatz das Verhalten der Mutter als
Ursache der Aggression des Kindes annehmen. 4.6.3 Big-Five-Persönlichkeitsmodell
Es ist aber auch umgekehrt möglich, dass das
aggressive Verhalten des Kindes bei der Mutter ein Das derzeit wichtigste Persönlichkeitsmodell ist das
rigides Erziehungsverhalten auslöst. Dies ließ sich Fünf-Faktoren-Modell. Die als Big Five bezeichne-
experimentell zeigen, indem man in einer Beobach- ten 5 Persönlichkeitsdimensionen stellen sozusagen
tungssituation Mütter und Kinder »austauschte«: die Quintessenz der bisherigen Persönlichkeitsfor-
Aggressive Jungen riefen bei Müttern nichtaggres- schung dar. Sie wurden auf der Basis vieler unter-
siver Kinder rigides, feindseliges Verhalten hervor. schiedlicher Methoden in vielen unterschiedlichen,
Umgekehrt provozierten die Mütter aggressiver auch nichtwestlichen Kulturen im Großen und
Jungen aber nicht die friedfertigen Jungen zu ag- Ganzen bestätigt. Sie gelten deshalb als universell.
4.6 · Persönlichkeit und Verhaltensstile
159 4
> Die 5 Persönlichkeitsfaktoren sind: wohl aber mit ihren biologischen Eltern. Was lässt
5 Extraversion (vs. Introversion) sich aus diesen beiden in der Persönlichkeitsfor-
5 Neurotizismus (emotionale Stabilität vs. schung immer wieder bestätigten Befunden schlie-
emotionale Labilität) ßen? Für die Ähnlichkeit zwischen Zwillingen bzw.
5 Gewissenhaftigkeit Geschwistern sind die Gene verantwortlich, die
5 Verträglichkeit Umwelt trägt hierzu kaum etwas Zusätzliches bei.
5 Offenheit für Erfahrungen Umwelteinflüsse spielen hingegen für die Unter-
schiedlichkeit der Kinder eine Rolle. Denn keine
Korrelation erreicht den Wert von 1, was vollstän-
Big-Five-Persönlichkeitsdimensionen dige Gleichheit bedeuten würde. Wenn Umweltein-
5 Extraversion: Extravertierte Menschen sind flüsse für die Unterschiedlichkeit verantwortlich
gesellig, aktiv, durchsetzungsfähig und sind, können dies natürlich keine Umwelteinflüsse
offen. Introvertierte Menschen, die am Ge- sein, die auf alle Mitglieder einer Familie in gleicher
genpol der Dimension angesiedelt sind, Weise wirken (geteilte Umwelt), sondern es muss
sind still, schüchtern und zurückgezogen. die jeweilige individuelle, nichtgeteilte Umwelt sein,
5 Neurotizismus: Menschen mit hohem Neu- die hier von Bedeutung ist (7 Abschn. 2.1.4).
rotizismuswert sind ängstlich, angespannt,
> Die Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften
impulsiv, emotional instabil, nervös, ver-
zeigen alle einen substanziellen genetischen
letzlich und unzufrieden, im Unterschied zu
Einfluss, der im Mittel 45 % der Varianz
stabil, ruhig und zufrieden.
(Unterschiedlichkeit der Individuen) aufklärt,
5 Gewissenhaftigkeit: Gewissenhafte Men-
einen substanziellen Einfluss von im Mittel
schen sind sorgfältig, verantwortungsvoll,
40 % der nichtgeteilten, individuellen Um-
zuverlässig, besonnen. Menschen, die nied-
welt (inkl. prä-, peri- und postnataler biolo-
rige Werte auf dieser Dimension besitzen,
gischer Faktoren) und einen sehr kleinen Ein-
sind hingegen sorglos, unordentlich, unzu-
fluss der geteilten Umwelt.
verlässig und leichtsinnig.
5 Verträglichkeit: Verträgliche Menschen Noch höhere Erblichkeitsschätzungen (bis zu 80 %)
sind gutmütig, bescheiden, mitfühlend, findet man, wenn man durch mehrfache Messun-
herzlich, großzügig, vertrauensvoll, hilfsbe- gen den Messfehler vermindern kann. Die maß-
reit, im Gegensatz zu unfreundlich, streit- geblichen Vertreter des Big-Five-Modells gehen
süchtig, undankbar oder hartherzig. deshalb so weit zu sagen, dass es sich bei den 5 Per-
5 Offenheit für Erfahrungen: Offene Men- sönlichkeitsfaktoren um biologisch begründete
schen sind vielfältig interessiert, ein- Eigenschaften handelt, die einer intrinsischen Ent-
fallsreich, phantasievoll, wissbegierig und wicklung unterliegen, auf die die Umwelt nur wenig
kreativ, im Unterschied zu Menschen, Einfluss hat. Umwelteinflüsse werden nur für die
die wenig Interesse an kulturellen Dingen konkrete Ausgestaltung der Persönlichkeit wie Ein-
haben und ein eher einfaches, oberfläch- stellungen und Gewohnheiten zugestanden.
liches Denken zeigen. Zumindest trägt die Familienumwelt wenig
über die in einer Familie geteilten Gene hinaus zu-
sätzlich dazu bei, dass Kinder einander ähnlich wer-
Anlage und Umwelt Zwillinge, die getrennt auf- den. Dies relativiert beispielsweise die Bedeutung
wachsen, korrelieren hinsichtlich ihrer Persönlich- von Erziehungsstilen, die auf alle Kinder einer Fa-
keitsmerkmale ebenso hoch miteinander wie Zwil- milie gleichermaßen einwirken. Es heißt jedoch
linge, die zusammen aufwachsen. (Dies gilt für nicht, dass familiäre Ereignisse (z. B. eine Schei-
eineiige Zwillinge ebenso wie für zweieiige, wobei dung) bedeutungslos wären, sondern dass solche
die Korrelationen bei eineiigen Zwillingen natürlich Ereignisse von den Mitgliedern einer Familie nicht
höher sind.) Adoptierte Kinder korrelieren nicht in gleicher Weise erfahren werden, und dies wohl
mit ihren Adoptivgeschwistern oder Adoptiveltern, auch wiederum in Abhängigkeit von der Persön-
160 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

lichkeit. Die Sozialisationsforschung (7 Abschn. 4.7, unserer Persönlichkeit kommen. Sie ziehen ihre
7 Abschn. 4.8) muss sich deshalb vor allem der Frage Schlüsse aus unserem Verhalten, das ja von uns un-
zuwenden, auf welche Weise Ereignisse die einzel- bekannten Motiven gesteuert sein kann. Fremd-
nen Mitglieder einer Familie individuell treffen beurteilungen erfassen deshalb unter Umständen
oder von ihnen unterschiedlich erlebt und verarbei- die implizite Seite unseres Selbst besser als die be-
tet werden. wusste Selbstsicht. Selbst- und Fremdbild beziehen
sich auf unterschiedliche Seiten unseres Selbst und
Persönlichkeit und Gesundheit Gewissenhafte stimmen deshalb oft nicht sehr gut miteinander
4 Menschen leben länger. Dass eine hohe Ausprä- überein. Da uns die unbewussten Prozesse so
gung des Persönlichkeitsmerkmals Gewissenhaftig- schwer zugänglich sind, ist eine forcierte Introspek-
keit mit einer geringeren Sterblichkeit einher- tion wenig fruchtbar. Um verborgene Seiten unseres
geht, wurde vielfach bestätigt. Der Zusammenhang Selbst zu entdecken, bringt es uns weiter, wenn wir
zwischen Gewissenhaftigkeit und geringerer Sterb- sozusagen »von außen« auf unser eigenes Handeln
lichkeit ist teilweise durch eine höhere Bildung und blicken und schauen, wie andere Menschen auf uns
ein günstigeres Gesundheitsverhalten (gesunde Er- reagieren.
nährung, körperliche Aktivität, weniger Rauchen) Das Selbstkonzept kann demnach als eine
vermittelt. In einer Längsschnittstudie sagte die von »Konstruktion« aufgefasst werden, die erklären soll,
den Lehrern beurteilte Persönlichkeit von Grund- warum wir uns in einer bestimmten Weise verhal-
schülern deren Gesundheitsverhalten 40 Jahre spä- ten oder entschieden haben. Diese Konstruktion
ter voraus. Persönlichkeitsmerkmale wie Neuroti- sollte natürlich nicht allzu weit von der Realität ent-
zismus sowie eine geringe Ausprägung von Gewis- fernt sein. Eine leicht rosarote Brille ist aber in Ord-
senhaftigkeit und teilweise auch von Extraversion nung. Positive Illusionen, d. h. die Vorstellung, dass
können für psychische Störungen disponieren. wir etwas attraktiver, intelligenter, großzügiger usw.
sind, als es eine realistische Analyse ergeben würde,
sind durchaus hilfreich, das Leben zu bewältigen,
4.6.4 Selbstkonzept ohne depressiv zu werden. Um herauszufinden, ob
unsere bewussten Entscheidungen mit unseren un-
Das Selbstkonzept ist das Bild, das man von sich bewussten Bedürfnissen übereinstimmen, können
selbst hat. Es ist mittelfristig stabil, also eine Persön- Emotionen hilfreich sein. Tun sie dies nämlich
lichkeitseigenschaft. Obwohl wir glauben, dass auch nicht, nimmt unser Wohlbefinden ab. Allerdings ist
andere Menschen uns so sehen wie wir selbst, stim- es nicht so sinnvoll, über die Gründe für Entschei-
men Selbst- und Fremdbild nicht sehr stark überein. dungen nachzugrübeln, denn dies kann negative
Wie kommt diese Diskrepanz zustande? Folgen haben: Die Zufriedenheit mit einer Ent-
Sowohl die kognitive Psychologie wie auch die scheidung nimmt ab, die Genauigkeit, mit der wir
neurobiologische Forschung haben festgestellt, dass unser zukünftiges Verhalten vorhersagen, vermin-
geistige Prozesse, wie Wahrnehmung, Analyse von dert sich ebenso wie der Zusammenhang zwischen
Information, kognitive Bewertungen und Hand- unseren wahrgenommen Gefühlen und unserem
lungssteuerung auf eine sehr adaptive Weise zum Verhalten. Wir laufen dann Gefahr, eine offizielle
größten Teil unbewusst erfolgen (7 Abschn. 4.3.1). Meinung über unser Selbst zu entwickeln, die nicht
Diese Prozesse sind unserem bewussten Erleben mit unseren impliziten Einstellungen überein-
kaum zugänglich. Wir sind deshalb in vielen Fällen stimmt (7 Abschn. 4.5.7).
darauf angewiesen, ex post plausible Gründe zu (er-)
finden, mit denen wir uns selbst unser Handeln er- Selbstwertgefühl Mit Selbstwertgefühl bezeichnet
klären. Wir konstruieren dadurch ein bewusstes man die Bewertung der eigenen Persönlichkeit, die
Selbstbild, das so aussieht, wie wir uns gerne sehen Zufriedenheit mit sich selbst. Es ist ebenfalls mittel-
würden. fristig stabil (Korrelation im Abstand von 1 Jahr
Andere Menschen, die unser Verhalten beob- r =0,93), wenngleich stärker von Stimmungen ab-
achten, müssen aber nicht zur selben Sichtweise hängig. Oft bewerten wir uns so, wie wir gerne sein
4.6 · Persönlichkeit und Verhaltensstile
161 4
würden. Meist ist das Selbstbild positiver als das Wenn ein Sensitizer beispielsweise ungewohnte
Fremdbild. körperliche Symptome wahrnimmt, wird er ver-
Dem liegt ein Motiv zur Selbstwerterhöhung suchen, ihnen auf den Grund zu gehen und alle not-
zugrunde, ein »gesunder Narzissmus«. Depressive wendigen Informationen einzuholen, um die be-
Menschen sehen sich dagegen realistischer oder un- drohliche Situation zu bewältigen. Ein Repressor
terschätzen sich sogar. Menschen, die sich jedoch zu hingegen wird versuchen, sich von den Symptomen
sehr überschätzen, kommen in ihrer Umgebung im Alltag nicht stören zu lassen, sie herunterzuspie-
ebenfalls nicht gut an. Man spricht dann von einem len, zu unterdrücken oder zu verdrängen.
»pathologischen Narzissmus« oder einer »narzis- Wenn man einen Repressor mit zu viel Informa-
stischen Persönlichkeitsstörung«. Diese ist durch tion konfrontiert, kann dies seinen Bewältigungsstil
Selbstüberschätzung, Großartigkeit in Phantasie labilisieren. Beispiel: Herzinfarktpatienten, die einen
und Verhalten, Bedürfnis nach Bewunderung, eher repressiven Bewältigungsstil verfolgten und an
Mangel an Empathie, starke Schwankungen des einem Interventionsprogramm teilnahmen, das eher
Selbstwertgefühls sowie hohe Empfindlichkeit ge- Vigilanz förderte (sie wurden einmal im Monat von
genüber Kritik gekennzeichnet. einer Krankenschwester angerufen und nach ihrem
Befinden gefragt), erlebten mehr Stress als die Kon-
Wohlbefinden Das persönliche Wohlbefinden trollgruppe und hatten eine kürzere Überlebenszeit.
schwankt um einen individuellen Sollwert. Dieser Die gut gemeinte Intervention hatte also die eigen-
Sollwert ist eine Persönlichkeitseigenschaft. Ob- ständige Bewältigung der Patienten eher behindert.
jektive Lebensumstände, wie z. B. das Einkommen, Psychische Unterstützung sollte sich deshalb am
haben einen relativ geringen Einfluss auf das Bewältigungsstil der Betroffenen orientieren und
Wohlbefinden. Beispiele: Bei Lottogewinnern zei- diesen nicht ohne Not in Frage stellen.
gen sich nur sehr kurzfristig vermehrte Glücks-
gefühle. Umgekehrt überwiegt schon 3 Wochen Interferenzneigung Mit Interferenzneigung wird
nach einer Querschnittslähmung bei den Betrof- die Störanfälligkeit gegenüber irrelevanten Reizen
fenen wieder der positive Affekt. Einflussfaktoren in einer Wahrnehmungssituation beschrieben. Man
auf das Wohlbefinden sind Persönlichkeitsmerk- prüft sie beispielsweise durch den Stroop-Test. Da-
male (positiv: Extraversion; negativ: Neurotizis- bei erhalten die Probanden mehrere Wörter (z. B.
mus) und positive oder negative Lebensereignisse, »rot«) vorgelegt, die in unterschiedlichen Farben
jedoch nur dann, wenn diese relativ kurze Zeit (z. B. »blau«) geschrieben sind. Sie müssen nun die
(binnen der letzten 3 Monate) vorher eingetreten Farben der Wörter benennen, ohne sich vom Inhalt
waren. Weiterhin sind Religiosität sowie das Ge- eines Wortes ablenken zu lassen.
fühl,  Kontrolle über das eigene Leben zu haben,
positive Einflussfaktoren. Umgekehrt ist psychi- Feldabhängigkeit Mit Feldabhängigkeit wird die
sches Wohlbefinden ein gesundheitlicher Schutz- Tendenz eines Menschen beschrieben, sein Verhal-
faktor. Sowohl bei Gesunden als auch bei Kranken ten an der Umgebung auszurichten anstatt an sei-
ist hohes Wohlbefinden mit verminderter Mortali- nen inneren Maßstäben.
tät assoziiert.
Sensation-Seeking Damit ist die Tendenz gemeint,
stimulierende Situationen aufzusuchen, z. B. die
4.6.5 Kognitive und Verhaltensstile Neigung zu riskantem Verhalten wie Drachen-
fliegen, schnellem Autofahren oder Drogenmiss-
> Sensitization-Repression: Menschen rea- brauch. Man vermutet, dass durch das Aufsuchen
gieren auf bedrohliche Ereignisse entweder neuer, stimulierenden Situationen eine zu geringe
dadurch, dass sie sich ihnen zuwenden Noradrenalin- und Dopaminaktivität ausgeglichen
(Sensitizer) oder sich von ihnen abwenden werden soll.
(Repressor). Sensitizer haben ein großes In- Eng verwandt damit ist Novelty-Seeking, die
formationsbedürfnis, Represser nicht. Suche nach Neuigkeit, Abwechslung und Auf-
162 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

regung. Für dieses Persönlichkeitsmerkmal hat sönlichkeitseigenschaft. Deshalb stellt sich bei der
man einen genetischen Risikofaktor gefunden: Bestimmung, was ein Umweltfaktor ist, das Pro-
ein bestimmtes Allel des Dopamin-Rezeptor-Gens blem, dass Umweltsituationen oft persönlichkeits-
D-4, das zu einem Dopamindefizit führt. Die Suche abhängig definiert werden. Beispiel: Einsamkeit
nach Neuigkeit wird möglicherweise unternom- korreliert hoch negativ mit der Zahl der als unter-
men, um den Dopaminspiegel zu erhöhen. Das stützend erlebten Beziehungen. Führen zu wenige
DRD-4-Gen-Allel stellt zudem einen Risikofaktor unterstützende Beziehungen zu Einsamkeit? Oder
für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- erleben einsame Menschen Beziehungen seltener
4 Störung dar. als unterstützend? Noch deutlicher wird dieses Pro-
blem, wenn in die Erfassung des Umweltfaktors eine
Feindseligkeit Feindseligkeit, d. h. die Disposition subjektive Bewertung eingeht: Einsamkeit korreliert
zu aggressivem Verhalten, ist ein Persönlichkeits- hoch negativ mit der Zufriedenheit mit der Unter-
merkmal. Feindseligkeit ist eine Komponente des stützung durch andere. Hier hat man kein eigent-
sog. Typ-A-Verhaltens. Dieser Verhaltenskomplex liches Umweltmerkmal, sondern ein personenab-
ist weiter durch hohes Leistungsstreben, die Nei- hängiges Merkmal gemessen.
gung, Verantwortung zu übernehmen, hohen Ein- In der bisherigen Forschung ließen sich sehr
satz bis hin zur Verausgabung, Kontrollbedürfnis, viel häufiger Effekte der Persönlichkeit auf die Um-
Zeitdruck und Ungeduld gekennzeichnet. In der welt nachweisen als umgekehrt. Eine der wenigen
Vergangenheit sah man im Typ-A-Verhalten einen Ausnahmen im Sinne eines Effekts der Umwelt auf
zusätzlichen Risikofaktor für die Entstehung einer die Persönlichkeit ist die Abnahme des Neuro-
koronaren Herzkrankheit und eines Herzinfarkts. tizismus nach dem Eingehen einer Partnerschaft.
Dieser Zusammenhang ließ sich jedoch in neueren Umgekehrt stellt jedoch hoher Neurotizismus
Forschungen nicht bestätigen. Die schädliche Kom- auch einen Risikofaktor für geringe Zufriedenheit
ponente dieses Verhaltenstyps scheint hingegen die und mangelnde Stabilität einer Partnerschaft
Feindseligkeit zu sein. dar. Förderlich ist hingegen eine Ähnlichkeit der
Partner in den Persönlichkeitsdimensionen Neuro-
Stressverarbeitungsstile Ein aktiver Bewältigungs- tizismus und Gewissenhaftigkeit. Vielleicht spielt
stil angesichts einer Erkrankung umfasst Informa- aber auch ein Selektionseffekt eine große Rolle:
tionssuche, Kampfgeist, aktive Mitarbeit bei der Menschen, die später heirateten, waren schon viele
medizinischen Behandlung und die Suche nach Jahre zuvor glücklicher als solche, die nicht hei-
sozialer Unterstützung. Ein passiv-resignativer Stil rateten oder heirateten und sich wieder scheiden
beinhaltet, Ereignisse über sich ergehen zu lassen, ließen.
ohne aktive Bewältigungsanstrengungen zu unter- Neben der Person-Umwelt-Interaktion ist
nehmen. Er ist Teil der gelernten Hilflosigkeit noch ein 3 Einflussfaktor zu berücksichtigen: Eine
(7 Abschn. 4.4.5). Bewältigungsstile sind mittelfris- Korrelation z. B. zwischen der Aggressivität des
tig stabil, weisen aber eine relativ geringe transsitua- Kindes  und rigide-feindseligem Verhalten der
tive Konsistenz auf. Innerhalb eines bestimmten Mutter kann nicht nur durch eine Wechselwirkung
Bereichs (z. B. bei der Krankheitsbewältigung) sind zwischen beiden Faktoren, sondern auch durch die
sie aber relativ konsistent. Wirkung einer 3. Variable zustande kommen,
nämlich der Gene, die von Mutter und Kind geteilt
werden. Alle bisher untersuchten elterlichen Ver-
4.6.6 Interaktion Gen, Persönlichkeit haltensweisen stehen auch unter genetischen Ein-
und soziale Umwelt flüssen. Diese sind besonders stark bei negativem
(aggressivem, strafendem, kaltem) Verhalten. Ge-
Die Umweltexposition, d. h. die Art von Situatio- netische Einflüsse auf die Erziehung können um-
nen, denen ein Mensch ausgesetzt ist – z. B. die Zahl gekehrt auch vom Kind ausgehen: Durch sein Ver-
der täglichen Interaktionen mit wichtigen Bezugs- halten wirkt es auf das Erziehungsverhalten der
personen – ist teilweise ebenso stabil wie eine Per- Eltern zurück.
4.6 · Persönlichkeit und Verhaltensstile
163 4
4.6.7 Persönlichkeitsentwicklung eine »normale« Entwicklungsphase im Über-
und -fehlentwicklung gang zwischen Kindheit und Erwachsensein.
2. Daneben gibt es jedoch eine seltenere kontinu-
ierliche antisoziale Tendenz, die das ganze
> Wenn Persönlichkeitsmerkmale so extrem
Leben über anhält. Sie ist Ausdruck einer anti-
ausgeprägt sind, dass sie beim Betroffenen
sozialen Persönlichkeit.
psychisches Leiden verursachen und seine
Funktionsfähigkeit in vielen Lebensberei-
Die antisoziale Persönlichkeit beruht auf geneti-
chen beeinträchtigen, liegt eine Persönlich-
schen Risikofaktoren, die durch Umweltrisiken ver-
keitsstörung vor.
stärkt werden. Beispiel: Wegadoptierte Kinder kri-
Nach ICD-10 ist eine Persönlichkeitsstörung wei- mineller Väter werden eher straffällig als adoptierte
terhin dadurch charakterisiert, Kinder nichtkrimineller Väter (genetischer Effekt).
4 dass sie viele Bereiche der Persönlichkeit be- Und wenn der erziehende Vater ebenfalls kriminell
trifft, wie Affektivität, Antrieb, Impuls- ist, ist das Risiko überproportional erhöht (Inter-
kontrolle, Wahrnehmen, Denken und Be- aktion zwischen biologischem und Umweltrisiko).
ziehungen zu anderen, Nichtgenetische familiäre Risiken scheinen allein
4 dass sie tiefgreifend ist und sich in vielen keinen Einfluss zu haben. Inzwischen gibt es viele
Situationen äußert, empirische Studien zu den Risikofaktoren, die aller-
4 dass sie nicht nur vorübergehend vorhanden dings meist bei männlichen Jugendlichen durch-
ist, sondern in Kindheit oder Jugend beginnt geführt wurden. Deren Ergebnisse werden in
und bis ins Erwachsenenalter andauert. . Abb. 4.8 zusammengefasst.
Die Persönlichkeitsentwicklung nimmt ihren
Wegen des letzten Kriteriums (Dauer bis ins Erwach- Ausgang von genetischen Risiken und Umweltrisi-
senenalter) ist eine Diagnose vor dem 16./17. Le- ken. Beispiel für ein genetisches Risiko ist ein be-
bensjahr nicht angemessen. Die Vorstadien können stimmtes Allel des MAOA-Gens, dessen Vorhan-
jedoch schon früher sichtbar werden. Dies soll am densein die Bewältigung einer Misshandlung als
Beispiel der Entwicklung einer antisozialen Persön- Kind erschwert (7 Abschn. 2.1.4). Zu den Umwelt-
lichkeit dargestellt werden. risiken gehören pränatale Risiken, die sich auch in
Eine antisoziale (dissoziale) Persönlichkeits- Störungen der körperlichen Entwicklung äußern
störung ist durch aggressives Verhalten gekenn- können, und perinatale Risiken, wie z. B. Sauer-
zeichnet, das die Rechte anderer nicht achtet oder stoffmangel während der Geburt mit minimaler
soziale Normen verletzt, bis hin zur Kriminalität. Die Hirnschädigung (7 Abschn. 4.7.2). Diese frühen
Betroffenen fallen durch ihre Herzlosigkeit gegen- Umweltrisiken hängen oft mit dem elterlichen Ver-
über anderen Menschen auf (fehlende Empathie). Sie halten zusammen (z. B. Rauchen, Alkoholkonsum,
können zwar sehr schnell Beziehungen eingehen, Drogen während der Schwangerschaft).
sind jedoch unfähig, längerfristige Beziehungen Kleinkinder, die diesen Risikofaktoren ausge-
aufrecht zu erhalten. Sie besitzen eine sehr geringe setzt waren, haben häufiger ein schwieriges Tempe-
Frustrationstoleranz, es fehlt ihnen aber an Schuld- rament, das hohe Anforderungen an die Eltern
bewusstsein für ihr eigenes Handeln. Im Gegenteil stellt. Wenn die Mutter wenig in der Lage ist, auf die
neigen sie dazu, andere zu beschuldigen oder das Bedürfnisse des Kindes einzugehen (insensitive
eigene Verhalten vordergründig zu rationalisieren. Mutter), kann dies zu einer unsicher-vermeiden-
Beim antisozialen Verhalten, das bei Jugend- den Bindung des Kindes führen (7 Abschn. 4.7.3).
lichen und jungen Männern in Pubertät und Ado- Diese fördert später aggressives Verhalten. Das
leszenz sehr häufig ist, lassen sich 2 Tendenzen schwierige Temperament des Kindes kann einen
unterscheiden, die sich überlagern: inadäquaten, rigide-autoritären Erziehungsstil der
1. Eine pubertätsgebundene Form, die von Eltern auslösen. Ein zu geringes Engagement der
alleine wieder verschwindet. Sie stellt keine Eltern (laissez-faire) oder eine ablehnende Haltung
Persönlichkeitsfehlentwicklung dar, sondern dem Kind gegenüber sind ebenfalls ungünstig.
164 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

ziehung zwischen Eltern und Kind, die gegenseitige


Nötigung, die in Form eines Teufelskreises das anti-
soziale Verhalten der Jungen fördert. Durch ein Trai-
ning der Eltern kann man dem entgegenwirken und
aggressives Verhalten der Kinder reduzieren.
Aggressive Jungen neigen dazu, auch nicht-
aggressiv gemeintes Verhalten als aggressiv zu inter-
pretieren (feindseliger Attributionsstil), gegen das sie
4 sich – für die Opfer völlig überraschend und unbe-
rechenbar – zur Wehr setzen. Durch diesen Teufels-
kreis kommt es zu immer stärkerer Ablehnung so-
wohl durch die Eltern wie auch durch Gleichaltrige.
Welche Faktoren schließlich darüber entscheiden, ob
das Kind sich eher sozial zurückzieht und ein negati-
ves Selbstwertgefühl entwickelt oder aber Anschluss
an eine Gruppe findet, in der antisoziales Verhalten
die Norm ist (deviante Gruppe), ist noch unklar.
Keinesfalls alle Jungen, die antisoziales Verhalten zei-
gen, werden auch von Gleichaltrigen abgelehnt oder
finden Anschluss an eine deviante Gruppe bzw. wer-
den gar polizeilich auffällig.
i Vertiefen
Asendorpf J, Neyer FJ (2012) Psychologie der
Persönlichkeit. 5. Aufl. Springer, Berlin (inhalt-
lich und didaktisch hervorragende Einführung
in den aktuellen Wissensstand, an der sich das
vorliegende Kapitel weitgehend orientiert)
Wilson TD (2007) Gestatten, mein Name ist Ich:
. Abb. 4.8 Rahmenmodell für die Entwicklung der anti- Das adaptive Unbewusste – eine psycholo-
sozialen Persönlichkeit
gische Entdeckungsreise. Pendo, München
(leicht lesbare Einführung in die kognitionspsy-
chologische Erforschung der Frage, warum uns
Kernpunkt des Modells ist der Prozess der ge-
das eigene Selbst nur begrenzt zugänglich ist)
genseitigen Nötigung, in dem Kind und Eltern ge-
genseitig Druck aufeinander ausüben und Aggres-
sion mit Gegenaggression beantworten. Oft beginnt
dieser Prozess mit einem Streit über etwas, was 4.7 Entwicklung und primäre
das Kind getan hat. Der Streit eskaliert, die Eltern Sozialisation (Kindheit)
schreien das Kind an und schlagen es schließlich.
Irgendwann macht das Kind etwas so Schlimmes, M. Schowalter, H. Faller
dass die Eltern aufhören zu schreien oder zu schla-
gen. Dies führt unbeabsichtigt dazu, dass das aggres- Lernziele
sive Verhalten des Kindes verstärkt wird, weil es das Der Leser soll
aggressive Verhalten der Eltern beendet (negative 5 das Zusammenwirken von Reifungsprozessen
Verstärkung). Infolgedessen wird es wahrschein- und Lernerfahrungen bei der Entwicklung
licher, dass sich das Kind auch zukünftig aggressiv kennen,
verhält. Das Kernstück dieses dynamisch-interak- 5 die Entwicklung von Empathie und Theory of
tionistischen Modells ist also ein Merkmal der Be- Mind beschreiben können,
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
165 4
5 kindliche Bindungsstile und ihre Bedeutung dungsperson hin ausgerichtet. Ein Fremder weicht
für spätere Beziehungserfahrungen beschreiben von diesem Muster ab. Wenn beim Kind die kogni-
können, tive Fähigkeit heranreift, dies zu merken, es aber
5 elterliche Erziehungsstile unterscheiden und nicht weiß, wie es darauf reagieren soll, kommt es
bewerten können. zu einer Fremdelreaktion. Im Alter von 8 Monaten
erreicht das Fremdeln seinen Höhepunkt. Man ver-
Die Entwicklung des Menschen ist ein lebenslanger mutet, dass das Fremdeln in dem Maße wieder ab-
Prozess, der von der Zeugung bis zum Tod an- nimmt, wie das Kind in der Auswahl seiner Hand-
dauert. Entwicklung bezeichnet hier die Entstehung lungsmöglichkeiten kompetenter wird.
des Lebewesens von der Zygote bis ins Alter (Onto- Ein weiteres Beispiel ist die Sauberkeitserzie-
genese), im Unterschied zum Entwicklungsbegriff hung: Die kontrollierte Abgabe von Urin und Stuhl
der Evolution, der die Ausdifferenzierung unter- kann das Kleinkind erst lernen, wenn die physiolo-
schiedlicher Arten (Phylogenese) meint. gischen, kognitiven und sprachlichen Grundlagen
dafür vorhanden sind. Ferner muss das Kind selbst
den Wunsch nach diesem Entwicklungsfortschritt
4.7.1 Neuropsychobiologische haben, und es muss von einer Bezugsperson dazu
Grundlagen angeleitet werden.

Am Entwicklungsprozess sind genetische, innerpsy-


chische und soziale Faktoren beteiligt. Die geneti- 4.7.2 Intrauterine Entwicklung
schen Faktoren bestimmen primär das Ausmaß und
die Ausgestaltung der körperlichen, aber auch der Die intrauterine (vorgeburtliche) Entwicklung um-
psychischen Entwicklung (Verhaltensgenetik, 7 Ab- fasst die Zeit von der Zeugung bis zur Geburt. Diese
schn. 2.1.4, 7 Abschn. 4.6.3). Entwicklungsprozesse, Zeit nennt man bei der Mutter Schwangerschaft
die sich gemäß einem inneren Programm entfalten, und beim Kind Gestationszeit. Bei termingerechter
werden Reifung (Maturation) genannt. Bei der Ge- Geburt beträgt sie zwischen 38 und 42 Wochen,
hirnentwicklung stehen Reifungsprozesse jedoch in gerechnet vom Zeitpunkt der letzten Menstrua-
einem engen Zusammenspiel mit Umwelterfahrun- tion der Mutter. Man unterteilt die intrauterine Ent-
gen. Die neuronale Entwicklung ist auf Stimulation wicklung in 3 Stadien: In den ersten beiden Wochen
durch Umweltreize angewiesen. Kurz vor und nach nach der Befruchtung nennt man die befruchtete
der Geburt wird im Gehirn eine große Zahl synapti- Eizelle Zygote. Von der 3. bis zur 8. Schwanger-
scher Verbindungen hergestellt. Ein Großteil davon schaftswoche bezeichnet man den menschlichen
wird in der weiteren Entwicklung wieder aufgegeben, Keim als Embryo. In dieser Zeit entwickeln sich die
weil er nicht genutzt wird. Der Input aus der Umwelt inneren Organe und die körperliche Struktur. Da-
entscheidet darüber, welche Verbindungen erhalten nach heißt das werdende Kind Fötus oder Fetus.
bleiben und verstärkt werden (use it or loose it). Schon in den ersten Wochen nach der Zeugung
Auch für scheinbar eigengesetzlich zu bestimm- beginnt die Entwicklung des zentralen Nerven-
ten Zeitpunkten auftretende Entwicklungen spielen systems (ZNS). Zuerst bilden sich Nervenplatte und
Lernprozesse eine Rolle, für die wiederum inner- Chorda (Rückenmarksstrang) und deren räumliche
psychische und soziale Faktoren wichtig sind. So Orientierung. Die entstehenden Nervenzellen wan-
entwickelt sich z. B. die Fremdenangst (das sog. dern dann in Richtung festgelegter Orte. So werden
Fremdeln) erst, wenn verschiedene soziale Gege- z. B. zuerst das visuelle Zentrum und der Sitz der
benheiten vorhanden und kognitive Funktionen Augen bestimmt. Da sich die Nervenzellen zwischen
ausgereift sind. Der Säugling baut in den ersten dem 3. und 5. Monat besonders stark vermehren, ist
Monaten eine feine vorsprachliche Kommunikation das Gehirn zu diesem Zeitpunkt am stärksten ge-
zu einer Bindungsperson auf, die im sozialen Um- fährdet. Kurz vor der Geburt bis zum 3.–4. Monat
feld zur Verfügung stehen muss. Das entstehende nach der Geburt beginnt ein erneuter Wachstums-
Kommunikationsgefüge ist genau auf diese Bin- schub des Gehirns. Hier differenzieren sich die Ner-
166 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

venzellen besonders stark, bilden viele Verästelun- Pränatale Risiken Zu den pränatalen Risiken, die
gen und Kontaktstellen zwischen den Zellen. die Gesundheit oder sogar das Leben des werden-
Entgegen der früheren Annahme, das Kind den Kindes bedrohen, gehören genetische Risiken,
komme als »tabula rasa«, als unbeschriebenes Blatt, körperliche oder psychische Belastungen der Mut-
auf die Welt, wissen wir heute, dass die psychische ter und Mangelversorgung durch die Plazenta.
bzw. die Persönlichkeitsentwicklung schon pränatal Auch Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum wäh-
beginnt. Intuitiv können viele Mütter durch das rend der Schwangerschaft wirken sich schädigend
Verhalten und die Reaktionen des Ungeborenen auf die Entwicklung des Kindes aus. Während des
4 im Mutterleib differenzierte Vermutungen darüber ersten Schwangerschaftsdrittels kann dadurch die
anstellen, welche Persönlichkeit ihr Kind wohl be- Organentwicklung beeinträchtigt werden. Später
sitzen könnte. Auch erste Bindungsmuster können nehmen sie schädigenden Einfluss auf die Sauer-
sich durch die frühe Interaktion zwischen Mutter stoffversorgung und die Gehirnentwicklung.
und Kind entwickeln. Dies ist nicht verwunderlich,
wenn man bedenkt, dass erste Bewegungen des Perinatale Risiken Als perinatale Risiken gelten vor
Kindes von der Mutter schon ab der 15. Woche allem Komplikationen während der Geburt (z. B.
wahrgenommen werden können. Auch das Unge- Sauerstoffmangel, Hirnblutungen und andere mini-
borene ist schon früh empfindungsfähig: Zwischen male Hirnschädigungen) und die Frühgeburt (Ge-
der 17. und 24. Woche kann das Kind zwischen tak- burt vor der 37. Woche) bzw. ein geringes Geburts-
tilen und Schmerzreizen differenzieren und reagiert gewicht (weniger als 2.500 g). Das Risiko für spätere
auf Musik. Auch gibt es Untersuchungen darüber, Entwicklungsstörungen erhöht sich dabei zuneh-
dass Lernen schon im Mutterleib möglich ist. Ab mend mit Abnahme des Geburtsgewichts. Mini-
der 32. Woche ist es außerhalb des Mutterleibs male frühkindliche Hirnschädigungen sind auch
lebensfähig und kann das extrauterine Geschehen ein Risikofaktor für spätere psychische Störungen
mitverfolgen. Allerdings kann in Ländern mit einer (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstö-
guten medizinischen Versorgung ein Fötus schon rung, Schizophrenie).
ab der 22. Schwangerschaftswoche überleben.
Postnatale Risiken Bei den postnatalen Risiken
Klinik: Hospitalismus kommt neben dem Einfluss von Krankheiten oder
Als drastisches Beispiel für ein Entwicklungsrisiko anderen Einflüssen von außen (z. B. Vergiftungen)
gilt der frühkindliche Hospitalismus. Er entsteht bei vor allem psychosozialen Faktoren eine wichtige
Säuglingen, die in den ersten Lebensmonaten einem Rolle zu. Zwar können diese auch schon die Schwan-
Mangel an emotionaler Zuwendung und sensori- gerschaft und Geburt beeinflussen (z. B. völlige Ab-
schen Anregungen ausgesetzt sind. Diese Situation lehnung der Schwangerschaft durch die Mutter
fanden oder finden vor allem Kinder in Heimen oder die Umwelt, Qualität der Paarbeziehung, Tod
oder Waisenhäusern der letzten Jahrhunderte, aber des Partners oder schwierige soziale Lebensum-
auch der Gegenwart, vor. Die Kinder reagierten auf stände), nach der Geburt sind sie aber noch bedeut-
die Deprivation schon nach wenigen Wochen mit samer. Eine gesunde Entwicklung behindern kön-
Apathie, später mit geistigen und körperlichen Ent- nen z. B. Gewalt und Misshandlungen innerhalb
wicklungsverzögerungen. In vielen Fällen kam es zu der Familie, inkonsistentes Erziehungsverhalten
körperlichem Verfall – ca. ein Drittel der Kinder starb. oder mangelnde Fürsorge der Bezugsperson.
Zu minimalen Symptomen des frühkindlichen Hospi-
talismus kann es auch bei mittel- oder längerfristigen
Krankenhausaufenthalten von kleinen Kindern kom- 4.7.3 Entwicklung in der frühen
men. Daher sollte die Begleitung einer Bezugsperson Kindheit und
in die Klinik selbstverständlich sein. Um dem Pro- primäre Sozialisation
blem schon bei Neugeborenen entgegenzuwirken,
ist die Unterbringung von Mutter und Baby im selben Sensorik Die Sinnesfähigkeiten eines Neugebo-
Zimmer (Rooming-in) heute selbstverständlich. renen sind wesentlich differenzierter, als man lange
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
167 4
Zeit annahm. Für das Leben in der für es bedeut- Überraschung kann das Neugeborene ausdrücken.
samen Umwelt ist es gut gerüstet. Vor allem der Ge- Ebenfalls frühe Emotionsäußerungen sind das »so-
schmacks- und Geruchssinn ist gut ausgebildet: ziale Lächeln« ab der 6. Woche (s. o.), eine beob-
Neugeborene unterscheiden Grundgeschmacks- achtbare Neugier und ein sichtbares Vergnügen
richtungen, wie süß oder salzig, und können ihre bzw. Freude. Ab dem 3.–5. Monat äußert es seine
Mütter schon nach wenigen Tagen am Geruch er- Freude durch ein volles Lachen – auch Wut bzw.
kennen. Auch gelingt es ihnen bereits kurz nach der Enttäuschung kann das Kind nun differenziert aus-
Geburt, die Stimme der Mutter von anderen Stim- drücken. Ab dem 6.–9. Monat nimmt es immer
men zu differenzieren. Die Sehfähigkeit ist beim aktiver am sozialen Geschehen teil. Zur Entwick-
Neugeborenen weniger fein ausgebildet. Auf ca. lung des Selbstkonzepts kommt es zwischen dem
20–25 cm Entfernung und bei mittlerer Helligkeit 19.–36. Monat. Auch Emotionen wie Scham, Trotz
sieht es scharf. Bevorzugt werden Muster mit Kon- und Stolz können nun beobachtet und bei entspre-
trasten und deutlichen Konturen. Ab dem Alter von chender sprachlichen Kompetenz durch das Kind
6 Wochen beginnt das Kind, zuerst als Reaktion auf mitgeteilt werden.
die menschliche Stimme zu lächeln, dann lächelt es Kleine Kinder reagieren noch stark auf emotio-
auch Gesichter an (»soziales Lächeln«). nalen Distress, den sie bei ihrem Gegenüber wahr-
nehmen. Im Laufe der Entwicklung wird diese
Motorik Die Motorik entwickelt sich im Wesent- unmittelbare Reaktion immer mehr kontrolliert,
lichen von starren, reflexhaften Reaktionsmustern mit zunehmender Reifung des präfrontalen Kortex.
hin zu willentlich gelenkten motorischen Handlun- Für die Regulation von Emotionen ist auch der
gen. So verfügt das Kind bei der Geburt über einen enge Kontakt mit der Mutter entscheidend. Durch
starken Greifreflex, der sich in den ersten Monaten das Verhalten der Mutter lernen Kinder, mit Emo-
zunehmend abschwächt. Im 6.–8. Monat kann es tionen angemessen umzugehen (Mentalisierung;
willentlich Gegenstände greifen. Mit 12 Monaten 7 Abschn. 2.3.1). Gelingt es der Mutter nicht, auf die
gelingt ihm ein zielsicheres Greifen mit Daumen Emotionen des Kindes feinfühlig einzugehen, z. B.
und Zeigefinger (»Pinzettengriff«). Bis noch vor weil sie selbst depressiv oder wenig einfühlsam ist,
wenigen Jahren gingen Fachleute davon aus, dass kann dies zu Störungen der Emotionsregulation
die Entwicklung der frühen Motorik bis hin zum führen.
freien Gehen nach einer strengen zeitlichen Ord-
Hintergrundinformation
nung erfolgen müsse (Kriechen, Robben, Krabbeln,
Entwicklung von Empathie und Theory of Mind
Stehen). Heute werden nicht nur im motorischen Babys können von Geburt an menschliche Gesichter von an-
Bereich die Entwicklungsrichtlinien flexibler ge- deren Wahrnehmungsobjekten unterscheiden und schauen
setzt. Allerdings gibt es sog. Grenzsteine, an denen Gesichter lieber an als alles andere. Man prüft diese Prä-
eine gesunde motorische Entwicklung gemessen ferenz, indem man ihnen einen Schnuller gibt, der einen
Druckwandler enthält, so dass sie durch Nuckeln das Abspie-
werden kann. Im 9. Monat sollte das Kind frei
len eines Videos auslösen können: Für Gesichter-Videos wird
sitzen, im 12. Monat stehen und mit 18 Monaten viel genuckelt. Babys wenden sich vertrauten Gesichtern zu
frei laufen können. Entwicklungsstörungen in der und von unvertrauten ab. Sie können einen Gesichtsaus-
Motorik haben möglicherweise auch Auswirkungen druck imitieren: Wenn man ihnen die Zunge herausstreckt,
auf andere Bereiche, denn wenn das Kind in der strecken sie auch die Zunge heraus; wenn man den Mund
öffnet, öffnen sie auch den Mund. Woher wissen sie, was sie
Exploration seiner Umgebung eingeschränkt ist,
tun müssen, um dieselbe Körperbewegung zu erzeugen, die
kann es weniger neue Sinneseindrücke aufnehmen sie wahrnehmen? Offenbar gibt es ein angeborenes Ver-
und neue Fähigkeiten lernen. ständnis, dass Menschen einander ähnlich sind. Dessen neu-
ronale Grundlage sind Spiegelneurone, die aktiv werden,
Emotion Schon in den ersten Lebenswochen zeigt wenn man eine Bewegung beobachtet. Babys flirten, sie
zeigen genau koordinierte, zeitlich abgestimmte Reaktionen
das Kind deutliche emotionale Reaktionen, wie z. B.
in Mimik und Gestik, wenn man mit ihnen Kontakt aufnimmt.
Weinen aufgrund von Hunger oder Schmerz – die Einjährige können die Perspektive wechseln. Sie blicken auf
beiden Anlässe voneinander zu unterscheiden, ist Gegenstände, auf die andere Menschen zeigen. Wenn sie ein
jedoch schwierig. Auch Emotionen wie Ekel oder ungewohntes Objekt sehen, schauen sie fragend ihre Mutter
168 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

an und nähern sich dem Objekt nur dann, wenn die Mutter welchem sich Erfahrungen niederschlagen, mit
ihnen signalisiert, dass dieses nicht bedrohlich ist. Einein- wem man sich sicher fühlt. Dies liegt daran, dass in
halbjährige verstehen, dass es Unterschiede zwischen Men-
den ersten 2–3 Lebensjahren nur ein prozedurales
schen gibt und dass verschiedene Menschen verschiedene
Wünsche haben können. Sie überprüfen dies experimentell, Gedächtnis vorhanden ist; das deklarative Gedächt-
indem sie testen, was passiert, wenn sie etwas Verbotenes nis entwickelt sich erst später.
tun. Herauszufinden, worin die Wünsche anderer Menschen
bestehen, ist für sie so wichtig, dass sie diese Experimente > Die Bindung bzw. deren Qualität kann aus
auch auf die Gefahr hin durchführen, in Konflikt mit ihren Verhaltensweisen erschlossen werden,
Eltern zu geraten. Früher hat man dieses Verhalten in Un- die dazu dienen, Nähe zur Bindungsperson
4 kenntnis seiner wahren Ziele als Trotzphase bezeichnet. herzustellen. Die frühe Bindung zu einer
Mit 2 Jahren zeigen Kinder echtes Einfühlungsvermögen. Sie
Bezugsperson spielt eine besonders wichtige
wissen nun nicht nur, dass andere Menschen sich ähnlich
fühlen, sondern dass sie sich auch anders fühlen können als Rolle, da sie die Grundlage für spätere Bezie-
man selbst und man trotzdem mit ihnen mitfühlen kann. Sie hungserfahrungen legt.
spenden Trost und Mitleid, ohne unbedingt selbst traurig
sein zu müssen. Die Qualität der Bindung hängt u. a. mit der Ver-
Eine Theory of Mind zu besitzen, heißt, sich in andere Men- fügbarkeit und Einfühlsamkeit der Bezugsperson,
schen hineinversetzen zu können, um ihre Gedanken und aber auch mit dem Temperament des Kindes zu-
Absichten zu verstehen. Diese Fähigkeit wird bei Kindern mit sammen. Als standardisiertes Untersuchungsver-
Experimenten erfasst, bei denen sie das Verhalten einer Per-
fahren wird der sog. Fremde-Situationstest (FST)
son vorhersagen sollen, die offensichtlich eine falsche Über-
zeugung hat. Ein typisches Experiment sieht so aus: Sally verwandt, der die Bindungsqualität im Alter von
versteckt eine Murmel in einem Korb und verlässt den Raum. 12–24 Monaten misst. In dieser Altersgruppe lässt
In ihrer Abwesenheit nimmt Ann die Murmel aus dem Korb sich das Bindungsverhalten besonders gut beobach-
heraus und versteckt sie in einer Schachtel. Die Kinder, die ten. In mehreren 3-Minuten-Episoden erfährt das
alles beobachtet haben, werden dann gefragt: Wo wird Sally
Kind in zunehmender Intensität Unvertrautheit,
die Murmel suchen, wenn sie wieder hereinkommt? 3½- bis
4-jährige Kinder antworten: im Korb. Sie haben eine Theory Neuheit und 2 kurze Trennungen von der Mutter.
of Mind, d. h. sie können sich vorstellen, dass Sally eine fal- Das gezeigte Verhalten des Kindes (vor allem nach
sche Überzeugung hat und die Murmel da suchen wird, wo der Trennung) wird dabei als ausschlaggebend für
sie ursprünglich war, und nicht da, wo sie sich inzwischen die Bindungsqualität betrachtet. Folgende Bin-
befindet. Macht man das Experiment aber einfacher, so dass
dungsstile konnten identifiziert werden:
Sprache nicht erforderlich ist, so kann man schon bei 18 Mo-
nate alten Kindern beobachten, dass sie überrascht reagie-
ren, wenn eine Person am richtigen Ort sucht, obwohl sie das
gar nicht wissen kann. Schon 6 Monate alte Säuglinge schrei- Bindungsstile
ben anderen Menschen eine Intention zu. Sie reagieren über- 5 Sicherer Bindungsstil: Kind zeigt im FST,
rascht, wenn sich eine Person anders verhält, als es aufgrund
wenn es allein gelassen wird, mehr
dieser zugeschriebenen Intention zu erwarten wäre. Theory
of Mind scheint also eine Form von angeborener sozialer oder weniger starken Kummer. Kommt die
Kognition zu sein. Mutter zurück, lässt es sich schnell von ihr
trösten und spielt fröhlich mit der Mutter
Soziale Bindung Ungefähr bis zum 9.–11. Monat weiter (ca. 58 % aller Kinder).
entwickelt das Kind eine spezifische Bindung 5 Unsicher-vermeidender Bindungsstil: Kind
(attachment) an eine Bezugsperson (meist die zeigt im FST bei der Rückkehr der Mutter
Mutter und/oder den Vater). Da das Kind nun die wenig Emotionen, ignoriert sie und sucht
kognitive Voraussetzung erlangt hat, eine bestimm- nicht ihre Nähe, sondern beschäftigt sich
te Person zu vermissen, und es andererseits aktiv weiter mit einem Spielzeug (ca. 35 % aller
Nähe und Distanz regulieren kann, kommt es zur Kinder).
Ausbildung eines Bindungsverhaltens. Das Bin- 5 Ambivalent-unsicherer Bindungsstil: Kind
dungsverhalten wird entweder in unvertrauten zeigt im FST deutlichen Kummer, wenn
Situationen aktiviert oder wenn sich das Kind un- es alleine ist. Kommt die Mutter zurück, ver-
wohl fühlt. Das Bindungssystem entwickelt sich auf hält es sich ambivalent: Es sucht einerseits
der Grundlage prozeduralen, impliziten Wissens, in
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
169 4
Hintergrundinformation
körperliche Nähe, aber widersetzt sich Empathieförderung bei Kindergartenkindern durch Baby-
watching (z. B. B.A.S.E.)
auch den Kontaktangeboten der Mutter,
In diesem Programm beobachten Kinder zwischen 3–6 Jah-
entsprechend einem Annäherungs-Vermei- ren eine Mutter mit ihrem Säugling über einem Zeitraum von
dungs-Konflikt (ca. 8 % aller Kinder). ca. 1 Jahr. Konkret besucht eine Mutter mit ihrem Säugling
5 Desorganisierter Bindungsstil: Kind 1-mal pro Woche für ca. 20–30 min den Stuhlkreis des Kinder-
zeigt im FST bei der Rückkehr der Bezugs- gartens, und die Kinder beobachten zusammen mit einer
geschulten Erzieherin die Interaktionen zwischen Mutter
person bizarres oder stereotypes Verhal-
und Kind. Die Erzieherin fokussiert die Kindergartenkinder
ten, z. B. Erstarren, bei dem das Kind nicht auf die Handlungen der Mutter, auf ihre mögliche Motive
mehr auf das Kontaktangebot reagiert. und Gefühle und auf ihre Interaktion mit ihrem Kind. Auch
Diese Kategorie wird zusätzlich vergeben, erfragt die Erzieherin, was z. B. die Kinder selbst fühlen wür-
wenn es zu einem Zusammenbruch den, wenn eine Mutter so mit ihnen umginge (Empathieför-
derung). Da viele Kinder als Einzelkinder aufwachsen, haben
einer der ersten 3 Reaktionen kommt (bei
sie oft keine Möglichkeit, eine Mutter mit einem sensitiven
ca. 15 % aller Kinder zusätzlich zu beob- Interaktionsverhalten gegenüber einem Säugling zu beob-
achten). achten. Erste Studienergebnisse zeigen positive Ergebnisse
des Babywatchings im Sinne einer Verminderung gestörten
Sozialverhaltens bei den teilnehmenden Kindergartenkin-
dern. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass sich der Ge-
Längsschnittuntersuchungen konnten zeigen, dass
winn an Empathie aus der Mutter-Kind-Beobachtung auf die
sich sicher gebundene Kinder in Kindergarten Spielinteraktion und Interpretation des Verhaltens zwischen
und Schule schneller eingewöhnten, sich in Not- Gleichaltrigen überträgt.
situationen Hilfe holen konnten, über mehr stabile
soziale Beziehungen verfügten, ein ausgeprägtes Die Qualität der mütterlichen Versorgung im Klein-
und differenziertes Bewältigungsverhalten zeig- kindalter kann lang anhaltende positive Wirkungen
ten, weniger emotionale Probleme hatten und ein entfalten. Sie kann nämlich die Expression von Ge-
größeres Selbstbewusstsein entwickelten. Es gilt nen verändern, die möglicherweise lebenslang be-
als gesichert, dass sich diese frühen Bindungser- stehen bleibt (Epigenetik). Dies konnte im Tierver-
fahrungen sogar bis ins Erwachsenenalter hin aus- such an Ratten gezeigt werden. Bei Ratten äußert
wirken, z. B. können sicher gebundene Menschen sich die mütterliche Fürsorge insbesondere im in-
partnerschaftliche Beziehungen eingehen, in denen tensiven Lecken. Rattenbabys, die von ihren Müt-
sie für ihren Partner auch emotional zugänglich tern viel geleckt worden waren, zeigten ihr ganzes
sind, was insgesamt als befriedigend erlebt wird. Leben über eine größere Widerstandsfähigkeit ge-
Mütter geben zudem ihre eigenen Bindungser- gen Stress. Ihre Stressreaktion war abgeschwächt,
fahrungen an ihre Kinder weiter, im Guten wie im sie waren weniger ängstlich und kognitiv leistungs-
Schlechten. fähiger. Dies ließ sich auch physiologisch durch eine
Inzwischen gibt es zahlreiche präventive Pro- geringere Aktivierung der HPA-Achse nachweisen.
gramme, die zum Ziel haben, Bindungsstörungen Die Ursache dieser verminderten Aktivität lag in
zwischen Eltern und Kindern vorzubeugen (z. B. einer vermehrten Expression des Glukokortikoid-
SAFE, Sichere Ausbildung für Eltern). Ziel dieser rezeptor-Gens im Hippocampus. Infolge der Zu-
Programme ist es, die Empathiefähigkeit der El- nahme des Glukokortikoidrezeptors können Glu-
tern  und ihre Sensitivität gegenüber den Bedürf- kokortikoide eine stärkere negative Feedback-
nissen des Kindes zu fördern. Feinfühlige Eltern, Wirkung ausüben, was zur Herunterregulation der
die emotional auf die Signale der Kinder ein- HPA-Achse führt. Dass dieser Effekt durch die Um-
gehen, fördern eine sichere Bindungsentwicklung. welterfahrung (und nicht genetisch) vermittelt
Neben den präventiven Ansätzen gibt es auch wird, ließ sich in Experimenten zeigen, in denen
zahlreiche psychotherapeutische Methoden, die Junge schlecht pflegender Rattenmütter direkt nach
sich mit der Veränderung einer Bindungsstörung Geburt von gut pflegenden Müttern »adoptiert«
bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen be- wurden: Sie zeigten denselben positiven Effekt wie
schäftigen. deren eigene Kinder.
170 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Klinik: Frühe Deprivation nicht im Heim gelebt hatten, sondern aus Familien
Sind die Folgen gravierender frühkindlicher Depri- heraus adoptiert wurden. Ein Heimaufenthalt mit
vation reversibel? Dieser Frage ging die englisch- extremer Deprivation zu Beginn des Lebens scheint
rumänische Adoptionsstudie nach. Kinder aus rumä- also, zumal wenn er längere Zeit dauert, eine emo-
nischen Waisenhäusern, in denen sie schwerer kör- tionale Vulnerabilität zu hinterlassen (Colvert et al.
perlicher und seelischer Vernachlässigung ausgesetzt 2008).
waren (Unterernährung, mangelnde Hygiene, fehlen-
de Zuwendung und kognitive Stimulation, keine Kognition und Denken Moderne Methoden der
4 kontinuierliche Bezugsperson), wurden in englische Forschung zeigen, dass Säuglinge schon früh unter-
Mittelschichtfamilien adoptiert, wo sie aufgrund der schiedliche Reize wahrnehmen können. Man prüft
Vorauswahl der Adoptivfamilien eine überdurch- dies z. B. mit der Habituationsmethode: Wenn
schnittlich gute Versorgung und Betreuung erhielten. man einen Reiz wiederholt zeigt, habituiert der
Als die Kinder in ihre neuen Familien kamen, waren Säugling, seine Aufmerksamkeit lässt nach. Zeigt
viele in ihrer geistigen Entwicklung stark retardiert man einen neuen, davon unterschiedlichen Reiz, ist
und zeigten ein auffälliges Sozialverhalten: Sie nah- die Aufmerksamkeit wieder da (Dishabituation).
men keine differenzierten Beziehungen zu bestimm- Auch die zeitliche Dauer, mit der ein Säugling etwas
ten Personen auf, sondern schlossen sich jedem be- beobachtet, ist aufschlussreich: Aus der Länge der
liebigen Menschen an, der ihnen begegnete, selbst Beobachtung kann man auf seine Präferenzen, aber
völlig Fremden. Die kognitiven und psychosozialen auch auf Überraschung schließen. Unerwartete
Defizite waren umso stärker ausgeprägt, je länger Reize werden länger beobachtet. Schließlich kann
die Kinder im Heim zugebracht hatten. Konnten die man das Verhalten von Säuglingen (z. B. Saugen)
sich anschließenden besseren Erfahrungen diese mit positiven Konsequenzen verbinden. Schon
Defizite wiedergutmachen? nach wenigen Wochen ist der Säugling in der Lage,
Hinsichtlich der kognitiven Entwicklung im Alter von ein als angenehm empfundenes Verhalten zu wie-
6 Jahren zeigten sich bemerkenswerte Entwicklun- derholen. Ein Lernen ist also schon früh möglich.
gen: Viele Kinder holten die ursprünglichen Defizite Mit 6–8 Monaten kann das Kind einfache Hand-
wieder auf, wenngleich auch weiter Rückstände be- lungen an Objekten durchführen (z. B. Greifen von
standen, vor allem bei denjenigen Kindern, die länger Gegenständen). Verschwinden Gegenstände aus
im Heim gelebt hatten. Ein ähnliches Muster zeigte seinem Blickfeld, werden sie zunächst als nicht
sich beim Sozialverhalten: Es normalisierte sich bei mehr vorhanden erlebt (fehlende Objektperma-
den meisten Kindern wieder, blieb aber bei einer nenz). Objektpermanenz ist spätestens mit 8 Mona-
Minderheit auffällig – wiederum in Abhängigkeit von ten nachweisbar. Jetzt sucht das Kind aktiv nach
der Dauer des Heimaufenthaltes. So wiesen 33 % verschwundenen Gegenständen. Die nächsten Mo-
derjenigen, die für 2–3½ Jahre im Heim gewesen wa- nate sind geprägt von experimentellem Ausprobie-
ren, noch immer ein auffälliges Sozialverhalten auf. ren, wodurch das Kleinkind neue Zweck-Mittel-
Insgesamt bestanden eine große Heterogenität der Verknüpfungen oder Ursache-Wirkungs-Prinzi-
Entwicklungsverläufe und kein Zusammenhang pien findet. Im Alter von 2–4 Jahren ist dieses
des Ergebnisses mit Merkmalen der Adoptivfamilien, direkte Ausprobieren nicht mehr zwingend not-
was auf eine frühe neuronale Programmierung hin- wendig. Jetzt hat das Kind eine innere Vorstellung
weist (Rutter et al. 2004). von Gegenständen und Abläufen entwickelt, die es
Im Alter von 11 Jahren traten bei vielen Kindern neue in Gedanken durchspielen kann. Auch das symbo-
Probleme auf, die bisher in dieser Häufigkeit nicht lische Spiel wird in dieser Phase möglich (z. B. so
vorhanden gewesen waren. 25 % der Kinder zeigten tun, als ob ich schlafe).
nun deutliche emotionale Probleme, wie eine große
Ängstlichkeit vor neuen Situationen, schnelles Wei- Kognitive Entwicklung nach Piaget Der Schweizer
nen, Niedergeschlagenheit und Unglücklichsein oder Entwicklungspsychologe Jean Piaget setzte mit
Angst, in die Schule zu gehen. Darin unterschieden seinem Modell wichtige Meilensteine zum Verständ-
sie sich auch von anderen adoptierten Kindern, die nis der kognitiven Entwicklung in der Kindheit.
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
171 4

. Tab. 4.4 Piagets Phasen der kognitiven Entwicklung

Alter Entwicklungsstadium Beschreibung und Beispiele

0 bis ca. 2 Jahre Sensomotorische Phase Das Kind entwickelt und koordiniert sensomotorische
Handlungsmuster (z. B. zielgerichtetes Greifen). Ent-
wicklung der Objektpermanenz, d. h. Gegenstände hören
nicht auf zu existieren, wenn das Kind sie nicht mehr sieht.
»Werkzeugdenken« entsteht (z. B. Ziehen an einer Schnur,
um das daran befestigte Auto herbei zu holen)

Ca. 2 bis 7 Jahre Präoperationale Phase Egozentrisches Denken, d. h. keine Perspektivenüber-


nahme möglich. Kind kann symbolhaft spielen, d. h.
Rollenspiele mit vorgestellten Gegenständen werden
durchgeführt. Kind kann nur eine Dimension erfassen,
z. B. hält ein Kind 1 kg Steine für schwerer als 1 kg Federn.
Oder: Der Inhalt eines breiten Glases wird in ein hohes,
schlankes Glas gefüllt. Der Inhalt des hohen Glases wird
vom Kind als »mehr« beurteilt (fehlendes Verständnis für
Mengeninvarianz)

Ca. 7 bis 11 Jahre Konkretlogische Operationen Benutzung von logischen Operationen, d. h. verinner-
lichten Handlungen, die auch in umgekehrter Reihenfolge
gedacht werden können. Kinder können konkrete Zahl-,
Raum- und Zeitprobleme lösen

Ab ca. 12 Jahre Formallogische Operationen Denkoperationen können systematisch und bewusst


im Denken eingesetzt werden. Gedankenexperimente:
Schlussfolgerndes Denken bei beliebigen, fiktiven An-
nahmen ist möglich

Danach entwickeln sich Prozesse der Wahrneh- Hintergrundinformation


mung und des Denkens im direkten Austausch mit Kognitive Entwicklung im 1. Lebensjahr
Es gibt Hinweise, dass Kinder mit einem Kernwissen über
den Eindrücken der Umwelt. Eindrücke aus der
Physik zur Welt kommen, das sich in der Evolution herausge-
Umgebung nimmt das Kind auf und ordnet sie in bildet hat, weil es überlebensförderlich ist. Diese Kernannah-
seine vorhandenen Denkstrukturen ein (Assimila- men betreffen
tion). Allerdings verändert ein Kind auch seine 1. Kohäsion, d. h. dass Objekte ganze Einheiten mit festen
Denkstrukturen, wenn die vorhandene Information Außengrenzen sind.
2. Kontinuität: Objekte bewegen sich auf kontinuierlichen
nicht dazu passt (Akkommodation). Nach Piaget ist
Bahnen und nehmen einen definierten Raum ein.
die kognitive Entwicklung das Ergebnis eines stän- 3. Kontakt: Objekte nehmen nur dann auf andere Objekte
digen Wechselspiels aus Assimilation und Akkom- Einfluss, wenn sie diese berühren.
modation. Diese Entwicklung verläuft im Wesent-
lichen in 4 Stufen ab (. Tab. 4.4). Da Piaget moderne Babys kommen auch mit einem intuitiven Mengenverständ-
nis auf die Welt, das es ihnen erlaubt, die Größe kleiner Men-
Methoden der Säuglingsforschung noch nicht zur
gen intuitiv zu erfassen, ohne zählen zu müssen.
Verfügung standen, geben seine Erkenntnisse je- Schon sehr kleine Kinder haben reichhaltige komplexe Reprä-
doch nicht mehr den aktuellen Stand des Wissens sentationen der Welt. Sie können Sinnesempfindungen aus
wieder. unterschiedlichen Kanälen (visuell, haptisch, akustisch) mit-
einander verbinden. Sie bilden Erwartungen aus, z. B. über die
Bewegung von Gegenständen, und reagieren irritiert, wenn
das Erwartete nicht eintrifft. Schon sehr kleine Kinder haben
eine Vorstellung von Kausalität. Sie klassifizieren Objekte
in Kategorien schon im 3. –4. Monat, lange bevor sie mit
dem Sprechen beginnen, und reagieren mit Aufmerksamkeit,
172 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

wenn man ihnen etwas Neues zeigt, was nicht zu einer Kate- (Bildkarten) zeigen und unterscheiden. Sind basale
gorie passt. Eine einfache Objektpermanenz entwickelt sich kommunikative Fähigkeiten gelernt, folgen komple-
innerhalb des ersten halben Jahres und ist spätestens mit
xere Aufgaben, wie das Erkennen von Emotionen
8 Monaten nachweisbar, eine dauerhafte Objektpermanenz
zum Ende des 1. Jahres. oder das Verstehen von sozialen Interaktionen. In
Im 7. Monat werden Lebewesen und unbelebte Objekte einigen Studien wurde gezeigt, dass bei einem
unterschieden. Unbelebte Objekte verhalten sich nach den großen Teil der Kinder nach intensiver Verhaltensthe-
Regeln der Physik, Lebewesen nach ihren psychologischen rapie die autistischen Symptome deutlich reduziert
Zuständen (Gefühle, Motive, Interessen). Lebewesen bewe-
waren und einige sie sogar vollständig verloren.
gen sich von alleine, unbelebte Objekte werden durch an-
4 dere in Bewegung versetzt. Intentionen werden Lebewesen
zugeschrieben, nicht aber unbelebten Objekten. Sprache Kennt der Säugling in den ersten Mona-
Insgesamt spielen sich im 1. Lebensjahr kognitive Entwick- ten nur eine kleine Anzahl an Lauten, so wird sein
lungen ab, die mit Piagets entwicklungspsychologischen Sprachrepertoire mit 6 Monaten differenzierter und
Begriffen nur unzureichend erklärt werden können. Piaget
er entwickelt komplexere Lautverbindungen. Ab
überschätzte die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung
des Denkens. Handlungen sind jedoch nicht unbedingt not- dem 9. Monat imitiert er ungezielt Sprachlaute, die
wendig für Denken. schon wenige Monate später eine Bedeutung er-
halten (»Mama«, »Papa«). Ab 18 Monaten können
Klinik: Autismus viele Kinder schon einfache Gegenstände benennen
Julian sitzt still in seinem Zimmer. Man hört nur das oder sogar Zwei- bzw. Mehrwortsätze verwenden
Klacken der Murmelbahn. Fasziniert schaut der (z. B. »Mama lieb«). Es bleibt jedoch zu beachten,
4-Jährige zu, wie die Murmeln langsam die Bahn her- dass die Unterschiede in der Sprachentwicklung bei
unterrollen. Dieses Spiel kann er stundenlang Kleinkindern noch deutlicher auseinander liegen
spielen. Als seine Mutter eintritt und nach ihm ruft, als bei der motorischen Entwicklung. So kann eine
reagiert er nicht. Julian leidet an Autismus. Unter Sprachentwicklung durchaus noch als zeitgerecht
Autismus (Autismus-Spektrums-Störung) versteht gelten, wenn ein 2-jähriges Kind nur wenige Worte
man eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, deren sagen kann. Dass wir uns an die Erfahrungen der
Symptome sich bereits in der frühen Kindheit mani- ersten Lebensjahre nicht erinnern können (früh-
festieren. Dazu können wenig Kontaktaufnahme kindliche Amnesie), kann dadurch erklärt werden,
zu anderen Personen, verzögerte Sprachentwicklung, dass damals keine Möglichkeiten der sprachlichen
oft stereotype Verhaltensweisen und spezielle Inter- Speicherung zur Verfügung standen.
essen wie z. B. »Expertenwissen« über Autos oder
Dinosaurier gehören. Auch ist die Fähigkeit, Bewusst- Primäre Sozialisation Die Sozialisation bezeichnet
seinsvorgänge, wie Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, den Entwicklungsprozess, durch den ein Mensch
Absichten, Erwartungen usw. in anderen Personen zu in die menschliche Gesellschaft hineinwächst. Auf
vermuten (Theory of Mind), stark eingeschränkt. diese Weise wird er zur sozialen und gesellschaft-
Bisher galt die Autismus-Spektrums-Störung als weit- lich handlungsfähigen Persönlichkeit. Die primäre
gehend unheilbar und lebenslang andauernd. Aller- Sozialisation (0–3 Jahre) findet v. a. im Rahmen der
dings kann durch verschiedene kompetenzfördernde Kernfamilie statt und legt die Grundstrukturen des
Therapien (Verhaltenstherapie, Ergotherapie, Logo- Denkens, Sprechens und sozialen Verhaltens. Hier
pädie etc.) die Fähigkeit des Betroffenen, mit alltäg- werden auch erste soziale Normen internalisiert,
lichen Aufgaben zurechtzukommen, deutlich gestei- erste Grundlagen der Leistungsmotivation und der
gert werden. Die bisher am besten untersuchte und Moralentwicklung gelegt. Moralische Themen
erfolgreichste Behandlung ist die »intensive Verhal- spielen schon früh im Leben des Kindes eine Rolle.
tenstherapie« (Applied Behavior Analysis, ABA). Neue In der ersten Entwicklungsphase orientiert sich das
Fähigkeiten werden dabei durch intensives Training Kind an der Bestrafung und der Belohnung, die die
geübt (30–40 Stunden pro Woche) und in kleinsten Erwachsenen vorgeben. Diese Stufe der Moralent-
Schritten erlernt. Geübt werden alle basalen Fähig- wicklung lässt sich auf die Kurzformel bringen:
keiten, die ein Kind braucht, um weiter lernen zu »Wer die Macht hat, hat das Sagen.« Eine innere
können, wie z. B. etwas nachsprechen oder Begriffe Einsicht in Notwendigkeit von Geboten und Verbo-
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
173 4
ten ist erst im späten Kindesalter bzw. in der Puber- lichkeitsentwicklung unterstützt. Dabei darf man
tät möglich. den Kontext, in dem die Erziehung stattfindet, je-
doch nicht außer Acht lassen. So müsste der autori-
tative Erziehungsstil, der im Mittelschichtmilieu
Modell der Moralentwicklung
durchaus zu guten Effekten führt, in einem delin-
nach Kohlberg
quenzbelasteten Milieu mehr lenkende und ein-
5 Präkonventionelle Stufe: Orientierung an
schränkende Elemente integrieren, d. h. Elemente
Bestrafung und Gehorsam. Regeln werden
des autoritären Erziehungsstils, die in diesem Fall
nur im eigenen Interesse verfolgt.
eine positive Entwicklung des Kindes unterstützen.
5 Konventionelle Stufe: Orientierung an
dem, was andere anerkennen. Gesetze ein-
Sprach- und Kommunikationsstil Ebenfalls prägend
halten, weil es zur Aufrechterhaltung des
für die Persönlichkeitsentwicklung und die Sozia-
sozialen Systems beiträgt.
lisation des Kindes sind Sprach- und Kommuni-
5 Postkonventionelle Stufe: Bewusstsein da-
kationsstile in der Familie. Der sog. restringierte
rüber, dass Menschen individuelle Rechte
Sprachcode gebraucht grammatikalisch einfache,
haben, in Abstimmung mit den Erfordernis-
kurze Sätze, meist ohne die Verwendung eines
sen der Situation Einhaltung der Gesetze,
Verbs oder differenzierender Adjektive. Inhaltlich
Orientierung an universell-ethischen Prinzi-
enthält er oft Anweisungen, deren Notwendigkeit
pien (z. B. Menschenrechten).
nicht erklärt wird. Dieser Sprachcode kommt eher
in der Unterschicht vor. Im elaborierten Code fin-
den sich komplexere Satzstrukturen, er ist eher in-
dividuumsbezogen und verwendet einen größeren
4.7.4 Soziokulturelle Einflüsse auf Wortschatz. Er wird häufiger in der Mittelschicht
Entwicklung und Sozialisation verwendet. Da Eltern mit elaboriertem Sprachstil
Wirkungszusammenhänge erklären, gewinnt das
Folgende wichtige Einflüsse in Kindheit und Jugend Kind rasch ein Verständnis für die Umwelt und
wirken sich auf die psychosoziale Entwicklung aus. deren Mechanismen. Der restringierte Code ver-
mittelt mit seinen kurzen Aussagen oder Anweisun-
Erziehungsstil Der Erziehungsstil nimmt schon gen keine Einsicht in Zusammenhänge.
sehr früh im Rahmen der Familie Einfluss auf die
Entwicklung des Kindes. In ihrer Rolle als Erzieher Peergroup und Vorschule/Schule Spielt in der frü-
können Eltern entscheidend dazu beitragen, dass hen Kindheit (0–3 Jahre) die Familie für die Ent-
sich ihre Kinder zu eigenständigen, kompetenten wicklung die wichtigste Rolle, kommen in den fol-
und gemeinschaftsfähigen Individuen entwickeln. genden Jahren dem Kindergarten bzw. der Schule
Inwiefern die Erziehung zur Förderung einer posi- und der Gruppe der Gleichaltrigen (peer group)
tiven Lebensführung beiträgt, hängt von der Quali- eine zunehmende Bedeutung zu. In der neuen
tät des elterlichen Erziehungsstils ab. sozialen Umwelt macht das Kind Erfahrungen und
erhält Rückmeldung, die schon im ausgehenden
Vorschulalter zur Bildung eines differenzierten
Erziehungsstile
Selbstkonzepts beitragen. So gewinnt es nach und
5 Autoritär: übt Macht aus, ist zurückweisend
nach Einschätzungen über seine akademische und
5 Vernachlässigend: gibt wenig Orientie-
soziale Kompetenz, seine Leistungsmotivation,
rung, ist zurückweisend
seine Akzeptanz bei Peers und sein Ausmaß an
5 Permissiv: akzeptiert, fordert wenig
Ängstlichkeit und Aggressionsbereitschaft. Die
5 Autoritativ: akzeptiert, gibt klare Struktur vor
Interaktion mit Gleichaltrigen fördert außerdem
die Entwicklung des Sozialverhaltens. Anders als
Forschungsergebnisse legen nahe, dass vor allem bei Erwachsenen ist die Interaktion mit Peers sym-
der autoritative Erziehungsstil eine positive Persön- metrisch, d. h. auf einer gleichberechtigten Ebene.
174 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Hier kann das Kind die in der Familie gelernten sozialen Umwelt nicht ausgeschlossen werden kön-
sozialen Regeln anwenden und seine sozialen Kom- nen. Der gewaltverherrlichende Medienkonsum
petenzen erweitern. scheint eher eine Begleiterscheinung bereits beste-
Genauso wie positive Kompetenzen in der Fa- hender Gewaltbereitschaft zu sein, d. h. gewaltbe-
milie, Schule oder Bezugsgruppe gelernt werden reite Jugendliche bevorzugen auch eher Medien mit
können, trägt ein bestimmtes Elternverhalten oder aggressivem Inhalt. Entscheidender für die Zunah-
ein spezifisches Umfeld dazu bei, negatives bzw. me an Aggression sind die oben genannten Faktoren
dysfunktionales Verhalten zu verstärken. Häufig der Familie und der sozialen Umwelt. Außerdem
4 wird in diesem Zusammenhang das Problem der spielt die Einstellung der Eltern zu Gewalt in den
zunehmenden Gewaltbereitschaft und Aggressivi- Medien eine größere Rolle als die Bilder selbst.
tät bei Kindern und Jugendlichen genannt. Erste
frühkindliche Risikofaktoren für deren Entwick-
lung liegen meist schon in einem schwierigen Tem- 4.7.5 Gesellschaftliche Einflüsse
perament des Kindes, d. h. diese Kinder sind moto-
risch eher unruhig, leicht irritierbar und schwer Strukturwandel der Familie Mit der Industrialisie-
zu beruhigen. Gelingt es den Eltern nicht, auf die rung im 19. Jahrhundert änderte sich die damals
besonderen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen, weit verbreitete Familienform der Großfamilie hin
reagieren viele Kinder mit einem unsicheren-ver- zur Kleinfamilie. In den letzten 30 Jahren hat sich
meidenden Verhalten gegenüber der Mutter (un- das Gesicht der Kleinfamilie sehr gewandel – außer-
sicher-vermeidende Bindung). Um die Kontrolle zu dem werden alternative Formen des Zusammen-
behalten, entwickeln betroffene Eltern einen rigi- lebens immer häufiger. Heute lebt z. B. nur noch ein
den, harten Erziehungsstil, und es etabliert sich ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in einer Kern-
Teufelskreis aus der Aggression des Kindes, erfolg- familie, d. h. zusammen mit einem Ehepartner und
losen Kontrollversuchen der Eltern und erneuter mindestens einem Kind. Der Anteil an verheira-
Aggression des Kindes (7 Abschn. 4.6.7). Da vor teten Paaren mit Kindern hat in den letzten Jahr-
allem Jungen auf Gegenaggression mit wiederholter zehnten deutlich zugunsten anderer Lebensformen
Aggression antworten, kommt es zu regelrechten abgenommen, wie der Single-Haushalte oder Allein-
»Aggressionsketten«. Von Gleichaltrigen werden erziehender (in der großen Mehrzahl Frauen). Zwar
aggressive Kinder meist abgelehnt, wodurch das wachsen die meisten Kinder heute nach wie vor bei
aggressive Kind zum sozialen Außenseiter wird. ihren leiblichen, verheirateten Eltern auf, vor allem
Schließt es sich aber einer devianten Gruppe an, hat in größeren Städten nimmt jedoch die Zahl sog.
das einen positiven Effekt auf das Selbstwertgefühl, Patchworkfamilien zu, d. h. Familien, in denen z. B.
erhöht aber wiederum die Aggressionsbereitschaft. ein Elternteil fehlt und durch den neuen Lebenspart-
Als weiterer Einflussfaktor auf die wachsende ner ersetzt wurde, der auch Kinder mitbringen kann.
Gewaltbereitschaft wird immer wieder der Einfluss
der Medien ins Feld geführt. Viele Kinder und Ju- Klinik: Sexueller Kindesmissbrauch
gendliche haben heute mehr als noch vor ein paar Sexueller Missbrauch von Kindern durch Erwachsene,
Jahren Gelegenheit, häufig realistisch dargestellte von dem Mädchen häufiger betroffen sind als
Gewalt im Fernsehen und in Computerspielen zu Jungen, wirkt für das Kind traumatisierend und kann
sehen. Allerdings ist die Wirkung der Medien weni- schwerwiegende Langzeitfolgen mit sich bringen.
ger ausgeprägt als allgemein angenommen. Eine ak- In einer aktuellen Studie in Deutschland berichteten
tuelle Metanalyse fand signifikante, aber kleine Ef- 1,9 % über schweren sexuellen und 2,8 % über
fekte von Videospielen mit Gewaltdarstellungen auf schweren körperlichen Missbrauch.
aggressives Verhalten und andere Outcomes, kurz- Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist ein Risiko-
fristig in experimentellen Studien, langfristig in Ko- faktor für viele psychische und körperliche Stö-
hortenstudien. Letztere Zusammenhänge können rungen wie Persönlichkeitsstörungen (insbesondere
jedoch nicht kausal interpretiert werden, weil Ein- Borderline-Störung), Essstörungen, Depression,
flüsse dritter Variablen wie der Persönlichkeit und Suizidversuche, chronischer Schmerz, körperliche
4.7 · Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit)
175 4
Beschwerden ohne medizinische Ursache, aber auch me feststellen: Heute ist damit zu rechnen, dass
organische Krankheiten, riskantes Gesundheitsver- über ein Drittel aller Ehen auseinander gehen. Da-
halten und hohe Inanspruchnahme medizinischer bei erfolgt die Scheidung beim überwiegenden Teil
Dienste. Das erhöhte Risiko für psychische Störungen in den ersten 15 Jahren nach der Eheschließung.
lässt sich nicht auf die generell gestörte Familien- Aufgrund dieser hohen Zahlen ist damit zu rech-
umwelt oder genetische Faktoren zurückführen, son- nen, dass ein Fünftel aller Kinder die Ehescheidung
dern besteht unabhängig davon, wie Studien mit ihrer Eltern in ihren ersten 2 Lebensjahrzehnten
Zwillingspaaren zeigen, von denen nur ein Zwilling mitbekommt.
Missbrauch ausgesetzt war. Pränataler und frühkind-
licher Stress, Missbrauch und Vernachlässigung Geschlechtsrollen Auch sind die klar definierten
können neurobiologische Veränderungen in Hippo- Geschlechtsrollen vom Mann und vor allem der
campus, präfrontalem Kortex und der Stressreaktion Frau in den letzten Jahrzehnten im Wandel begrif-
(Glukokortikoide) bewirken, die das ganze Leben fen. Männern kommt heutzutage nicht mehr selbst-
über anhalten können. verständlich die Aufgabe des Broterwerbs und Frau-
Sexueller Missbrauch lässt sich nicht durch eine en die der Haushaltsführung und der Kinderer-
vermeintliche Einwilligung des Kindes rechtfertigen, ziehung zu. Gründe dafür sind nicht zuletzt der
da in jeder Beziehung zwischen Erwachsenem und höhere Bildungsgrad der Frauen und die stärkere
Kind ein Machtgefälle besteht, das vom Täter ausge- Ausrichtung auf den Beruf, gerade auch bei Frauen
nutzt wird. Die psychologische Begutachtung von mit Kindern. So sind heute ca. 60 % aller Frauen mit
Tätern und Opfern stellt eine schwierige Aufgabe dar, Kindern erwerbstätig. Im Vergleich zu der Genera-
die eine hohe Qualifikation voraussetzt, auch um tion ihrer Mütter treten Frauen zwar erst später ins
Fehlbeschuldigungen auszuschließen. Im Rahmen Berufsleben ein, bleiben dann aber häufiger trotz
von Psychotherapien ist es nicht selten zu vom The- Kindern berufstätig bzw. unterbrechen kürzer als
rapeuten suggerierten falschen Erinnerungen ihre Mütter. Trotz der Zunahme in der Erwerbs-
gekommen. Da es sich hier um ein emotional hoch tätigkeit der Frau liegt die Verantwortung von Er-
besetztes Thema handelt, sind Voreingenommen- ziehung und Betreuung, vor allem der Kinder unter
heiten und Fehleinschätzungen in beiden Richtun- 6 Jahren, nach wie vor bei der Mutter. Der Anteil der
gen nicht selten. Männer, die sich in überwiegender Zeit der Erzie-
hung ihrer Kinder widmen, ist nach wie vor ver-
Kinderlosigkeit Insgesamt ist ein deutlicher An- schwindend gering.
stieg der Kinderlosigkeit zu verzeichnen. Von den
nach 1965 geborenen Frauen werden nach Schät- Folgen der Berufstätigkeit der Mutter Hinsichtlich
zungen mindestens 30 % kinderlos bleiben, d. h. der Berufstätigkeit der Mutter fand sich vor allem
dass auch die Anzahl der Ehepaare ohne Kinder bei größeren Kindern und Jugendlichen kein nega-
steigt. Auffällig hoch ist dabei der Anteil an deut- tiver Einfluss auf die Befindlichkeit der Kinder.
schen Akademikerinnen ohne Kinder. Diejenigen Vielmehr sind der globale Stress in der Familie und
Frauen, die Kinder bekommen, entscheiden sich weniger der mögliche Arbeitsstress der Mutter ent-
immer häufiger für eine Ein-Kind-Familie. Die An- scheidend für das Wohlbefinden und die Beziehun-
zahl der Drei- und Mehr-Kind-Familien ist dabei gen in der Familie.
gleich geblieben. Die durchschnittliche Kinderzahl
pro Frau liegt derzeit bei 1,4 Kindern, was im euro- Scheidungsfolgen Der beschriebene soziale Wan-
päischen Vergleich eine eher geringe Zahl ist. Auch del lässt die Vermutung zu, dass viele Kinder durch
hat sich der Beginn der Elternschaft in den letzten die Zunahme der Ehescheidungen und die beruf-
20 Jahren um durchschnittlich 5 Jahre nach hinten liche Arbeitsbelastung beider Eltern eine familiäre
verschoben (7 Abschn. 4.9.4). Instabilität erleben. Vielfach wird auch vermutet,
dass diese Faktoren eine Ursache für die in den letz-
Scheidungsrisiko Seit Mitte der 60er-Jahre lässt ten Jahren zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten
sich beim Scheidungsrisiko eine deutliche Zunah- und psychischen Störungen wie z. B. Depression,
176 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Selbstunsicherheit oder Hyperaktivität im Kindes- 4.8 Entwicklung und Sozialisation


alter darstellten. Eine Reihe von Befunden legt tat- im Lebenslauf (Adoleszenz,
sächlich nahe, dass Scheidungskinder im Vergleich mittleres Erwachsenenalter,
zu Kindern aus Kernfamilien ein erhöhtes Risiko Senium) und
für Entwicklungsbelastungen haben. Dazu gehören sekundäre Sozialisation
schlechtere Schulleistungen, geringeres Selbstwert-
gefühl, Verhaltensprobleme und Schwierigkeiten M. Schowalter, H. Faller
im Umgang mit Gleichaltrigen. Allerdings fallen
4 diese Unterschiede weniger gravierend aus als all- Lernziele
gemein angenommen. Am deutlichsten ausgeprägt Der Leser soll
nach einer Scheidung sind vermehrte Verhaltens- 5 Veränderungsprozesse in der Adoleszenz
auffälligkeiten, gefolgt von vorübergehend schlech- beschreiben können,
ten Schulleistungen. Psychische Probleme wie de- 5 die Bedeutung der Adoleszenz für die Entwick-
pressive Verstimmungen, Ängste und eine geringes lung gesundheitsriskanten Verhaltens kennen,
Selbstwertgefühl kommen selten vor. Die Belastun- 5 das Anforderungs-Kontroll-Modell und das
gen treten in der Regel kurz nach einer Eheschei- Gratifikationskrisenmodell beschreiben können,
dung auf und reduzieren sich in den folgenden 5 die psychosoziale Entwicklung im Alter be-
3 Jahren auf ein normales Maß. Darüber hinaus schreiben können,
wird oft nicht beachtet, dass Kinder die Scheidung 5 die soziale Situation älterer Menschen beschrei-
der Eltern durchaus sehr unterschiedlich verarbei- ben können.
ten. Stehen dem Kind sog. Schutzfaktoren, wie z. B.
unterstützende Beziehungen oder individuelle so-
ziale Kompetenzen zur Verfügung, die als »Puffer« 4.8.1 Merkmale der Adoleszenz
wirken und nachteilige Effekte abfangen, können
die Betroffenen aus der ganzen Situation mögli- Adoleszenz Die Adoleszenz ist die Übergangs-
cherweise sogar Gewinne für ihre Entwicklung periode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter.
(z. B. hohe soziale Kompetenzen, fürsorgliche Ver- Sie ist gekennzeichnet durch zahlreiche biolo-
haltensweisen) ziehen. gische, psychologische und soziale Veränderungen.
Zeitlich erstreckt sie sich über ein Jahrzehnt und
i Vertiefen
kann in die 3 Phasen frühe (11–14 Jahre), mittlere
Schneider W, Lindenberger U (2012) Entwick-
(15–17 Jahre) und späte Adoleszenz (18–21 Jahre)
lungspsychologie. 7. Aufl. Beltz, Weinheim
unterteilt werden. Die Pubertät bezeichnet den-
(umfangreiches und detailliertes Standardwerk
jenigen Abschnitt innerhalb der Adoleszenz, in
über die Entwicklung von Kindheit, Jugend,
dem die größten körperlichen und sexuellen Ver-
Erwachsenenalter und Senium)
änderungen stattfinden. Diese geschehen in der
Regel zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr. Die
Abgrenzung zur Kindheit bzw. zum frühen Erwach-
senenalter muss jedoch nicht unbedingt nur zeitlich
erfolgen, sondern ist auch anhand von Kriterien der
sozialen Reife oder verschiedener Funktionsbe-
reiche (z. B. Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit)
möglich.

Entwicklungsaufgaben Die Entwicklungspsycho-


logie hat für das Jugendalter sogenannte Entwick-
lungsaufgaben definiert, die in der Adoleszenz ge-
löst werden sollen. Dahinter steht die Annahme,
dass es im Verlauf des Lebens bestimmte Zeiträume
4.8 · Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
177 4
gibt, die für manche Lernprozesse besonders geeig- liegt bei 1–3 %. Das Auftretensalter ist etwas höher
net erscheinen. Diese Entwicklungsaufgaben sind als bei der Anorexie und es sind 10-mal mehr Mäd-
u. a. der Aufbau eines Freundeskreises aus Gleich- chen als Jungen betroffen, wobei die Zahl der betrof-
altrigen beiderlei Geschlechts, Übernahme der fenen Jungen in den letzten Jahren zunimmt.
männlichen bzw. weiblichen Geschlechtsrolle, Ak-
zeptanz der eigenen körperlichen Erscheinung, Neurobiologische Veränderungen Zu der beschrie-
emotionale Unabhängigkeit von den Eltern, Aus- benen Krisenhaftigkeit trägt auch bei, dass in der
einandersetzung mit Beruf und Karriere, Entwick- Adoleszenz eine grundlegende Reorganisation des
lung einer Zukunftsperspektive, eigene Identität Gehirns stattfindet. Unterschiedliche Gehirnregio-
entdecken und sich selbst kennen lernen, eigene nen entwickeln sich dabei unterschiedlich schnell.
Werte finden usw. In Anbetracht der zahlreichen Limbisches System und Belohnungssystem reifen
Aufgaben gilt die Adoleszenz auch im alltäglichen früher und steuern das Verhalten, während der prä-
Verständnis als kritische Zeitspanne, mit der zahl- frontale Kortex, der für Handlungskontrolle und
reiche Probleme im persönlichen, familiären oder langfristige Planung zuständig ist, erst später reift.
außerfamiliären Bereich assoziiert sind. Probleme Folge dieser Diskrepanz kann riskantes Verhalten
können erstens durch die tief greifenden Verän- sein, das insbesondere bei Anwesenheit von Gleich-
derungen des Jugendalters an sich entstehen, aber altrigen auftritt. Der evolutionäre Sinn dieser dis-
auch dann, wenn die oben genannten Aufgaben krepanten Hirnentwicklung könnte darin bestehen,
nicht erfüllt werden. Als typische adoleszente Stö- dass dadurch die Ablösung von der Primärfamilie
rungen, die u. a. auf die mangelnde Akzeptanz des gefördert wird.
Körpers bzw. Schwierigkeiten in der Identitäts-
findung zurückgeführt werden können, gelten Ess- Pubertät Die Pubertät ist die Phase, in der die
störungen wie Anorexie und Bulimie. größten körperlichen und sexuellen Veränderun-
gen stattfinden. Jugendliche erreichen im Alter
Klinik: Anorexia nervosa von 16–19 Jahren ihre endgültige Körpergröße, wo-
Das Auftretensalter der Anorexie liegt zwischen bei das Wachstum der männlichen Jugendlichen
dem 11. und 18. Lebensjahr. Sie ist gekennzeichnet 2 Jahre länger andauert als das der weiblichen. Da
durch eine stark reduzierte Nahrungsaufnahme nicht alle Körperteile mit der gleichen Geschwin-
mit deutlichem Untergewicht und dem unkorrigier- digkeit wachsen (Extremitäten, Kopf, Hände und
baren Gefühl, trotzdem noch zu dick zu sein. Von Füße wachsen schneller als der Rumpf), zeigen sich
einer Anorexie sind ca. 0,5–1 % der Jugendlichen, in häufig Disproportionen, die zu einer charakteris-
der Regel die weiblichen, betroffen. Meist ist die tischen Motorik mit ungelenken, schlaksigen Be-
körperliche Entwicklung durch das geringe Gewicht wegungen führen. Die größten Veränderungen
deutlich verzögert oder gehemmt. liegen aber in der Geschlechtsreifung, die durch
eine hormonelle Umstellung verursacht wird. Ge-
Bulimia nervosa nau wie beim Längen- und Breitenwachstum erfolgt
Diagnostische Kriterien der Bulimie sind das Auftre- die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale in ein
ten von Essattacken mit anschließender Kompen- und derselben Reihenfolge (z. B. Jungen: Wachstum
sation der vermehrten Nahrungsaufnahme durch Er- der Schamhaare, rasches Wachstum der männli-
brechen, Gebrauch von Abführmitteln oder über- chen Geschlechtsorgane, vermehrtes Größen-
triebene sportliche Aktivität. Die Bulimie zeigt sich wachstum, Stimmbruch; Mädchen: Beginn der
ebenfalls durch eine extreme Furcht dick zu werden, Rundung der Hüften, rasches Wachstum der weib-
d. h. eine als optimal definierte Gewichtsgrenze zu lichen Geschlechtsorgane, vermehrtes Größen-
überschreiten. Im Gegensatz zur Anorexie sind die wachstum, Menarche, rasches Wachstum der
Betroffenen normalgewichtig oder nur leicht unter- Brust). Die Geschlechtsreifung findet bei Jungen
gewichtig. Dem Schlankheits- und Schönheitsideal durchschnittlich ca. 2 Jahre später statt, kann aber
wird beim Aufbau des Selbstwerts eine übergroße interindividuell unterschiedlich schnell voran-
Bedeutung beigemessen. Die Auftretenshäufigkeit schreiten. Ein Marker der Geschlechtsreife ist die
178 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Menarche (Beginn der Menstruation) bei den Mäd- werden. Mit der Identifikation bzw. Übernahme
chen und die 1. Ejakulation bei den Jungen. Laut der Geschlechtsrolle geht auch die allgemeine Iden-
Ergebnissen aus Umfragen und Studien zeigt sich titätsfindung als großer Entwicklungsschritt der
eine deutliche Beschleunigung der Reifungsprozes- Adoleszenz einher. Zu dem Bemühen des Jugend-
se. So erleben Mädchen und Jungen die Menarche lichen um eine eigene personale Identität gehört
bzw. die 1. Ejakulation ca. 2 Jahre früher als noch einerseits das Bestreben nach Selbsterkenntnis und
vor 30 Jahren. Treffen sie die Jugendlichen unvor- anderseits nach Veränderung sowie Selbstgestal-
bereitet, sind sie mit negativen, unangenehmen tung. Beide Prozesse bringen die Identitätsentwick-
4 Gefühlen verbunden. lung voran. Genauso wichtig wie die personale
Identität ist die soziale Identität, die sich durch die
Sexualität Die Sexualität im Jugendalter entwickelt Zugehörigkeit zu einer sozialen Bezugsgruppe
sich aus einem Zusammenspiel von sexueller Rei- (Peergroup) definiert. Oft fällt es Jugendlichen nicht
fung, den psychosozialen Gegebenheiten, d. h. Nor- leicht, eine Identität aufzubauen.
men oder Reizen der Umgebung, und den sozialen
Kontakten, die Jugendliche pflegen. Das heutige Entwicklungsprobleme der personalen und sozialen
Sexualverhalten lässt sich durch eine Vorverlage- Identität Gründe für Entwicklungsprobleme der
rung der sexuellen Aktivitäten charakterisieren. personalen und sozialen Identität können zum
Verantwortlich dafür ist die deutlich frühere Ge- einen der Mangel an Autonomie sein, der sich meist
schlechtsreife, aber auch eine allgemein frühere in einer zu hohen Konformität an die Herkunfts-
Koituserfahrung, sowohl bei Jungen als auch bei familie oder die soziale Gruppe ausdrückt. Oft ist
Mädchen. Hatten vor 30 Jahren über die Hälfte für die Findung der eigenen Identität die innere
der weiblichen Jugendlichen den 1. Geschlechtsver- oder auch räumliche Ablösung von der Herkunfts-
kehr mit 17 Jahren und die männlichen Jugend- familie sinnvoll. Familiäre Regeln und Normen
lichen mit 18 Jahren, erleben ihn heute die meisten können dann leichter hinterfragt und eigenständige
Jugendlichen beiderlei Geschlechts schon mit Entscheidungen getroffen werden. Heute bleiben
15 Jahren. Dabei hat sich die geschlechtstypische allerdings viele Jugendliche länger als früher in ihrer
Einstellung zur Sexualität über die Zeit hinweg Herkunftsfamilie wohnen. Das hängt sicherlich mit
wenig verändert: Für Mädchen gehört Sexualität der Zunahme an Toleranz und Freiheit zusammen,
nach wie vor in eine feste Beziehung, während sich die die Eltern ihren Kindern gewähren. Ablösungs-
Jungen Sexualität auch losgelöst von einer Bezie- konflikte entstehen meist aus sich widersprechen-
hung vorstellen können. Insgesamt geben heute bis den Ansprüchen der Peergroup, die einen Lebens-
zu 85 % der Jugendlichen an, eine Empfängnis- stil (Kleidung, Jugendjargon, Musik) propagiert,
verhütung zu praktizieren, wobei Jungen den dessen Akzeptanz den Eltern Schwierigkeiten
Mädchen deutlich nachstehen. Allerdings scheint macht. Jedoch stößt man heute auch auf das Pro-
das Wissen über Sexualität und Empfängnis unter blem, dass die Eltern den Lebensstil ihrer Kinder
den Jugendlichen nach wie vor nicht sehr groß zu gut finden. Die Jugendlichen haben dann vielmehr
sein. Die trotzdem hohe Verhütungsrate mag mit das Problem, etwas zu finden, was die Eltern nicht
dazu beitragen, dass sich die Geburten bei Teen- akzeptieren, um sich abzugrenzen.
agermüttern in den letzten 2 Jahrzehnten nahezu
halbiert haben. Konformitätsdruck Die Zugehörigkeit zu einer
Gruppe kann auch die Ausbildung der Identität er-
Geschlechtsrolle und Identität Eine oben genann- schweren. Setzt die Gruppe soziale Ausdrucks-
te  Aufgabe der Adoleszenz ist die Übernahme formen oder Verhaltensweisen (z. B. Mutproben,
bzw. Auseinandersetzung mit der männlichen Trinkgewohnheiten) als Voraussetzung für eine
bzw. weiblichen Geschlechtsrolle. Unter einer »Ge- Gruppenzugehörigkeit fest (Konformitätsdruck),
schlechtsrolle« versteht man das Muster an Verhal- hat der Jugendliche wenig Spielraum, sich davon
tenserwartungen, die je nach Geschlecht an männ- abzugrenzen und innerhalb der Gruppe eigene An-
liche oder weibliche Jugendliche herangetragen sichten zu vertreten.
4.8 · Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
179 4
Gesundheitsriskantes Verhalten in der Adoleszenz
Das notwendige Kennenlernen und Ausprobieren 5 Soziale Probleme: unverantwortliches
neuer Situationen und Verhaltensweisen in der Verhalten, Nachlassen der Schulleistungen,
Adoleszenz kann sich aber unter bestimmten verbringt viel Zeit mit neuem Freundes-
Umständen auch nachteilig für den Jugendlichen kreis, Konflikte mit der Polizei, erhöhter Be-
auswirken. Potenziell schädliche Verhaltensweisen darf an Geld.
sind z. B. Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, un-
geschütztes Sexualverhalten, Rauchen oder un-
vorsichtiges Verkehrsverhalten, bei denen sich Suizid im Jugendalter Obwohl die meisten Krisen
der Jugendliche bewusst oder unbewusst in Gefahr in der Adoleszenz einen gutartigen Verlauf nehmen,
begibt. gibt es doch einige Jugendliche, die eine Lösung der
Konflikte im Suizid bzw. Suizidversuch suchen.
> In der Regel nehmen ein langfristig
Häufige Motive dafür sind familiäre Konflikte, Part-
schädliches Gesundheitsverhalten oder
nerschafts- oder schulische Probleme. Selten wir-
Substanzabhängigkeit ihren Anfang in
ken sich andere Probleme, wie z. B. Jugendarbeits-
der Adoleszenz.
losigkeit so aus, dass Jugendliche suizidal werden.
13,6 % der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und Der Selbstmord ist bei deutschen Jugendlichen
17 Jahren konsumieren regelmäßig Alkohol (männ- trotzdem die zweithäufigste Todesursache. Das Ver-
liche Jugendliche 18 %, weibliche Jugendliche 9 %). hältnis der vollendeten Suizide bei männlichen und
12 % der 12- bis 17-Jährigen rauchen, mit seit Jah- weiblichen Jugendlichen liegt bei 3:2. Weibliche
ren sinkender Tendenz. Als klassischer Einstieg in Jugendliche unternehmen aber doppelt so viele
den Drogenkonsum gilt nach wie vor der Canna- Suizidversuche. Die suizidale Absicht wird von 80 %
biskonsum. Hier gaben 5,6 % der 12- bis 17-Jähri- aller Jugendlichen vorher angekündigt. Ungefähr
gen an, Cannabis im letzten Jahr konsumiert haben. ein Viertel wiederholt den Suizidversuch innerhalb
Ursachen für dieses gesundheitsschädliche Verhal- der nächsten 2 Jahre.
ten sind multikausal und können u. a. auf Persön-
lichkeitsfaktoren, den familiären Hintergrund oder
die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen 4.8.2 Statuserwerb im frühen und
Gruppe zurückgeführt werden. Hier wirkt sich die mittleren Erwachsenenalter
in der Adoleszenz eminent wichtige Bedeutung der
Peergroup nachteilig aus, wenn sie Jugendliche Das Erwachsenenalter kann man in das frühe Er-
durch Gruppendruck oder Nachahmung zu schädi- wachsenenalter (20–40 Jahre) und das mittlere Er-
gendem Verhalten motiviert. Auch die klassischen wachsenenalter (40–60 Jahre) unterteilen, wobei
kardiovaskulären Risikofaktoren prägen sich in der das späte Erwachsenenalter (über 60 Jahre) dem
Adoleszenz zunehmend aus. Alter entspricht.

Frühes Erwachsenenalter Das frühe Erwachsenen-


Hinweise auf Drogenkonsum alter ist geprägt von der Übernahme neuer Rollen,
bei Jugendlichen die sich vor allem auf die Bereiche Beruf, Partner-
5 Körperliche Symptome: erhöhte Müdig- schaft und Familie beziehen. Der Statuserwerb
keit, wiederholte unerklärbare körperliche Erwachsener speist sich vor allem daraus, welche
Beschwerden. Rolle jeweils übernommen wird. Dabei kommt der
5 Emotionale Veränderungen: Freunde oder beruflichen Rolle, vor allem bei den Männern, eine
Verwandte bemerken Persönlichkeitsverän- besonders wichtige Rolle zu, da sie über soziales
derung, Niedergeschlagenheit oder plötz- Ansehen und materiellen Wohlstand entscheidet.
liche Stimmungswechsel; sozialer Rückzug, Welche beruflichen Rollen ergriffen werden, hängt
wenig Interesse an alltäglichen Aktivitäten. einerseits von der sozialen Herkunft, aber auch von
der schulischen bzw. beruflichen Bildung ab. In den
180 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

letzten Jahren wird die berufliche Rolle auch für Familie gerecht zu werden. Diese Rolleninkon-
Frauen zunehmend wichtiger, da die Berufstätigkeit gruenz ist häufig Ursache für erhöhte Stressbelas-
für das Selbstverständnis und den Selbstwert der tung oder partnerschaftliche Konflikte.
Frauen ebenfalls große Bedeutung erlangt. In der Im Folgenden werden 2 Modelle beschrieben,
Phase des frühen Erwachsenenalters kommen wei- die den Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung
tere Rollen wie die Partnerrolle und die Familien-, und körperlicher Gesundheit erklären. Sie geben
d. h. Vaterrolle bzw. Mutterrolle hinzu, was auf- auch Hinweise auf mögliche Ursachen einer Früh-
grund der zahlreichen Rollenanforderungen zu berentung nach beruflicher Überforderung.
4 Schwierigkeiten in der Ausbalancierung führen
kann. Charakteristisch für diese Problematik ist Anforderungs-Kontroll-Modell Den Kern des An-
die sogenannte Doppelbelastung erwerbstätiger forderungs-Kontroll-Modells bilden die Faktoren
Mütter, da gerade Frauen nach wie vor zum größten »Anforderung« und »Kontrolle«. Auf der einen
Teil für die Belange der Familie und der Kinder- Seite stehen die beruflichen Anforderungen. Kon-
erziehung verantwortlich sind (7 Abschn. 4.7.5). Die trolle bezeichnet das Ausmaß, mit der ein Berufstä-
Politik ist in den letzten Jahren bestrebt, mit Maß- tiger in der Lage ist, im Arbeitsprozess seine eigenen
nahmen zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf Fähigkeiten einzusetzen und selbständige Entschei-
und Familie, wie z. B. Recht auf Elternzeit oder Aus- dungen zu treffen.
bau von Kinderbetreuungseinrichtungen, die Situa-
> Nach dem Anforderungs-Kontroll-Modell
tion erwerbstätiger Mütter, aber auch Väter, zu ver-
erlebt eine Person dann die höchste körper-
bessern.
liche Belastung, wenn sie wenig Kontroll-
möglichkeiten bei gleichzeitig hoher Anfor-
Klinik: Herzinfarkt
derung erlebt.
Bei einem Herzinfarktpatienten, der nach einem
Aufenthalt in einer Reha-Klinik mit der Frage nach In diesem Fall kann die Wirkung des Stressfaktors
seiner beruflichen Zukunft zum weiterbehandelnden »Anforderung« nicht durch die Ressource »eigene
Arzt kommt, muss die Situation am alten Arbeitsplatz Kontrolle« ausgeglichen werden. Arbeitsplätze, die
genau geprüft werden. Zeigt sich dabei ein hohes dieser ungünstigen Anforderungs-Kontroll-Situa-
psychosoziales Gefährdungspotenzial, d. h. eine tion entsprechen, sind z. B. Akkordarbeitsplätze am
ungünstige Anforderungs-Kontroll-Situation, ist es Fließband. Den geringsten Stress haben Personen,
besser, eine andere Tätigkeit, einen Betriebswechsel die im Beruf über eine hohe Kontrolle bei gleich-
oder eine Berentung in Erwägung zu ziehen. zeitig geringer Anforderung verfügen. Beispiele für
solche Arbeitsfelder sind selbständige Tätigkeiten,
wie z. B. die Arbeit eines Einzelhandelsverkäufers.
4.8.3 Rollenkonflikte Empirische Studien konnten belegen, dass Berufs-
und psychosoziale Belastung tätige mit einer ungünstigen Anforderungs-Kon-
in Familie und Beruf troll-Situation unter einem 2- bis 4-mal so hohen
Risiko für einen Herzinfarkt stehen als Berufstätige
Neben der Überforderung, die die Erfüllung der mit einer günstigeren Anforderungs-Kontroll-Situa-
vielfältigen Anforderungen mit sich bringt, kann tion. Dieser Zusammenhang war unabhängig von
es außerdem zu Rollenkonflikten kommen (7 Ab- den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren
schn. 2.4.1). Diese können sowohl im frühen als nachweisbar.
auch im mittleren Erwachsenenalter auftreten.
Die Rollenkonflikte ergeben sich aus der Inkon- Gratifikationskrisenmodell Das Gratifikationskri-
gruenz von Rollenerwartungen oder der Unmög- senmodell enthält die Einflussgrößen »Verausga-
lichkeit, allen Anforderungen gerecht zu werden. So bung« und »Belohnung«. Unter Verausgabung wer-
ist es gerade in den ersten Berufsjahren schwierig, den einerseits berufliche Anforderungen und Ver-
der starken arbeitszeitlichen Beanspruchung und pflichtungen am Arbeitsplatz (extrinsischer Anteil)
gleichzeitig den Erwartungen des Partners oder der und andererseits die individuelle Verausgabungs-
4.8 · Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
181 4
neigung der Person (intrinsischer Anteil) verstan-
den. Die Belohnung umfasst immaterielle und ma- 5 Die Prävention hat in allen Phasen des
terielle Aspekte wie Einkommen, Anerkennung, Lebens eine große Bedeutung für die Ver-
Arbeitsplatzsicherheit und Status bzw. Aufstiegs- meidung von Krankheiten im Alter.
möglichkeiten. 5 Es gibt auch im Alter ein hohes Verände-
rungs- und Rehabilitationspotenzial.
> Gesundheitliche Probleme können nach dem 5 Mit steigendem Alter wächst die körper-
Gratifikationskrisenmodell dann entstehen, liche Anfälligkeit (Vulnerabilität), die sich
wenn ein Missverhältnis zwischen hoher Ver- im erhöhten Risiko, eine chronische körper-
ausgabung und geringer Belohnung vorliegt. liche oder hirnorganische Krankheit zu
Bringt eine Person viel Einsatz und Leistung am bekommen, widerspiegelt.
Arbeitsplatz, muss das also nicht unbedingt gesund-
heitliche Risiken nach sich ziehen. Problematisch
wird die Situation erst dann, wenn bei hohem Ein- In Deutschland nimmt der Anteil älterer Menschen
satz die Belohnung nicht ausreicht, d. h. das Gehalt an der Gesamtbevölkerung in den letzten Jahrzehn-
zu niedrig ist, die Anerkennung ausbleibt, Karriere- ten kontinuierlich zu. Das ist ein Trend, der sich in
chancen gering sind oder der Arbeitsplatz nicht nächster Zeit fortsetzen wird (7 Abschn. 4.9.1). Der
gesichert ist. In diesem Fall spricht man von einer überwiegende Anteil der älteren Menschen ist
Gratifikationskrise. Diese erhöht die Gefahr, einen weiblich, ca. zwei Drittel der über 65-Jährigen und
Herzinfarkt zu bekommen, und zwar unabhängig fast drei Viertel der über 80-Jährigen sind Frauen.
von den klassischen kardiovaskulären Risikofak- Demographen rechnen damit, dass in 50 Jahren
toren. mehr als ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre
alt sein wird. Der Anteil der Hochaltrigen (über
80 Jahre) beträgt dann 12 %, was eine Verdrei-
4.8.4 Entwicklung und Sozialisation fachung der heutigen Anzahl bedeuten würde. Dies
im Alter würde deutlich höhere Anforderungen an die zu-
künftige medizinische und pflegerische Versorgung
Wann ein Mensch »alt« ist, lässt sich nicht leicht stellen. Nicht zuletzt aufgrund der genannten Fak-
bestimmen. Aus gerontologischer Sicht wird von ten sind das Alter und die damit verbundenen The-
spätem Erwachsenenalter bzw. höherem Lebens- men zunehmend relevant in Forschung, Politik und
alter (Senium) meist ab dem 60.–65. Lebensjahr Gesellschaft.
gesprochen. Das Senium selbst kann man in das
junge Alter (bis 80 Jahre; 3. Lebensalter) und das Klimakterium Als Klimakterium (Wechseljahre)
alte Alter (ab 80 Jahre; 4. Lebensalter) einteilen. wird die Übergangsphase der geschlechtsreifen
Allerdings ist diese chronologische Definition oft Frau zum Senium bezeichnet. Altersassoziierte hor-
wenig hilfreich, da die großen interindividuellen monelle Veränderungen können bei Frauen bereits
Unterschiede in der körperlichen und seelischen ab dem 40. Lebensjahr auftreten. Ein bedeutsamer
Aktivität älterer Menschen eine solche Altersgrenze Anstieg der damit einhergehenden körperlichen
fragwürdig machen. Beschwerden lässt sich durchschnittlich jenseits des
50. Lebensjahrs feststellen. Typische Symptome
sind Hitzewallungen, Schwindel, Übelkeit, Libido-
Einflussfaktoren auf das Altern störungen oder Stimmungsschwankungen. Die
5 Die körperliche und seelisch-geistige Akti- Menopause (sistieren der Monatsblutung) mar-
vität hat in allen Phasen des Lebens eine kiert dabei den Beginn des Klimakteriums, was
große Bedeutung für die Aufrechterhaltung primär das Ende der Gebärfähigkeit bedeutet. Das
von Kompetenzen, Selbständigkeit und Ausmaß der erlebten Beschwerden ist aber auch von
Gesundheit im Alter. der Bedeutung abhängig, die den Wechseljahren
zugeschrieben wird. Während viele Frauen dadurch
182 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

eine einschneidende negative Veränderung des alten Menschen betont. Als kompetent werden Per-
weiblichen Selbstkonzepts erleben, zeigen sie für sonen bezeichnet, die sich mit ihren Ressourcen an
andere die Befreiung von der Angst hinsichtlich un- die gegenwärtige Situation anpassen. Sind bestimm-
gewollter Schwangerschaften an. te Fähigkeiten nicht vorhanden, können sie ent-
Ab dem 40. Lebensjahr sinkt auch beim Mann wickelt werden. Da die Zuverlässigkeit der Sinnes-
die Testosteronproduktion um jährlich ungefähr organe und des Bewegungsapparats nachlässt, wer-
1 %. In einzelnen Umfragen berichtet ca. die Hälf- den mehr Ressourcen geistiger Art zur Bewältigung
te  der befragten Männer Beschwerden aus dem des Alltags gefordert (z. B. um beim Gehen einen
4 klimakterischen Symptomenkomplex. Finden die Sturz zu vermeiden). Ein gesunder, fitter Körper
Wechseljahre des Mannes auch keinen so deutlichen beansprucht hingegen weniger Ressourcen, die
Ausdruck wie bei der Frau, sprechen doch viele Be- dann für geistige Aktivitäten zur Verfügung stehen.
funde dafür, auch bei Männern Wechseljahre an- Anderseits vermag körperliche Aktivität auch direkt
zunehmen. die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern. Dies gilt
nicht nur im Alter. Ein Vorteil des Kompetenz-
modells ist, dass es den wertenden Vergleich der
4.8.5 Psychosoziale Entwicklung physischen, psychischen und sozialen Funktionen
im höheren Lebensalter mit denen jüngerer Menschen vermeidet. So wer-
den Jüngere nicht zum Maßstab für die Anpassung
Alter ist keine Diagnose. Alte Menschen verhalten an Lebens- und Entwicklungsanforderungen im
sich nicht grundsätzlich anders als junge. Normales Alter gemacht, d. h. für »erfolgreiches« Altern. Zu
Altern geht mit nur geringfügigen Veränderungen dem Modell ist kritisch anzumerken, dass es nur
in Intelligenz, Persönlichkeit und Lebensführung eine Seite des Älterwerdens betont. Das Scheitern
einher. In den letzten Jahren hat sich deshalb das bei der Bewältigung bestimmter Probleme und der
Bild vom Altern und vom alten Menschen in der soziale Rückzug im Alter bleiben unberücksichtigt.
Öffentlichkeit stark gewandelt. Neben das frühere
Stereotyp der alten, kranken und entmündigten Al- Selektive Optimierung durch Kompensation Wel-
ten wurde ein neues Bild, nämlich das der »jungen che effektiven Strategien wenden Senioren für ein
Alten« gestellt. Dieses ist geprägt von einer aktiven, »erfolgreiches Altern« konkret an? Theoretische
gesunden und selbstbestimmten Lebensgestaltung. Grundlagen dazu liefert ein Modell, das die Ent-
Außerdem werden heute die Belange und Probleme wicklung als Zusammenspiel von Selektion, Opti-
älterer Menschen mehr beachtet als früher. Das mierung und Kompensation versteht. Obwohl diese
wird nicht zuletzt an dem deutlich wachsenden 3 Strategien für alle Lebensphasen wichtig sind, er-
Markt spezieller Konsumartikel und Freizeitaktivi- langen sie doch im Alter eine besondere Bedeutung.
täten spürbar, der auf die Bedürfnisse Älterer zuge- Das Modell geht davon aus, dass alte Menschen an-
schnitten ist (z. B. auf Senioren ausgerichtete Fern- streben, in spezifischen Bereichen ihre Handlungs-
sehwerbung, Produktbeschreibung auf Lebensmit- möglichkeiten zu optimieren und Kompetenzen zu
teln wird in größerer Schrift gedruckt, spezielle erwerben oder zu verbessern, mit Hilfe derer sie
Reiseangebote für Ältere). Theoretische Grundlage die (potenziellen und faktischen) Verluste, die sie in
für diese positive Sichtweise des Alters bilden unter- anderen Bereichen erleben, ausgleichen können.
schiedliche Modelle, die die Kompetenzen und Fä- Beispiele dafür sind das Benutzen eines Hörgeräts,
higkeiten der Senioren hervorheben. wenn man merkt, dass die Hörfähigkeit nachlässt,
oder das Verwenden von Gedächtnisstützen bei
Kompetenzmodell des Alterns Das Kompetenzmo- Problemen der Merkfähigkeit. Obwohl die sozialen
dell des Alterns ist eine Theorie darüber, wie sich Kontakte im Alter weniger werden, kompensieren
Menschen individuell an das Altern anpassen. Als ältere Menschen diesen Verlust nicht durch beson-
Grundaussage wird postuliert, dass Kompetenz ders viele soziale Aktivitäten und die Aufnahme
auch im Alter möglich ist und sich sogar vergrößert. neuer Beziehungen. Vielmehr vertiefen sie die emo-
Hierbei wird die Entwicklungsfähigkeit auch bei tionale Qualität bereits vorhandener Kontakte.
4.8 · Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
183 4
Klinik: Selektive Optimierung schung in diesem Bereich kann die Fragen klären,
Als ein Beispiel für die selektive Optimierung durch welche biopsychosozialen Faktoren ein möglichst
Kompensation gilt der 80-jährige Pianist Arthur krankheitsfreies Altern beeinflussen und welche
Rubinstein. Er antwortete auf die Frage, warum er in die Abbauprozesse beschleunigen. Die Entwicklung
so hohem Alter noch so hervorragende Konzerte der in den letzten 30 Jahren erhobenen Krankheits-
gebe, dass er 3 Strategien verfolge: Erstens spiele er zahlen weist insgesamt auf eine Verbesserung des
weniger Musikstücke (Beispiel für Selektion), zwei- subjektiven Gesundheitszustandes bei älteren Men-
tens übe er diese Stücke häufiger (Beispiel für selek- schen hin (7 Abschn. 4.9.5).
tive Optimierung) und drittens setze er größere
Kontraste in den Tempi. Damit erscheine sein Spielen
schneller, als er noch zu spielen im Stande sei (Bei- 4.8.6 Soziale Situation alter Menschen
spiel für Kompensation).
Beziehungen im Alter Derzeit lebt etwa ein Drittel
Normales und pathologisches Altern Mit fort- aller Menschen ab 60 Jahren allein in einem Haus-
schreitendem Alter verändert sich der Körper. Aber halt. Die häufigste Ursache dafür stellt die Ver-
nur eine Minderheit der Älteren leidet unter schwe- witwung dar. Insgesamt sind die meisten älteren
ren körperlichen Funktionseinschränkungen im Menschen jedoch sozial gut integriert. Wichtige
Alltag. Funktionelle Einbußen treten beim Sehen Bezugspersonen sind nach wie vor die eigene Fa-
und Hören auf. Auch reduzieren sich Widerstands- milie, d. h. Kinder und Enkelkinder, die in dieser
und Anpassungsfähigkeit des Organismus. Auf Lebensphase wieder eine vorrangige Bedeutung er-
der anderen Seite können das Wissen und der kom- hält (»Rückbesinnung auf die Familie«). Noch wich-
petente Umgang mit Lebensanforderungen gleich tiger ist jedoch, wie auch in anderen Lebensphasen,
bleiben oder sogar zunehmen (Altersweisheit). der eigene (Ehe-)Partner. Nach dessen Tod erhöht
Unter normalem Altern versteht man einen Ge- sich das Sterberisiko des Hinterbliebenen deutlich.
sundheitszustand, der sich an einem statistischen Im Alter nimmt außerdem die Größe des Freun-
Erwartungswert orientiert. Dieser bezieht sich auf deskreises ab, die Anzahl sozialer Kontakte bleibt
die durchschnittlichen Entwicklungen und Be- jedoch erhalten. Nach Schätzungen leidet nur eine
schwerden alter Menschen, d. h. konkret auf die kleine Minderheit alter Menschen an sozialer Isola-
mittlere Lebensdauer, auf die durchschnittlichen tion. Als dysfunktionale Strategie gegen die Ein-
altersabhängigen Einbußen in der Gesundheit und samkeit nutzen ältere Menschen in seltenen Fällen
auf eine durchschnittlich empfundene Lebensqua- z. B. vermehrte Arztbesuche oder die Inanspruch-
lität in der jeweiligen Altersstufe. So ist es z. B. im nahme von anderen medizinischen Leistungen wie
Rahmen des normalen Alterungsprozesses die Re- z. B. Krankengymnastik. Entgegen der Erwartung
gel, dass alle 5 Sinne eines alten Menschen nach- treten schwere Depressionen im Alter nicht häufi-
lassen. Dagegen zählt eine geistige Verwirrung oder ger, sondern sogar seltener auf als im jüngeren Er-
Demenz nicht zum normalen Altern. wachsenenalter. Allerdings steigt das Suizidrisiko
Das pathologische Altern bezeichnet einen depressiver alter Menschen, besonders bei Män-
Alterungsprozess mit zusätzlicher, meist altersty- nern, deutlich an. So werden 30 % aller Suizide von
pischer Krankheit, wie z. B. Alzheimer-Demenz, älteren Menschen über 65 Jahren verübt, wobei das
Diabetes mellitus, bös- und gutartige Neubildun- Risiko bei Männern im Vergleich zu Frauen ca.
gen, Krankheiten der Verdauungsorgane oder 3-mal so hoch ist.
kardiovaskuläre Erkrankungen. Da gerade diese
Krankheiten im höheren Alter häufiger auftreten, Wohnsituation Im Alter vergrößert sich auch die
ist eine Abgrenzung gegenüber dem normalen Wichtigkeit der eigenen vier Wände, da sich der Ak-
Altern empirisch und theoretisch schwierig. Diese tionsradius nach und nach einschränkt. Es zeigt
Unterscheidung ist dennoch sinnvoll. Sie dient sich, dass mit zunehmendem Alter und zunehmen-
dazu, altersentsprechende geistige und körperliche der Wohndauer ein starkes Bedürfnis entsteht, in
Abbauprozesse von Krankheiten abzugrenzen. For- der bisherigen Wohnung zu bleiben. Tatsächlich
184 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

leben auch nur 3 % der älteren Menschen ab dem 4.9 Soziodemographische


60. Lebensjahr in Altenpflegeeinrichtungen oder Determinanten des Lebenslaufs
Krankenhäusern. Die meisten Senioren, auch pfle-
gebedürftige, werden nach wie vor zu Hause be- H. Faller
treut. Daher kann von Entwurzelung der älteren
Menschen nur im Einzelfall gesprochen werden. In Lernziele
Alten- und Seniorenheimen wohnen hauptsächlich Der Leser soll
die »Hochbetagten« ab einem Alter von über 80 Jah- 5 Einflussfaktoren auf das demographische Altern
4 ren. Von den 85- bis 89-Jährigen lebt jeder Sechste nennen können,
und von den über 90-Jährigen jeder Dritte in einer 5 Kompressions- und Expansionshypothese der
Alteneinrichtung. Pflegebedarf besteht beim größ- Morbidität erläutern können,
ten Teil der Bewohner (7 Abschn. 11.2.3). 5 demographische Grundbegriffe definieren
können,
Finanzielle Situation Die finanzielle Situation im 5 die Phasen der demographischen Transformation
Alter hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deut- beschreiben können,
lich verbessert. Heute wird sie wesentlich von der 5 Alters- und Geschlechtseffekte auf die Gesund-
Einkommenslage während der Erwerbstätigkeit be- heit beschreiben können.
stimmt. Die damit verbundene wichtigste finan-
zielle Quelle ist nach wie vor die Rente. Zusätzlich
können andere Einkunftsarten, wie Wohngeld, So- 4.9.1 Demographisches Altern
zialhilfe oder Zahlungen aus privaten Anlagen und
Versicherungen hinzukommen. Zwar liegt das ge- Demographie ist die Lehre von der Bevölkerung.
samte Einkommen älterer Menschen etwas unter Aufbau und Entwicklung der Bevölkerung hängen
dem durchschnittlichen Einkommen erwerbstä- von der Zahl der Geburten und der Sterbefälle (Ge-
tiger Bundesbürger, die finanzielle Situation ist je- burtenüberschuss oder -defizit) sowie der Zahl der
doch eher günstig, und von einer allgemeinen Ein- und Auswanderungen ab. Die Zahl der Ge-
Altersarmut kann hier nicht gesprochen werden. burten und Sterbefälle bestimmt die natürliche Be-
Im Gegenteil, der Anteil der Armen ist unter den völkerungsentwicklung.
alten Menschen am geringsten. Er ist bei Frauen in
> Die beiden wichtigsten Faktoren, die den
hohem Alter jedoch höher als bei Männern.
Bevölkerungsaufbau in Deutschland be-
i Vertiefen stimmen, sind die Abnahme der Geburten-
Schneider W, Lindenberger U (2012) Entwick- zahl und die Zunahme der Überlebenszeit.
lungspsychologie. 7. Aufl. Beltz, Weinheim Beides zusammengenommen führt zum
(umfangreiches und detailliertes Standardwerk demographischen Altern.
über die Entwicklung von Kindheit, Jugend,
Erwachsenenalter und Senium)
Zunahme der Lebenserwartung Die Lebenserwar-
tung ist der wichtigste Indikator für die Lebens-
bedingungen und die Gesundheitsversorgung eines
Landes. Die durchschnittliche Lebenserwartung
wird anhand von Sterbetafeln berechnet. Sie ist die
durchschnittliche Anzahl von Jahren, die ein neu-
geborenes Kind voraussichtlich lebt, wenn die aktu-
elle altersspezifische Mortalität unverändert bliebe.
Sie gibt also die Verhältnisse zu einem bestimmten
Zeitpunkt wieder. In den Industrieländern nimmt
die durchschnittliche Lebenserwartung seit ca.
160 Jahren (also lange vor der Entwicklung der
4.9 · Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
185 4
modernen Medizin) kontinuierlich zu, und zwar sank in den letzten Jahrzehnten, zusammen mit
um etwa 2,3 Jahre pro Jahrzehnt. Es gibt gegenwär- den Risikofaktoren (Rauchen, Bluthochdruck).
tig keinen Anhalt dafür, dass sich das in Zukunft Dass trotzdem die absolute Zahl chronisch Kranker
ändern wird. zunimmt, kommt durch die immer größere Zahl
alter Menschen zustande. Chronisch kranke ältere
> Bei Frauen beträgt die durchschnittliche
Menschen müssen jedoch nicht unbedingt unter
Lebenserwartung 82,7 Jahre. Bei Männern
Beschwerden leiden oder im Alltag behindert sein;
lag sie 5 Jahre niedriger bei 77,7 Jahren
sie können sich subjektiv gesund fühlen, so dass
(Stand 2009/2011).
ihre Lebensqualität nicht wesentlich eingeschränkt
Bei Fortsetzung dieses Trends wird eine Frau im ist. Insgesamt sprechen die Ergebnisse der For-
Alter von heute ungefähr 20 Jahren, die gerade am schung dafür, dass die gesunde Lebenserwartung
Beginn ihres Studiums steht, voraussichtlich ihren schneller steigt als die allgemeine Lebenserwartung,
100. Geburtstag erleben. Auch in den Entwick- d. h. sie sprechen für eine Kompression der Mor-
lungsländern nimmt die Lebenserwartung zu, sie bidität.
liegt jedoch noch fast 20 Jahre hinter den Industrie- Die Expansionshypothese der Morbidität be-
ländern zurück. Die zunehmende Lebenserwartung sagt dagegen, dass wir zwar länger leben, diese ver-
kann insgesamt als eine Errungenschaft der moder- längerte Lebenszeit aber unter Krankheit/Behinde-
nen Zivilisation bewertet werden, in der sich die rung verbracht wird, so dass wir davon nicht wirk-
besseren Lebensbedingungen, individuelles Ge- lich etwas haben.
sundheitsverhalten und die Erfolge der Medizin Zum Problem wurde die zunehmende Lebens-
widerspiegeln. erwartung erst dadurch, dass sich das generative
Verhalten der Menschen geändert hat. In den In-
Rektangularisierung der Überlebenskurve Trägt dustrieländern generell und in Deutschland ganz
man die Überlebenswahrscheinlichkeit gegen das besonders werden nämlich weniger Kinder gebo-
Lebensalter auf, so ähnelt die Kurve mit zunehmen- ren, als zur Reproduktion der Bevölkerung nötig
der Lebenserwartung immer mehr einem Rechteck. wären. Die Geburtenziffer beträgt in Deutschland
Die Überlebenswahrscheinlichkeit bleibt über viele derzeit 1,4 (statt der notwendigen 2,1). Durch den
Lebensjahre konstant hoch und fällt im höheren Wegfall der Nachkommen wird der Anteil der über
Alter relativ plötzlich ab. Dies liegt daran, dass sich 60-Jährigen von derzeit 26 % auf 39 % im Jahr 2050
trotz zunehmender Lebenserwartung das maximale angestiegen sein. Diese Entwicklung würde auch
biologische Alter nicht wesentlich nach oben ver- bei Änderungen im generativen Verhalten oder in
schoben hat. der Zuwanderung kurzfristig nicht wesentlich be-
einflusst werden. Eine wichtige Kennziffer ist der
> Die Kompressionshypothese der Morbi-
Altenquotient, d. h. das Verhältnis der Menschen
dität besagt, dass nicht nur die Lebenserwar-
im Rentenalter (über 60 bzw. 65 Jahre) zu den Er-
tung insgesamt steigt, sondern auch dieje-
werbstätigen (20- bis 60- bzw. 65-Jährige). Zählt
nige Lebenszeit, die wir bei Gesundheit ver-
man zu den Menschen im Rentenalter die noch
bringen (behinderungskorrigierte Lebenszeit;
nicht erwerbstätigen (unter 20 Jahre) hinzu, erhält
DALY, disability-adjusted life years). Die-
man den Belastungs- oder Altersabhängigkeits-
jenige Lebenszeit, die wir mit einer Krankheit
quotienten. Beide Quotienten steigen immer mehr
verbringen, verkürzt sich hingegen, sie wird
an, was gravierende sozial- und gesundheitspoli-
komprimiert. Da wir zugleich immer älter
tische Folgen hat.
werden, wird die Lebenszeit mit Krankheit/
Behinderung ins höhere Alter »verschoben«.
Sozialpolitische Folgen Da die Rentenversicherung
Hierfür gibt es einige Belege: Der größte Anteil an im Umlageverfahren erfolgt, müssen immer weni-
Gesundheitskosten entsteht erst im letzten Lebens- ger Berufstätige immer mehr Rentner versorgen.
jahr. Der relative Anteil der Menschen einer Alters- Dass die aktuell Erwerbstätigen die aktuellen Rent-
gruppe, die an einer chronischen Krankheit leiden, ner finanzieren, wird etwas euphemistisch als
186 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Generationenvertrag bezeichnet. (Keine jüngere 4.9.2 Generatives Verhalten


Generation würde freiwillig einen Vertrag abschlie-
ßen,  der sie verpflichtet, die riesigen Schulden zu
bezahlen, die die ältere Generation angehäuft hat.) Demographische Grundbegriffe
Um die finanzielle Lücke auszugleichen, gibt es Die folgenden Kennziffern können jeweils
prinzipiell 3 Möglichkeiten: eine längere Lebens- allgemein, d. h. auf die ganze Bevölkerung be-
arbeitszeit, eine Reduzierung der Leistungen für zogen, oder spezifisch, d. h. getrennt nach
Rentner oder höhere Sozialabgaben für jüngere Er- dem Geschlecht oder nach Altersgruppen, for-
4 werbstätige. In vielen (nicht allen) Berufen ist eine muliert werden.
längere Lebensarbeitszeit durchaus möglich, weil 5 Nuptialität: Anzahl der verheirateten Paare.
die abnehmende Schnelligkeit bei der Arbeit durch 5 Allgemeine Fruchtbarkeitsziffer (Fertilität):
größere Erfahrung und geringere Fehlerquote aus- Zahl der Geburten im Verhältnis zu Frauen im
geglichen wird. Höhere Sozialabgaben verteuern gebärfähigen Alter (15 bis unter 45 Jahre).
jedoch die international sowieso schon zu hohen 5 Allgemeine Geburtenziffer (Natalität): Zahl
Arbeitskosten, was zu einer Verlagerung von Ar- der Geburten auf 1.000 Einwohner in einem
beitsplätzen ins Ausland und steigender Arbeits- Jahr.
losigkeit führt, mit der Folge sowohl noch geringe- 5 Zusammengefasste Geburtenziffer: Anzahl
rer Einnahmen als auch noch größerer Ausgaben von Kindern pro Frau. Sie liegt in Deutschland
für die Sozialversicherungssysteme. Private Alters- derzeit bei 1,4. Notwendig für die Reproduk-
vorsorge soll deshalb die staatliche oder betriebliche tion sind in entwickelten Ländern wegen der
Rente ergänzen. niedrigen Sterblichkeit 2,1 Kinder pro Frau.
5 Nettoreproduktionsziffer: Zahl der gebo-
> Eine Folge des demographischen Alterns ist
renen Mädchen im Verhältnis zur Zahl der
die Zunahme von Menschen mit chronischen
Frauen im gebärfähigen Alter. Sie muss 1 be-
Krankheiten.
tragen, wenn sich eine Bevölkerung repro-
duzieren soll. Derzeit liegt sie in Deutschland
Gesundheitspolitische Folgen Zurzeit werden 80 % bei 0,7. In der Weltbevölkerung nahm sie in
der Gesundheitsausgaben für chronische Krank- den letzten 50 Jahren von 1,65 auf 1,19 ab.
heiten aufgewendet. Chronische Krankheiten sind Bis 2050 wird ein Abfall auf 0,93 erwartet.
heute auch die häufigsten Todesursachen (Herz- 5 Altersspezifische Geburtenziffer: Zahl
Kreislauf-Krankheiten ca. 33 %, Krebserkrankun- der Geburten bei Frauen einer bestimmten
gen ca. 20 %), nicht mehr wie früher (und heute Altersgruppe. Ihr Maximum hat sich immer
noch in Entwicklungsländern) Infektionskrankhei- weiter nach hinten verschoben und liegt
ten. Die Medizin ist jedoch noch immer viel zu stark derzeit bei 27–29 Jahren.
auf die Behandlung von akuten Krankheiten aus- 5 Geschlechtsspezifische Geburtenziffer:
gerichtet. Bei chronischen Krankheiten kann üb- Zahl der neugeborenen Mädchen bzw.
licherweise keine Heilung erzielt werden, sondern Jungen pro 1.000 Einwohner. Zwar werden
die Betroffenen müssen lernen, mit ihrer Krankheit etwas mehr Jungen als Mädchen geboren,
zu leben. Sie sind auf kontinuierliche Behandlung allerdings gleicht sich das Verhältnis wegen
bzw. Rehabilitation angewiesen (7 Abschn. 10.6). der etwas höheren Sterblichkeit von Jungen
bis zum Erwachsenwerden wieder aus (Ge-
schlechterproportion).
5 Mortalität: bevölkerungsbezogen: Sterblich-
keit der Bevölkerung; Anteil der Bevölke-
rung, der an einer Krankheit stirbt.
5 Letalität: krankheitsbezogen: Anteil der Er-
krankten, der an dieser Krankheit stirbt.
4.9 · Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
187 4

. Abb. 4.9 Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland zu 4 Zeitpunkten (Statistisches Bundesamt 2009)
188 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

> Säuglingssterblichkeit: Anzahl der im 1. Le-


bensjahr verstorbenen Säuglinge bezogen 5 Pilz bzw. Urne: demographisches Altern
auf die Zahl der Geburten. Sie nahm in den infolge sinkender Geburtenrate bei hoher
letzten Jahrzehnten in Deutschland kontinu- Lebenserwartung. Schrumpfende Bevölke-
ierlich ab und beträgt gegenwärtig 3,3 pro rung. Deutschland im Jahr 2010 und noch
1.000 Geburten. Die Säuglingssterblichkeit deutlicher im Jahr 2050.
ist ein aussagekräftiger Indikator für die all-
gemeinen Lebensverhältnisse und die Qua-
4 lität der medizinischen Versorgung. In Ent-
wicklungsländern ist die Säuglingssterblich- 4.9.3 Schema der demographischen
keit noch viel höher als in industrialisierten Transformation
Ländern. Sie nimmt jedoch auch in Entwick-
lungsländern kontinuierlich ab, wenn auch je Als demographische Transformation (Transition,
nach Land mit sehr unterschiedlicher Rate. Übergang) wird die Änderung der Bevölkerungs-
struktur im Verlauf der Industrialisierung einer
Altersaufbau Der Altersaufbau der Bevölkerung Gesellschaft beschrieben. Das Modell umfasst ur-
kann graphisch dargestellt werden. Je nach Gebur- sprünglich 5 Phasen, in denen sich Geburten-
ten- und Sterbehäufigkeiten ergeben sich dabei un- und Sterberaten und infolgedessen das Bevöl-
terschiedliche Formen (. Abb. 4.9). Vorausberech- kerungswachstum ändern (. Tab. 4.5). Die allge-
nungen, die auf den aktuellen Trends basieren, kön- meine Entwicklung geht dabei von hohen Gebur-
nen zwar nur näherungsweise Gültigkeit beanspru- ten-  und Sterberaten hin zu niedrigen Geburten-
chen, waren allerdings bisher meist relativ präzise. und Sterberaten. Der Abfall der Sterblichkeit geht
dem Abfall der Geburten voraus, weshalb es vorü-
bergehend zu einer »Bevölkerungsexplosion«
Formen des Altersaufbaus der Bevölkerung kommt (. Abb. 4.10).
5 Pyramide bzw. Pagode: breite Basis durch
hohe Geburtenrate, schmale Spitze infolge
geringer Lebenserwartung, wachsende Be-
völkerung. Typisch für Entwicklungsländer Phasen der demographischen
bzw. Deutschland im Jahr 1910. Transformation
5 Glocke: Übergangsstadium moderner Ge- 5 In der 1. Phase wächst die Bevölkerung nur
sellschaften mit sinkender Geburtenrate langsam, weil die hohe Geburtenrate durch
und stationärer, nicht wachsender Bevölke- die hohe Säuglingssterblichkeit wieder aus-
rung. Deutschland 1950. geglichen wird.

. Tab. 4.5 Schema der ersten demographischen Transformation

Geburtenrate Sterberate Bevölkerungswachstum

1. Prätransformatorische (vorindustrielle) Phase Hoch Hoch Langsam

2. Frühtransformatorische (frühindustrielle) Phase Hoch Sinkend Zunehmend

3. Transformationsphase (Umschwungphase) Erst hoch, Niedrig Höhepunkt


später sinkend

4. Spättransformatorische Phase Sinkend Niedrig Abnehmend

5. Posttransformationsphase Niedrig Niedrig Stationär bzw. sinkend


4.9 · Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
189 4
Der Abfall der Geburtenrate vollzog sich in Deutsch-
land schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, lange
bevor die modernen Möglichkeiten der Antikonzep-
tion zur Verfügung standen. Seit Anfang der 70er-
Jahre des 20. Jahrhunderts liegt die Zahl der Gebur-
ten in Deutschland unter derjenigen der Sterbefälle.
Infolgedessen würde die Bevölkerung schrumpfen,
wenn das Defizit nicht durch Zuwanderungen aus-
geglichen würde. Deutschland hat seit langem mehr
Zuwanderungen pro Jahr als Geburten. Stärker als in
anderen Industrieländern werden fehlende Geburten
durch Einwanderungen ersetzt.
Auch in den Entwicklungsländern vollzieht sich
ein demographischer Übergang mit Abfall der Ge-
burtenrate und gesellschaftlichem Altern, und zwar
als Folge des zunehmenden wirtschaftlichen Wohl-
stands viel schneller als in den Industrieländern.

4.9.4 Determinanten des generativen


Verhaltens

Wie lässt sich die niedrige Kinderzahl in den Indus-


. Abb. 4.10 Phasen des 1. und 2. demographischen Über- trienationen erklären? Kinder zu haben ist in mo-
gangs dernen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit
mehr, sondern Ergebnis einer biographischen Ent-
scheidung. Dabei berücksichtigen Frauen bzw.
5 In der 2. Phase sinkt die Säuglingssterblich- Paare auch, worauf sie verzichten müssen, wenn
keit infolge besserer Ernährung, Hygiene sie sich dafür entscheiden, ein Kind zu bekommen.
und Bildung, während die Geburtenrate Eine Familie zu gründen, bedeutet zum einen sich
unverändert hoch bleibt, so dass die Bevöl- langfristig festzulegen. Dies steht in Widerspruch zu
kerung immer schneller wächst. Mobilität und Flexibilität der Zukunftsplanung.
5 In der 3. Phase, der Umschwungphase, ist Zum zweiten bedeutet es für die Frauen Unterbre-
die Geburtenrate zunächst noch hoch, chung oder gar Abbruch der beruflichen Karriere
sinkt dann aber: Das Wachstum überschrei- und Verzicht auf Einkommen, weil sie sich zunächst
tet seinen Höhepunkt. um die Kinder kümmern (Männer machen dies
5 Infolge der sinkenden Geburtenrate fällt immer noch sehr selten »hauptberuflich«). Je grö-
das Wachstum zunächst schnell (4. Phase), ßere Bildungs- und Einkommenschancen Frauen
5 dann langsamer ab (5. Phase), bis es auf haben, umso mehr müssen sie aufgeben, wenn sie
niedrigem Niveau stabil bleibt. sich für Kinder entscheiden. Daraus ergibt sich die
5 Als 2. demographischen Übergang be- paradoxe Situation, dass Gesellschaften mit hohem
zeichnet man eine 6. Phase, in der in den Wohlstands- und Bildungsniveau, die sich eigent-
Industrieländern die Zahl der Geburten lich Kinder am meisten leisten könnten, die gerings-
langfristig unter das für die Bestandserhal- te Geburtenrate aufweisen.
tung notwendige Mindestniveau abfällt, so Weil der Verzicht auf Alternativen in der Bio-
dass die Bevölkerung ohne Zuwanderung graphie im jungen Erwachsenenalter, d. h. während
schrumpfen würde. der Ausbildung und am Anfang der Berufstätigkeit,
schwerer wiegt als später, verschieben immer mehr
190 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Frauen den Zeitpunkt der Geburt des 1. Kindes auf ren war es noch die Hälfte. Zeitlich ausgedehnt hat
spätere Lebensphasen, um sich berufliche Optionen sich hingegen die nachelterliche Phase (Spätphase),
offen zu halten. Etwa ein Drittel bleibt zeitlebens wenn die Kinder aus dem Haus sind. Umso wichti-
kinderlos. ger ist es für eine Frau, dann wieder in ihren Beruf
Versuche in der ehemaligen DDR, eine gebur- zurückkehren zu können.
tenfreundliche Politik durchzuführen, waren nur
vorübergehend erfolgreich. Bereits Jahre vor der
Wiedervereinigung glich sich die Kinderzahl wie- 4.9.5 Alter und Gesundheit/Krankheit
4 der dem niedrigen Niveau im Westen Deutschlands
an. Die Geburtenrate fiel nach der Wiedervereini- Morbidität Das Risiko für viele Krankheiten nimmt
gung in den Neuen Ländern auf ein Minimum von mit dem Alter zu. Auch die Zunahme von Krebser-
0,8 und nähert sich seitdem wieder von unten dem krankungen ist eine Folge der Alterung, zugleich
westlichen Niveau. Durch die Wiedervereinigung haben Krebskranke zunehmend bessere Über-
vervielfachten sich die realen Pro-Kopf-Einkom- lebensaussichten. Krebskrank zu sein, beutet für die
men in den neuen Bundesländern, was viele Frauen Mehrzahl der Betroffenen kein Todesurteil mehr.
bewog auf Kinder zu verzichten, um erwerbstätig Ein weiteres Beispiel ist die chronische Herzinsuf-
sein zu können. fizienz, die mit dem Alter stark zunimmt und wegen
Dennoch steht für fast 90 % der Deutschen die der hohen Hospitalisierungsrate immense Kosten
Gründung einer Familie an 1. Stelle ihrer persön- verursacht. Auch das Sturzrisiko nimmt zu, mit
lichen Prioritäten. Für über 85 % der Eltern bedeu- der Gefahr einer Oberschenkelhalsfraktur, die mit
ten Kinder positive Aspekte, wie Gebrauchtwerden, einem hohen Sterblichkeitsrisiko und dem Risiko
Freude, Lieben und Geliebtwerden. Umfragen zur von Behinderung und Verlust der bisherigen Kom-
gewünschten Kinderzahl erbringen immer wieder petenz in den Aktivitäten des täglichen Lebens ein-
2 Kinder als ideal. Dies entspricht auch der notwen- hergeht. Alte Menschen leiden häufig an mehreren
digen Kinderzahl für eine stationäre (weder wach- Krankheiten (Multimorbidität). Sie müssen meh-
sende noch schrumpfende) Bevölkerung, in der die rere Medikamente gleichzeitig einnehmen, mit der
Lasten zwischen Jungen und Alten am besten verteilt Gefahr von Medikamentenwechselwirkungen.
sind. Dass man für Kinder auch Opfer bringen muss, Psychische Störungen sind bei alten Menschen
wird seltener bewusst gesehen. Befragt man Frauen, hingegen nicht häufiger als in jüngeren Altersgrup-
die keine Kinder haben, nach ihren Gründen für die pen. Im Gegenteil, Angststörungen oder Depres-
Kinderlosigkeit, so wird an 1. Stelle das Fehlen eines sionen sind sogar seltener. Verlust des Partners,
geeigneten Partners genannt. Die aus Sicht der Fa- Einsamkeit und körperliche Erkrankungen sind
milienpolitik wichtigen Gründe, wie Fehlen von jedoch Risikofaktoren für eine Depression. Das
Kinderbetreuung, stehen dabei weniger im Vorder- Suizidrisiko ist vor allem bei älteren Männern im
grund, eher noch die befürchteten höheren Lebens- Vergleich zu älteren Frauen erhöht und steigt im
haltungskosten oder die Sorge um den Arbeitsplatz. hohen Alter steil an.

Änderung des Familienzyklus Mit Familienzyklus Subjektive Gesundheit und Funktionsfähigkeit


wird die zeitliche Gliederung des Lebenslaufs be- Auch wenn die Morbidität mit dem Alter zunimmt,
zeichnet: Heirat, Elternschaft, Wiederaufnahme der sind 80 % der über 65-Jährigen in ihren Alltagsak-
Erwerbstätigkeit, Großelternschaft, Verwitwung. tivitäten kaum eingeschränkt. In der Altersgruppe
Die Veränderung des generativen Verhaltens hat ab 70 Jahren bewertet über die Hälfte ihren Ge-
hier gravierende Auswirkungen: Die Familienphase sundheitszustand als gut oder sehr gut. Paradoxer-
(Pflege und Versorgung der Kinder) ist kürzer ge- weise liegen diese Werte höher als bei mittleren
worden, weil einerseits immer weniger Kinder da Altersgruppen und auch nicht niedriger als bei
sind und sich andererseits das Leben insgesamt ver- jüngeren.
längert hat. Nur noch ein Viertel der Lebenszeit Gesundheit steigt als Wert mit dem Alter an. Bei
einer Frau fällt auf die Familienphase, vor 100 Jah- den über 65-Jährigen ist sie der wichtigste Lebens-
4.9 · Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
191 4
bereich. Über vier Fünftel finden Gesundheit sehr ungsorgane (alkoholische Lebererkrankungen).
wichtig. Der Gesundheitsbegriff muss im Alter je- Hierin drücken sich sowohl die höhere Risiko-
doch erweitert werden. Er ist vor allem durch die bereitschaft von Männern im Umgang mit ihrem
Fähigkeit zu einer selbstständigen Lebensgestaltung Körper (Alkohol, Verkehrsunfälle) als auch riskan-
charakterisiert. Dazu gehören die Fähigkeiten, All- tere Arbeitsbedingungen aus. Die Sterblichkeit aus
tagsanforderung zu bewältigen, mit Einschränkun- verhaltensabhängigen Todesursachen ist vor allem
gen umzugehen und an kulturellen und sozialen bei nicht verheirateten Männern erhöht. Man kann
Ereignissen teilnehmen zu können. annehmen, dass verheiratete Männer davon pro-
Medizinische Diagnosen reichen also nicht aus, fitieren, dass ihre Frauen sie im Hinblick auf
den körperlichen Gesundheitszustand im Alter zu ein günstigeres Gesundheitsverhalten unterstützen
beschreiben. Wichtig ist vielmehr die Frage, in wie (7 Abschn. 2.4.3). Trotz der genannten Unterschiede
weit Erkrankungen zu funktionalen Einbußen füh- sind Herz-Kreislauferkrankungen bei Männern wie
ren. Dies kann durch das geriatrische Assessment Frauen die häufigste Todesursache.
dokumentiert werden.
Morbidität Frauen geben mehr Beschwerden an,
Prävention im Alter Die Alternsforschung hat ge- insbesondere psychosomatische Befindlichkeitsstö-
zeigt, dass sich die körperliche und geistige Leis- rungen, und erhalten häufiger die Diagnose einer
tungsfähigkeit alter Menschen von Individuum zu psychischen Störung. Bei Frauen sind insbesondere
Individuum sehr stark unterscheidet. Wodurch Angststörungen, Depression, somatoforme Stö-
kommen diese Unterschiede zustande? Körperliche rungen und Essstörungen häufiger, bei Männern
und geistige Aktivität haben eine große Bedeutung hingegen Substanzmissbrauch/Abhängigkeit (vor
für die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit. allem Alkohol) und antisoziale Persönlichkeits-
Insofern besteht auch im Alter ein großes Präven- störungen. Warum werden bei Frauen mehr psychi-
tions- und Rehabilitationspotenzial. Dies wird auch sche Störungen diagnostiziert? Hierzu trägt auch
von den alten Menschen selbst so gesehen, die viele die Geschlechtsrolle bei, die es Frauen eher erlaubt,
Einflussmöglichkeiten auf ihre Gesundheit wahr- seelische Probleme wahrzunehmen, auszusprechen
nehmen: Ernährung, Bewegung, Schlaf und Erho- und Unterstützung bei anderen Menschen zu su-
lung sowie seelische Ausgeglichenheit. Der Lebens- chen, während Männer dazu neigen, mit ihren Pro-
stil hat auch einen großen Einfluss auf die Lebens- blemen allein fertig werden zu wollen. Gesundheit-
erwartung. Auch bei älteren Menschen kann durch lich besonders stark belastet sind alleinerziehende
gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, mäßigen Frauen.
Alkoholgenuss und Verzicht auf Nikotin die Morta- In vielen Ländern ist die Prävalenz einer De-
lität auf ein Drittel gesenkt werden. Schon allein ein pression bei Frauen doppelt so hoch wie bei Män-
täglicher Spaziergang von 1 Stunde Dauer senkt nern. Für diesen Unterschied werden mehrere
das Sterblichkeitsrisiko von 70- bis 85-Jährigen um Faktoren verantwortlich gemacht: Genetische Ein-
die Hälfte. Dies gilt auch für alte Menschen, die erst flüsse sind bei Frauen stärker als bei Männern. Auch
damit anfangen, körperlich aktiv zu sein. Hormone (Östrogen) spielen möglicherweise eine
Rolle. Frauen besitzen ein stärkeres Bindungs-
bedürfnis und sind deshalb anfälliger für Zurück-
4.9.6 Gesundheit von Männern weisungen und Trennungen. Insbesondere in Pu-
und Frauen bertät und Adoleszenz, dem Zeitraum, zu dem der
Geschlechtsunterschied zuerst manifest wird, wir-
Mortalität Frauen leben durchschnittlich 5 Jahre ken sich negative soziale Erlebnisse nachteilig auf
länger als Männer. Im mittleren Lebensalter ist Selbstwertgefühl und Körperbild von Mädchen und
die Sterblichkeit von Männern doppelt so hoch wie jungen Frauen aus. Sie leiden stärker unter belas-
diejenige von Frauen. Dies gilt insbesondere für tenden Lebensereignisse im zwischenmenschlichen
äußere Todesursachen (Unfälle, Suizid), Herz- Bereich und grübeln länger darüber nach. Das Zu-
Kreislaufkrankheiten und Krankheiten der Verdau- sammenwirken genetischer, hormoneller, emotio-
192 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

naler, kognitiver und sozialer Faktoren kann die Hypertonie und Diabetes mellitus, bei Männern
erhöhte Vulnerabilität von Frauen für eine Depres- häufiger Rauchen. Für Frauen ist Beziehungsstress
sion erklären. schädlicher, für Männer Arbeitsstress. Für Männer
Dreimal so viele Männer wie Frauen sterben an ist das Vorhandensein einer Partnerbeziehung ein
einem Suizid, während zwei Drittel der Suizidver- Schutzfaktor gegen Stress, für Frauen nur dann,
suche von Frauen unternommen werden. Auch die wenn die Beziehung positiv und unterstützend ist.
verwandten Methoden sind teilweise unterschied- Frauen profitieren weniger als Männer von klassi-
lich (z. B. Intoxikation mit Medikamenten häufiger schen edukativen Interventionen, mehr von Ange-
4 bei Frauen). Allerdings haben die Suizidraten seit boten, die emotionale Unterstützung enthalten.
30 Jahren in beiden Geschlechtern konstant abge-
nommen. Frauen sind häufiger Opfer von körper- Gesundheitsverhalten Frauen sind gesundheitsbe-
licher oder sexueller Gewalt, überwiegend durch wusster. Sie ernähren sich gesünder, während bei
aktuelle oder frühere Beziehungspartner. Frauen körperlicher Aktivität und Sport die Geschlechts-
leiden häufiger an Schmerzen unterschiedlicher Lo- unterschiede eher zugunsten der Männer ausfallen,
kalisation (z. B. Kopfschmerzen, Rückenschmer- vor allen in den jungen und sehr alten Altersgrup-
zen, Bauchschmerzen). Da Frauen älter werden, pen. Männer sind jedoch häufiger übergewichtig,
sind sie unter Demenzkranken überrepräsentiert trinken häufiger Alkohol und rauchen häufiger.
und haben ein höheres Frakturrisiko in Folge von
Osteoporose. Andererseits sind Pflegende zu 73 % Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgung
Frauen. Frauen nehmen häufiger an Früherkennungsun-
tersuchungen und Präventionsmaßnahmen teil,
Herz-Kreislauferkrankungen Frauen erkranken suchen häufiger einen Arzt auf und nehmen mehr
ca. 10 Jahre später als Männer an Herz-Kreislauf- Medikamente (auch Psychopharmaka) ein als Män-
erkrankungen. Hierfür wurde eine Schutzwirkung ner. Während für beide Geschlechter Erkrankungen
durch Östrogene verantwortlich gemacht. Ob dies des Bewegungsapparats bei Rehamaßnahmen an
tatsächlich der Fall ist, ist noch unklar, zumal der Spitze der stehen, sind bei Frauen Krebser-
Östrogengabe das Herzinfarktrisiko erhöht (statt krankungen und psychische Störungen häufiger
senkt). Ab dem 65. Lebensjahr gleichen sich die Anlass, bei Männern Herz-Kreislauferkrankungen.
Morbiditäts- und Mortalitätsraten von Männern Für Mütter und ihre Kinder existiert ein spezielles
und Frauen an. Frauen kommen bei einem Herz- Präventions- und Rehabilitationsangebot (früher
infarkt später in die Klinik und warten dort länger »Müttergenesungskur« genannt).
auf die Behandlung. Ein akuter Herzinfarkt zeigt Ob das Gesundheitsverhalten oder aber gene-
sich bei Frauen in etwas anderen Symptomen als bei tische Faktoren zur höheren Lebenserwartung bei
Männern – sie leiden mehr an Übelkeit und Er- Frauen beiträgt, ist offen. Das unterschiedliche Ge-
brechen und spüren häufiger Schmerzen im Schul- sundheitsverhalten der beiden Geschlechter ist, wie
ter- und Rückenbereich sowie im Bauch –, weshalb erwähnt, durch das Rollenstereotyp beeinflusst.
er bei Frauen nicht so gut diagnostiziert wurde. Sie Männer lernen, sich weniger um ihren Körper und
erhielten seltener eine revaskularisierende Therapie ihre Gesundheit zu kümmern, Schmerzen zu
(PCI, Bypass). Früher war die akute Letalität des verleugnen und keine Schwäche zu zeigen. Frauen
Herzinfarktes deshalb bei Frauen höher, was sich haben es hingegen aufgrund ihres Rollenbildes
inzwischen jedoch angeglichen hat. Wenn die Be- leichter, Beschwerden wahrzunehmen und darüber
handlung ebenso intensiv ist wie bei Männern, ist zu sprechen. Hinzukommt die Medikalisierung
auch die Langzeitprognose gleich gut. Frauen neh- vieler Lebensphasen der Frau. Die mit der Repro-
men jedoch seltener eine Rehabilitationsmaßnah- duktion zusammenhängenden Vorgänge von der
me in Anspruch, obwohl sie mehr Begleiterkran- 1. Regelblutung über Schwangerschaft, Geburt oder
kungen und kardiovaskuläre Risikofaktoren haben. aber ungewollte Kinderlosigkeit bis hin zu den
Die Risikofaktoren sind bei Frauen und Männern Wechseljahren werden als medizinische Probleme
auch unterschiedlich verteilt: bei Frauen häufiger betrachtet und entsprechend behandelt.
4.9 · Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
193 4
4.9.7 Migration und Akkulturation Der fremde kulturelle Hintergrund kann sich auch
in der Art der Krankheitsbewältigung und den
Soziodemographisch bedeutsam sind horizontale subjektiven Krankheitstheorien niederschlagen,
Wanderungen (Wechsel des Aufenthaltsorts), im welche die Mitwirkung bei der medizinischen Be-
Unterschied zu vertikaler Migration (sozialer Auf- handlung erschweren können. So kann Krankheit
oder Abstieg, 7 Abschn. 4.10.4). Menschen mit Mi- z. B. als gottgewolltes Schicksal oder gerechte Be-
grationshintergrund (Arbeitsimmigranten, Spät- strafung erlebt werden. In vielen Kulturen wird
aussiedler, Asylsuchende und ihre Kinder) nehmen eine Krankheit ganzheitlich erlebt. Sie befällt den
einen beträchtlichen Anteil der deutschen Bevölke- ganzen Körper. Entsprechend werden Symptome
rung ein. Die häufigsten Ursachen der Wanderung dramatisch und körpernah geschildert (»Schmer-
sind unzureichende, disparate Lebensbedingungen zen im ganzen Körper!«). Derartige Symptomprä-
wie Armut, Hunger, Umweltzerstörung, schlechte sentationen können beim ausschließlich naturwis-
Arbeitsplatzchancen, politische Unfreiheit, Kriege senschaftlich orientierten Arzt auf Unverständnis
oder auch das Nachholen der Familie. stoßen. Kulturelle Tabus können die Inanspruch-
4 Den Prozess des Einlebens in die Kultur nahme einer ärztlichen Behandlung erschweren. So
des aufnehmenden Landes nennt man Akkul- stellt z. B. die Notwendigkeit, sich bei der körper-
turation. lichen Untersuchung zu entkleiden, für viele mus-
4 Von Integration spricht man, wenn gute Be- limische Patientinnen eine gravierende Verlet-
ziehungen zur Kultur des aufnehmenden zung  der Intimsphäre dar. Alle Akteure im Ge-
Landes entwickelt werden, aber auch die Kul- sundheitswesen sollten ein Basiswissen über die
tur der ehemaligen Heimat erhalten bleibt, kulturellen Normen von Migranten haben und
4 von Assimilation, wenn eine vollständige An- ihnen mit Offenheit, Respekt und Sensibilität be-
passung an die Kultur des Aufnahmelands gegnen.
unter Aufgabe der ehemaligen kulturellen
Identität angestrebt wird,
4 von Separation, wenn der Migrant sich in 4.9.8 Entwicklung
seine Herkunftskultur zurückzieht und keine der Weltbevölkerung
Kontakte zur Aufnahmekultur eingeht,
4 von Marginalisation, wenn er weder Kontakt Die Weltbevölkerung ist in den vergangenen Jahr-
zur alten noch zur neuen Kultur besitzt. zehnten immer schneller gewachsen. Der prozen-
tuale Zuwachs erreichte in den 70er-Jahren jedoch
Migration und Gesundheit Die Healthy-migrant- ein Maximum, nimmt seitdem ständig ab und be-
Hypothese besagt, dass vor allem junge und gesun- trägt gegenwärtig noch rund 1,2 % pro Jahr. Wahr-
de Personen migrieren. Dementsprechend ist bei scheinlich wird das Weltbevölkerungswachstum
Migranten die Krankenquote niedriger. Da Migran- nach Vorausberechnungen der UN in der 2. Hälf-
ten oft risikoreiche Tätigkeiten ausüben (z. B. im te  des 21. Jahrhunderts seinen Höhepunkt mit
Baugewerbe), haben sie aber ein erhöhtes Risiko für 9–10 Mrd. Menschen erreichen. Danach wird die
Arbeitsunfälle und berufsbedingte Erkrankungen. Weltbevölkerung wieder abnehmen. Der Haupt-
Auch manche kardiovaskuläre Risikofaktoren kom- grund dafür ist der Rückgang der Geburtenrate, der
men bei ihnen häufiger vor (Adipositas bei Frauen, seit 1950 von 5 Geburten pro Frau im Weltdurch-
Tabakrauchen bei Männern). Migranten nutzen schnitt auf jetzt 2,5 abnahm, und zwar nicht nur in
das Gesundheitssystem weniger, sind medizinisch den Industrieländern (derzeit 1,8), sondern auch in
weniger gut versorgt und haben oft schlechtere The- den Entwicklungsländern (derzeit 2,8). Je höher
rapieergebnisse. Sprachprobleme tragen zu einer Stand und Tempo der sozioökonomischen Entwick-
geringeren Informiertheit bei. Krankhäuser haben lung in einem Land sind, desto niedriger ist die Ge-
nur selten Dolmetscher zur Verfügung. burtenrate. Nach einer Prognose der UN wird sich
Migranten bringen aus ihrem Herkunftsland die Geburtenrate bis zum Jahr 2050 auf 2,0 im Welt-
oft andere Bräuche, Traditionen und Normen mit. durchschnitt einpendeln.
194 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

> Determinanten der Geburtenrate: Auch blem ist jedoch durch den Einsatz moderner Tech-
in den Entwicklungsländern sind wirtschaft- nologien ebenfalls prinzipiell lösbar. Welche Folgen
liche Entwicklung und Steigerung des Wohl- der Klimawandel (Erderwärmung) haben wird, ist
stands die wichtigsten Einflussfaktoren für derzeit Gegenstand intensiver Analysen. Als aus-
die Senkung der Geburtenrate. Denn dann ist sichtsreichste Strategie zur Verminderung der CO2-
man für die Altersvorsorge nicht mehr auf Emission gilt die Zuweisung von handelbaren Emis-
möglichst viele Kinder angewiesen, sondern sionszertifikaten an die emittierenden Firmen. Wenn
persönliche Vorsorge und Vorsorge durch es einer Firma gelingt, ihre Emissionen auf einen
4 staatliche Wohlfahrtsinstitutionen treten an Wert unterhalb der zugewiesenen Menge zu drücken,
ihre Stelle. Auch die Emanzipation der Frau, kann sie die nicht verwendeten Zertifikate an andere
die sich vor allem in einer Berufsausbildung Firmen verkaufen, die das nicht geschafft haben. Auf
(und späterem Heiratsalter) manifestiert, diese Weise wird ein ökonomischer Anreiz geschaf-
trägt maßgeblich zum Geburtenrückgang bei. fen, Technologien zu entwickeln, die die CO2-Emis-
sion verringern.
Weitere Einflussmöglichkeiten bestehen in der Sen-
i Vertiefen
kung der Säuglingssterblichkeit durch verbesserte
Birg H (2004) Die Weltbevölkerung. Beck,
Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung
München (knappe, allgemeinverständliche Ein-
sowie Aufklärung über Antikonzeption und Fa-
führung in die Problematik)
milienplanung. Wo diese mit religiösen Normen in
Böhm K, Tesch-Römer C, Ziese T (Hrsg) (2009)
Konflikt gerät, ist das von der UN proklamierte
Gesundheit und Krankheit im Alter. Robert
»Recht auf demographische Selbstbestimmung« zu
Koch-Institut, Berlin (informative, ein breites
achten.
Spektrum an Themen abdeckende Übersicht)
Robert Koch Institut (Hrsg) (2005) Gesundheit
Ernährungsproblem Das sog. Malthus-Gesetz, das
von Frauen und Männern im mittleren Lebens-
besagt, dass die Bevölkerung exponentiell, die Nah-
alter. Robert Koch-Institut, Berlin (Gesundheits-
rung aber nur linear wächst, hat sich nicht be-
berichterstattung des Bundes mit vielen detail-
wahrheitet. Im Gegenteil, die Nahrungsproduktion
lierten Informationen)
wächst, auch in den Entwicklungsländern, schneller
als die Bevölkerung. In der 2. Hälfte des 20. Jahr-
hunderts nahm deshalb die Zahl der Hungernden
trotz Bevölkerungswachstum nicht nur relativ, 4.10 Sozialstrukturelle Determinanten
sondern auch absolut ab. Auch Afrika könnte seine des Lebenslaufs
wachsende Bevölkerung problemlos ernähren,
wenn die natürlichen Ressourcen angemessen ge- H. Faller
nutzt und die Produkte sinnvoll verteilt würden.
Das Ernährungsproblem erscheint also prinzipiell Lernziele
lösbar. Der Leser soll
5 die Erwerbssektoren definieren können,
Ressourcenproblem In den 70er-Jahren des 20. Jahr- 5 Intragenerationen- und Intergenerationen-
hunderts prophezeite der Club of Rome eine dra- mobilität unterscheiden können,
matische Verknappung der Rohstoffe, insbesondere 5 mittelschichtspezifische Werte benennen
des Erdöls. Inzwischen haben die entdeckten Res- können.
sourcen jedoch zugenommen, und sie scheinen
auf absehbare Zeit auszureichen. Hinzu kommen
neue Energiequellen (z. B. Sonnenenergie), deren
Nutzung lediglich noch effizienter werden muss. In
jüngster Zeit wurde das Umweltproblem als wichtigs-
tes Bevölkerungsproblem angesehen. Dieses Pro-
4.10 · Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs
195 4
4.10.1 Modernisierungsprozess gesellschaftliche Verbindlichkeiten durch individu-
von Gesellschaften elle Entscheidungen ersetzt, z. B. bei der Entschei-
dung einer Frau, Kinder zu bekommen oder nicht
(7 Abschn. 4.9.4), oder beim Eingehen von Partner-
> Im Zuge des Modernisierungsprozesses der
beziehungen. Insbesondere für Frauen haben sich
Gesellschaft wurde zweckrationales Handeln
in modernen Gesellschaften wegen ihrer zu-
zum Ideal. Dies gilt auch für die Medizin: Han-
nehmenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom
deln soll nicht einfach nur mit der Tradition
Partner die Entscheidungsspielräume erweitert.
begründet werden (»Das haben wir schon
Neue Abhängigkeiten, z. B. vom Arbeitsmarkt und
immer so gemacht!«), sondern mit seiner wis-
der jeweiligen Finanzlage der sozialen Sicherungs-
senschaftliche Fundierung.
systeme, kommen jedoch hinzu.
Bloße Expertenmeinungen werden nicht mehr als Analoge Prozesse des Wandels ereignen sich im
ausreichend angesehen, medizinische Maßnahmen Bereich der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen.
zu legitimieren. In der Hierarchie der wissenschaft- Traditionelle Bindungen werden durch selbst-
lichen Evidenz für Behandlungsmaßnahmen sind geknüpfte soziale Netzwerke ersetzt. Zunehmende
sie auf dem niedrigsten Niveau angesiedelt. Statt- Rationalisierung und Individualisierung lassen
dessen werden systematische wissenschaftliche auf der anderen Seite auch Bedürfnisse nach emo-
Überprüfungen der Wirksamkeit von Interventio- tionaler Anteilnahme und Zusammengehörig-
nen gefordert (evidenzbasierte Medizin, 7 Abschn. keit  entstehen, die z. B. in Beziehungen zu einem
3.8.3). charismatischen Idol ihren Ausdruck finden kön-
nen. Wegen der Fragilität von Beziehungen, die
Affektkontrolle Der Prozess der Zivilisation ist nur für eine bestimmte Lebensphase eingegangen
außerdem durch eine zunehmende Kontrolle von werden, gewinnt allerdings auch die Herkunfts-
Emotionen und spontanen (insbesondere aggressi- familie  mit ihren stabileren Bindungen wieder an
ven) Handlungen geprägt, infolge sozialer Normen Bedeutung.
wie auch größerer Selbstkontrolle.
Informationsgesellschaft In der modernen Gesell-
Individualisierung Die Abnahme traditionaler Bin- schaft ist Wissen der wichtigste Produktionsfaktor.
dungen zeigt sich auch in der zunehmenden Unab- Gerade auch in der Medizin vermehrt sich das Wis-
hängigkeit individuellen menschlichen Handelns sen explosionsartig, Lehrbücher sind schon zum
von traditionellen Normen der Herkunftsfamilie, Zeitpunkt ihres Erscheinens veraltet. Der aktuelle
der sozialen Schicht oder Region. Die Individuali- Wissensstand kann nur mittels ebenso aktueller In-
sierung geht mit einem Wertewandel einher: Tradi- formationsmedien (Internet) verbreitet (dissemi-
tionelle Werte wie Pflichtgefühl und Akzeptanz niert) werden. Zugleich wird medizinische Infor-
(»Was werden die Nachbarn sagen?«) verlieren an mation durch die modernen Kommunikationstech-
Bedeutung zugunsten einer Pluralisierung der Wer- nologien sehr viel leichter als früher für die breite
te und der Selbstverwirklichung. Diese zunehmen- Bevölkerung zugänglich. Dies hat Auswirkungen
de Individualisierung wird einerseits als Befreiung auf die Arzt-Patient-Beziehung (7 Abschn. 5.4). Pa-
von traditionellen Einschränkungen erlebt, kann tienten kommen oft schon gut informiert in die
aber andererseits auch vermehrte Unsicherheit mit Arztpraxis. Moderne Technologien, wie z. B. mole-
sich bringen. kulargenetische Untersuchungen, um Krankheits-
Lebensläufe sind weniger als früher planbar und risiken zu identifizieren (prädiktive Diagnostik),
vorhersehbar. Statt einer »Normalbiographie« steht die teilweise ebenfalls über das Internet angeboten
eine Fülle von Optionen zur Verfügung, aus denen werden, werfen aber auch ethische Fragen auf: An
der Einzelne auswählen kann (und muss). Sozialer wen darf die Information weitergegeben werden?
Aufstieg ist nicht mehr garantiert, wenn man be- Haben z. B. auch Versicherungsgesellschaften ein
stimmte Bildungsstandards absolviert hat. In der Recht darauf, über die bei ihren Antragstellern vor-
Biographie werden Selbstverständlichkeiten und liegenden Risiken informiert zu werden?
196 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Moderne Medien werden zunehmend genutzt, Infolge Arbeitslosigkeit sinkt die Erwerbsquote.
um Information vom Patienten zum Arzt und um- Strukturelle Arbeitslosigkeit ist im Unterschied
gekehrt zu übertragen ( Telemedizin). Beispiele: zu konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit durch
Wichtige Verlaufsparameter wie Herzfrequenz oder Merkmale der Wirtschaftsstruktur bedingt: hohe
Körpergewicht werden zur Überwachung des The- Arbeitskosten (Löhne, Lohnnebenkosten), insbe-
rapieerfolgs vom Patienten elektronisch an den Arzt sondere bei gering qualifizierter Arbeit, und zu ge-
übermittelt. Patienten erhalten auf elektronischem ringe Flexibilität des Arbeitsmarkts. Infolgedessen
Weg Erinnerungen, ihre Medikamente einzuneh- werden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Kapital-
4 men. Mittlerweile gibt es sogar internetbasierte Psy- intensive Arbeitsplätze für Hochqualifizierte blei-
chotherapieprogramme, die Patienten in Regionen ben eher erhalten. Strukturelle Arbeitslosigkeit soll
mit geringer Psychotherapeutendichte den Zugang zum einen durch arbeitsmarktpolitische Reformen,
zu Psychotherapie ermöglichen sollen und durch- zum anderen durch eine verbesserte Ausbildung
aus erfolgversprechend sind. Den mediengestützten vermindert werden.
Kontakt von Arzt zu Arzt nennt man Telehealth-
care. Beispiel: Ärzte eines peripheren Krankenhau-
ses senden CT-Bilder an die Stroke unit in einem 4.10.3 Soziale Differenzierung
Uni-Klinikum, um gemeinsam Diagnose und The-
rapie eines Schlaganfallpatienten festzulegen. Soziale Schicht Moderne Gesellschaften weisen
eine Binnendifferenzierung auf. Das geläufigste
Modell zur Beschreibung der sozialen Differenzie-
4.10.2 Änderungen rung ist das Schichtmodell. Die soziale Schicht (syn.
der Erwerbsstruktur sozioökonomischer Status) wird meist anhand
dreier Kriterien bestimmt: Ausbildung, Beruf und
Einkommen (7 Abschn. 1.2.5). Diese 3 Kriterien
werden auch meritokratische Triade genannt, weil
Erwerbssektoren
man davon ausgeht, dass sozialer Status durch
5 Primärer Sektor: Landwirtschaft
Leistung erworben wird (erworbener Status). Die
5 Sekundärer Sektor: Industrie
Höhe der Belohnung, die mit einer beruflichen
5 Tertiärer Sektor: Dienstleistung, Handel
Position verbunden ist, hängt idealerweise von ihrer
Wichtigkeit ab. In vormodernen Gesellschaften
hingegen wurde der soziale Status von der Her-
Tertiarisierung Nach der Hypothese von Fourastié kunftsfamilie oder dem Stand festgelegt (zuge-
verlieren infolge des technischen Fortschrittes schriebener Status).
die ersten beiden Sektoren an Bedeutung, während Die Schichtungsstruktur moderner Gesellschaf-
die Zahl der im 3. Sektor Beschäftigten zunimmt, ten ist nicht eindimensional hierarchisch. Zwischen
weil dieser sich nicht so leicht technisieren lässt. den einzelnen Schichten gibt es viele Übergänge.
Die Medizin gehört zum Dienstleistungssektor. Sie Deshalb hat man andere Möglichkeiten herangezo-
stellt einen Wachstumsmarkt mit hohem Potenzial gen, soziale Differenzierung zu beschreiben: soziale
dar, das jedoch wegen der budgetierten Finan- Lage/Lebenslage, die noch zusätzliche Kriterien
zierung durch die Sozialversicherungssysteme nicht wie z. B. die Wohnung heranzieht, und Lebensstil,
ausgeschöpft wird. Deshalb gibt es Bestrebungen, der quer zu den Schichten liegt. Innerhalb einer
Marktmechanismen in der Medizin zu stärken. Schicht kann es sehr unterschiedliche Lebensstile
Vom 3. Sektor lässt sich als 4. Sektor der Bereich geben, und Personen unterschiedlicher Schicht
Kommunikation von Wissen und Information ab- können denselben Lebensstil aufweisen. Das Krite-
grenzen. rium Lebensstil ist wegen seiner höheren Verhaltens-
orientierung auch besser geeignet, Gesundheits-
Erwerbsquote Mit Erwerbsquote wird der Anteil verhalten und Präventionsstrategien zu beschreiben
der Erwerbstätigen an der Bevölkerung bezeichnet. (7 Kap. 10).
4.10 · Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs
197 4
Statusinkonsistenz Wenn eine Person auf allen von Kindern aus der Unterschicht oder mit Migrationshin-
3 Kriterien (Bildung, Beruf, Einkommen) eine tergrund in Schule und Ausbildung, mit der Folge vieler
sog. ausbildungsmüder Jugendlicher, das Zurückbleiben von
ähnliche Position aufweist, spricht man von Status-
»nicht vermittelbaren Arbeitssuchenden« hinter den Forde-
kristallisation, wenn nicht, von Statusinkonsistenz. rungen des »aktivierenden Wohlfahrtsstaats«. Soziale Exklu-
Beispiel: Dr. phil., der nach dem Studium als Taxi- sion hat Folgen für die Gesundheit: Die Betroffenen weisen
fahrer arbeitet. häufig ein ungünstiges Gesundheitsverhalten (Alkohol, Rau-
chen, Ernährung, Bewegung) auf (Bude 2008).
Neue soziale Ungleichheit In jüngster Zeit sind
neue Ungleichheiten in den Blick gekommen: Ein- Prekäre Beschäftigung Prekäre Beschäftigungsver-
kommensunterschiede innerhalb der Gesellschaft hältnisse zeichnen sich durch unsichere, zeitlich
(Einkommensdisparität), regionale Unterschiede befristete Arbeit, geringe Integration in den Betrieb
zwischen alten und neuen Bundesländern oder und niedriges Einkommen aus, so dass die mate-
Nord- und Süddeutschland, Geschlechtsunter- rielle Existenzsicherung schwierig ist.
schiede oder Unterschiede zwischen ethnischen
Gruppen. Immer mehr Menschen, wie z. B. Arbeits- Armut 15,5 % (12 Mio.) der deutschen Bevölke-
lose, Alleinerziehende oder Migranten, fühlen sich rung sind armutsgefährdet, d. h. haben weniger als
von der Gesellschaft ausgeschlossen (soziale Exklu- 60 % des mittleren Einkommens zur Verfügung
sion). Soziale Randgruppen wie Obdachlose oder (EU-Definition). Diese sog. relative Definition der
Drogenabhängige sind nur die Spitze des Eisbergs Armut (relativ = bezogen auf das Durchschnittsein-
sozialer Exklusion. Sie unterliegen einem hohen kommen) hat große Nachteile. Würden alle Men-
Diskriminierungsrisiko. schen in Deutschland doppelt so viel verdienen
(auch die zuvor Armen), bliebe nach der relativen
Hintergrundinformation Definition (Einkommen geringer als 60 % des
Soziale Exklusion Durchschnitts) die Anzahl der Armen gleich. Wür-
Soziale Exklusion (sozialer Ausschluss) bemisst sich an der Art
den alle nur halb so viel verdienen, nähme die Zahl
und Weise der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht so
sehr an gesellschaftlicher Gleichheit oder materieller Armut.
der Armen nicht zu, sondern bliebe ebenfalls un-
Sie ist nicht auf Benachteiligung in Einkommen, Prestige oder verändert. Der relative Armutsbegriff gibt nicht das
Bildung zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, einen Platz in tatsächliche Ausmaß der Armut wieder, sondern
der Gesellschaft zu haben, das Gefühl zu haben, dass einem das Ausmaß der Ungleichheit der Einkommen.
Chancen offen stehen, dass die eigenen Anstrengungen be-
Derzeit nimmt die Einkommensdisparität (Gini-
lohnt werden, dass man dazugehört. Das Gefühl einer Be-
nachteiligung im Vergleich zu anderen Menschen, denen es
Koeffizient) in Deutschland ab.
besser geht, wird relative Deprivation genannt.
Soziale Exklusion kann es in allen Schichten der Gesellschaft
geben. Sie betrifft z. B. nicht nur den Angehörigen der 3. Ge- 4.10.4 Soziale Mobilität
neration von Migranten, der innerhalb der von der Gesell-
schaft angebotenen Karrierechancen für sich keine Perspek-
tiven sieht, sondern auch die Sozialpädagogikstudentin,
Hier interessiert die vertikale Mobilität (d. h. Auf-
die wegen ihrer Kinder ihr Studium nicht fortsetzt und sich stiegs- und Abstiegsbewegungen), im Unterschied
mit geringdotierten Tätigkeiten im sozialen Bereich durch- zur horizontalen Mobilität (regionale Wanderun-
schlägt; nicht nur den 55-jährigen Facharbeiter, der wegen gen, 7 Abschn. 4.9.7).
Personalabbau frühberentet wurde und seine Tage im Bau-
Moderne Gesellschaften sind durch relativ gro-
markt verbringt, ohne etwas zu kaufen, sondern auch den
Germanisten Mitte 40, der seine Tätigkeit in einem Verlag
ße vertikale Mobilität gekennzeichnet. Diese findet
wegen Umstrukturierungen verloren hat und sich mit kurz- allerdings in der Mehrzahl zwischen den mittleren
fristigen Verträgen als Lektor über Wasser hält; oder aber die Schichten statt, während sie am oberen und unteren
20-jährige Mutter von 2 Kindern, die den qualifizierenden Ende der Hierarchie geringer ausgeprägt ist. Die
Hauptschulabschluss nicht geschafft hat, vom Vater ihrer
wichtigsten Einflussfaktoren sind Intelligenz und
Kinder wegen häuslicher Gewalt getrennt lebt und ihre Tage
vor dem Fernsehgerät verbringt.
Bildung (Schulbildung, Ausbildung). Doch auch die
Soziale Exklusion hat viele Ursachen: Das Verschwinden der Familie übt immer noch eine gewisse Platzierungs-
Arbeitsplätze für Geringqualifizierte, die Benachteiligung funktion aus.
198 Kapitel 4 · Theoretische Grundlagen

Formen vertikaler sozialer Mobilität 4.10.5 Einfluss von Bildung


5 Intragenerationenmobilität: sozialer Auf- auf Lebensstil und Gesundheit
oder Abstieg innerhalb einer Generation,
d. h. während des Lebens eines Menschen. Der wichtigste Einflussfaktor auf Lebensstil und
Beispiel: Eine Person mit Hauptschul- Gesundheit ist das Bildungsniveau. Mit der Schicht-
abschluss und Lehre erwirbt auf dem 2. Bil- zugehörigkeit sind bestimmte Einstellungen und
dungsweg die Hochschulreife und wird Werte verbunden.
Arzt.
4 5 Intergenerationenmobilität: sozialer
Mittelschichtspezifische Werte
Auf- oder Abstieg zwischen 2 Generationen.
5 Zukunftsorientierung
Beispiel: Vater Arbeiter, Sohn Arzt.
5 Bedürfnisaufschub
5 Autonomie, Selbstbestimmung, individuelle
Verantwortung
Chronische Krankheiten können einen sozialen
5 Hohes Anspruchsniveau, Erfolgsorien-
Abstieg zur Folge haben. Ein Beispiel ist der soziale
tierung, Aufstiegsorientierung
Abstieg bei Schizophrenie. Dieser setzt oft schon
5 Vertrauen in die Veränderbarkeit der
Jahre früher ein, bevor die auffälligen Symptome
eigenen Lage
wie Wahnvorstellungen oder Halluzinationen zum
1. Mal auftreten. Eine Schizophrenie äußert sich
nämlich zuerst auf sehr diskrete Art und Weise, so Zukunftsorientierung des Handelns, also Ziele zu
dass sie nicht als solche diagnostiziert wird. Diese verfolgen, die noch weit in der Zukunft liegen, ist
Vorläuferphase dauert im Mittel 5 Jahre. Sie ist eine wichtige Voraussetzung sowohl für Bildung als
durch depressive Stimmung, Antriebsmangel, auch für gesundheitsförderliches Verhalten. Mittel-
Gleichgültigkeit, sozialen Rückzug und verminder- schichtangehörige schreiben dem Gut Gesundheit
te kognitive Leistungsfähigkeit geprägt. Die Betrof- einen hohen Wert zu, während Unterschichtange-
fenen brechen mit ihren Leistungen ein, verlassen hörige eine eher instrumentelle Orientierung ge-
die Schule, verlieren ihren Arbeitsplatz. Beziehun- genüber dem eigenen Körper haben: Der Körper
gen gehen in die Brüche. Da dieser soziale Abstieg muss funktionieren, Gesundheit wird aufgebraucht.
der manifesten Erkrankung vorauszugehen scheint, Unterschichtangehörige besitzen auch eine gerin-
hielt man früher ungünstige soziale Bedingungen gere Symptomaufmerksamkeit und zögern länger,
für die Ursache der Schizophrenie. Infolge genaue- bis sie einen Arzt aufsuchen. Sie zeigen häufiger
rer Diagnostik weiß man aber heute, dass in den ein ungünstiges Gesundheitsverhalten (Rauchen,
sozialen Problemen schon die ersten Anfänge der Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Über-
Psychose zum Ausdruck kommen. Man versucht gewicht). Dies trägt neben sozialen Belastungen
deshalb, die Schizophrenie möglichst früh zu dia- zum Schichtgradienten bei Morbiditäts- und Mor-
gnostizieren, um rechtzeitig mit der Behandlung talitätsrisiken bei (7 Abschn. 2.5.1).
(Kombination von Psychotherapie und Pharmako-
therapie) beginnen zu können, bevor der soziale i Vertiefen
Abstieg zementiert wird. Je früher die Behandlung Schwartz FW, Walter U, Siegrist J, Kolip P,
einsetzt, desto besser ist die Prognose. Erste Präven- Leidl R, Dierks ML, Busse R, Schneider N (Hrsg)
tionsprogramme haben vielversprechende Erfolge (2012) Public Health. Gesundheit und Gesund-
gezeigt. heitswesen. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München
(umfassende, handbuchartige Übersicht)
199 II

Ärztliches Handeln
Kapitel 5 Arzt-Patient-Beziehung – 201
H. Faller, H. Vogel

Kapitel 6 Untersuchung und Gespräch – 229


H. Faller

Kapitel 7 Urteilsbildung und Entscheidung – 241


K. Meng, S. Neuderth, H. Faller, M. Richard

Kapitel 8 Interventionsformen und besondere medizinische


Situationen – 251
H. Faller, S Brunnhuber, S. Neuderth, T. Wischmann,
H. Lang, R. Verres

Kapitel 9 Patient und Gesundheitssystem – 307


H. Faller, S. Neuderth
201 5

Arzt-Patient-Beziehung
H. Faller, H. Vogel

5.1 Ärztliche Berufstätigkeit – 203


H. Faller, H. Vogel
5.1.1 Arztberuf als Profession – 203
5.1.2 Spezialisierung vs. Integration in der Medizin – 204
5.1.3 Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen – 204
5.1.4 Wandel von Versorgungsformen – 205

5.2 Arztrolle – 206


H. Faller
5.2.1 Organisatorische und ökonomische Determinanten
des ärztlichen Handelns – 206
5.2.2 Normen der Arztrolle – 206
5.2.3 Motivation zum Arztberuf – 207
5.2.4 Ethische Entscheidungskonflikte ärztlichen Handelns – 208
5.2.5 Psychische und gesundheitliche Belastungen des Arztberufes – 208

5.3 Krankenrolle – 209


H. Faller
5.3.1 Merkmale der Krankenrolle – 209
5.3.2 Krankheitsbewältigung (Coping) – 210
5.3.3 Wirtschaftliche, rechtliche und familiäre Einflüsse – 211

5.4 Kommunikation und Interaktion – 212


H. Faller
5.4.1 Kommunikationstheorien – 212
5.4.2 Formen der Kommunikation – 212
5.4.3 Bedürfnisse von Kranken – 213
5.4.4 Partizipative Entscheidungsfindung – 214
5.4.5 Modelle der Arzt-Patient-Beziehung – 214
5.4.6 Funktionen der Kommunikation – 216
5.4.7 Strukturen der Kommunikation – 217

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
5.4.8 Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung – 218
5.4.9 Übertragung und Gegenübertragung – 219
5.4.10 Organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen – 219
5.4.11 Soziokultureller Rahmen der Kommunikation – 220

5.5 Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation – 221


H. Faller
5.5.1 Formen der Kooperation von Kranken und Ärzten – 221
5.5.2 Compliance und Non-Compliance – 221
5.5.3 Besondere kommunikative Anforderungen – 223
5.5.4 Einflussfaktoren der Kommunikation und Kooperation – 225
5.1 · Ärztliche Berufstätigkeit
203 5
Arzt zu sein, wird oft nicht nur als Beruf, sondern als
Berufung bezeichnet. Mit den hohen Anforderungen Handlungsempfehlungen werden in zu-
an die Arztrolle sind aber auch Belastungen verbun- nehmendem Maße in Leitlinien festgelegt
den, die bewältigt werden müssen. Die Kommunika- (7 Abschn. 3.8.3).
tion zwischen Arzt und Patient hat sich zudem in den 5 Staatlich geregelte Berufszulassung: Die
letzten Jahrzehnten verändert. Während früher die staatliche Approbation ist Voraussetzung
Einflussmöglichkeiten innerhalb der Arzt-Patient-Be- der ärztlichen Berufsausübung.
ziehung ziemlich einseitig verteilt waren, wird heute 5 Akademische Ausbildung: Zum Arztberuf
eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung ange- qualifiziert ein Hochschulstudium gemäß
strebt. Hierzu benötigt der Arzt grundlegende Kom- der Approbationsordnung. Es wird durch
petenzen der Gesprächsführung. ein Staatsexamen abgeschlossen.
5 Berufliche Selbstverwaltung: Die gesetz-
lich geregelte ärztliche Berufsvertretung
5.1 Ärztliche Berufstätigkeit (»Standesorganisation«, die Ärztekammern),
regelt mit staatlicher Legitimation relativ
H. Faller, H. Vogel autonom die ärztliche Tätigkeit. Landes-
ärztekammern erlassen Fortbildungs- und
Lernziele Weiterbildungsordnungen und regeln damit
Der Leser soll die ärztliche Fort- und Weiterbildung.
5 Merkmale der ärztlichen Profession nennen 5 Ärztliche Berufsethik: Ärzte haben sich
können, schon sehr früh allgemeine Handlungs-
5 Aufgaben der Ärztekammern und Kassen- normen gegeben (Hippokratischer Eid, Ärz-
ärztlichen Vereinigungen nennen können, tegelöbnis). Die ärztliche Schweigepflicht
5 neue Versorgungsformen beschreiben ist ein Kern des ärztlichen Selbstverständ-
können. nisses und längst auch gesetzlich legiti-
miert. Bei fachlichen oder persönlichen Ver-
stößen gegen die von den Landesärztekam-
5.1.1 Arztberuf als Profession mern beschlossene ärztliche Berufsordnung
(z. B. Kunstfehler, Drogenabhängigkeit) tre-
Auch wenn Gesundheitsberufe zu den Dienstleis- ten Sanktionen in Kraft, die bis zum Entzug
tungsberufen gehören, so gilt der Beruf Arzt/Ärztin der Approbation gehen können.
doch als die Profession schlechthin. Die in der
Übersicht dargestellten Merkmale einer Profession
haben sich im Verlauf der Medizingeschichte her- Tendenzen der Entprofessionalisierung Die Profes-
ausgebildet. sionalisierung hat dem Arztberuf eine hohe gesell-
schaftliche Anerkennung verschafft. Gegenwärtig
sind jedoch auch Tendenzen der Entprofessionali-
Merkmale der ärztlichen Profession sierung zu beobachten. Einheitlichkeit und »Einzig-
5 Berufsspezifische Kompetenzen: Der Arzt artigkeit« des ärztlichen Berufsbildes haben sich
ist zuständig für die Bewältigung von aufgrund verschiedener Bedingungen nachhaltig
Störungen der Gesundheit. Er erbringt in geändert. Der hohe Grad an Spezifität sowie die zu-
diesem klar definierten Aufgabenbereich nehmende Komplexität der Problemstellungen
personenbezogene Dienstleistungen. Auch ärztlicher Tätigkeit bei gleichzeitiger Arbeitsteilung
innerhalb des Arztberufs gibt es viele Dif- mit anderen Berufsgruppen und vielfältiger Vernet-
ferenzierungen, z. B. in Primärarzt (Hausarzt) zung mit wirtschaftlichen und ethischen Fragestel-
und Facharzt sowie unterschiedliche lungen haben dazu geführt, dass ursprünglich inner-
Fachgebiete. Die jeweiligen spezifischen ärztlich diskutierte Sachverhalte nunmehr öffent-
lich beraten werden und der Arztberuf damit viel
204 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

von seiner früheren Sonderstellung verliert bzw. kation regelmäßig ausübt und dass die erforder-
schon verloren hat. Stichworte, die in diesem lichen Rahmenbedingungen (Technologien, Perso-
Rahmen diskutiert werden, sind beispielsweise die nal etc. – sog. Strukturqualität, 7 Abschn. 9.44) ge-
öffentlich geführten Debatten über Sterbehilfe, geben sind. Ebenso wichtig ist – für die Patienten-
Lockerung des Werbungsverbots für Ärzte und die versorgung – die sachgerechte Indikationsstellung
zunehmende Verrechtlichung ärztlichen Handelns zur Behandlung durch den Spezialisten bzw. die
(Stichworte: Leitlinienorientierung, Patientenrech- Spezialeinrichtung.
tegesetz). Auch die aus verschiedenen anderen
Gründen wünschenswerte Entwicklung, medizini- Probleme der Spezialisierung Mit der Differenzie-
sche Entscheidungen gemeinsam mit dem Patien- rung des Faches in unterschiedliche Spezial-/Teilge-
5 ten zu treffen (partizipative Entscheidungsfindung, biete entsteht die Gefahr, die »Ganzheitlichkeit«,
7 Abschn. 5.4.4), verändert die einstige Exklusivität d. h. die multifaktoriellen Aspekte von Krankheiten
des ärztlichen Berufes. in Diagnostik und Therapie aus dem Auge zu ver-
lieren und den Patienten auf seine Krankheit/
Symptomatik in einem speziellen Organsystem zu
5.1.2 Spezialisierung vs. Integration reduzieren. Auch gesundheitsökonomische Gründe
in der Medizin sprechen für eine Begrenzung der Spezialisierung,
denn Spezialdiagnostik und -behandlungen sind in
Ausdifferenzierung des Wissens und der Ausbildung der Regel relativ kostenträchtig.
Die rasante Weiterentwicklung des Wissens in der Somit erscheint es zweckmäßig, die spezialisier-
Medizin (wie in vielen anderen Fächern) und die ten Behandlungseinrichtungen um solche zu ergän-
Zunahme von Spezialkompetenzen in ihren Teil- zen, die im ersten Zugang (Primärversorgung) und
bereichen hat die Notwendigkeit von Spezialisie- auf einem allgemeineren Niveau für Patienten mit
rungen mit sich gebracht, sowohl in der ärztlichen Krankheiten zuständig sind, die einer Spezialbe-
Ausbildung als auch in den Einrichtungen der Ge- handlung (noch) nicht bedürfen. Sie sollten zum
sundheitsversorgung. Die ärztliche Ausbildung einen in der Lage sein, eine orientierende erste Dia-
wurde durch die zunehmende Wissensvermehrung gnostik und allgemeine Standardbehandlungen
in den vergangenen Jahrzehnten immer umfang- bei den wichtigsten Erkrankungen durchzuführen.
reicher, so dass das vermittelte Wissen für die Stu- Ferner sollten sie den Bedarf für spezialisierte Be-
denten immer unübersichtlicher und die fallbe- handlungen erkennen und den Patienten entspre-
zogene Integration umso schwieriger wurde. Die chend weiterverweisen. Schließlich sollten sie die
Approbationsordnung von 2002 und der darauf Ergebnisse von unterschiedlichen Spezialisten zu-
bezogene neue Gegenstandskatalog waren mit der sammenführen und für den Patienten integrieren.
Zielsetzung neu formuliert worden, den Zusam- Dies ist die Aufgabe der sog. Primärärzte, im deut-
menhalt des Faches und die Integration von Kom- schen Gesundheitssystem der Hausärzte, zumeist
petenzen aus verschiedenen Fachgebieten patien- mit der Gebietsqualifikation Allgemeinmedizin.
tenbezogen zu vermitteln.

Spezialisierung in der ärztlichen Weiterbildung 5.1.3 Kooperation mit anderen


Auch im Rahmen der Weiterbildung, d. h. im An- Gesundheitsberufen
schluss an die Approbation, ergab sich in den ver-
gangenen Jahrzehnten eine zunehmende Spezia- Der Trend zur Spezialisierung betrifft nicht nur die
lisierung und Differenzierung, die sich in den Wei- Differenzierung innerhalb der Medizin bzw. unter
terbildungsordnungen widerspiegelt. Spezialisie- den Ärzten, sondern geht auch über den ärztlichen
rung kann die Qualität der Behandlung erhöhen. Bereich hinaus. Zahlreiche weitere Berufe im Ge-
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Spezialist sundheitswesen haben sich in den letzten Jahr-
sich entsprechend vertieft weitergebildet hat, dass er zehnten entsprechend einem wachsenden Bedarf
seine Tätigkeit auch entsprechend seiner Qualifi- von Fachkompetenzen entwickelt. Sie lassen sich
5.1 · Ärztliche Berufstätigkeit
205 5
teilweise als Assistenzberufe (Pflegekräfte, Arzthel- d. h. die gesetzliche Verpflichtung, ambulante Leis-
ferinnen) oder Fachberufe im Gesundheitswesen tungserbringung bedarfsgerecht zur Verfügung zu
(Physiotherapeuten, Logopäden u. v. a.) kennzeich- stellen. Im Gegenzug fällt ihnen nach den Regelun-
nen und sind jeweils über gesetzliche Grundlagen gen des Sozialgesetzbuches (SGB V) das Behand-
und Ausbildungswege definiert. Einige dieser Be- lungsmonopol für die ambulante Leistungserbrin-
rufe werden auch – entsprechend dem jeweiligen gung zu.
Bedarf an Kanonisierung und Ausdifferenzie- Zu den von den KVen zu treffenden Regelungen
rung – zunehmend »akademisiert«, z. B. über Fach- gehören die sachgerechte Planung und regionale
hochschulausbildungen. sowie fachgebietsbezogene Verteilung der sog. Ver-
Mit dem Psychotherapeutengesetz wurden im tragsarztsitze sowie die Zulassung von Ärzten für
Jahr 1999 die Berufsgruppen der Psychologischen diese Sitze (an der die regionalen Krankenkassen
Psychotherapeuten sowie der Kinder- und Ju- mitwirken). Sie sind zudem zuständig für die sach-
gendlichenpsychotherapeuten geschaffen. Hier gerechte Verteilung der Vergütungen auf die Arzt-
handelt es sich um 2 Berufe, bei denen auf der praxen. Letztere ergeben sich aus Einzelhonoraren
Grundlage eines abgeschlossenen Studiums (Psy- der jeweiligen Arzt-Fachgruppen für definierte
chologie bzw. Sozialpädagogik) eine gesetzlich defi- Einzelleistungen oder Leistungskomplexe (einheit-
nierte Zweitausbildung absolviert wurde. Diese ent- licher Bewertungsmaßstab, EBM). Schließlich sind
spricht im Umfang in etwa den Anforderungen, die die KVen auch zuständig für die Regelung von
im Rahmen der Gebietsarztweiterbildung für ärzt- Behandlungsstandards und Verantwortlichkeiten
liche Psychotherapeuten verlangt werden. Sie wird innerhalb und zwischen Vertragsarztpraxen.
mit einer staatlichen Approbation abgeschlossen. Diese traditionelle Regelung hat der Gesetz-
Bei der Zulassung zur vertragsärztlichen Versor- geber in den letzten Jahren schrittweise und vor-
gung und bei ihrem zugelassenen Leistungsspekt- sichtig verändert und neue Versorgungsformen
rum sind diese 3 Berufe dementsprechend im We- (Selektivverträge) außerhalb dieses sog. Kollektiv-
sentlichen gleichgestellt. Sie rechnen ihre Leistun- vertragssystems zugelassen. Bei diesen neuen Ver-
gen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen ab. sorgungsmodellen spielen die gesetzlichen Kran-
Die unterschiedlichen Berufe im Gesundheits- kenkassen als »Player« im Versorgungssystem eine
wesen ergänzen sich mit ihren jeweils ausdifferen- zunehmend wichtigere Rolle, weil sie selbst für den
zierten Fachkompetenzen in der Behandlung. Das Bereich ihrer Versicherten die Behandlungskon-
bedeutet eine zunehmende Verantwortung für die zepte, die Zugangsregeln und auch die Leistungs-
Koordination der Gesamtbehandlung, die über die erbringer festlegen.
diagnostischen/therapeutischen Aufgaben der ein-
zelnen Beteiligten hinausgeht. Disease-Management-Programme (DMP) Hierbei
handelt es sich um umfassende leitlinienorien-
tierte Behandlungskonzepte, die von Krankenkas-
5.1.4 Wandel von Versorgungsformen sen für bestimmte Gruppen von chronisch Kranken
entwickelt wurden und im Detail festlegen, welche
Die klassische Leistungserbringung im ambulanten Diagnostik zu verwenden und welche Behand-
Sektor erfolgte bisher und erfolgt auch heute noch lungsformen (u. a. Patientenschulungen, 7 Abschn.
überwiegend im Rahmen der Vertragsarztpraxis 8.1.3) bei welchen Befunden in welchem Umfang
eines niedergelassenen Arztes. Zuständig für die einzusetzen sind. Wenn Versicherte sich bei den
Regelungen im Bereich der Vertragsärzte sind die Krankenkassen für diese Programme »einschrei-
regional organisierten Kassenärztlichen Vereini- ben«, so können sie einen »Bonus« der Kranken-
gungen (KVen) als Selbstverwaltungsorganisationen kasse erhalten, sind dafür aber verpflichtet, sich im
der Vertragsärzte (frühere Bezeichnung Kassenärzte). Gegenzug nur von bestimmten, von der Kranken-
kasse für gerade dieses DMP zugelassenen Ärzten
Sicherstellungsauftrag Den KVen obliegt der sog. behandeln zu lassen und die übrigen Regelungen
Sicherstellungsauftrag für den ambulanten Bereich, der DMPs zu befolgen.
206 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

Integrierte Versorgung (IV) Danach ist es den Kran- 5.2 Arztrolle


kenkassen möglich, einzeln oder gemeinsam mit
Leistungserbringern (z. B. Ärzten, Apothekern, H. Faller
Krankenhäusern) Regelungen über pauschalisierte
Vergütungen für bestimmte Patientengruppen zu Lernziele
beschließen. Die Leistungserbringer, die möglichst Der Leser soll
zu verschiedenen Sektoren (z. B. ambulante und 5 Komponenten der Arztrolle nennen können,
stationäre Krankenversorgung) gehören sollen (da- 5 Intra- und Interrollenkonflikte unterscheiden
her: »integrierte« Versorgung), verpflichten sich können.
im Gegenzug zu einer sachgerechten Behandlung
5 entsprechend vorher vereinbarter Standards, zur
sorgfältigen Dokumentation der Verläufe und der 5.2.1 Organisatorische und
internen Verteilung des Honorars auf die Betei- ökonomische Determinanten
ligten. des ärztlichen Handelns

Hausarztmodelle Die Krankenkassen können ihren Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Der Arzt/die
Patienten Versorgungskonzepte anbieten, innerhalb Ärztin besitzt eine hohe Therapiefreiheit, da er/sie
derer sie Fach-/Gebietsärzte nur noch nach Über- selbst über die Therapie entscheidet. Zwar bezieht
weisung durch einen Hausarzt aufsuchen können. er natürlich auch die Wünsche des Patienten ein,
Die Krankenkassen können den Patienten für die aber letztlich trägt er allein die Verantwortung für
Einschreibung in ein solches Modell Boni bieten, sein ärztliches Handeln. Als Inhaber einer Praxis ist
z. B. Nachlässe bei den Mitgliedsbeiträgen oder an- der Arzt freier Unternehmer. Zugleich ist er in die
dere Vergünstigungen. ökonomischen Rahmenbedingungen des Sozial-
versicherungssystems eingebunden. 90 % seiner Pa-
Medizinische Versorgungszentren (MVZ) Vertrags- tienten sind Mitglieder einer gesetzlichen Kranken-
ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen können kasse, nur 10 % sind privat versichert. Damit unter-
sich zu Medizinischen Versorgungszentren zusam- liegt der Arzt dem Honorarsystem der gesetzlichen
menschließen, die die Patienten gemeinsam und Krankenversicherung. Da das Vergütungssystem
ggf. auch unter Einbeziehung weiterer, angestellter Auswirkungen auf das diagnostische und therapeu-
Fachkräfte behandeln. tische Handeln haben kann, indem es z. B. Anreize
setzt, möglichst viele Leistungen zu erbringen, wur-
Tagesklinische oder teilstationäre Behandlungsfor- de es in der Vergangenheit immer wieder geändert.
men Diese Konzepte, die speziell im psychiatri- Durch das Sozialgesetzbuch wird der Arzt explizit
schen Bereich schon seit längerem bekannt sind, auf die Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und
gewinnen zunehmend an Bedeutung, beispielsweise Zweckmäßigkeit seiner Maßnahmen verpflichtet.
in der medizinischen Rehabilitation oder in der Er soll seine Behandlung möglichst kostengünstig
Geriatrie. Sie ermöglichen eine deutlich intensivere erbringen (Effizienz, 7 Abschn. 3.8.4).
Behandlung als die reine ambulante Behandlung,
die sich auf einzelne Behandlungseinheiten pro Wo-
che beschränkt, ermöglicht dem Patienten aber im 5.2.2 Normen der Arztrolle
Unterschied zur stationären Behandlung einen Ver-
bleib in der eigenen Wohnung. Dies ist zumeist mit Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons be-
einer Kostenersparnis verbunden und erlaubt eine schrieb die folgenden Erwartungen an ärztliches
höhere Alltagsnähe der Behandlung. Verhalten (Arztrolle).
5.2 · Arztrolle
207 5
sich die Motivstruktur: Der Altruismus nimmt ab,
Komponenten der Arztrolle das sachlich-technische Interesse nimmt zu (Pro-
5 Funktionale Spezifität: Der Arzt soll sich auf fessionalismus). Doch auch nach Abschluss des
seinen ärztlichen Auftrag konzentrieren, Studiums bleibt für viele angehende Ärzte der Arzt-
Krankheiten zu behandeln. Seine fachliche beruf noch immer in höherem Maße eine Berufung
Kompetenz kann sich sogar nur auf ein spe- als für andere Hochschulabsolvierende.
zifisches Teilgebiet der Medizin erstrecken. Der Anteil derjenigen, die ein angefangenes
Beispiel: Ein Facharzt soll nicht auf einem Medizinstudium erfolgreich abschließen, beträgt
ihm fremden Gebiet tätig werden, sondern 95 % und liegt deutlich höher als in anderen Studien-
einen Patienten gegebenenfalls überweisen. fächern. 91 % würden erneut Medizin studieren. Im
5 Affektive Neutralität: Ein Arzt darf sich Vergleich zu Studienabsolventen anderer Fächer
nicht von seiner Sympathie oder Antipathie werden bei den beruflichen Werthaltungen von
gegenüber einem Patienten leiten lassen. Medizinern Kollegialität untereinander sowie die
Affektive Neutralität heißt aber nicht, emo- Betreuung und Unterstützung anderer Menschen
tional gleichgültig zu sein. Vielmehr soll besonders hoch gewichtet. In der Bedeutung von
der Arzt sich empathisch in die Sorgen der Prestigeorientierung, Autonomie oder Fortschritts-
Patienten hineinversetzen können. orientierung gibt es keine Unterschiede zu anderen
5 Universalismus: Der Arzt soll allen Men- Studienabsolventen. Auch nach Abschluss des Stu-
schen gleichermaßen helfen, unabhängig diums wird Altruismus noch immer relativ hoch
von ihren persönlichen Merkmalen. Er soll bewertet, aber auch Leistung als Lebensziel genannt.
niemanden bevorzugen, z. B. weil er der- Erst in den ersten Berufsjahren erleidet das be-
selben sozialen Schicht wie der Arzt an- ziehungsorientierte Ideal ärztlicher Tätigkeit einen
gehört. deutlichen Dämpfer. Kollegialität und Helfenwollen
5 Kollektivitätsorientierung: Der Arzt soll werden – allerdings auf hohem Niveau – etwas we-
sich am Wohl der Gemeinschaft orientieren. niger wichtig. Prestige- und Aufstiegsorientierung
Er soll uneigennützig handeln, d. h. dia- gewinnen an Bedeutung. Im Vergleich zu anderen
gnostische oder therapeutische Maßnah- Akademikern klagen Ärzte nach den ersten Berufs-
men nicht allein zur Steigerung des eige- jahren stärker über geringen Handlungsspielraum,
nen Gewinns durchführen. negative Beziehungen am Arbeitsplatz, eine be-
sonders hierarchische Führung und eine insgesamt
niedrigere Arbeitszufriedenheit. Vereinbarkeit von
Angesichts des Wandels der Arzt-Patient-Bezie- Familie und Beruf ist für 96 % wichtig.
hung hin zu einer stärkeren Kooperation zwischen In der Assistenzarztzeit steigen sowohl beruf-
gleichberechtigten Partnern (partizipative Ent- liches Engagement als auch Belastungserleben wei-
scheidungsfindung) werden aktuell neue Rollen- ter an. Die Ärztinnen und Ärzte beschreiben sich als
erwartungen an den Arzt gestellt (7 Abschn. 5.4.4). »gestresst, aber zufrieden«. Während zum Stu-
dienabschluss noch kaum Unterschiede zwischen
Frauen und Männern bestehen, werden diese in der
5.2.3 Motivation zum Arztberuf Assistenzarztzeit zunehmend deutlicher. Nahezu
20 % der Ärztinnen sind dann inzwischen Mütter
Bei Studienanfängern der Medizin steht das Motiv, und betreuen ihre Kinder, ohne eine anschließende
anderen Menschen helfen zu wollen (Altruismus), Arbeitsplatzgarantie zu haben. Frauen, die als Ärz-
im Vordergrund. Daneben kommen aber auch an- tinnen tätig sind, schätzen ihre Aufstiegschancen
dere Motive, wie naturwissenschaftliches Interesse, deutlich niedriger ein als Männer, was auch mit
Freude am Umgang mit Menschen, einen heraus- den objektiven Verhältnissen übereinstimmt (60 %
fordernden Beruf ergreifen zu wollen etc., zum Tra- weibliche Medizinstudenten, wenige Professorin-
gen. Im Laufe des Studiums und der beruflichen nen oder Chefärztinnen). Ihr berufliches Selbstver-
Weiterbildung (berufliche Sozialisation) verändert trauen sinkt. Dieser Trend lässt sich bei anderen
208 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

Akademikerinnen nicht feststellen. Insgesamt ist 5.2.5 Psychische und gesundheitliche


die erste Berufstätigkeit offensichtlich durch Er- Belastungen des Arztberufes
nüchterung gekennzeichnet.
Nach einer anderen Befragung an 7 Universitä- Die große Mehrzahl der niedergelassenen Ärzte be-
ten fühlt sich nur ein Drittel der Studienabsolventen lastet das Ausmaß der Bürokratie im Gesundheits-
gut auf den klinischen Alltag vorbereitet. Insbeson- wesen und die Einflussnahme der Krankenkassen.
dere wird bedauert, dass zu wenig psychosoziale Immer mehr Vorschriften, Wirtschaftlichkeitsdruck
Kompetenz im Umgang mit den Patienten vermit- und Kontrollmechanismen erodieren die ärztliche
telt wurde. Als Berufsziel gab die Mehrheit die eige- Freiheit. Klagen über Regulierung, Bürokratisie-
ne Niederlassung an. Ein gutes Drittel möchte an rung und Budgetierung und zu wenig Zeit für die
5 einer Klinik bleiben. Über 90 % streben eine Fach- eigentliche Arbeit mit dem Patienten stehen an der
arztausbildung an. An der Spitze der Fächer liegt Spitze der Faktoren, die Ärzte mit ihrem Beruf
Innere Medizin, gefolgt von Allgemeinmedizin, unzufrieden machen. Auch wenn zwei Drittel der
Kinder- und Jugendmedizin und Chirurgie, bei Hausärzte in Deutschland mit ihrer beruflichen
Frauen auch Gynäkologie. Tätigkeit zufrieden sind, ist der Anteil sehr unzu-
friedener Hausärzte höher als in anderen Ländern.
Hausärzte arbeiten im Durchschnitt 50 Stunden
5.2.4 Ethische Entscheidungskonflikte pro Woche und sehen 250 Patienten, doppelt so
ärztlichen Handelns viele wie in den meisten anderen Ländern: Dabei ist
die Zeit pro Patient mit 9 min im Median am ge-
Ganz im Vordergrund der ethischen Normen ärzt- ringsten. In den Kliniken kommen die starre Hier-
lichen Handelns steht die Verpflichtung, Leben zu archie und lange, unflexible Arbeitszeiten mit häu-
erhalten (Hippokratischer Eid). Mit dieser Ver- figen Bereitschafts- und Nachtdiensten (geringe
pflichtung können Ärzte in bestimmten Situationen Vereinbarkeit von Beruf und Familie) dazu.
in Konflikt geraten. Beispiele: wenn eine Patien- Wegen der belastenden Arbeitsbedingungen
tin  einen Schwangerschaftsabbruch durchführen in deutschen Krankenhäusern begannen in den
möchte; wenn ein schwerkranker, unheilbarer Pa- letzten Jahren immer weniger Ärzte nach dem
tient das Bedürfnis nach Sterbehilfe äußert oder Studium mit einer Tätigkeit im Krankenhaus und
wenn die Angehörigen eines Komapatienten die immer mehr suchten sich stattdessen eine Stelle in
Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen for- Wirtschaft oder Verwaltung oder absolvierten ihre
dern. Um hier die Ärzte von Entscheidungsdruck Facharztweiterbildung im europäischen Ausland,
zu entlasten und ihnen Orientierungen zu bieten, wo Arbeitsbedingungen und Bezahlung besser sind.
werden in letzter Zeit vermehrt Anstrengungen des Dies hat in vielen Kliniken zu einem Ärztemangel
Gesetzgebers unternommen (z. B. Patientenverfü- geführt.
gung, 7 Abschn. 8.7.8). Im Vergleich zu anderen Berufen ist bei Ärzten
das Morbiditäts-, Mortalitäts-, Sucht- und Suizid-
> Wenn ein Patient den Wunsch nach Sterbe-
risiko erhöht. Hierzu mögen die hohen Anforde-
hilfe äußert, steht dahinter häufig ein medi-
rungen des Arztberufes beitragen, wie tägliche
zinisches Problem, das prinzipiell lösbar ist,
Konfrontation mit Krankheit, Leiden und Tod,
z. B. eine Depression oder nicht ausreichend
lange und ungünstige Arbeitszeiten, Nacht- und
behandelte Schmerzen. Wenn man diese
Notdienste, der Zwang, lebenswichtige Entschei-
Probleme angemessen behandelt, lässt der
dungen zu treffen, und die Einschränkungen des
Sterbewunsch meist nach.
Freiheitsspielraums durch die ökonomischen und
organisatorischen Rahmenbedingungen. Das Miss-
verhältnis zwischen Anstrengung und Erholung
kann zu psychischer Belastung führen, bis hin zu
einem Gefühl, erschöpft und ausgebrannt zu sein
(Burn-out-Syndrom).
5.3 · Krankenrolle
209 5
Ein Risikofaktor stellt auch das sog. Helfer- Begriff Burn-out-Syndrom entstammt der Arbeits-
syndrom dar. Damit meint man ein übermäßiges psychologie. Trotz der Bezeichnung Syndrom handelt
Bedürfnis, anderen helfen zu wollen, um dadurch es sich dabei nicht um ein klinisch definiertes Syn-
selbst ein Gefühl von Unabhängigkeit und Stärke drom oder gar eine eigenständige Diagnose. Manch-
aufrechtzuerhalten. Dahinter verbirgt sich beim mal wird Burn-out-Syndrom auch als beschönigende
Helfer oft ein Gefühl von eigener Hilfsbedürftigkeit. Umschreibung für eine Depression verwandt.
Dieses wird jedoch nicht akzeptiert und lediglich
sozusagen stellvertretend beim Patienten wahr- Strategien gegen Burn-out Burnout-Symptome
genommen, dem man dann in altruistischer Weise merkt man selbst meist erst spät, deshalb ist es wich-
Zuwendung und Sorge zukommen lässt. tig, Freunde danach zu fragen, um schon Frühwarn-
signale zu erkennen. Man sollte sich dann zunächst
Rollenkonflikte Ärzte stehen im Spannungsfeld fragen, was einen am stärksten belastet: Sind es die
von Patienten, Angehörigen, Kollegen, Kostenträ- überfordernden Arbeitsbedingungen bzw. Kon-
gern u. a. Hieraus können unterschiedliche Er- flikte mit den Kollegen oder überfordert man sich
wartungen an ärztliches Handeln resultieren, die eher selbst durch zu hoch gesteckte Ziele und
im Konflikt miteinander stehen. Beispiel: Der Pa- eigenen Perfektionismus? Äußere Faktoren lassen
tient möchte ein teures »Originalmedikament« ver- sich möglicherweise verändern, indem man Ar-
schrieben bekommen, die Krankenkasse erstattet beitsabläufe anders gestaltet (weniger Überstunden,
nur ein billigeres »Nachahmerpräparat«. Wenn der mehr Pausen) oder die Gesprächskultur im Team
Arzt ihm dennoch das teurere Medikament ver- verbessert (über Fehler sprechen, sich wechselseitig
schreibt, um ihn nicht an einen Konkurrenten zu helfen). Hierbei können externe Supervision bzw.
verlieren, der sein diesbezügliches Budget noch Coaching oder auch eine Balintgruppe helfen
nicht ausgeschöpft hat, läuft er Gefahr, das Mittel (7 Abschn. 5.4.9). Zugleich sollte man von idealisti-
aus der eigenen Tasche bezahlen zu müssen. Da sich schen Zielen zu realistischen wechseln, eigene Leis-
diese konflikthaften Erwartungen innerhalb der tungsansprüche reduzieren, seine beruflichen Mo-
Arztrolle abspielen, spricht man von einem Intra- tive und Perspektiven überdenken und dem Bereich
rollenkonflikt. von Freizeit, Erholung und Freunden mehr Raum
Beim Interrollenkonflikt gerät die Arztrolle mit geben.
anderen Rollenerwartungen in Konflikt, z. B. mit
der Mutterrolle bei einer jungen Ärztin, die sowohl
die Anforderungen des Berufs (lange Arbeitszeit) 5.3 Krankenrolle
und des Mutterseins (für ihr Kind Zeit haben) unter
einen Hut bringen will. H. Faller

Klinik: Burn-out-Syndrom Lernziele


Als Burn-out-Syndrom wird ein Erschöpfungszu- Der Leser soll
stand bezeichnet, der entsteht, wenn Menschen sich 5 Komponenten der Krankenrolle nennen können,
von der stressreichen Arbeitssituation nicht mehr 5 Ebenen der Krankheitsbewältigung beschreiben
ausreichend erholen können. Er umfasst Zeichen können.
emotionaler und körperlicher Erschöpfung, Verlust
an Energie, sozialen Rückzug, psychosomatische Be-
schwerden, Nervosität, Depressivität und Gereiztheit 5.3.1 Merkmale der Krankenrolle
bis hin zu Alkoholmissbrauch und anderen Süchten.
Begünstigt wird die Entstehung eines Burn-out-Syn- Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons, der
droms durch Perfektionismus und Idealismus, den schon die Arztrolle definierte (7 Abschn. 5.2.2), hat
Wunsch, alles selbst zu machen, und eine zu geringe auch die 4 Dimensionen der Krankenrolle heraus-
Möglichkeit, sich von seiner Arbeit zu distanzieren gearbeitet, die sowohl Verpflichtungen als auch
und auf die persönlichen Bedürfnisse zu achten. Der Entlastungen umfasst. Seine idealtypische Be-
210 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

schreibung steht jedoch oft mit der Wirklichkeit in 5.3.2 Krankheitsbewältigung (Coping)
Kontrast.
Psychosoziale Belastungen Schwer und chronisch
Kranke sind mit einer Reihe von psychosozialen
Komponenten der Krankenrolle
Belastungen konfrontiert, die bewältigt werden
5 Entbindung von Rollenverpflichtungen:
müssen.
Kranke müssen ihre sozialen Rollen in Beruf
und Familie nicht ausüben. Die ärztliche
Diagnose einer Krankheit hat hier eine Belastungen bei chronisch Kranken
wichtige soziale Funktion: Sie führt zur Be- 5 Eingeschränkte Leistungs- und Funktions-
scheinigung von Arbeitsunfähigkeit (Krank- fähigkeit
5 schreibung). Diese soziale Entlastung kann 5 Aufgabe von Alltagsaktivitäten
jedoch auch missbraucht werden. Beispiele: 5 Unsicherer Verlauf, Lebensbedrohlichkeit
Der Krankenstand ist an Montagen und 5 Körperliche Beschwerden
Freitagen höher als an den übrigen Tagen 5 Psychische Belastung (Depression, Angst)
der Woche. 5 Infragestellung sozialer Rollen in Beruf und
5 Entlastung von der Verantwortung für die Familie
Krankheit: Kranke werden für ihre Situation 5 Einschränkung der sozialen Beziehungen
nicht verantwortlich gemacht. Dies erleich- 5 Abhängigkeit von kontinuierlicher Therapie
tert es ihnen, ohne Angst vor Stigmatisie- 5 Notwendigkeit von Lebensstiländerungen
rung über ihre Krankheit zu sprechen und
Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dem steht
jedoch entgegen, dass viele Zivilisations-
Krankheitsbewältigung (Coping) Krankheitsbewäl-
krankheiten durch ein ungünstiges Gesund-
tigung (syn. Krankheitsverarbeitung) ist definiert
heitsverhalten, wie Überernährung, Be-
als das Bestreben, Belastungen, die infolge einer Er-
wegungsmangel und Rauchen, gefördert
krankung auftreten, psychisch zu verarbeiten und
werden.
auszugleichen. Verarbeitungsprozesse finden auf
5 Verpflichtung, gesund werden zu wollen:
3 Ebenen statt: der kognitiven, emotionalen und
Krankheit gilt als normabweichendes Ver-
Handlungsebene (. Abb. 5.1).
halten. Deshalb sollen sich Kranke darum
bemühen, möglichst schnell wieder gesund
zu werden. Für manche Kranken kann die
Ebenen der Krankheitsbewältigung
Krankenrolle jedoch attraktiv sein, weil sie
5 Kognitive Ebene: Kranke versuchen,
einen Ausweg aus schwierigen Lebenssitua-
sich auf ihre Beschwerden einen Reim zu
tionen bietet (»Flucht in die Krankheit«).
machen: Was ist das? Wo kommt das her
5 Verpflichtung, ärztliche Hilfe in An-
(Kausalattribution)? Was kann mir am bes-
spruch zu nehmen und mit dem Arzt zu
ten helfen? Sie entwickeln eine subjektive
kooperieren: Die Mitarbeit bei der ärzt-
Krankheitstheorie (7 Abschn. 1.2.4).
lichen Behandlung wird Compliance oder
5 Emotionale Ebene: Kranksein kann Angst,
Adhärenz genannt. Empirische Studien
Niedergeschlagenheit oder Ärger auslösen.
zeigen, dass die Compliance nicht optimal
Diese emotionale Belastung kann in ihrer
ist (7 Abschn. 5.5.2).
Intensität jedoch unterschiedlich stark sein
und von vorübergehenden Gefühlen von
Trauer, Ängstlichkeit und Verletzlichkeit bis
hin zum Vollbild einer psychischen Störung,
z. B. einer Depression, reichen. Die Prä-
valenz einer Depression beträgt beispiels-
5.3 · Krankenrolle
211 5

. Abb. 5.1 Ebenen der Krankheitsbewältigung

Simulation ist die bewusste Vortäuschung von


weise bei Brustkrebs im Durchschnitt Beschwerden. Dissimulation ist das Gegenteil: He-
20 %. Bei einem Herzinfarkt ist sie ebenso runterspielen von Beschwerden, wenn diese einen
hoch. Nachteil mit sich bringen würden, z. B. bei einem
5 Handlungsebene: Das mit der Krankenrolle Einstellungsgespräch.
einhergehende Verhalten nennt man Krank- Diese Aspekte des Krankheitsverhaltens weisen
heitsverhalten. Von der ersten Wahrneh- auf die Bedeutung wirtschaftlicher, rechtlicher und
mung körperlicher Beschwerden bis zur In- familiärer Einflüsse auf die Krankenrolle hin. Ein
anspruchnahme medizinischer Hilfe werden prägnantes Beispiel ist die in den vergangenen Jahr-
mehrere Stadien des Hilfesuchens unter- zehnten herrschende Tendenz, ältere Arbeitnehmer
schieden (7 Abschn. 9.1.1). Bevor sie einen wegen ihres Gesundheitszustands frühzuberenten,
Arzt aufsuchen, versuchen viele Kranke, ihre um Personal abzubauen. Sozialversicherung, Ar-
Beschwerden zunächst mit eigenen Mitteln beitsmarktpolitik und Betriebe arbeiteten hier
in den Griff zu bekommen. Sie verwenden Hand in Hand, ohne die nachteiligen Folgen für
beispielsweise Medikamente, die sie zu die Betroffenen wie auch für den Arbeitsmarkt zu
Hause haben, oder nehmen die Hilfe ihrer sehen: Den Betrieben gingen wertvolles Erfah-
Angehörigen in Anspruch (Laiensystem). rungswissen und Kompetenzen verloren. Die Lohn-
nebenkosten stiegen an, weil die Frühpensionie-
rungen finanziert werden mussten, was zu einem
zusätzlichen Arbeitsplatzabbau anstelle des erwar-
5.3.3 Wirtschaftliche, rechtliche teten Gewinns an Arbeitsplätzen führte.
und familiäre Einflüsse Auf der anderen Seite sinkt in Zeiten hoher
Arbeitslosigkeit der Krankenstand, sei es, weil
Bei chronisch Kranken, die verschiedene Sektoren Menschen bei Bagatellerkrankungen davor zurück-
des Gesundheitssystems durchlaufen, spricht man schrecken, sich krankschreiben zu lassen, sei es,
von Patientenkarrieren. dass Menschen auch dann zur Arbeit gehen, wenn
Als sekundären Krankheitsgewinn bezeichnet sie besser zu Hause bleiben sollten, aus Angst, den
man positive Folgen einer Erkrankung, wie z. B. Ent- Arbeitsplatz zu verlieren.
lastung von Pflichten in der Familie oder im Beruf
(Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung), die das Krank-
heitsverhalten positiv verstärken (7 Abschn. 2.3.6).
Als Aggravation wird die Tendenz beschrieben,
Beschwerden übertrieben darzustellen, um damit
einen Vorteil zu erzielen.
212 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

5.4 Kommunikation und Interaktion

H. Faller

Lernziele
Der Leser soll
5 die 4 Aspekte der Kommunikation beschreiben
können,
5 die wichtigsten Bedürfnisse von Kranken nennen
können,
. Abb. 5.2 Die 4 Aspekte der Kommunikation
5 5 Modelle der Arzt-Patient-Beziehung beschreiben
können,
5 die Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung der ein expliziter, bewusster Inhalt an den Empfän-
benennen können. ger vermittelt wird, kommentiert er zugleich in un-
bewusster Weise durch nonverbale Kommunika-
tion die Beziehung, die er zum Empfänger besitzt.
5.4.1 Kommunikationstheorien Er vermittelt, was er von seinem Gegenüber hält,
gibt aber zudem auch etwas über sich selbst preis
Kommunikation ist der Austausch von Information (Selbstoffenbarung) und versucht mehr oder min-
zwischen einem Sender und einem Empfänger. der offen, den anderen zu einer bestimmten Hand-
Kommunikation geht meist nicht nur in eine Rich- lung zu bewegen (Appell). Eine Nachricht kann also
tung, sondern bewegt sich in 2 Richtungen (rezi- 4 verschiedene Botschaften gleichzeitig enthalten.
prok). Der Empfänger gibt dem Sender Rückmel- Die letzten beiden Punkte stellen eine Erweiterung
dung über dessen gesendete Signale. des Modells von Watzlawick durch Schulz von Thun
dar, der damit 4 Aspekte der Kommunikation un-
terscheidet (. Abb. 5.2).
Axiome der menschlichen Kommunikation
nach Paul Watzlawick
Metakommunikation Metakommunikation bedeu-
5 Man kann nicht nicht kommunizieren.
tet, die aktuell stattfindende Kommunikation selbst
Auch Schweigen hat eine kommunikative
zum Thema zu machen. Wir sprechen also über
Bedeutung.
unsere Beziehung und wie wir gerade miteinander
5 Kommunikation hat einen Inhalts- und
umgehen. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn
einen Beziehungsaspekt.
Störungen der Kommunikation auftreten, man sich
5 Kommunikationsabläufe werden seitens
sozusagen nicht versteht. Verfahrene Gespräche
der Partner in kurze Sequenzen unter-
lassen sich durch Metakommunikation wieder in
gliedert (Interpunktion).
Gang setzen.
5 Kommunikation erfolgt sowohl digital (z. B.
sprachlich) als auch analog (z. B. nonverbal).
5 Kommunikation kann symmetrisch oder
5.4.2 Formen der Kommunikation
komplementär sein, je nach der Gleichheit
oder Unterschiedlichkeit der Partner.
Kommunikation kann verbal, d. h. durch Sprache
vermittelt, oder nonverbal, d. h. mittels Mimik,
Gestik, Blickkontakt und Körperhaltung, erfolgen.
Inhalts- und Beziehungsebene Bei einem kommu- Als paraverbale Kommunikation bezeichnet man
nikativen Akt lassen sich die Ebenen des Sach- die Begleiterscheinungen der Sprache, wie z. B.
inhalts (»Worum geht es?«) und der Beziehung Sprachmelodie, Lautstärke oder Tonhöhe. Sprach-
(»Wie stehen wir zueinander?«) unterscheiden: liche Kommunikation sollte möglichst klar, prä-
Während durch verbale Kommunikation vom Sen- gnant und präzise sein, aber auch zur Erhöhung der
5.4 · Kommunikation und Interaktion
213 5
Anschaulichkeit Beispiele verwenden. Menschen Krebskranken hat beispielsweise gezeigt,
denken oft in Bildern und Vorstellungen, die dass zwischen 80 und 95 % der Patienten über
sprachlich nur schwer auszudrücken sind. Deshalb ihre Erkrankung, deren Behandlung und Pro-
unterläuft bei sprachlicher Kommunikation immer gnose möglichst vollständig informiert werden
auch ein Informationsverlust. Dies gilt insbesonde- wollen. Das Informationsbedürfnis wird meist
re für den Ausdruck von Gefühlen, die sich besser nicht ausreichend befriedigt.
nonverbal vermitteln. Der Gefühlsausdruck ist zu-
Hintergrundinformation
dem unserer willkürlichen Kontrolle teilweise ent- Health literacy
zogen. Dies kann dazu führen, dass sich verbal und Unter health literacy wird die Fähigkeit verstanden, Gesund-
nonverbal unterschiedliche Botschaften mitteilen. heitsinformation zu lesen, zu verstehen und zu benutzen, um
Persönliche Kommunikation geschieht von gesundheitsbezogene Entscheidungen zu treffen und Thera-
pieempfehlungen zu folgen. Im Deutschen wird der Begriff
Angesicht zu Angesicht, mediale unter Benutzung
meist mit Gesundheitskompetenz übersetzt. Gesundheits-
von Medien, wie Telefon, Brief oder E-Mail. Medi- kompetenz umfasst jedoch mehr als Verständnis und Wissen,
ale Kommunikation wird von vielen Menschen als sondern auch Motivation zu gesundheitsbezogenem Ver-
schwieriger empfunden, weil nonverbale Signale halten, emotionale Einstellung (z. B. Selbstwirksamkeit) und
fehlen, die für die Beziehungsgestaltung wichtig entsprechende Fertigkeiten. Aus Studien in den USA weiß
man, dass ein großer Anteil von Patienten, nach einigen Stu-
sind. Persönliche Kommunikation ist meist münd-
dien bis zur Hälfte, große Schwierigkeiten damit hat, grund-
lich (im Unterschied zu schriftlich, wie z. B. ein legende Informationen zu ihrer Gesundheit zu verstehen,
Arztbrief). Direkte Kommunikation spricht die ge- z. B. wie und warum sie ihre Medikamente einnehmen sollen.
wünschten Ziele und Absichten offen und aus- Dies hat nachteilige Folgen für die Behandlungsergebnisse
drücklich (explizit) an, indirekte Kommunikation und erhöht das Risiko von Behandlungsfehlern. Es führt nicht
weiter, dem Patienten dafür die Schuld zu geben. Vielmehr
tut dies in verdeckter, verschlüsselter (impliziter)
muss es das Ziel sein, ihn in die Lage zu versetzen (empower-
Weise. Kranke sind sehr sensibel für indirekte Mit- ment), die für ihn wichtige Information zu nutzen. Zu diesem
teilungen, wie aus der folgenden Äußerung eines Zweck muss die Informationsgabe an seine Verständnismög-
Krebskranken hervorgeht: »Als der Arzt sich zu mir lichkeiten angepasst werden: Hilfreich ist, die Information
auf die Bettkante setzte, wusste ich, dass es Krebs möglichst einfach zu vermitteln, z. B. mit sog. Entscheidungs-
hilfen (decision aids) unter Verwendung graphischer Illustra-
ist«. Die Unterscheidung von direkt und indirekt
tionen, medizinischen Fachjargon zu vermeiden und den Pa-
darf nicht mit derjenigen von direktiv und non- tienten zu ermutigen, Fragen zu stellen. Insbesondere Risiko-
direktiv verwechselt werden. Bei der direktiven information wird oft schlecht verstanden. Patienten wissen
Kommunikation bestimmt der Arzt den Gang des nicht, wie sie relative oder absolute Risiken oder Prozentan-
Gesprächs, bei der nondirektiven überlässt er dies gaben interpretieren sollen. Dies zeigt sich beispielsweise
darin, dass der Nutzen einer Früherkennungsmaßnahme, wie
dem Patienten (7 Abschn. 6.2.3).
der Mammographie, von den Patienten um mehrere Größen-
ordnungen überschätzt wird. Ein Beispiel für eine gut ver-
ständliche Form der Risikokommunikation unter Benutzung
5.4.3 Bedürfnisse von Kranken des Number-needed-to-treat-Konzepts gibt 7 Abschn. 3.7.5.

Bedürfnis nach Mitentscheidung Mehr als 80 % der


Deutschen wollen gemeinsam mit ihrem Arzt über
Bedürfnisse von Kranken
ihre Behandlung entscheiden, aber nur 45 % konn-
5 Informationsbedürfnis
ten diesen Wunsch in die Tat umsetzen. Auch bei
5 Bedürfnis nach Mitwirkung bei medizini-
älteren Patienten und Patienten mit niedrigerem
schen Entscheidungen (partizipative Ent-
Bildungsgrad ist der Wunsch mitzuentscheiden
scheidungsfindung)
stark ausgeprägt, wenn auch etwas geringer als bei
5 Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung
jungen Menschen und denjenigen mit hoher Bil-
dung. Auch der Schweregrad der Erkrankung
> Es kann als gesichert gelten, dass Kranke scheint eine Rolle zu spielen. Während Patienten
ein großes Informationsbedürfnis besitzen. mit Diabetes mellitus oder chronischen Atemwegs-
Eine große Zahl von Untersuchungen mit erkrankungen häufig bereit sind, selbst Entschei-
214 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

dungen zu treffen, scheint dies bei Krebskranken scheiden, wann sie professionelle Hilfe benötigen.
unterschiedlich stark der Fall zu sein. Den Wunsch, Sie sollen die nötigen Kompetenzen und Fertigkei-
bei Entscheidungen mitzuwirken, äußern in dieser ten erwerben, um eigenverantwortlich mit der Er-
Population je nach Studie zwischen 35 und 85 % der krankung umzugehen (Selbstmanagement) und
Befragten. Die Aufforderung, bei existentiellen Ent- informierte Entscheidungen (informed choice) über
scheidungen Verantwortung zu übernehmen, kann ihre Lebensführung treffen zu können.
bei manchen Krebskranken die Angst auslösen, sich
falsch zu entscheiden. Sie fühlen sich dann u. U. Verwirklichung in der Praxis Lässt sich dieses Ideal-
überfordert und von ihrem Arzt alleingelassen. Da modell auch in der Praxis realisieren? Zum Inte-
man es einem Patienten nicht ansehen kann, ob er resse der Ärzte an einer größeren Partizipation der
5 mitentscheiden will oder nicht, bleibt nur eines: ihn Patienten gibt es bisher kaum Studien. Dass in der
danach fragen. Onkologie tätige Ärzte in der großen Mehrzahl ein
In der Praxis kann eine fehlende Übereinstim- angemessenes Verständnis davon besitzen, was
mung zwischen Wunsch und Realisierung einer shared decision-making beinhaltet, konnte jüngst
kooperativen Mitwirkung an Entscheidungen in gezeigt werden. Ärzte unterschätzen aber häufig das
beiden Richtungen vorkommen: In einer Studie mit Informationsbedürfnis ihrer Patienten. Auch kann
Brustkrebspatientinnen gaben 25 % der befragten man sich denken, dass Ärzte durch das Empower-
Frauen an, an der Behandlungsentscheidung weni- ment der Patienten verunsichert werden (»schwie-
ger aktiv beteiligt gewesen zu sein, als sie es sich rige Patienten«) und dass sie sich durch die Notwen-
gewünscht hätten. 26 % hatten hingegen eine ak- digkeit, emotionale Aspekte anzusprechen, über-
tivere Rolle einnehmen müssen, als es eigentlich fordert fühlen, weil sie vielleicht die hierfür nötige
ihrem Wunsch entsprochen hätte. Stimmen Wunsch Kompetenz nicht besitzen. Insbesondere die ad-
und Wirklichkeit überein, sind Patienten mit dem äquate Vermittlung der Unsicherheit eines Behand-
Arztkontakt zufriedener und haben eine bessere lungsergebnisses ist nicht einfach (7 Abschn. 3.7.5).
Lebensqualität.
> Ärzten fällt es oft schwer, einzuschätzen,
wie stark Patienten bei Entscheidungen mit-
wirken wollen. Manche Kranke werden des-
5.4.4 Partizipative
halb stärker, andere hingegen weniger stark
Entscheidungsfindung
in den Entscheidungsprozess einbezogen,
als sie selbst es wollen. Deshalb ist es wichtig,
Die Werte und Vorstellungen der Patienten müssen
den Patienten immer zuerst danach zu
in medizinische Entscheidungen einbezogen wer-
fragen, wie sehr er mitentscheiden will.
den, wenn diese dem Patienten nutzen sollen. Dies
kann am besten dadurch erfolgen, dass Patienten bei
Entscheidungen in gleichberechtigter Weise mitwir-
ken (partizipative Entscheidungsfindung; shared 5.4.5 Modelle der Arzt-Patient-
decision-making). Für die meisten Patienten ist dies Beziehung
gegenwärtig noch nicht selbstverständlich, häufig
müssen erst die Voraussetzungen dafür geschaffen
werden. Dies geschieht durch Empowerment.
Modelle der Arzt-Patient-Beziehung
5 Paternalistisches Modell
Empowerment Empowerment bedeutet, Patienten
5 Konsumentenmodell (informatives Modell)
dazu zu befähigen, bei medizinischen Entschei-
5 Partnerschaftliches Modell
dungen als gleichberechtigte Partner aktiv mitzu-
wirken. Chronisch Kranke sollen zu Experten für
ihre Krankheit werden. Sie sollen in die Lage ver-
setzt werden, die Bewältigung ihrer Krankheit in Paternalistisches Modell Im paternalistischen Mo-
die eigene Regie zu übernehmen und selbst zu ent- dell, das der traditionellen Form der Arzt-Patient-
5.4 · Kommunikation und Interaktion
215 5
Beziehung entspricht, entscheidet der Arzt im Damit der Patient seine Wertvorstellungen,
wohlverstandenen Interesse des Patienten. Der Pa- Ziele, Erwartungen und Befürchtungen äußern
tient verhält sich passiv. Angesichts der vielfältigen kann, ist es erforderlich, dass eine Gesprächsatmos-
Informationsmöglichkeiten, die Patienten heute phäre geschaffen wird, die ihm die Wichtigkeit sei-
besitzen, wirkt dieses Modell nicht mehr zeitgemäß, ner eigenen Sichtweise vermittelt und ihn ermutigt,
insbesondere weil es die Patientenautonomie nicht seine subjektiven Krankheitstheorien und Präferen-
ausreichend respektiert. Berechtigung kann es aber zen zu äußern. Hierbei muss der Arzt auch die vom
in Situationen haben, in denen die Fähigkeit des Pa- Patienten gewünschte Rolle bei der Entscheidungs-
tienten, autonome Entscheidungen zu treffen, stark findung explorieren. Denn Patienten wollen in un-
eingeschränkt ist (Notfall, akute Psychose) oder er terschiedlichem Ausmaß in die Entscheidungsfin-
sich angesichts der schwer überschaubaren Trag- dung einbezogen werden. Manche Patienten über-
weite einer Entscheidung überfordert fühlt. lassen die letzte Entscheidung ihrem Arzt, wollen
aber, dass dieser zuvor ihre Meinung gehört hat.
Konsumentenmodell In Gegensatz zum paterna- Auch der Prozess der Abwägung und Diskus-
listischen Modell geht das Konsumentenmodell sion möglicher Behandlungsoptionen ist als inter-
oder informative Modell davon aus, dass der Patient aktiver Prozess zu gestalten. Aufgabe des Experten
seine Ziele schon gut kennt und vom Arzt lediglich ist es, dem Patienten auf der Basis der vorliegenden
noch einige Informationen benötigt, um seine Ent- Evidenz die möglichen Behandlungsoptionen vor-
scheidungen dann souverän zu treffen. Die Rolle zustellen. Aufgabe des Patienten ist es, seine eigenen
des Arztes beschränkt sich darauf, dem Patienten Präferenzen mit den präsentierten Behandlungs-
diese Informationen zu geben und schließlich die optionen abzugleichen. In dem darauf folgenden
vom Patienten getroffenen Entscheidungen auszu- Verhandlungsprozess darf der Experte zwar durch-
führen. Dieses Modell legitimiert sich dadurch, dass aus den Patienten zu überzeugen versuchen. Er
das Informationsbedürfnis der Patienten generell muss jedoch auch akzeptieren können, wenn der
sehr groß ist. Darüber hinaus stehen häufig meh- Patient sich anders entscheidet, als der Experte es
rere relativ gleichwertige Therapieoptionen zur Ver- für optimal erachtet. Beide Partner treffen dann ge-
fügung, so dass eine Auswahl je nach der Patienten- meinsam eine Entscheidung, für die sie sich verant-
präferenz gerechtfertigt ist, vor allem bei leichteren wortlich fühlen, auch wenn sie für den einzelnen
Gesundheitsstörungen. möglicherweise nicht das jeweils denkbare Opti-
Angesichts schwerwiegender oder lebensbe- mum darstellt. Nachdem eine gemeinsame Ent-
drohlicher Erkrankungen benötigen viele Patien- scheidung getroffen wurde, wird ein Handlungs-
ten  jedoch die Hilfe ihres Arztes, um ihre Werte plan erarbeitet, für dessen Einhaltung sich beide
und Ziele herauszuarbeiten. Kranke erwarten von Partner verantwortlich fühlen.
ihrem Arzt darüber hinaus meist nicht nur tech-
nische Expertise, sondern auch emotionale Anteil- Auswirkungen Da der Patient die getroffene Ent-
nahme. Deshalb greift hier das informative Modell scheidung mitgetragen hat, kann man erwarten,
zu kurz. dass dadurch seine Compliance verbessert und der
Alltagstransfer erleichtert werden. Wie empirische
Partnerschaftliches Modell Heutzutage gilt das Studien zeigen, entwickeln Patienten ein stärkeres
partnerschaftliche Modell als das beste. Arzt und Gefühl der Kontrolle über die Behandlung und eine
Patient diskutieren gemeinsam das Problem und höhere Zufriedenheit, wenn sie unterschiedliche
ihre Ziele. Der Patient teilt seine Präferenzen mit, Behandlungsoptionen diskutieren konnten. Auch
der Arzt die vorliegende medizinische Evidenz, da- viele Jahre nach Abschluss der Primärbehandlung
rüber hinaus soll der Arzt aber durchaus auch seine wegen Brustkrebs war die Lebensqualität bei denje-
eigenen Empfehlungen abgeben. Der Patient soll nigen Frauen höher, die angaben, bei der Auswahl
dadurch im Sinne von Empowerment in die Lage der Behandlungsoptionen beteiligt gewesen zu sein.
versetzt werden, zwischen alternativen Behand- Ob durch die Verbesserung von Kontrollerleben,
lungsmöglichkeiten auszuwählen. Zufriedenheit und Compliance auch die erwünsch-
216 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

ten Behandlungsergebnisse erreicht werden, muss tientengerechte Informationsmaterialien (Entschei-


beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch of- dungshilfen; decision aids) oder interaktive com-
fen bleiben. Allerdings gibt es durchaus Hinweise, putergestützte Programme. Entscheidungshilfen
dass dies der Fall sein könnte. reduzieren Angst und Unsicherheit, vermindern
Indirekte Hinweise auf günstige Auswirkungen Entscheidungskonflikte und fördern die Zufrieden-
von Empowerment und gemeinsamer Entschei- heit mit der getroffenen Entscheidung. Hilfreich
dungsfindung können aus Studien zur ärztlichen sind auch kurze Listen wichtiger Fragen (question
Gesprächsführung gewonnen werden. prompts), die Patienten vor einem Arztgespräch no-
tieren, damit sie nicht vergessen, ihre Fragen zu stel-
> Ein Gesprächsverhalten, das es dem Patienten
len. Wichtige Fragen können sein: »Was sind meine
erleichtert, seine Fragen, Erwartungen und
5 Behandlungsoptionen? Welche Vor- und Nachteile
Befürchtungen zu äußern und sowohl die ge-
haben diese? Brauche ich diese Untersuchung/diese
wünschte Information als auch emotionale
Behandlung wirklich? Was passiert, wenn ich nichts
Unterstützung zu erhalten, hat günstige Aus-
tue?«
wirkungen auf Gesundheitszustand, Symp-
tomverminderung, Schmerzkontrolle, Funk-
tionszustand und physiologische Ergebnisse
5.4.6 Funktionen der Kommunikation
wie Blutdruck- und Blutzuckereinstellung.

> Die Kommunikation mit dem Patienten ist


Voraussetzungen Welche Barrieren können einer
das wichtigste Handwerkszeug des Arztes.
partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung ent-
50 % aller Diagnosen können allein auf
gegenstehen? Aus ärztlicher Sicht wird vor allem der
Grund der Information gestellt werden, die
höhere Zeitaufwand genannt. Dabei ist aber zu be-
der Arzt bei der Erhebung der Anamnese ge-
denken, dass sich die zunächst investierte Zeit im
winnt. 80 % der Diagnosen stehen schließlich
weiteren Verlauf wieder amortisiert, weil die nach-
nach Anamneseerhebung und körperlicher
folgenden Gespräche auf der Basis größerer Infor-
Untersuchung fest.
miertheit des Patienten effizienter sind. Mehr Parti-
zipation bedeutet für die Patienten mehr Eigen- Obwohl die Arzt-Patienten-Kommunikation ent-
verantwortung für die Risiken der von ihnen getrof- scheidend dazu beiträgt, dass eine Diagnose gestellt
fenen Entscheidungen, die durch entsprechende und eine angemessene Behandlung in die Wege ge-
Anreize gesteuert werden kann (z. B. mehr Wahl- leitet wird, haben Patienten während der »Sprech-
freiheit bei der Krankenversicherung, unterschied- stunde« oft viel zu wenig Zeit, ihr Anliegen vor-
liche finanzielle Selbstbeteiligungen). zubringen. Nach einer Studie in den Vereinigten
Lassen sich Empowerment und partizipative Staaten durften Patienten zu Beginn des Kontakts
Entscheidungsfindung auch gezielt fördern? Ins- gerade einmal 20 sec reden, bevor sie vom Arzt
gesamt ist die empirische Basis hierzu zwar noch unterbrochen wurden. Möglicherweise haben Ärzte
schmal, aber vielversprechend. Bei Brustkrebspa- Angst, dass Patienten unendlich lange weiterreden
tientinnen reduzierte ein Training zur Vorbereitung würden, wenn man sie nicht unterbräche. Diese Be-
auf die ärztliche Konsultation die wahrgenomme- fürchtung ist jedoch unbegründet. In einer aktu-
nen Kommunikationsbarrieren und verbesserte die ellen Untersuchung in der Schweiz dauerte es im
Zufriedenheit mit der Konsultation, und zwar so- Mittel 1,5 min, bis Patienten mit ihrer Geschichte
wohl bei Patientinnen als auch bei Ärzten. Bei Dia- von selbst zu Ende kamen. 80 % hatten ihren spon-
betes mellitus konnte gezeigt werden, dass Patien- tanen Bericht innerhalb von 2 min abgeschlossen.
ten, die ein derartiges Schulungsprogramm durch- Da die Patienten während dieser Zeit wichtige In-
laufen hatten, sich gegenüber ihren Ärzten aktiver formationen vorbringen, sollte man sie nicht unter-
verhielten, mehr Fragen stellten und mehr Informa- brechen.
tion bekamen. Zur Förderung von shared decision- Aus dem Bericht der Patienten gewinnt der Arzt
making werden auch Instrumente erprobt, wie pa- eine erste Orientierung über dessen Problem und
5.4 · Kommunikation und Interaktion
217 5
gibt umgekehrt diesem Orientierung über das wei- 5.4.7 Strukturen der Kommunikation
tere Vorgehen. Er erhebt einerseits Information
vom Patienten (Exploration und Anamnese, 7 Ab- Symmetrische/asymmetrische Kommunikation
schn. 6.2), gibt aber andererseits dem Patienten Kommunikation ist symmetrisch, wenn die beiden
auch selbst Information über die vorliegende Er- Gesprächspartner die gleiche Stellung oder Macht
krankung (Diagnose) und die mögliche Behand- besitzen. Besteht ein Machtgefälle zwischen den
lung (7 Abschn. 8.1.1). Eine ausgewogene Darstel- Partnern, z. B. zwischen dem mit funktionaler Au-
lung der Vor- und Nachteile einer Behandlungs- torität ausgestatteten ärztlichen Experten und dem
maßnahme ist die Voraussetzung dafür, dass der hilfesuchenden Patienten, ist die Kommunikation
Patient in die Behandlung einwilligen kann (infor- asymmetrisch. Untersuchungen zum ärztlichen
mierte Einwilligung, informed consent). Gesprächsverhalten während der Visite haben er-
geben, dass Ärzte in schwierigen Situationen, z. B.
> Eine unzureichende Aufklärung über die
wenn der Patient eine Frage stellt, die sie nicht gerne
Risiken z. B. einer Operation ist häufiger An-
beantworten wollen, häufig bestimmte Strategien
lass für einen Kunstfehlerprozess. Juristisch
verwenden, die die Asymmetrie der Beziehung auf-
gesehen stellt eine Behandlungsmaßnahme,
rechterhalten.
in die der Patient aufgrund unzureichender
Information nicht rechtsgültig einwilligen
konnte, eine Körperverletzung dar. Ausweichende Kommunikationsstrategien
in Visitengesprächen
Patienten können laut empirischen Studien im
5 Übergehen von Fragen oder Einwänden,
ärztlichen Gespräch eher selten ihr Anliegen vor-
Nichtbeachten von Patienteninitiativen:
bringen: Ungefähr 50 % der Patientenprobleme
Der Arzt ignoriert eine Frage einfach, so als
werden entweder nicht geäußert oder nicht vom
hätte er sie nicht gehört.
Arzt aufgegriffen. Ein großer Teil der verbalen oder
5 Adressaten- oder Themenwechsel: Auf die
nonverbalen Hinweise der Patienten auf Bedürf-
Frage des Patienten wendet sich der Arzt an
nisse nach mehr Information oder emotionaler
die Krankenschwester oder schneidet ein
Unterstützung wird von den Ärzten nicht wahr-
anderes Thema an, anstatt eine Antwort zu
genommen oder adäquat beantwortet. Auch gehen
geben.
sie auf Sorgen, die der Patient äußert, meist nicht
5 Beziehungskommentar: Statt die inhalt-
einfühlsam ein, sondern unterbrechen ihn oder
liche Frage des Patienten zu beantworten,
wechseln das Thema, statt die Gefühle anzu-
betreibt der Arzt Metakommunikation, z. B.:
sprechen oder den Patienten zu ermutigen, seine
»Sie dürfen nicht so ungeduldig sein!«
Sorgen mitzuteilen. Wenn Ärzte hingegen auf die
5 Mitteilung funktionaler Unsicherheit: Der
Informationswünsche ihrer Patienten eingehen,
Arzt weicht auf die Frage des Patienten aus
sind diese nicht nur zufriedener, sondern die Ge-
und gibt vor, noch keine ausreichende In-
spräche dauern sogar kürzer und nicht länger, wie
formation zu besitzen, um sie beantworten
viele Ärzte befürchten.
zu können.
Um zu gewährleisten, dass die Behandlungs-
empfehlung des Arztes vom Patienten auch umge-
setzt wird, ist der Aufbau einer vertrauensvollen Wie die Analyse von Visitengesprächen gezeigt hat,
Kooperation erforderlich. Nur wenn der Patient auf- gehen zwei Drittel der Gesprächsdauer auf die
grund seiner eigenen Krankheitsvorstellungen medizinischen Betreuer, nur ein Drittel auf den
nachvollziehen kann, dass eine Behandlungsmaß- Patienten zurück.
nahme sinnvoll ist, wird er diese auch im Alltag ver-
wirklichen. Nicht nur medikamentöse Behand-
lungsempfehlungen, sondern auch Empfehlungen,
den Lebensstil zu verändern, werden jedoch häufig
nicht befolgt.
218 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

5.4.8 Basismerkmale hilfreicher zwischen Ärzten, die häufig in Kunstfehlerprozesse


Gesprächsführung verstrickt waren, und solchen, die nie davon betrof-
fen waren.
Eine hilfreiche, patientenorientierte Gesprächsfüh- Erst wenn Patienten ein schlechtes Behandlungs-
rung sollte die folgenden 3 Basismerkmale verwirk- ergebnis erleiden und zusätzlich auch noch unzufrie-
lichen, die auf die klientenzentrierte Gesprächs- den mit der Betreuung durch ihren Arzt sind, steigt
psychotherapie nach Carl Rogers zurückgehen die Wahrscheinlichkeit für eine Kunstfehlerklage.
(7 Abschn. 8.2.3). Unzufriedenheit und Ärger entstehen dann, wenn
Diese Einstellungen und Gesprächstechniken der Arzt sich aus Sicht der Betroffenen nicht gut
liegen auch dem sog. aktiven Zuhören zugrunde, genug um sie gekümmert hat: Patienten fühlten sich
5 das im medizinpsychologischen Unterricht erlernt unter Zeitdruck gesetzt oder missachtet, erhielten
werden kann (7 Abschn. 6.2). nicht ausreichend Erklärungen oder Ratschläge.
Um herauszufinden, ob das kommunikative Verhal-
ten mit der Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang
Basismerkmale hilfreicher Gesprächs-
steht, eines Kunstfehlers bezichtigt zu werden, wurde
führung
eine Studie mit Hausärzten durchgeführt (Levinson
5 Empathie: sich in die Gefühle des Patienten
et al. 1997). Zehn Routinegespräche wurden auf
hineinversetzen und diese in Worte fassen.
Tonband aufgenommen und nach einem Gesprächs-
5 Wertschätzung: dem Patienten vermitteln,
analysesystem ausgewertet. Danach verglichen die
dass man ihn so, wie er ist, schätzt und
Forscher das Gesprächsverhalten von Ärzten, die
akzeptiert.
noch nie von einer Kunstfehlerklage betroffen waren,
5 Echtheit/Kongruenz: Das Gesprächsverhal-
mit dem Verhalten derjenigen, die schon zweimal
ten sollte mit der inneren Einstellung über-
oder häufiger davon betroffen waren. Die Ergebnisse
einstimmen. Beispiel: Ein Arzt, der unter
waren frappierend.
großem Zeitdruck steht, wird kaum in der
Die nicht betroffenen Ärzte benutzten mehr ge-
Lage sein, sich seinem Patienten für ein
sprächserleichternde Äußerungen, wie: »Erzählen Sie
längeres Gespräch geduldig und einfühl-
mir mehr davon«. Sie fragten die Patienten häufiger
sam zuzuwenden (mangelnde Kongruenz).
nach deren eigener Meinung: »Was glauben Sie, was
die Beschwerden verursacht hat?« Oder: »Was meinen
Sie dazu, diese Medikamente zu nehmen?« So ermun-
Transparenz Ärzte sollten bei der Anamneseer- terten sie den Patienten zum Sprechen und brachten
hebung den Hintergrund ihrer Fragen plausibel ma- ihr Interesse an seiner Meinung zum Ausdruck. Da-
chen und den Sinn diagnostischer Untersuchungen rüber hinaus gaben die nicht betroffenen Ärzte mehr
in nachvollziehbarer Weise erklären. Dies mindert orientierende Kommentare ab, in denen sie den Pa-
beim Patienten Angst und Unsicherheit und fördert tienten erklärten, was sie nun tun würden: »Zunächst
seine Mitwirkungsbereitschaft. werde ich Sie untersuchen, und danach sprechen wir
das ganze Problem durch.« Oder: »Ich werde Ihnen
Klinik: Gesprächsverhalten später noch Zeit lassen für Fragen.« Dadurch erleich-
und Kunstfehleranklagen terten sie es dem Patienten, angemessene Erwartun-
In den USA werden Ärzte oft von Patienten wegen gen über den weiteren Gang des Arzt-Patienten-Kon-
eines Kunstfehler belangt. Wovon hängt es ab, ob takts zu entwickeln, und informierten ihn darüber,
ein Arzt einen Kunstfehlerprozess bekommt? Dass in wann er seine eigenen Sorgen vorbringen kann.
der Behandlung des Patienten etwas schief gelau- Außerdem machten die nicht betroffenen Ärzte häu-
fen ist, kann nicht die einzige Ursache sein: Nur eine figer humorvolle Bemerkungen und lachten häufiger,
kleine Minderheit derjenigen Patienten, die einen was auf eine wärmere persönliche Beziehung zwi-
Behandlungsfehler erlitten haben, verklagt ihren schen Arzt und Patient schließen lässt. Die Arzt-Pa-
Arzt. Zudem unterscheidet sich die (von Kollegen tienten-Kontakte dauerten im Schnitt auch etwas
beurteilte) Behandlungsqualität offensichtlich nicht länger.
5.4 · Kommunikation und Interaktion
219 5
In einer anderen Studie wurden sehr kurze, nur die aus der Vergangenheit des Patienten stammen,
10 sec dauernde Ausschnitte aus Patientengesprä- in der Gegenwart aktualisiert werden. Sind einem
chen von Chirurgen hinsichtlich des Tons ihrer Stim- diese Muster jedoch nicht bewusst, kann es passie-
me untersucht (Abmadi et al. 2002). Pro Arzt wurden ren, dass man als Arzt oder Ärztin mit Gegenüber-
4 solche 10-sec-Schnipsel analysiert, 2 am Beginn ei- tragung reagiert. Man nimmt dann unbewusst das
nes Gesprächs und 2 am Ende. Die Inhalte, um die es Rollenangebot an, das der Patient einem macht,
jeweils ging, wurden durch eine Filtermethode ent- verhält sich also genauso wie z. B. früher der Vater,
fernt. Wieder fanden sich Unterschiede zwischen Chi- so dass die Situation eskalieren kann.
rurgen mit Kunstfehleranklagen und solchen ohne.
Erstere brachten mehr Dominanz und weniger Sorge Vertrauen/Misstrauen Ziel der Arzt-Patient-Kom-
in ihrer Stimme zum Ausdruck. munikation ist der Aufbau einer vertrauensvollen
In Kanada müssen Ärzte eine Prüfung ihrer Ge- Beziehung. Dies gelingt nicht immer. Wenn der
sprächsführungskompetenz absolvieren, bevor sie Arzt Hinweise darauf hat, dass sein Patient ihm
die Zulassung zur Niederlassung erhalten. Die Leis- misstraut, ist es sinnvoll, dies anzusprechen (Meta-
tung in dieser Prüfung sagt voraus, in welchem Um- kommunikation): »Ich habe den Eindruck, dass Sie
fang sie in den nächsten Jahren Beschwerden durch Zweifel haben, ob diese Therapie für Sie die richtige
Patienten wegen falscher Behandlungen erhalten. ist. Ist das so?« Der Patient fühlt sich möglicher-
Angehende Ärzte und Ärztinnen tun also gut daran, weise erleichtert, wenn er seine Vorbehalte äußern
ihre kommunikativen Kompetenzen zu trainieren. kann, und es können Wege gesucht werden, diese
auszuräumen.

5.4.9 Übertragung Klinik: Balintgruppe


und Gegenübertragung Balintgruppen, die meist von einem Psychotherapeu-
ten geleitet werden, haben ihren Namen von dem
Mit Übertragung, einem Begriff, der aus der Psy- ungarisch-englischen Psychoanalytiker Michael
choanalyse stammt, bezeichnet man das Phäno- Balint, der solche Seminare für Hausärzte einführte.
men, dass Erlebens- und Verhaltensmuster, die aus Die Beziehung zwischen Arzt und Patient kann in
früheren Erfahrungen mit wichtigen Bezugsperso- einer Balintgruppe bearbeitet werden. In einer Balint-
nen stammen, das aktuelle Erleben und Verhalten gruppe treffen sich Ärzte und berichten über ihre
beeinflussen. Beispiele: Ein Patient, der sich wegen schwierigen Patienten. Die Gruppenmitglieder hören
einer schweren Erkrankung hilflos und unsicher zu und tragen dann ihre eigenen Ideen bei, sei es aus
fühlt, erlebt die Ärztin als Sicherheit vermittelnde ähnlichen Erfahrungen mit anderen Patienten oder
Helferfigur, so wie er früher seine Mutter erlebt hat aus ihren Überlegungen dazu, was sich in der Arzt-
(positive Übertragung). Ein anderer Patient, der Patient-Interaktion wohl abspielt. Auf diese Weise
seinem Vater nie etwas recht machen konnte, erlebt werden viele Mosaiksteinchen zusammengetragen,
eine Wiederholung dieser Situation gegenüber sei- und es entsteht ein neues Bild von der problemati-
nem Arzt, der mit ihm unzufrieden ist, weil er es schen Arzt-Patient-Interaktion, so dass sich Lösungs-
nicht schafft, das Rauchen aufzugeben (negative möglichkeiten abzeichnen. Inzwischen spielen
Übertragung). Ein dritter Patient, der eine zwie- Balintgruppen in der Facharztweiterbildung vieler
spältige Beziehung zu seinem Vater hatte, gerät mit medizinischer Disziplinen eine wichtige Rolle.
Ärzten, die für ihn Autoritätsfiguren sind, regel-
mäßig in Konflikte: Er sucht zwar ihren Rat, nimmt
ihre Empfehlungen dann aber nicht an (ambivalen- 5.4.10 Organisatorisch-institutionelle
te Übertragung). Rahmenbedingungen
Wenn man solche Übertragungsphänomene
kennt, erleichtert dies den Umgang mit den Patien- Einzel- vs. Gruppengespräche Üblicherweise fin-
ten. Man muss sich dann auch nicht so sehr persön- den Arzt-Patienten-Gespräche als Einzelgespräche
lich betroffen fühlen, wenn man weiß, dass Muster, statt. In manchen Fällen kann es jedoch wichtig
220 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

sein, auch die Angehörigen einzubeziehen, dies tienten einen Sachverhalt erläutert hat, sollte er sich
aber immer nur mit Einverständnis des Patienten. vergewissern, dass der Patient dies auch verstanden
Gruppengespräche spielen in der Psychotherapie hat. Dies kann z. B. dadurch erfolgen, dass er ihn
oder bei Patientenschulungen (Beratung, Eduka- bittet, die aufgenommene Information noch einmal
tion) eine Rolle (7 Abschn. 8.1.3). Paargespräche in eigenen Worten kurz zusammenzufassen (7 Ab-
können bei der Beratung eines Herzinfarktpatien- schn. 5.5.3). Dadurch können Missverständnisse
ten zur Ernährungsumstellung (meist kocht die vermieden werden. Darüber hinaus sollte er sich am
Ehefrau!) oder auch im Rahmen einer Psychothera- Sprachcode des Patienten orientieren (elaborierter
pie wichtig sein, z. B. bei einem Partnerkonflikt vs. restringierter Code, 7 Abschn. 4.7.4). Patienten
oder einer sexuellen Funktionsstörung. Familien- aus unteren sozialen Schichten erhalten weniger
5 gespräche sind in der Familientherapie üblich Information und emotionale Unterstützung von
(7 Abschn. 8.2.4). Der Grundgedanke hierbei ist, ihren Ärzten; sie bemühen sich auch weniger aktiv
dass Veränderungen bei einem Familienmitglied darum.
auch Veränderungen des gesamten Familiensys-
tems, d. h. der Beziehungen zwischen den Familien- Kommunikation mit fremdsprachigen Kranken Be-
mitgliedern, nach sich ziehen (systemische Perspek- sonders schwierig wird die Kommunikation mit
tive). Auch bei körperlich Schwerkranken kann es fremdsprachigen Kranken, deren Sprache der Arzt
sinnvoll sein, die Familie einzubeziehen, um Mög- nicht beherrscht. Möglicherweise können Ange-
lichkeiten der pflegerischen und emotionalen Un- hörige dolmetschen, die aber u. U. ihre eigene Sicht-
terstützung auszuloten. Analoges gilt für die Fami- weise einfließen lassen. Ansonsten müssen profes-
lien schwerkranker Kinder. sionelle Dolmetscher herangezogen werden. Aller-
dings gibt es inzwischen auch immer mehr Ärzte
Ambulante vs. stationäre Versorgung Patienten ha- aus der 2. Einwanderergeneration der größten
ben in der ambulanten Versorgung meist mit ihrem ethnischen Minderheiten, die in den jeweiligen
Hausarzt, den sie viele Jahre kennen, oder auf Sprachen kompetent sind. Auch Informations- und
Überweisung auch mit einem Facharzt zu tun. Eine Schulungsbroschüren stehen häufig in mehreren
Besonderheit der ambulanten Versorgung sind Fremdsprachen zur Verfügung.
Hausbesuche, bei denen der Arzt Einblick in das
i Vertiefen
private Umfeld des Patienten nimmt. Diese Infor-
Faller H (2003) Shared Decision Making:
mation kann ihm helfen, mögliche Barrieren, aber
Ein Ansatz zur Stärkung der Partizipation des
auch Ressourcen der Behandlung zu entdecken. Im
Patienten in der Rehabilitation. Rehabilitation
Unterschied dazu ist die stationäre Versorgung
42:129–135 (Übersicht über Modelle der Arzt-
meist anonymer. Die Patienten kennen die betreu-
Patient-Beziehung)
enden Ärzte nicht, oft wechseln auch Stationsärzte
Schulz von Thun F (2010) Miteinander reden 1:
je nach Schicht. Die Krankenhausumgebung ist
Störungen und Klärungen. Rowohlt, Hamburg
ungewohnt, eigene Handlungsspielräume sind ein-
(leicht verständliche Einführung in die Grund-
geschränkt. Eine Krankenhausaufnahme kann des-
lagen der Kommunikation mit vielen praktischen
halb Gefühle von Unsicherheit, Angst und Hilf-
Übungen)
losigkeit mit sich bringen.

5.4.11 Soziokultureller Rahmen


der Kommunikation

Sprachstile Im Austausch mit Kollegen benutzen


Ärzte ihre medizinische Fachsprache. Gegenüber
Patienten sollten sie medizinische Begriffe in die
Alltagssprache übersetzen. Wenn der Arzt dem Pa-
5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
221 5
5.5 Besonderheiten der der Schmerzambulanz, in der z. B. ein Anästhesist,
Kommunikation und Kooperation ein Internist und ein Psychotherapeut zusammen-
arbeiten.
H. Faller

Lernziele 5.5.2 Compliance und Non-Compliance


Der Leser soll
5 Einflussfaktoren auf die Compliance benennen Der Begriff compliance (Nachgiebigkeit) hatte ur-
können, sprünglich einen paternalistischen Beigeschmack.
5 das Vorgehen bei der Mitteilung einer un- Er beinhaltete, dass Patienten die Anordnungen
günstigen Diagnose beschreiben können. ihres Arztes passiv befolgen. Heutzutage versteht
man Compliance jedoch in einem weiteren Sinne,
nämlich als Mitarbeit bei der Behandlung, so dass
5.5.1 Formen der Kooperation dieser Begriff auch mit einem partnerschaftlichen
von Kranken und Ärzten Arzt-Patienten-Modell kompatibel ist. In der eng-
lischsprachigen Literatur findet man anstelle von
Passiv/aktiv Aktiv kooperierende Patienten sind Compliance häufig auch die Begriffe adherence
selbst daran interessiert, sich möglichst vollständig (Adhärenz) und concordance. Damit soll der pater-
über die Erkrankung und die Behandlungsmöglich- nalistische Beiklang von Compliance vermieden
keiten zu informieren. Sie wirken bei Entscheidun- werden.
gen über medizinische Maßnahmen mit (partizi-
> Die Compliance beträgt im Durchschnitt 75 %,
pative Entscheidungsfindung; 7 Abschn. 5.4.4) und
d. h. nur 75 % der Patienten nehmen ihre
setzen die getroffenen Entscheidungen in ihrem
Medikamente wie vom Arzt verordnet ein. Bei
Alltagsleben um. Passiv-kooperierende Patienten
chronischen Krankheiten beträgt sie sogar
hingegen führen nur das aus, was der Arzt ihnen
nur 50 %.
sagt, übernehmen die Behandlung jedoch nicht in
ihre eigene Regie und Verantwortung. Allerdings ist die Bandbreite sehr groß. Compliance
wird auch von der Art der Erkrankung beeinflusst.
Autonom/heteronom Autonom kooperierende Pa- Bei Hypertonie, die keine Symptome verursacht,
tienten tun dies selbständig und freiwillig, entspre- liegt sie bei ungefähr 50 %, bei Asthma bronchiale
chend dem Konsumentenmodell oder dem part- jedoch bei 80 %. Studien aus der Rehabilitation zei-
nerschaftlichen Modell der Arzt-Patient-Beziehung gen jedoch, dass durch intensive, umfassende Schu-
(7 Abschn. 5.4.5). Heteronom kooperierende Pa- lungsmaßnahmen, einschließlich Erinnerungs-
tienten arbeiten nur deshalb mit, weil sie vom Arzt schreiben und Selbstbeobachtung (z. B. Tagebü-
oder den Angehörigen unter Druck gesetzt wurden. cher), die Compliance erhöht werden kann. In einer
Ihr Handeln ist fremdbestimmt. Studie, in der der Transfer eines körperlichen Trai-
ningsprogramms in den Alltag geplant und super-
Formen der Kooperation bei Ärzten Auch Ärzte vidiert wurde, konnte sogar eine Compliance von
kooperieren miteinander. Bei einer technikorien- 92 % erzielt werden, im Vergleich zu 76 % in der
tierten Kooperation nutzen mehrere Ärzte gemein- Kontrollgruppe. In anderen Studien waren die Ef-
sam ein Gerät, z. B. in einer radiologischen Praxis- fekte jedoch sehr viel bescheidener. Noch geringer
gemeinschaft. Bei der wirtschaftlichkeitsorientier- ist die Compliance unter Alltagsbedingungen.
ten Kooperation geht es um eine bessere Kosten- Gute Compliance geht mit einer geringeren
struktur der Praxis durch bessere Auslastung der Mortalität einher. Dies gilt ironischerweise nicht
Ressourcen. Bei der patientenorientierten Koope- nur für Compliance mit einem wirksamen Medi-
ration bringen mehrere Ärzte ihr berufsspezifisches kament, sondern auch für Compliance mit einem
Wissen bei der Behandlung eines Patienten ein, Plazebo. Der Effekt kommt hier natürlich nicht
beispielsweise bei einer Fallkonferenz im Rahmen durch die wirkungslose Substanz zustande, sondern
222 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

dadurch, dass Menschen, die eine gute Compliance zögerten Wirkungseintritt. Erst nach mindestens
zeigen, auch sonst ein besseres Gesundheitsverhal- 2, manchmal auch 4 oder mehr Wochen treten die
ten aufweisen. Sie sind gewissenhaft und haben ge- antidepressiven Effekte ein, wogegen Nebenwir-
nerell eine gesunde Lebensweise. Wenn umgekehrt kungen, die meist harmlos und vorübergehend
beispielsweise Herzinfarktpatienten ein Medika- sind, schon früher auftreten können. Deshalb ist es
ment weglassen, das eigentlich zu einer leitlinien- sehr wichtig, die Patienten während dieser ersten
gerechten Therapie dazugehört, vermindern sie Wochen regelmäßig einzubestellen, um sie zur wei-
damit ungewollt ihre Überlebensrate. Geringe teren Einnahme der Medikamente zu motivieren,
Compliance reduziert den Nutzwert einer Maß- auch wenn noch keine Wirkung da ist.
nahme (Nutzwert = Wirksamkeit × Compliance).
5 Wenn ein Medikament nur von der Hälfte der-
Einflussfaktoren auf die Compliance
jenigen Patienten eingenommen wird, denen es ver-
5 Merkmale der Erkrankung: z. B. akute
ordnet wurde, halbiert sich sein Nutzwert.
vs. chronische Erkrankung, Symptome vs.
keine Symptome. Geringere Compliance
Formen der Non-Compliance Non-Compliance
bei psychischer Störung.
kann unterschiedliche Formen annehmen. Manche
5 Merkmale der Behandlung: Hoher Auf-
Patienten nehmen kontinuierlich eine geringere
wand oder lange Dauer der Behandlung
Dosis ein als verordnet, andere nehmen lieber ein
und ein komplizierter Behandlungsplan
bisschen mehr. Manche Patienten nehmen die Me-
führen zu niedriger Compliance.
dikamente so lange, bis eine Wirkung eintritt, und
5 Bedingungen des Behandlungssettings:
setzen sie anschließend vollständig ab. Dies ist ins-
Lange Wartezeiten bei Arztterminen und
besondere bei der Antibiotikatherapie gefährlich,
Zeitdruck während der Untersuchungen
weil sich durch eine zu kurzfristige Einnahme resis-
vermindern die Compliance.
tente Keime entwickeln können. Manche Patienten
5 Arzt-Patient-Beziehung: z. B. unverständ-
nehmen ein als Dauermedikation vorgesehenes
liche Erklärung, gestörtes Vertrauensver-
Mittel, z. B. bei Asthma bronchiale zur Anfalls-
hältnis, unzureichende Einbeziehung der
prophylaxe, nur bei akuten Atemnotanfällen ein.
Sichtweise des Patienten, mangelnde In-
Andere Patienten setzen ihre Medikamente zwi-
formation.
schendurch immer wieder für eine bestimmte Zeit
5 Merkmale des Patienten: z. B. ungünstige
ab. Wieder andere nehmen die reguläre Medikation
subjektive Krankheitstheorien, irrationale
erst unmittelbar vor einem bevorstehenden Arzt-
Behandlungsängste. Beispiele: Viele depres-
besuch wieder auf.
sive Patienten befürchten unzutreffender-
Als »intelligente« Non-Compliance hat man
weise, von Antidepressiva abhängig werden
Non-Compliance aus (vermeintlich) vernünftigen
zu können. Manche Asthma-Patienten
Gründen bezeichnet. Beispiel: Ein Patient setzt ein
haben übertriebene Ängste vor den Neben-
Medikament wieder ab, weil er von schweren Ne-
wirkungen von Kortison in Dosieraerosolen.
benwirkungen betroffen ist. Dies ist aber nicht
Alter, Geschlecht, Intelligenz und Ausbil-
immer wirklich »intelligent«. Oft sind subjektiv stö-
dung spielen hingegen keine große Rolle.
rende Nebenwirkungen harmlos und verschwinden
5 Einflüsse des sozialen Umfelds: z. B. man-
von selbst wieder. Deshalb wäre es besser, wenn
gelnde soziale Unterstützung.
der Patient sich mit seinem Arzt bespricht, bevor er
eigenmächtig ein Mittel absetzt. Die Bezeichnung
»intentionale« Non-Compliance (im Unterschied
zum unabsichtlichen Vergessen) würde dies besser Non-Compliance erkennen Wenn eine Behandlung
zum Ausdruck bringen. bei einem Patienten nicht anzusprechen scheint,
Die voreilige Absetzung von Medikamenten sollte man den Patienten an erster Stelle danach
wegen Nebenwirkungen findet man auch häufig bei fragen, ob er das Medikament wie verordnet einge-
Antidepressiva. Diese haben nämlich einen ver- nommen hat, bevor man an der Indikation zweifelt,
5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
223 5
die Dosis erhöht oder ein anderes Medikament ver- 5.5.3 Besondere kommunikative
ordnet. Es genügt die Frage: »Haben Sie in der letz- Anforderungen
ten Woche ein oder mehrere Male Ihre Medika-
mente nicht eingenommen?«, ohne dass man damit Mitteilung von ungünstigen Diagnosen Das Ge-
dem Patienten einen Vorwurf macht oder ihn unter spräch mit Schwerkranken und Sterbenden stellt
Druck setzt. Die Selbstangabe des Patienten ist besondere Anforderungen. Eine häufige Situation,
durchaus zuverlässig: Selbsteinschätzungen der die für den Arzt schwierig sein kann, ist das sog.
Compliance führen nicht zu höheren Werten als Aufklärungsgespräch, d. h. die Mitteilung einer
andere, objektivere Messmethoden. Ein wichtiger ungünstigen Diagnose.
Hinweis auf mangelnde Compliance kann auch Noch vor wenigen Jahrzehnten war es unüblich,
sein, wenn ein Patient Behandlungstermine nicht Krebspatienten über ihre Diagnose zu informieren.
regelmäßig wahrnimmt. Aufwändigere Verfahren Diesem Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass
zur Kontrolle der Compliance umfassen das Zählen es Patienten zu sehr belasten würde, wenn man
von Pillen, Medikamentencontainer, die die Ent- ihnen die Wahrheit sagt. Dies hat sich jedoch als
nahme einer Pille elektronisch aufzeichnen, Dosie- unzutreffend herausgestellt. Nicht nur wollen Pa-
raerosole, die jeden Hub registrieren, oder Blutspie- tienten so viel wie möglich über ihre Krankheit wis-
gelmessungen, wie sie bei Psychopharmaka vorge- sen (üblicherweise mehr, als die Ärzte ihnen sagen),
nommen werden. sondern Offenheit hat auch positive Auswirkungen
auf das emotionale Befinden und die Krankheits-
Compliance fördern Um die Patienten-Compliance bewältigung. Unsicherheit über die Diagnose hin-
zu fördern, sollte sich der Arzt folgende Fragen gegen verstärkt die emotionale Belastung.
stellen: Ist das notwendige Wissen beim Patienten
> Es wird als Recht des Patienten angesehen,
vorhanden? Wenn nicht, ist entsprechende Infor-
über seine Krankheit informiert zu werden.
mation erforderlich. Ist das notwendige Können
Nur wenn er möglichst vollständig Bescheid
beim Patienten vorhanden (z. B. korrekte Anwen-
weiß, kann er sich mit den Konsequenzen
dung eines Dosieraerosols)? Wenn nicht, sind Ver-
seiner Erkrankung auseinandersetzen. Man-
haltensübungen oder Patientenschulungen ange-
gelnde Offenheit hingegen unterminiert
zeigt. Ist ausreichende Motivation beim Patienten
das Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung,
vorhanden? Wenn nicht, muss die Motivation ge-
verhindert die Beteiligung des Patienten an
fördert werden, z. B. durch kognitive Techniken
Therapieentscheidungen und erhöht die
(7 Abschn. 10.3.2).
Gefahr von Non-Compliance. Deshalb gilt es
Weiterhin sollte man das Behandlungsregime
als Standard, Patienten soweit wie möglich
überdenken und nach Vereinfachungsmöglichkei-
über ihre Krankheit zu informieren.
ten suchen. Genaue Instruktionen, möglicherweise
mit einem schriftlichen Informationsblatt, Erinne- Allerdings sollte man auch dabei keine paternalis-
rungen oder Tagebücher für die Selbstbeobachtung tische Haltung einnehmen, sondern die Informa-
können eingesetzt werden. Finanzielle Anreize für tionsgabe an den Bedürfnissen der Patienten orien-
eine regelmäßige Medikamenteneinnahme haben tieren. Eine Minderheit der Patienten möchte nicht
sich als besonders wirksam erwiesen. Wirksam ist vollständig über die Krankheit informiert werden
auch eine regelmäßige telefonische Erinnerung. Bei oder benutzt Verleugnung als Bewältigungsstra-
Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz hat ein tegie. Die Informationsvermittlung sollte deshalb
telefonisches Nachsorgeprogramm, das u. a. auch nach Ausmaß und Geschwindigkeit auf den indi-
die Selbstbeobachtung der Symptome durch den viduellen Patienten zugeschnitten sein. Wichtig ist,
Patienten sowie Psychoedukation umfasste, die dass dieser Prozess Zeit braucht, weil Patienten
Sterblichkeit um 40 % reduziert. Bei Patienten mit nicht alle Information auf einmal aufnehmen kön-
psychischen Störungen führte eine die Compliance nen. Ein einziges Aufklärungsgespräch wird des-
fördernde Telefon-Nachsorge zu Kosteneinsparun- halb oft nicht ausreichen. Laut Studien behalten
gen und weniger stationären Behandlungen. Krebskranke im Durchschnitt 50 % der wichtigen
224 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

Informationen, die ihnen vermittelt wurden, in Er-


innerung. Deshalb ist es notwendig, die Informa- Informationen er mitgeteilt bekommen
tionsgabe kontinuierlich fortzusetzen. möchte und welche nicht.
5 Informationsstand erfragen: Damit man
Praktisches Vorgehen Zunächst einmal ist es wich- beim Aufklärungsgespräch weiß, wo man
tig, dass man für diese Gesprächssituation ausrei- ansetzen soll, ist es sinnvoll, den Patienten
chend Zeit und eine geeignete Umgebung vorsieht, danach zu fragen, was sein aktueller Wis-
d. h. ein ruhiger Raum, in dem man nicht gestört sensstand ist: »Bevor ich Ihnen sage, was
wird. Fragen Sie den Patienten, ob er jemanden als bei den Untersuchungen herausgekommen
Begleitung beim Aufklärungsgespräch mit dabei ist, würde ich gerne wissen, was man Ihnen
5 haben möchte. bisher schon mitgeteilt hat. Dann weiß ich
besser, womit ich anfangen soll.«
> Das wichtigste Prinzip des Aufklärungsge-
5 Einfach und offen informieren: Teilen Sie
sprächs ist es, nicht »mit der Tür ins Haus zu
die Information einfach und ehrlich, unter
fallen«. Die Informationsvermittlung sollte
Benutzung von Alltagssprache und ohne
vielmehr schrittweise und im Dialog er-
den Gebrauch von Schönfärberei mit. Be-
folgen. Man orientiert sich dabei an der Auf-
nutzen Sie ggf. unterschiedliche Medien,
nahmebereitschaft des Patienten, und zwar
z. B. Grafiken. Sprechen Sie heikle oder pein-
sowohl in intellektueller Hinsicht (»Hat er
liche Themen direkt, aber feinfühlig an.
die mitgeteilte Information überhaupt ver-
5 Sicherstellen, dass der Patient die Infor-
standen?«) als auch in emotionaler Hinsicht
mation verstanden hat: Sprechen Sie in
(»Hat er die Tragweite der Information ge-
einfachen Worten. Fragen Sie nach, ob der
fühlsmäßig an sich herankommen lassen?«).
Patient verstanden hat, was Sie ihm sagen
Wenn man Patienten mit zu viel belastenden In- wollten. Bitten Sie ihn gegebenenfalls die
formationen auf einmal konfrontiert, läuft man Ge- Information noch einmal in eigenen Worten
fahr, dass sie die Information verleugnen. Man muss zusammenzufassen, oder geben Sie selbst
sich dann nicht wundern, wenn sie sich so verhal- eine Zusammenfassung.
ten, als wären sie nie aufgeklärt worden. Patienten 5 Raum für Rückfragen lassen: Halten Sie
oszillieren in ihrem bewussten Erleben oft zwischen nach jeder Information kurz inne, damit der
einer weitgehenden Akzeptanz der Erkrankung Patient nachfragen kann. Ermutigen Sie ihn,
einerseits und einem Nicht-wahrhaben-Wollen an- aktiv nachzufragen, wenn er etwas nicht
dererseits hin und her (middle knowledge). Wenn sie verstanden hat.
sich aber emotional unterstützt fühlen, können sie 5 Einen breiten prognostischen Zeitrahmen
sich immer mehr mit den belastenden Informatio- verwenden: Bei der Prognosemitteilung
nen auseinandersetzen. keine konkrete Zeit nennen, weil dies im Ein-
zelfall meist nicht möglich ist, sondern einen
breiten realistischen Zeitrahmen vermitteln,
Orientierungshilfen für das Aufklärungs- der dem Patienten ermöglicht, seine persön-
gespräch lichen Angelegenheiten zu regeln. Erklären
5 Informationsbedürfnis erfragen: Fragen Sie, dass eine genaue Vorhersage darüber,
Sie zuerst, ob der Patient überhaupt Ge- wie ein Individuum auf die Krankheit und
naueres über Diagnose und Prognose wis- deren Behandlung reagiert, nicht möglich ist.
sen möchte, z. B. »Möchten Sie, dass ich 5 Mitentscheiden lassen: Stellen Sie dem
Ihnen mitteile, wie die Krankheit bei den Patienten die Behandlungsmöglichkeiten
meisten Patienten mit gleicher Diagnose vor und vermitteln Sie ihm, dass er bei der
verläuft?« Orientieren Sie sich an den Prä- Entscheidung über die Behandlung beteiligt
ferenzen, die der Patient äußert, welche werden kann, wenn er dies will.
5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
225 5
offen über die Krankheit sprechen. Werden die
5 Hoffnung vermitteln: Kommen Sie zuerst Kinder nämlich nicht richtig informiert, steigt ihre
auf die Heilungschancen und erst danach psychische Belastung an. Sie spüren, dass etwas
auf die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls Schlimmes passiert ist, und entwickeln bedrohliche
zu sprechen. Bei palliativer Behandlung, die Phantasien, die die Realität meist stark übertreffen.
nicht mehr das Ziel der Heilung anstrebt, Irgendwann erfahren sie dann doch die Wahrheit,
die Äußerung vermeiden »dass nichts mehr misstrauen ihren Eltern jedoch inzwischen. Tabus
getan werden kann«. Stattdessen vermit- sind schädlich. Je offener die Eltern mit ihren
teln, dass Sie alles tun werden, um eine Kindern sprechen, desto weniger Angst empfinden
möglichst gute Lebensqualität aufrecht zu diese.
erhalten, auch wenn keine Heilung mehr
erreicht werden kann.
5 Menge und Tempo der Information anpas- 5.5.4 Einflussfaktoren der
sen: Geben Sie dem Patienten nur so viel Kommunikation und Kooperation
Information auf einmal, wie er intellektuell
und emotional verarbeiten kann. Halten Organisatorisch-rechtliche Bedingungen Die wich-
Sie kurz inne und fragen Sie nach, ob es erst tigste Störungsquelle der Kooperation im Kranken-
mal genug ist oder ob er noch weitere In- haus ist der Zeitdruck, dem Ärzte ausgesetzt sind.
formation haben möchte. Ermöglichen Sie Die organisatorischen Anforderungen wie Doku-
ihm durch Pausen und Nachfragen, das Ge- mentation, Qualitätssicherung, Berichtswesen, Ab-
spräch zu beenden, falls er sich im Augen- rechnungen nehmen immer mehr zu. Für Ge-
blick damit überfordert fühlt, noch weitere spräche mit den Patienten bleibt immer weniger
Information aufzunehmen. Zeit. Dementsprechend kurz verläuft oft die Visite.
5 Gefühle ansprechen: Ermutigen Sie den Für den niedergelassenen Arzt stellt die Gebühren-
Patienten, seine Gefühle zu äußern. Vermit- ordnung eine wichtige Rahmenbedingung dar. Das
teln Sie ihm, dass seine Gefühle normal Gespräch mit dem Patienten wird leider nur gering
sind, und reagieren Sie einfühlsam. Infor- honoriert.
mieren Sie den Patienten über psycho-
soziale Unterstützungsmöglichkeiten. Fehlerquellen und Beurteilungsfehler Fehlerquel-
5 Ausreichend Zeit zur Verarbeitung lassen: len der Kommunikation können auch in der Person
Informationsvermittlung ist kein Alles- oder von Arzt und Patient liegen. Als Beurteilungsfehler
Nichts-Phänomen, sondern braucht Zeit zur werden systematische Verzerrungen der Wahrneh-
emotionalen Verarbeitung. Signalisieren mung einer anderen Person bezeichnet (7 Abschn.
Sie dem Patienten, dass Sie auch später für 6.2.5). Beim Halo-Effekt (Überstrahlungsfehler)
Rückfragen und Gespräche zur Verfügung wird die Wahrnehmung durch ein hervorstechen-
stehen. Arrangieren Sie einen Termin für die des Merkmal beeinflusst, das auf andere Merkmale
Nachbesprechung, gegebenenfalls gemein- der Person ausstrahlt. Beispiel: Das gepflegte Äuße-
sam mit einem Angehörigen. re und freundliche Verhalten eines Patienten verlei-
tet den Arzt zu der (möglicherweise unzutreffen-
den) Annahme, er werde sich auch an seine Emp-
Kommunikation mit Kindern Bei Kindern ist die in- fehlungen halten. Hier wird vom äußeren Auftreten
tellektuelle und emotionale Verarbeitungskapazität des Patienten auf seine Compliance geschlossen.
im Vergleich zu Erwachsenen eingeschränkt. Des- Beim Abwehrmechanismus der Projektion
halb muss sich die Kommunikation auf den sprach- (7 Abschn. 2.3.5) werden unbewusste Gefühle oder
lichen und kognitiven Entwicklungsstand eines Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahr-
Kindes einstellen und bei kleineren Kindern immer haben will, stattdessen beim anderen wahrgenom-
die Eltern einbeziehen. Eltern, die selbst an Krebs men. Beispiel: Ein Arzt, der sich selbst immer nur
erkrankt sind, sollten mit ihren Kindern möglichst als stark und kompetent wahrnimmt und eigene
226 Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung

Gefühle von Hilflosigkeit abwehrt, nimmt an seinen Klinik: Patientensicherheitskultur (»Fehlerkultur«)


Patienten bevorzugt deren Hilflosigkeit und Schwä- Unerwünschte Ereignisse, d. h. Schädigungen, die
che wahr. eher auf die Behandlung als auf die Erkrankung
zurückgehen, sind gar nicht selten. Nach internatio-
Ablehnende Kranke Wenn Patienten die Emp- nalen Studien kommen sie bei 2,9–3,7 % der Patien-
fehlungen des Arztes zurückweisen, erfordert es ten vor. Mehr als die Hälfte dieser Ereignisse werden
professionelle Kompetenz, um nicht mit eigener als vermeidbar eingestuft. Für Deutschland schätzt
Aggression zu reagieren. Hilfreich ist, das Motiv der man die Mortalitätsrate durch vermeidbare uner-
Ablehnung herauszufinden, statt mit Gegendruck wünschte Ereignisse bei Krankenhauspatienten auf
zu arbeiten. In manchen Fällen wird es gleichwohl 0,1 %, dies entspräche 17.000 Todesfällen pro Jahr.
5 nicht gelingen, den Patienten zu überzeugen, z. B. Solche Ereignisse werden durch Kommunikations-
mit dem Rauchen aufzuhören oder seinen Lebens- probleme aufgrund der komplexen Abläufe in Kran-
stil zu ändern. Dies muss man als Arzt oder Ärztin kenhäusern begünstigt (Hofmann u. Rohe 2010).
akzeptieren können. Da man rund um die Uhr Dienstleistungen vorhalten
Andere Kranke konfrontieren den Arzt mit muss, ist ein Schichtdienst erforderlich. Bei jeder
festen Vorstellungen davon, wie die Krankheit am Übergabe und auch bei jeder Abstimmung zwischen
besten zu behandeln ist, und setzen ihn unter verschiedenen Abteilungen kann Information ver-
Druck, diese Behandlungsmaßnahmen auszufüh- loren gehen: Medikamente können verwechselt wer-
ren. Dies kann beim Arzt zu einem Widerstand den, bis hin zur Verwechslung von Patienten und
führen, weil er sich in seinem eigenen Handlungs- operativen Eingriffen. Traditionellerweise geht man
spielraum, seiner Therapiefreiheit, eingeschränkt mit Fehlern meist dadurch um, dass diejenige Person,
fühlt. Diesen Widerstand gegen Freiheitseinschrän- der der Fehler unterlaufen ist, persönlich beschuldigt
kungen nennt man Reaktanz. Reaktanz kann ande- und angehalten wird, in Zukunft besser aufzupassen.
rerseits auch beim Patienten auftreten, wenn er sich Diese Vorgehensweise ist jedoch wenig hilfreich.
von ärztlichen Empfehlungen eingeengt fühlt. Irren ist menschlich, und es hilft zur Vermeidung zu-
künftiger Fehler mehr, wenn eine Klinik oder Praxis
Erwartungsenttäuschung Wenn Kranke allzu gro- eine Patientensicherheitskultur entwickelt, die es ihr
ße Hoffnungen in die medizinische Behandlung ermöglicht, aus Fehlern zu lernen. Dazu gehört zu-
setzen, kann es zu Erwartungsenttäuschungen nächst, Fehler oder kritische Ereignisse (critical inci-
kommen. Dies ist beispielsweise häufig bei Patien- dents), die zu Fehlern hätten führen können, zu be-
ten mit kleinzelligem Lungenkrebs der Fall. Zwar richten und offen damit umzugehen. Die kritischen
sprechen die kleinzelligen Bronchialkarzinome Ereignisse können dann genauer untersucht werden,
meist auf die Chemotherapie an, und der Tumor und es können Einflussfaktoren identifiziert und ver-
bildet sich zurück. In der Regel kehrt er jedoch nach ändert werden, damit derartige Ereignisse in Zukunft
wenigen Wochen oder Monaten wieder und kann seltener auftreten.
dann nicht mehr kurativ behandelt werden. Die Pa- Eine Reihe von Maßnahmen hat sich als sinnvoll er-
tienten versterben dann bald, die gesamte Über- wiesen, Fehlern vorzubeugen. Dazu gehören:
lebenszeit beträgt im Median 1–1,5 Jahre. Um der 4 Abbau von Hierarchien und Verbesserung der
Erwartungsenttäuschung vorzubeugen, weisen die Kommunikation,
behandelnden Ärzte schon im Aufklärungsge- 4 Prozesse möglichst einfach gestalten und
spräch nachdrücklich darauf hin, dass es noch keine standardisieren, denn je weniger Aufmerksam-
endgültige Heilung bedeutet, wenn der Tumor nach keit und Gedächtnisleistung bei der Durchfüh-
der Chemotherapie zunächst nicht mehr nach- rung einer Aufgabe notwendig sind, umso weni-
weisbar sein wird. Die Patienten wollen dies aber oft ger Fehler werden dabei gemacht,
gar nicht hören. Sie setzen all ihre Hoffnung darauf, 4 die Patienten einbeziehen, denn informierte Pa-
geheilt zu werden. Umso enttäuschter sind sie dann, tienten können frühzeitig auf Fehler aufmerksam
wenn trotz anfänglicher Remission das Rezidiv machen .
auftritt.
5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
227 5
i Vertiefen
Petermann F (2003) Compliance. In: Jerusalem
M, Weber H (Hrsg) Psychologische Gesundheits-
förderung. Hogrefe, Göttingen, S 695–706
(gute Übersicht über Einflussfaktoren auf die
Compliance und Möglichkeiten ihrer Förderung)
Back AL, Arnold RM (2006) Discussing progno-
sis: »How much do you want to know?« Talking
to patients who are prepared for explicit infor-
mation. Journal of Clinical Oncology 24:4209-
4213 (praktische Empfehlungen zur Gesprächs-
führung bei der Diagnosemitteilung)
Back AL, Arnold RM (2006) Discussing progno-
sis: »How much do you want to know?« Talking
to patients who do not want information or
who are ambivalent. Journal of Clinical Oncolo-
gy 24:4214-4217 (praktische Empfehlungen zur
Gesprächsführung bei der Diagnosemitteilung)
Koch U, Lang K, Mehnert A, Schmeling-Kludas
C (2005) Die Begleitung schwer kranker und
sterbender Menschen. Schattauer, Stuttgart
(sehr empfehlenswertes Textbuch mit vielen
praktischen Anregungen)
Lang K, Koch U, Schmeling-Kludas C (2008)
Die Begleitung schwer kranker und sterbender
Menschen: Das Hamburger Kursprogramm.
Schattauer, Stuttgart (ausgezeichnetes Fortbil-
dungsmanual)
229 6

Untersuchung und Gespräch


H. Faller

6.1 Erstkontakt – 230


6.1.1 Ziele des Erstkontakts – 230
6.1.2 Patientenperspektive – 230
6.1.3 Arztperspektive – 231

6.2 Exploration und Anamnese – 233


6.2.1 Funktion – 233
6.2.2 Formen – 234
6.2.3 Struktur – 234
6.2.4 Fragestile – 236
6.2.5 Schwierigkeiten – 236
6.2.6 Plazeboeffekt – 237

6.3 Körperliche Untersuchung – 238


6.3.1 Psychosoziale Aspekte aus Patientenperspektive – 238
6.3.2 Psychosoziale Aspekte aus Arztperspektive – 239

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
230 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

Patienten kommen meist mit bestimmten Erwartun-


gen zum Arzt. Sie möchten wissen, woran sie leiden, 5 Beratung über Diagnose, Prognose und
erhoffen sich Entlastung von ihren Befürchtungen, Behandlung: Der Patient erhält Information
wollen ein bestimmtes Medikament verschrieben über die Krankheit, ihren voraussichtlichen
bekommen und vieles mehr. Sie sprechen diese Er- Verlauf und den Behandlungserfolg (7 Ab-
wartungen jedoch meist nicht offen aus. Ärzte lassen schn. 8.1.1).
sich häufig von ihren Vermutungen darüber leiten, 5 Entscheidungsfindung: Was soll getan
was die Patienten wohl erwarten. Diese treffen aber werden? Diagnostische Strategien und Be-
oft nicht zu. Die Erwartungen müssen vielmehr offen handlungsmöglichkeiten werden bespro-
angesprochen werden. Auch bei der Exploration chen und eingeleitet. Die Compliance wird
der Beschwerden und der Erhebung der Krankheits- sichergestellt (7 Abschn. 5.5.2).
vorgeschichte ist eine kompetente Gesprächsfüh-
rung grundlegend. Durch eine korrekte Anamnese-
6 erhebung gewinnt der Arzt die nötige Information,
um die richtige Diagnose zu stellen. Bei der körper- 6.1.2 Patientenperspektive
lichen Untersuchung ist schließlich einfühlsames Ver-
halten gefordert, weil der Arzt dem Patienten in Bevor ein Mensch mit seinen Beschwerden zum
einer Weise körperlich nahe kommt, die Scham aus- Arzt geht, hat er meist schon eine ganze Zeit lang
lösen kann. alleine versucht, mit den Symptomen zurechtzu-
kommen (Stadien des Hilfesuchens, 7 Abschn. 9.1.1).
Weil ihm dies nicht gelungen ist oder weil er sich
6.1 Erstkontakt große Sorgen wegen der Symptome macht, be-
schließt er schließlich, professionelle Hilfe in An-
Lernziele spruch zu nehmen. Er erhofft sich vom Arztbesuch
Der Leser soll Abklärung der Situation, Beruhigung und die Be-
5 die 3 Komponenten der Kontrollüberzeugung seitigung der Beschwerden. Aber zuerst musste er
definieren können, die innerliche Hürde überwinden, zum Arzt zu ge-
5 die Bedeutung der iatrogenen Fixierung hen. Ein Arztbesuch kann nämlich zunächst einmal
bei funktionellen Beschwerden erläutern als solcher Verunsicherung mit sich bringen: »Was
können. wird auf mich zukommen? Werde ich ernst genom-
men? Oder hält der Arzt meine Sorgen vielleicht für
übertrieben?« Die Bedürfnisse des Patienten sind,
6.1.1 Ziele des Erstkontakts herauszufinden, was die körperlichen Beschwerden
bedeuten, ob man sie ernst nehmen muss oder
Wenn ein Patient zum 1. Mal mit einer neuen Be- nicht, ob man etwas dagegen tun kann und wie man
schwerdesymptomatik zum Arzt kommt, spricht damit umgehen soll. Er erhofft sich Entlastung,
man von einem Erstkontakt. Unterstützung und Verständnis. Diese Wünsche
bringt er jedoch meist nicht explizit zum Ausdruck.
Ärzte fragen auf der anderen Seite meist nicht da-
Ziele des Erstkontakts nach, welche Erwartungen Patienten mitbringen,
5 Aufbau einer therapeutischen Beziehung: sondern erschließen diese aus deren Äußerungen.
Der Patient fühlt sich verstanden und ange-
nommen. Er erlebt den Arzt als kompetent. Erwartungen an den Arztbesuch Nach empirischen
Beide arbeiten auf das gleiche Ziel hin. Untersuchungen in Arztpraxen und Ambulanzen
5 Definition des Problems: Warum kommt kommen fast alle Patienten mit einer bestimmten
der Patient? Ziele und Wünsche des Patien- Erwartung in die Praxis: Sie wollen ihre Diagnose
ten werden geklärt. wissen, wollen wissen, wie lange die Symptome
dauern werden, wollen ein Medikament verschrie-
6.1 · Erstkontakt
231 6
ben bekommen, erwarten eine diagnostische Unter- den Empfehlungen der Ärzte zu vertrauen (z. B.
suchung oder eine Überweisung. Notfall).
Eine external-fatalistische Kontrollüberzeu-
> Unerfüllte Erwartungen betreffen am häu-
gung gilt hingegen als ungünstig. Sie geht oft mit
figsten diagnostische und prognostische
Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und
Information. Wenn Patienten hingegen diese
einem depressiven Befinden einher.
Information erhalten, reagieren sie mit
Milderung der Symptome und verbessertem
Vorerfahrungen und Vorkenntnisse Patienten ha-
Funktionszustand. Generell gilt, dass Patien-
ben meist schon Erfahrungen mit Ärzten gemacht,
ten, deren Erwartungen erfüllt werden, weni-
die ihr aktuelles Verhalten prägen. Bei einer guten
ger Sorgen und größere Zufriedenheit zum
Vorerfahrung werden sie in den aktuellen Kontakt
Ausdruck bringen.
einen Vertrauensvorschuss einbringen, bei einer
schlechten Vorerfahrung eher misstrauisch sein.
Krankheits- und Kontrollüberzeugungen Patienten Patienten informieren sich meist auch über ihre Er-
kommen mit bestimmten Vorstellungen in die krankung, z. B. in Zeitschriften, die oft medizi-
Praxis, was die Ursachen ihrer Beschwerden sein nische Kolumnen enthalten, oder im Internet. Sie
könnten (Kausalattribution). Sie bringen mehr oder bereiten sich manchmal richtiggehend auf den Erst-
weniger feste Krankheitsüberzeugungen mit (sub- kontakt vor, ohne dies ihrem Arzt aber offen mitzu-
jektive Krankheitstheorie, 7 Abschn. 1.2.4) und ha- teilen. Vorinformation hat Vorteile: Patienten kön-
ben Vorstellungen, auf welche Weise ihre Beschwer- nen die vom Arzt mitgeteilten Informationen besser
den beeinflusst werden könnten (Kontrollüberzeu- einordnen, bei medizinischen Entscheidungen mit-
gungen). wirken und sich autonomer und gleichberechtigter
wahrnehmen (7 Abschn. 5.4.4). Die große Infor-
mationsflut bringt jedoch auch Nachteile mit sich:
Komponenten der Kontrollüberzeugung
Oft sind die Informationen, die in den Medien zu
5 Internale Kontrollüberzeugung: Ich selbst
finden sind, entweder falsch oder einseitig oder ver-
kann meine Beschwerden bzw. die Erkran-
wirrend. Unsicherheit und Angst nehmen dann zu,
kung beeinflussen.
und die Patienten brauchen emotionale Unterstüt-
5 Sozial-externale Kontrollüberzeugung:
zung und Sicherheit von ihrem Arzt. Er muss ihnen
Andere Menschen, z. B. die Ärzte, können
helfen, die jeweilige Information zu bewerten.
meine Beschwerden bzw. die Erkrankung
beeinflussen.
5 External-fatalistische Kontrollüberzeu-
6.1.3 Arztperspektive
gung: Schicksal oder Zufall beeinflussen
meine Beschwerden bzw. Erkrankung.
Beurteilung der Angemessenheit des Beratungsan-
lasses Die Erwartungen der Patienten beeinflussen
Eine internale Kontrollüberzeugung gilt als güns- das Verhalten des Arztes. Patienten, die eine Medi-
tiger Einflussfaktor für Krankheitsbewältigung und kamentenverordnung, Untersuchung oder Über-
Genesung (7 Abschn. 2.4.2). Sie motiviert die Be- weisung wollen, erhalten eine solche auch häufiger
troffenen, durch ihr Gesundheitsverhalten, z. B. als Patienten, die keine derartige Erwartung hegen
körperliche Aktivität, zur Gesundung beizutragen. (wenn auch insgesamt nicht im gewünschten Aus-
Beispiel: In einer Studie hatten chirurgische Pa- maß). In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass
tienten mit starker internaler Kontrollüberzeugung die vom Arzt wahrgenommenen Erwartungen,
einen schnelleren Heilungsverlauf. Auch eine so- also was er glaubt, was der Patient will, noch stärker
zial-externale Kontrollüberzeugung kann sinnvoll als die tatsächlichen Erwartungen der Patienten,
sein, v. a. in Situationen, in denen der Patient selbst dessen Verhalten beeinflussten. Beispiel: Wenn ein
eine eher geringe Einflussmöglichkeit besitzt (z. B. Patient die Erwartung hegt, ein Medikament ver-
Chemotherapie) oder in denen es darauf ankommt, schrieben zu bekommen, erhält er eines mit 3-mal
232 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

so hoher Wahrscheinlichkeit, als wenn er diese Tests durch, so vermittelt er damit ungewollt dem
Erwartung nicht mitbringt. Aber wenn der Arzt Patienten den Eindruck, dass er sich seiner Sache
glaubt, dass der Patient ein Medikament will, ver- nicht sicher ist und vielleicht doch eine organische
schreibt er ein solches mit 10-mal so hoher Wahr- Krankheit hinter den Beschwerden steckt. Verord-
scheinlichkeit. Medikamente sollen aber natürlich net er dem Patienten dann auch noch ein Medika-
primär nach der medizinischen Notwendigkeit, ment, und sei es ein pflanzliches Mittel ohne gra-
d. h. rational, verordnet werden und nicht nach den vierende Nebenwirkungen, auf dessen Beipack-
(möglicherweise unbegründeten) Wünschen des zettel  jedoch als Indikation »Herzkrankheiten«
Patienten. aufgedruckt ist, verstärkt er die Überzeugung des
In einer anderen Studie war der stärkste Ein- Patienten, an einer organischen Krankheit zu leiden
flussfaktor auf das Verhalten des Arztes dement- (iatrogene Fixierung). Bei diesen Patienten wäre es
sprechend die wahrgenommene medizinische Not- deshalb angezeigt, wiederholte diagnostische Tests
wendigkeit einer Maßnahme. Bei einer substantiel- zu verweigern, kein unnötiges Medikament zu ver-
6 len Minderheit der Patienten verordneten die Ärzte ordnen und dem Patienten zugleich zu vermitteln,
jedoch Maßnahmen, obwohl sie diese nicht für dass man ihn mit seinen Beschwerden dennoch
medizinisch gerechtfertigt hielten: 15 % der körper- ernst nimmt.
lichen Untersuchungen, 19 % der Verschreibungen,
22 % der Überweisungen und 46 % der diagnosti- Erster/letzter Eindruck Während des Erstkontakts
schen Abklärungen waren aus Sicht der Ärzte nicht nimmt der Arzt viele Informationen über den Pa-
unbedingt nötig. In dieser Studie war der vom Pa- tienten auf. Dabei hat sich gezeigt, dass manche
tienten ausgeübte Druck ein starker Einfluss- Informationen besonders stark im Gedächtnis haf-
faktor  auf ihr Verhalten. In wieder einer anderen ten bleiben. Es sind dies diejenigen vom Beginn des
Studie jedoch sank die Wahrscheinlichkeit einer Gesprächs (erster Eindruck; primacy-Effekt), z. B.
Verschreibung, wenn sich die Ärzte unter Druck das Aussehen des Patienten, und diejenigen vom
gesetzt fühlten (Reaktanz; 7 Abschn. 5.5.4). Ende des Gesprächs (letzter Eindruck; recency-
Eine Untersuchung anzuordnen oder ein Medi- Effekt). Durch diese beiden Effekte kann die in der
kament zu verschreiben, kann für den Patienten die Zwischenzeit vermittelte Information, die vielleicht
Bedeutung besitzen, dass der Arzt etwas für ihn tut. wichtiger ist, überdeckt werden. Dass sich schon
So gibt es bei Krebspatienten das Phänomen, dass sehr früh ein erster Eindruck einer Person bildet,
diejenigen Patienten, die eine objektiv belastende der nur schwer korrigiert werden kann, ist ein be-
Chemotherapie erhalten, um den Tumor »aggres- kanntes Phänomen der Wahrnehmungspsycho-
siv« zu behandeln, paradoxerweise eine bessere logie. Weitere Beurteilungsfehler werden in 7 Ab-
Lebensqualität angeben als diejenigen, bei denen schn. 6.2.5 dargestellt.
zunächst abgewartet wird, wie der Tumor sich ent-
wickelt. Obwohl viele diagnostische Untersuchun- Stereotypien Stereotype sind Wahrnehmungs-
gen wenig zusätzliche Sicherheit bringen oder man- klischees über eine bestimmte soziale Gruppe. Ein
che Medikamentenverordnungen nur wenigen Pa- wichtiges Beispiel ist das Geschlechtsstereotyp.
tienten nützen, während die Mehrzahl nichts davon Frauen sprechen eher über ihre psychischen Pro-
hat (hohe Number needed to treat, 7 Abschn. 3.7.5), bleme als Männer. Ihre Beschwerden werden dem-
empfinden die Patienten subjektiv mehr Sicherheit gemäß eher als psychisch bedingt wahrgenommen.
und fühlen sich ernst genommen. Frauen erhalten häufiger ein Beruhigungsmittel
verschrieben als Männer. Körperliche Beschwerden
> Besonders schädlich sind übermäßige diag-
werden bei Frauen häufiger als psychosomatisch
nostische und therapeutische Maßnahmen
betrachtet. Dies führt beispielsweise dazu, dass ein
bei Patienten mit körperlichen Beschwerden
Herzinfarkt bei Frauen seltener frühzeitig diagnos-
ohne organische Ursache (Somatisierung).
tiziert wird. Ein anderes Stereotyp ist, dass Alko-
Führt der Arzt bei diesen Patienten auch nach aus- holkranke eine rote Gesichtsfärbung besitzen, was
reichender Abklärung immer wieder diagnostische zu einem Fehlschluss führen kann.
6.2 · Exploration und Anamnese
233 6
i Vertiefen Screening-Verfahren, wie z. B. 2 Fragen nach de-
Bensing JM, Langewitz W (2008) Die ärztliche pressiven Symptomen, lassen sich ohne großen Auf-
Konsultation. In: Adler RH, Herrmann JM, Köhle wand erste Hinweise auf Diagnosen gewinnen.
K, Langewitz W, Schonecke OW, Uexküll Tv, Für die häufigsten Diagnosen existieren dia-
Wesiack W (Hrsg) Uexküll Psychosomatische gnostische Leitlinien, in denen das diagnostische
Medizin, 6. Aufl Urban & Fischer, München, Vorgehen genau festgelegt ist. Je nach dem Ergebnis
S 415-424 (gute Übersicht über die Struktur der der Befragung, der körperlichen Untersuchung und
Arzt-Patient-Kommunikation beim Erstkontakt) diagnostischen Tests schließen sich weitere dia-
gnostische Schritte an. In den Leitlinien ist dieser
diagnostische Prozess in Form eines Flussdia-
6.2 Exploration und Anamnese gramms oder eines Algorithmus festgelegt.
Zur Diagnostik gehört auch der Ausschluss von
Lernziele Differenzialdiagnosen, d. h. alternativen Diagno-
Der Leser soll sen, die auch in Betracht kommen können. Oft las-
5 Formen der Anamnese unterscheiden können, sen sich zu Beginn des diagnostischen Prozesses
5 die Gesprächstechnik des aktiven Zuhörens noch nicht alle Differenzialdiagnosen ausschließen.
beschreiben können, Sie bleiben als alternative Hypothesen »im Hin-
5 verschiedene Frageformate beschreiben terkopf«, bis weitere Information vorliegt, um sie
können, immer unwahrscheinlicher zu machen oder ganz
5 Beobachtungs- und Beurteilungsfehler auszuschließen.
beschreiben können, Falls keine unmittelbare Gefahr im Verzug liegt,
5 den Plazeboeffekt beschreiben können. kann es auch sinnvoll sein, erst einmal abzuwarten
und die Beschwerden zu beobachten (abwartendes
Beobachten, watchful waiting). Im weiteren Verlauf
6.2.1 Funktion wird die Diagnose dann möglicherweise klarer. Dies
gilt selbstverständlich nur bei Symptomen, deren
Unter Exploration versteht man die Befragung des Verlauf wahrscheinlich gutartig ist, wie dies in
Patienten, unter Anamnese die Erhebung seiner der Primärversorgung meist der Fall ist. Bei akuten
Krankheitsvorgeschichte. Beide Begriffe werden je- Infektionserkrankungen oder Verdacht auf eine
doch nicht trennscharf voneinander abgehoben. Krebserkrankung ist Abwarten natürlich nicht an-
Das Anamnesegespräch hat primär eine diagnos- gebracht.
tische Funktion. Es dient der Datengewinnung, Das Anamnesegespräch hat neben der diag-
um eine Diagnose stellen zu können. Die Beschwer- nostischen auch eine therapeutische Funktion. Die
den, die der Patient nennt, werden vom Arzt in Diagnosestellung ist schon deshalb therapeutisch
Symptome »übersetzt«, aus denen er wiederum die relevant, weil sie die Therapieplanung ermöglicht.
Diagnose ableitet. Im Englischen ist die Bezeich- Sie hat aber auch für den Patienten einen direkten
nung etwas abweichend: Subjektive Beschwerden entlastenden Effekt: Er weiß nun endlich, woran er
werden als symptoms bezeichnet, Symptome, d. h. leidet. Damit ist eine wesentliche Erwartung an den
Krankheitszeichen, als signs. Arztbesuch erfüllt (7 Abschn. 6.1.1). Weitere Funk-
Meist lässt sich aufgrund der Beschwerdeschil- tionen des ärztlichen Gesprächs, die jedoch nicht
derung des Patienten eine diagnostische Hypo- mehr zur Exploration und Anamnese im engeren
these formulieren (»Häufige Diagnosen sind wahr- Sinne gehören, sind Aufklärung (7 Abschn. 5.5.3),
scheinlicher, seltene weniger wahrscheinlich.«). Um Edukation (7 Abschn. 8.1) und emotionale Unter-
die Diagnose zu sichern, müssen jedoch noch wei- stützung (7 Abschn. 5.4.8).
tere Fragen gestellt, Befunde erhoben und Unter-
suchungen durchgeführt werden. Die Diagnose-
stellung ist meist kein einmaliger Akt, sondern ein
längerer Prozess (7 Abschn. 7.1.1). Mittels einfacher
234 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

6.2.2 Formen weil sie der Selbstbeobachtung nur teilweise zu-


gänglich sind, ist die Verhaltensbeobachtung eine
unschätzbare Quelle, um das Verhalten zutreffend
beschreiben und dessen Bedingungen einschätzen
Formen der Anamnese
zu können.
5 Eigenanamnese: Der Patient wird selbst
befragt.
Klinik: Verhaltensbeobachtung
5 Fremdanamnese: Eine andere Person wird
Ein Patient leidet an chronischen Schmerzen, wobei
über den Patienten befragt (z. B. die Ehefrau
sich kein hinreichender organischer Befund finden
bei einem dementen oder bewusstlosen
lässt, der die Schmerzen erklären könnte (anhalten-
Patienten oder die Eltern bei einem Kind).
de somatoforme Schmerzstörung). Zu einem
5 Sozialanamnese: Die Lebensverhältnisse
Gespräch mit dem Patienten lädt der Hausarzt auch
des Patienten, wie Arbeit und Partnerschaft,
dessen Ehefrau ein, um die Interaktion der beiden
6 sind Thema.
beobachten zu können. Er stellt fest, dass immer
5 Krankheitsanamnese: Thema sind bis-
dann, wenn der Patient mit schmerzverzerrtem Ge-
herige Erkrankungen.
sicht seine Klagen vorbringt, sich ihm die Ehefrau
5 Familienanamnese: Erkrankungen in der
tröstend zuwendet. Auf diese Weise kann der Haus-
Familie können auf eine familiäre Disposi-
arzt eine aufrechterhaltende Bedingung, das Ver-
tion hinweisen (z. B. hereditärer Brustkrebs).
halten der Ehefrau, welches als positiver Verstärker
5 Entwicklungsanamnese: Die lebensge-
wirkt, identifizieren. Er kann nun mit dem Paar be-
schichtliche Entwicklung wird besprochen.
sprechen, dass die Ehefrau sich ihm nicht mehr dann
Beispiel: Belastende Lebensereignisse
zuwendet, wenn er über seine Schmerzen klagt,
können einer Erkrankung vorausgehen.
sondern wenn er trotz Schmerzen im Alltagsleben
5 Medikamentenanamnese: Die bisherige
aktiv ist. Infolgedessen wird gemäß dem operanten
Medikation wird erfragt. Beispiele: Kopf-
Lernmodell ein neues, erwünschtes Verhalten ver-
schmerzmedikamente können bei langem
stärkt.
Gebrauch selbst Kopfschmerzen erzeugen.
Bei Benzodiazepinen besteht die Gefahr
der Abhängigkeit.
6.2.3 Struktur

Rahmenbedingungen Ein erfolgreiches Anamnese-


Verhaltensanalyse In der Verhaltenstherapie wird gespräch braucht bestimmte Rahmenbedingun-
für die Psychotherapieplanung eine Verhaltens- gen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten: Es
analyse durchgeführt. Diese folgt dem SORKC-Sche- sollte in einem ruhigen, ungestörten Raum statt-
ma, das bereits in 7 Abschn. 2.1.2 am Beispiel eines finden, möglichst ohne Unterbrechung durch Tele-
Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vorge- fonate oder Piepser. Eine bequeme Sitzgelegenheit
stellt wurde. in angemessener Distanz (nicht zu nah, nicht zu
Als horizontale Verhaltensanalyse bezeichnet weit weg) und mit der Möglichkeit, ohne Hinder-
man die Analyse der aktuell wirksamen auslösenden nisse Blickkontakt aufnehmen zu können, sind
und aufrechterhaltenden Bedingungen des Verhal- ebenfalls selbstverständlich. Der Computermonitor
tens. Unter vertikaler Verhaltensanalyse wird eine auf dem Schreibtisch sollte nicht den Blick auf den
längsschnittliche, biographische Betrachtung ver- Patienten verdecken. Im Krankenhaus kann es sinn-
standen: Wie hat sich das Problemverhalten im Lau- voll sein, einen Stuhl ans Krankenbett zu rücken,
fe der Lebensgeschichte des Patienten entwickelt? um dem Patienten in Augenhöhe gegenüberzu-
Außerdem wird eine Hierarchie der Ziele, Wertvor- sitzen. Der Arzt begrüßt den Patienten, indem er
stellungen und Pläne des Patienten erarbeitet. seinen Namen nennt, im Krankenhaus auch seine
Da das eigene Verhalten und seine Einflussfak- Funktion. Wenn man nur eine eng begrenzte Zeit
toren oft nicht korrekt beschrieben werden können, zur Verfügung hat, kann es sinnvoll sein, dem Pa-
6.2 · Exploration und Anamnese
235 6
tienten den Zeitrahmen zu nennen und das (be- Wie sehr beeinträchtigen die Beschwerden das All-
grenzte) Ziel des Gesprächs zu formulieren. tagsleben? Wann haben die Beschwerden begon-
nen? In dieser Phase verhält sich der Arzt direktiv:
> Gesprächseröffnung: Das Anamnesege-
Er gibt die Themen vor, verwendet strukturierte
spräch wird mit einer offenen Frage eröffnet:
Fragen (7 Abschn. 6.2.4).
»Was führt Sie her?« Dies wirkt als Auffor-
Patienten erleben es als hilfreich, wenn der Arzt
derung für den Patienten, zunächst einmal
ihnen Orientierung über den weiteren Gesprächs-
ungehindert von seinen Beschwerden oder
verlauf bietet, also z. B. ankündigt, was er als nächs-
Problemen zu erzählen.
tes tun wird, ob und wann er den Patienten unter-
suchen wird und dass der Patient zum Abschluss
Aktives Zuhören Während der Patient redet, muss des Gesprächs noch einmal Gelegenheit für Fragen
der Arzt erst einmal zuhören. Er ist dabei jedoch hat. Das Gesprächsende sollte rechtzeitig angekün-
nicht passiv, sondern aktiv: Er hält Blickkontakt, digt werden, damit der Patient die noch offenen
zeigt dem Patienten durch nonverbale Signale, wie Fragen stellen kann.
Kopfnicken, oder verbale Äußerungen, wie »Ja?«, Dabei ist auch die subjektive Krankheitstheo-
dass er bei der Sache ist und ihn zu verstehen ver- rie des Patienten von Bedeutung. Der Arzt sollte
sucht. Wenn der Patient stockt, sollte der Arzt ihn explizit danach fragen, woran der Patient selbst zu
aufmunternd anblicken oder eine gesprächserleich- leiden glaubt: »Woher, glauben Sie, kommen Ihre
ternde Äußerung anbringen: »Und dann?« oder Beschwerden?« und was er für die angemessene Be-
»Und wie ging es weiter?«. Kurze Pausen müssen handlung hält: »Was glauben Sie, würde Ihnen am
nicht gleich durch eigene Fragen unterbrochen besten helfen?«. Damit bringt der Arzt nicht eigene
werden. Sinnvoller ist es, dasjenige, was der Patient Unsicherheit zum Ausdruck, sondern erleichtert es
gesagt hat, noch einmal in eigenen Worten zu dem Patienten, über etwaige Sorgen zu sprechen,
wiederholen (paraphrasieren): »Habe ich Sie richtig z. B. an einer schweren Krankheit zu leiden, an der
verstanden, dass …?«. Nach längeren Passagen fasst ein Familienmitglied verstorben ist. Außerdem ist
er in eigenen Worten die Aussagen des Patienten es für den Arzt wichtig, die Behandlungserwar-
noch einmal zusammen. Diese Form des Zuhörens tungen des Patienten zu kennen, um seinen eigenen
wird aktives Zuhören genannt. Therapieplan darauf abstimmen und mit dem Pa-
Gewinnt man den Eindruck, dass in der Erzäh- tienten erörtern zu können. Beispiel: Patienten mit
lung des Patienten eine Sorge mitschwingt, sollte psychischen Störungen haben oft eine klare Prä-
man diese in Worte fassen: »Ich habe den Eindruck, ferenz hinsichtlich Psychotherapie oder medika-
dass Sie sich deswegen Sorgen machen?« Wenn der mentöser Behandlung. Die Ablehnung von Medika-
Arzt die potenziellen Gefühle einfühlsam und mit menten beruht manchmal auf falschen Vorstellun-
einem fragenden Unterton anspricht (Empathie), gen, z. B. Antidepressiva würden abhängig machen
fällt es dem Patienten leichter, mehr davon zu er- oder die Persönlichkeit verändern.
zählen. In dieser Eröffnungsphase des Anamnese- Weitere Aufgaben sind, das Informationsbe-
gesprächs verhält sich der Arzt nondirektiv: Er dürfnis des Patienten zu explorieren sowie die
überlässt den Gang des Gesprächs weitgehend dem Rolle zu verhandeln, die er im Rahmen der gemein-
Patienten, gibt nicht selbst die Themen vor. samen Entscheidungsfindung einnehmen will
(7 Abschn. 5.4.4). Eine partnerschaftliche Entschei-
Strukturierte Gesprächsphase Wenn der Patient dungsfindung ist zwar das Ideal, das man anstreben
seine Beschwerdeschilderung zum Abschluss ge- sollte, aber nicht alle Patienten wollen in die Ent-
bracht hat, kann der Arzt die Beschwerden detail- scheidung über die Behandlung einbezogen wer-
lierter explorieren: Wie intensiv ist der Schmerz? den, manche fühlen sich überfordert. Um dies he-
Wie fühlt er sich an? Wo ist er lokalisiert? Wann und rauszufinden, muss der Arzt mit dem Patient offen
wie oft tritt der Schmerz auf? Sind gleichzeitig noch darüber sprechen. Am Ende des Gesprächs klären
andere Beschwerden vorhanden? Unter welchen Arzt und Patient gemeinsam den Auftrag, den der
Bedingungen nehmen die Beschwerden zu oder ab? Patienten dem Arzt gibt, sowie das weitere Vor-
236 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

gehen. Sie vereinbaren z. B. einen neuen Termin für Fachausdrücke sollten in Alltagssprache übersetzt
zusätzliche Untersuchungen. oder erläutert werden.

Arztzentriert vs. patientenzentriert Bei der Ge-


6.2.4 Fragestile sprächsgestaltung können ein arztzentriertes und
ein patientenzentriertes Vorgehen unterschieden
werden. Beim arztzentrierten Vorgehen gibt der
Arzt die Themen vor, stellt geschlossene Fragen und
Frageformate
unterbricht den Patienten, wenn dieser zu weit ab-
5 Offene Frage: Eine offene Frage, z. B. »Was
schweift. Wenngleich dieses Vorgehen im späteren
führt Sie her?«, fordert den Gesprächspart-
Verlauf der Anamneseerhebung seine Berechtigung
ner auf, in eigenen Worten zu antworten.
hat, würde es die Breite der Information unnötig
5 Geschlossene Frage: Bei der geschlossenen
einschränken, wenn man zu früh damit beginnen
6 Frage sind die Antwortmöglichkeiten fest-
würde. Man würde dann nichts über die Bedürf-
gelegt. Sie kann entweder mit »ja« oder
nisse des Patienten erfahren, seine Wünsche und
»nein« beantwortet werden, z. B. »Haben
Präferenzen oder seine Sorgen und Befürchtungen.
Sie Schmerzen?« Oder sie gibt mehrere Ant-
Deshalb ist sowohl zu Beginn des Gesprächs als
wortmöglichkeiten vor, zwischen denen der
auch wieder am Ende bei der Besprechung der Be-
Befragte eine Auswahl treffen kann, wie bei
handlungsmöglichkeiten ein patientenzentriertes
Alternativfragen oder Katalogfragen (s. u.).
Vorgehen angezeigt. Der Arzt ermutigt hierbei den
5 Alternativfrage: Hier werden 2 Antwort-
Patienten, seine eigenen Vorstellungen einzubrin-
möglichkeiten vorgegeben: »Spüren Sie
gen, er stellt offene Fragen, lässt den Patienten aus-
den Schmerz oberflächlich oder tief?«
reden und geht auf seine Emotionen ein. Sein Inter-
5 Katalogfrage: Hier werden mehr als 2 Ant-
viewstil ist nondirektiv. Der Patient wird dadurch in
wortmöglichkeiten vorgegeben. Die Mul-
seiner Autonomie gefördert und als gleichberech-
tiple-choice-Frage ist eine Katalogfrage.
tigter Partner im Entscheidungsprozess anerkannt.
5 Suggestivfrage: Suggestivfragen legen
einem die inhaltliche Antwort nahe. Bei-
Beobachtungs- und Beurteilungsfehler Beobach-
spiel: »Es geht Ihnen doch schon wieder
tungs- und Beurteilungsfehler verzerren das Er-
besser, nicht wahr?« Suggestivfragen sind
gebnis einer Wahrnehmung oder Beurteilung. Sie
für die Datengewinnung ungeeignet, sie
können dazu führen, dass die Information, die der
verzerren das Ergebnis.
Arzt erhebt, nicht valide ist. Eine falsche Diagnose
oder Behandlung kann die Folge sein. Als Beobach-
tungs- und Beurteilungsfehler werden folgende
unterschieden.
6.2.5 Schwierigkeiten

Bei der Anamneseerhebung müssen auch Schwie- Beobachtungs- und Beurteilungsfehler


rigkeiten überwunden werden, z. B. Sprachbarrie- 5 Halo-Effekt: Beim Halo-Effekt strahlt ein
ren, wenn Patienten aus einer anderen Kultur stam- Merkmal auf andere Merkmale aus, wie der
men. Sprachbarrieren können auch durch unter- Hof des Mondes (halo). Beispiel: Ein Arzt
schiedliche Sprachcodes (restringierter vs. elabo- hält einen gut gekleideten Patienten des-
rierter Code; 7 Abschn. 4.7.4) bedingt sein. Für den wegen auch für kooperativ bei der Behand-
Arzt ist es wichtig, den Sprachstil seines Patienten lung.
zu berücksichtigen, um ihn nicht zu überfordern. Er 5 Kontrasteffekt: Beim Kontrasteffekt werden
sollte sich immer einfach und klar ausdrücken, Unterschiede übertrieben. Beispiel: Ein Arzt,
sprachliche Bilder und Metaphern verwenden oder der die Nacht über Notdienst hatte, erlebt
Graphiken zur Veranschaulichung hinzuziehen.
6.2 · Exploration und Anamnese
237 6
pharmakologisch wirksame Substanz enthält. Älte-
die Patienten der Routinepraxis als eigent- re, kleinere Studien hatten teilweise über große
lich gar nicht richtig krank (und übersieht Plazeboeffekte berichtet. Dies lag jedoch an metho-
deshalb eine schwerwiegende Diagnose). dischen Fehlern. Diese Studien waren meist ein-
5 Milde-Effekt: Beim Milde-Effekt werden fache Prä-Post-Studien. Verbesserungen im Zeit-
die Merkmale eines Menschen zu günstig verlauf können dann nicht allein auf das Plazebo
beurteilt (Gegenteil: Härte-Effekt). zurückgeführt werden. Andere Einflussfaktoren,
5 Effekt der zentralen Tendenz: Beurteiler wie der natürliche Krankheitsverlauf (spontane
tendieren dazu, eher die mittleren Werte Besserung) und die statistische Regression extremer
eines Skalenbereichs anzukreuzen, und Werte zur Mitte, tragen ebenfalls dazu bei (7 Ab-
scheuen sich vor extremen Werten. schn. 3.4.3). Zudem sind kleine Studien einem gro-
5 Projektion: Eigenschaften, die man an ßen Stichprobenfehler ausgesetzt. Sie produzieren
sich selbst nicht akzeptieren kann, werden per Zufall unpräzise, stark schwankende Ergeb-
anderen Menschen zugeschrieben (Ab- nisse. Neuere größere Studien, die einen Vergleich
wehrmechanismus; 7 Abschn. 2.3.5). Bei- zwischen Plazebo und keiner Behandlung beinhal-
spiel: Ein Arzt, der sich nicht eingestehen ten, so dass der Effekt der spontanen Besserung und
vermag, überlastet zu sein, nimmt stattdes- der Regression zur Mitte kontrolliert und die reine
sen seine Patienten als hilfsbedürftig wahr Plazebowirkung aufgedeckt wird, haben geringere
(7 Abschn. 6.2.6). Plazeboeffekte gefunden.
Eine Metaanalyse über sehr viele Studien, in de-
nen ein Plazebo mit keiner Behandlung verglichen
Erwartungseffekte Eine Erwartung kann das er- wurde, hatte folgende Ergebnisse: Im Hinblick auf
wartete Ergebnis hervorbringen (self-fulfilling »harte Endpunkte«, wie z. B. Krankheitsereignisse
prophecy). Solche Erwartungseffekte gehen über oder die Sterblichkeit, ist ein Plazebo wirkungslos.
Beobachtungs- und Beurteilungsfehler hinaus. Sie Es verbessert lediglich die subjektiv eingeschätzten
beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung, sondern Beschwerden, insbesondere Schmerzen. Eine sepa-
das tatsächliche Verhalten eines Menschen. In der rate Metaanalyse über Studien mit Krebskranken
Medizin spielen 2 Erwartungseffekte eine wichtige hat dasselbe Ergebnis erbracht: Eine Plazebobe-
Rolle. Der eine bezieht sich auf den Arzt (Rosenthal- handlung verlängerte die Überlebenszeit nicht, und
Effekt), der andere auf den Patienten (Plazeboeffekt, auch die Lebensqualität scheint kaum gebessert zu
7 Kap. 5.4.4). Beide können auch zusammenwirken. werden, wohl aber die Schmerzintensität.
Nun sind plazebokontrollierte klinische Studien
Rosenthal-Effekt Der Rosenthal-Effekt ist ein Ver- vielleicht nicht die beste Möglichkeit, Plazeboef-
suchsleitereffekt (7 Abschn. 3.4.3). Er besagt, dass fekte zu untersuchen, weil diejenigen Studienteil-
die Erwartung des Versuchsleiters, wie ein Experi- nehmer, die in die Plazebobedingung randomisiert
ment ausgeht, dieses Ergebnis herbeiführt. Etwas werden, ja keine spezielle Suggestion erhalten, dass
Analoges gibt es auch in der Arzt-Patient-Bezie- das Plazebo ein wirksames Medikament sei. Sie er-
hung. Beispiel: Ein Arzt, der von der Wirksamkeit halten (wie auch die Teilnehmer der Verum-Bedin-
eines Schmerzmittels überzeugt ist, kann seine Pa- gung) die Information, dass sie eine 50%-ige Chance
tienten unbewusst dahingehend beeinflussen (Sug- besitzen, entweder das echte oder das Scheinmedi-
gestion), dass sie eine Besserung ihrer Schmerzen kament zu erhalten. Dies ist anders in experimentel-
wahrnehmen. len Studien, in denen der Plazeboeffekt als solcher
untersucht wird. Hier wird den Probanden meist
gesagt, dass das Mittel, das sie erhalten, ein sehr
6.2.6 Plazeboeffekt wirksames Medikament sei. Dadurch wird eine
starke Erwartung erzeugt. Entsprechend findet man
Als Plazeboeffekt bezeichnet man die Wirkung hier stärkere Plazeboeffekte, insbesondere in Bezug
eines Scheinmedikaments (Plazebo), das keine auf Schmerzlinderung (Plazeboanalgesie).
238 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

Wirkmechanismen Wie kann man den Plazebo- haben. Beim Nozeboeffekt wird durch die (Auto-)
effekt erklären? Als wichtigster Wirkfaktor werden suggestion von Beschwerden Angst ausgelöst. Er
die Erwartungen des Patienten angesehen. Wenn ist deshalb durch Benzodiazepine blockierbar.
der Patient davon überzeugt ist, dass eine Behand- Weiterhin wird Cholezystokinin (CCK) stimuliert,
lung ihm hilft, so ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, welches die Schmerzwahrnehmung verstärkt.
dass er eine Besserung seiner Beschwerden wahr- Dieser Pfad ist durch CCK-Antagonisten blockier-
nimmt. Den Erwartungseffekt kann man auch da- bar. Negative Erwartungen gehen zudem mit
durch demonstrieren, dass man ein Plazebo »ver- einer verminderten Dopamin- und Opioid-Akti-
deckt« gibt, d. h. ohne dass der Patienten dies merkt, vität im Ncl. accumbens einher. Der Nozeboeffekt
z. B. über eine schon liegende Infusion, mit der Fol- führt in ein ethisches Dilemma: Auf der einen Seite
ge, dass der Plazeboeffekt ausbleibt. müssen Patienten über Risiken und Nebenwir-
Ein zweiter Erklärungsansatz besteht in der kungen einer Behandlung aufgeklärt werden, auf
klassischen Konditionierung (7 Abschn. 2.1.1). der anderen Seite weckt man dadurch negative Er-
6 Unspezifische Bedingungen, wie die Einnahme wartungen, die unerwünschte Wirkungen fördern
einer Tablette (unabhängig von deren Inhalt), eine können.
Spritze, der Kontakt mit dem Arzt oder ein be-
i Vertiefen
stimmtes medizinisches Ritual, sind zu konditio-
Fritzsche K, Wirsching M (Hrsg) (2006) Psycho-
nierten Reizen geworden, weil sie in der Vergangen-
somatische Medizin und Psychotherapie.
heit schon einmal mit einer wirksamen Behandlung
Springer, Berlin (enthält viele Tipps und Formu-
verknüpft waren. Dadurch können diese unspezi-
lierungsvorschläge für das Anamnesegespräch)
fischen Bedingungen nun selbst eine Besserung der
Benedetti F (2014) Placebo effects. 2. Aufl.
Beschwerden auslösen. Während die Erwartung
Oxford University Press, New York (Überblick
einer Beschwerdebesserung auf verbaler Suggestion
über den Stand des Wissens zum Plazeboeffekt,
basiert und oft bewusst ist, läuft die klassische Kon-
insbesondere seinen neurobiologischen Grund-
ditionierung unbewusst ab.
lagen)
Der Plazeboeffekt wird sowohl über die Erwar-
tung einer Beschwerdelinderung als auch eine Ver-
minderung von Angst vermittelt. Er läuft über das
endogene Opioid-System (anteriorer zingulärer 6.3 Körperliche Untersuchung
Kortex, präfrontaler Kortex, Insel, Ncl. accumbens,
Amygdala, zentrales Höhlengrau) und ist durch den Lernziele
Opioid-Antagonisten Naloxon blockierbar. Doch Der Leser soll
auch das dopaminerge Belohnungssystem (z. B. 5 Möglichkeiten der Reduktion von Angst und
Ncl. accumbens) ist beteiligt. Die Angstminderung Scham bei der körperlichen Untersuchung
läuft über eine Zunahme der Aktivität im präfron- benennen können.
talen Kortex mit nachfolgender Hemmung von Re-
gionen, die für den emotional belastenden Aspekt
des Schmerzes verantwortlich sind (anteriorer zin- 6.3.1 Psychosoziale Aspekte
gulärer Kortex). Über das zentrale Höhlengrau wer- aus Patientenperspektive
den zudem absteigende hemmende nozizeptive
Bahnen aktiviert. Für den Patienten bedeutet eine körperliche Unter-
Es gibt auch einen Nozeboeffekt, d. h. die Er- suchung, dass ein ihm fremder Mensch (der Arzt)
wartung, dass Beschwerden auftreten oder sich seine Intimität verletzt: Er beobachtet seinen nack-
verschlimmern. Dieser lässt sich in klinischen Stu- ten Körper, berührt und betastet ihn. Nackt den
dien beobachten: Viele der im Beipackzettel er- Blicken eines anderen Menschen ausgesetzt zu sein,
wähnten Nebenwirkungen werden von den Patien- löst Gefühle von Scham aus. Noch mehr können
ten berichtet, auch wenn sie das Plazebo, also eine eindringende Untersuchungen, wie die vaginale
pharmakologisch inerte Substanz eingenommen Untersuchung im Rahmen der gynäkologischen
6.3 · Körperliche Untersuchung
239 6
Untersuchung oder die rektale Untersuchung, Scham seinen Empfindungen fragen: »Tut das weh, wenn
und Angst auslösen. Bei der Koloskopie haben die ich hier drücke?«
Patienten häufig Angst vor Schmerzen, bei der Gas- Der Arzt sollte es dem Patienten ermöglichen,
troskopie keine Luft zu bekommen. nur denjenigen Teil seines Körpers zu exponieren,
Das Schamerleben wird noch verstärkt, wenn der unmittelbar untersucht wird. Beispielsweise
andere Personen anwesend sind. Beispiele: Unter- kann der Patient so gut wie immer seine Unter-
suchung während der Visite im Krankenzimmer. wäsche anbehalten, was ihm einen Rest von Intimi-
Demonstration beim klinischen Unterricht am tät bewahrt. Die Zeit, die der Patient (partiell)
Krankenbett. Manche Patienten empfinden es als entkleidet ist, sollte so kurz wie möglich gehalten
höchst peinlich, als »Anschauungsobjekt« für an- werden.
dere zu dienen. Auch die körperliche Untersuchung ist juris-
Die Angst während der körperlichen Unter- tisch gesehen ein Eingriff, zu dem der Arzt nur dann
suchung oder bei apparativen Tests kann der Arzt berechtigt ist (Eingriffsrecht), wenn der Patient zu-
durch Information und eine ruhige, sachliche stimmt, und zwar auf der Basis aller nötigen In-
Sprache abmildern. Wenn beispielsweise ein Patient formationen (informierte Zustimmung). Deshalb
während der Gastroskopie Erstickungsangst be- muss der Patient wissen, zu welchem Zweck eine
kommt und zu hyperventilieren beginnt, kann der Untersuchung durchgeführt wird. Zwar hat er dem
Arzt die entstehende Panik abfangen, indem er be- Arzt durch seinen Praxisbesuch zunächst einmal
ruhigend auf ihn einspricht. unausgesprochen die Zustimmung zu einer körper-
Im Umgang mit der Intimitätsverletzung gibt lichen Untersuchung gegeben, dennoch könnte er
es große interkulturelle Unterschiede. Während diese Zustimmung, wenn ihm etwas nicht nachvoll-
es in den westlichen Industriegesellschaften in- ziehbar, unangemessen oder schmerzhaft erscheint,
zwischen für viele Menschen selbstverständlich ist, jederzeit wieder zurückziehen. Auch deshalb ist es
sich vom Arzt körperlich untersuchen zu lassen, wichtig, dass der Arzt mit dem Patienten darüber
besteht in nichtwestlichen Kulturen diesbezüglich spricht, was er als nächstes tun wird und weshalb.
oft noch ein großes Tabu. Der Arzt sollte die kul- Dadurch sichert er sich das kontinuierliche Einver-
turellen Einstellungen seiner Patienten kennen, ständnis des Patienten und fördert dessen Koopera-
um dieses Tabu nicht zu verletzen und gleichwohl tion. Die erhobenen Befunde sollte er dem Patien-
seinen ärztlichen Auftrag erfüllen zu können. Auch ten aber erst nach Abschluss der Untersuchung
seitens der Ärzte gibt es Grenzen der Einfühlung mitteilen, wenn der Patient dem Arzt wieder ange-
(soziokulturelle Barrieren), die berücksichtigt kleidet gegenübersitzt.
werden müssen. Manche Frauen bevorzugen bei- Während der körperlichen Untersuchung sollte
spielsweise für eine gynäkologische Untersuchung der Arzt affektive Neutralität bewahren. Dies be-
lieber eine Ärztin, die ihre Probleme besser nach- deutet, eigene negative Gefühle zu kontrollieren,
fühlen kann. z. B. wenn er einen Obdachlosen untersucht, der
sich seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen hat.
Dasselbe gilt aber auch umgekehrt für positive Ge-
6.3.2 Psychosoziale Aspekte fühle, wie die erotische Anziehung, die ein Arzt ge-
aus Arztperspektive genüber einer attraktiven Patientin empfinden
kann.
Um dem Patienten Angst und Scham zu nehmen, Patienten, die sich sehr ängstigen oder unter
sollte der Arzt vor und während der körperlichen starken Schmerzen leiden, erwarten vom Arzt Be-
Untersuchung immer wieder Orientierung geben. ruhigung und Hilfe. Dadurch können Erlebens-
Er sollte dem Patienten jeweils ankündigen, was und Verhaltensmuster reaktiviert werden, die ur-
als nächstes passiert: Was mache ich jetzt und mit sprünglich aus der Mutter-Kind-Beziehung stam-
welchem Ziel? Er sollte die Untersuchung nicht men. Dieser Vorgang wird in der Psychoanalyse als
schweigend durchführen, sondern sich während- Übertragung bezeichnet (7 Abschn. 5.4.9). Der Arzt
dessen mit dem Patienten unterhalten und ihn nach kann dies daran erkennen, dass die Gefühle, die der
240 Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch

Patient ihm entgegenbringt, stärker sind, als es die


Situation erklärt. Der Patient befindet sich dann in
einer besonders hilflosen und verletzlichen Lage,
die vom Arzt aufgefangen werden muss und nicht
missbraucht werden darf. Die Reaktion des Arztes
auf die Beziehungsangebote des Patienten wird in
der Psychoanalyse Gegenübertragung genannt.
Gegenübertragungsreaktionen sollten reflektiert
(Was löst der Patient in mir aus?) und nicht aus-
agiert werden. Sachlichkeit, Neutralität und das
Vermeiden eines missverständlichen Verhaltens
(zweideutige Bemerkungen oder Witze) sind obers-
tes Gebot.
6
241 7

Urteilsbildung
und Entscheidung
K. Meng, S. Neuderth, H. Faller, M. Richard

7.1 Grundlagen der diagnostischen Entscheidung – 242


K. Meng, S. Neuderth, H. Faller
7.1.1 Diagnostischer Prozess – 242
7.1.2 Diagnostik und Behandlung – 243

7.2 Urteilsqualität – 244


M. Richard, H. Faller
7.2.1 Beurteilerübereinstimmung – 244
7.2.2 Entscheidungskonflikte und -fehler – 245
7.2.3 Urteilsheuristiken – 247

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
242 Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung

Diagnostische Beurteilungen zu treffen und thera- wortung, d. h. eine Entscheidung für eine mögliche
peutische Entscheidungen zu fällen, gehört zum Diagnose. Eine Diagnose stellt eine Bezeichnung
ärztlichen Berufsalltag. Da häufig nicht alle notwen- von Krankheitszuständen dar, die bei verschiede-
digen Informationen vorliegen, handelt es sich um nen Individuen durch ähnliche Symptomatik, eine
Entscheidungen unter Unsicherheit. Diese können einheitliche Ätiologie/Genese sowie vergleichbare
zudem durch psychologische Einflussfaktoren ver- therapeutische Vorgehensweise und Prognose ge-
zerrt werden. Wenn man die verzerrenden Einflüsse kennzeichnet sind (zu Klassifikationssystemen wie
kennt, kann man sich ein Stück weit von ihnen frei der ICD-10, 7 Abschn. 1.3.2).
machen. Zudem gibt es eine Reihe von Hilfsmitteln, Zur Beantwortung der Fragestellung erfolgt eine
ärztliche Entscheidungen zu verbessern. hypothesengeleitete Datenerhebung mittels rele-
vanter Informationsquellen (z. B. Anamnese, kör-
perliche Untersuchung, apparative Verfahren, La-
7.1 Grundlagen der diagnostischen bordiagnostik), um eine Entscheidungsgrundlage
Entscheidung im Rahmen des diagnostischen Prozesses bereit-
zustellen.
7 K. Meng, S. Neuderth, H. Faller

Stufen des diagnostischen Prozesses


Lernziele
5 Fragestellung
Der Leser soll
5 Hypothesenbildung
5 unterschiedliche Vorgehensweisen im diagnos-
5 Datenerhebung
tischen Prozess beschreiben können.
5 Dateninterpretation und -integration
5 Urteilsbildung, Diagnosestellung
Ärzte haben in ihrer täglichen Arbeitsroutine eine
5 Entscheidung für Intervention (Behandlung)
Vielzahl von Entscheidungen zu treffen: Sie stellen
eine Diagnose und aus der Diagnose folgen weite-
ren Entscheidungen, z. B. hinsichtlich Art, Umfang Der diagnostische Prozess kann analog zum Vor-
und Rahmenbedingungen (Setting) von Behand- gehen bei einer wissenschaftlichen Studie betrachtet
lungen sowie sozialmedizinisch relevante Ent- werden. Aufgrund der ersten Informationen, die der
scheidungen. Je nach Auftrag, Informationsbasis, Arzt vom Patienten erhält, formuliert er eine Frage-
Komplexität, den resultierenden Konsequenzen für stellung. Diese Fragestellung versucht er in konkrete,
den Patienten sowie Zeit- und Handlungsdruck operationalisierbare Hypothesen umzusetzen. Ope-
sind ärztliche Entscheidungen mit Unsicherheiten, rationalisierbar bedeutet, dass er bestimmte dia-
Risiken und Fehlern verbunden. Sie basieren auf gnostische Untersuchungen und Tests auswählt und
Normen, die reflektiert werden müssen (7 Abschn. jeweils angeben kann, wie die Testergebnisse ausfal-
1.1.3), und werfen ethische Fragen auf, wenn die len müssen, um die Hypothese zu bestätigen oder zu
Ergebnisse gravierende Folgen für den Patienten widerlegen. Auf diese Weise engt sich das Spektrum
haben, wie z. B. bei der prädiktiven genetischen der in Frage kommenden Diagnosen immer mehr
oder pränatalen Diagnostik (7 Abschn. 8.5). ein, bis schließlich die zutreffende Diagnose gefun-
den wird. Es ist wichtig, die Einengung auf wenige
alternative Hypothesen nicht zu früh im diagnos-
7.1.1 Diagnostischer Prozess tischen Prozess vorzunehmen. Sonst läuft man Ge-
fahr, wichtige Informationen zu übersehen, weil
Der diagnostische Prozess lässt sich als Abfolge aller man nicht mehr nach ihnen Ausschau hält. Auch im
Maßnahmen zur Gewinnung und Verarbeitung weiteren Verlauf, wenn man schon Hypothesen ge-
diagnostisch relevanter Information bezeichnen. bildet hat, sollte man diese immer wieder kritisch
Ausgangspunkt jeder Diagnostik ist eine Fragestel- hinterfragen und über den engeren Kontext seiner
lung (z. B. »Wodurch werden die Beschwerden die- Fragestellung hinausblicken, zumal dann, wenn Be-
ses Patienten verursacht?«). Ziel ist deren Beant- funde nicht so ausfallen, wie erwartet. Die Entschei-
7.1 · Grundlagen der diagnostischen Entscheidung
243 7
dung für eine Diagnose und eine Therapiemaßnah- zum Einsatz, wenn nach einer einleitenden offenen
me stellt das Endprodukt dieses Prozesses dar. Die- Frage anschließend gezielt Informationen gesam-
ser Prozess kann manchmal sehr schnell durchlau- melt werden, um die Verdachtsdiagnose abzu-
fen werden (intuitive Diagnose), manchmal benötigt sichern (7 Abschn. 6.2.3).
er längere Zeit, wie bei der diagnostischen Aufar-
beitung eines komplizierten Krankheitsbildes. Die Komorbidität Im Bereich psychischer Störungen
Begutachtung stellt einen speziellen diagnostischen kommt es häufig vor, dass ein Patient nicht nur die
Prozess dar, der in der Regel eine vom Auftraggeber Kriterien für eine, sondern auch noch für eine
gestellte Frage über den Zusammenhang zwischen zweite Diagnose erfüllt. Es können beispielsweise
einem nicht medizinischen Sachverhalt (z. B. Unfall, zugleich eine depressive Episode und eine Angst-
Arbeitsunfähigkeit, Rentenantrag) und einer Ge- störung vorliegen. Beide Störungen werden dann
sundheitsstörung klären soll. Dabei können die Ziele auch unabhängig voneinander diagnostiziert. Wenn
bzw. Interessen des Gutachters und des Patienten 2 oder mehr Störungen gleichzeitig vorliegen,
divergieren. spricht man von Komorbidität. Dies gibt es nicht
nur innerhalb der psychischen Störungen, sondern
Additive und lineare Schlussfolgerungen Der Arzt auch zwischen körperlichen Krankheiten und psy-
hat verschiedene Möglichkeiten, Informationen zu chischen Störungen. Beispiel: Bei Patienten mit
sammeln und zu verknüpfen. Zu Beginn einer Be- Herzinfarkt beträgt die Häufigkeit einer zusätz-
handlung trägt er meist möglichst viele Informa- lichen, komorbiden Depression 20 %. Auch hier
tionen zusammen, um sich einen Überblick zu ver- gilt, dass die Depression nicht einfach als »normale«
schaffen und eine Verdachtsdiagnose zu formulie- Folgeerscheinung des Herzinfarkts betrachtet wird,
ren. Dabei kann es vorkommen, dass Daten erfasst sondern als eigenständiges Störungsbild, das einer
werden, die im Einzelfall nicht so wichtig sind. Die speziellen Therapie bedarf. Das Prinzip, jede Krank-
Integration derart gesammelter Daten bezeichnet heit bzw. Störung, die die diagnostischen Kriterien
man als additives Schlussfolgern, da der Arzt alle erfüllt, auch eigenständig aufzuführen, bezeichnet
Informationen aus der breiten Datenerfassung ad- man als Komorbiditätsprinzip. Dies hat den Vor-
ditiv miteinander verknüpft (aufsummiert). Dabei teil, dass keine Störung übersehen wird, die behan-
kann er verschiedene Informationen unterschied- delt werden muss, sondern jede Auffälligkeit ernst
lich gewichten. genommen wird.
Beim linearen Schlussfolgern geht der Arzt
schrittweise vor. Er sammelt nicht alle Information
auf einmal, sondern entscheidet zwischendurch 7.1.2 Diagnostik und Behandlung
immer wieder neu, in welche Richtung er weiter den
Patienten befragt oder Befunde erhebt (adaptive
Entscheidungsfindung). Um beispielsweise eine
Diagnostische Entscheidungen im Behand-
Verdachtsdiagnose zu präzisieren, sammelt er auf
lungsprozess
der Basis bereits vorliegender Daten weitere In-
5 Indikationsdiagnostik: Ableitung von
formationen, mit dem Ziel, seine Vermutung zu
Behandlungsmaßnahmen
bestätigen oder zu revidieren.
5 Prozessdiagnostik: Überprüfung des
Beide Arten der Entscheidungsfindung haben
Behandlungsverlaufs
Vor- und Nachteile. Das additive Schlussfolgern ist
5 Ergebnisdiagnostik: Beurteilung des
umfassend, dafür aber weniger ökonomisch, da
Behandlungserfolgs
viele und zum Teil auch überflüssige Daten erfasst
werden. Das lineare Schlussfolgern ist zielgerich-
teter, birgt aber die Gefahr, eine diagnostische Stra-
tegie zu verfolgen, die sich im Nachhinein als falsch Indikationsdiagnostik Die Aufgabe der Indikations-
herausstellen kann. In der Praxis kommt zumeist stellung liegt in der Zuordnung einer Person mit
eine Kombination der beiden Vorgehensweisen einer bestimmten Krankheit zu einer bestimmten
244 Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung

Behandlungsmaßnahme. Die selektive, differen- Ergebnisdiagnostik Die Bewertung des Behand-


zielle Indikation stellt die Frage, welches Therapie- lungserfolgs geschieht durch die Ergebnis- oder
verfahren am besten geeignet ist: »Welche ist für Outcome-Diagnostik. Sie ist entscheidend für die
dieses Individuum mit diesem spezifischen Problem Beendigung und Kosten-Nutzen-Bewertung der
die effektivste Behandlung, durch wen und unter Therapie. Je nach Art der Erkrankung und der Maß-
welchen Rahmenbedingungen?« Für den indika- nahme müssen geeignete Kriterien für eine er-
tiven Entscheidungsprozess, der Krankheiten/Stö- folgreiche Behandlung zugrunde gelegt werden. Im
rungen mit Behandlungsverfahren verbindet, sind Sinne eines biopsychosozialen Gesundheitsbegrif-
die Diagnose, ein Modell der Entstehung der Krank- fes reicht es vielfach nicht aus, den Erfolg von medi-
heit (Genesemodell) und der Kontextfaktoren (z. B. zinischen Interventionen allein an medizinischen
Compliance, verfügbare Behandlungen) relevant. Parametern zu messen. Vielmehr sind auch patien-
tenbezogene Kriterien von Bedeutung, wie die ge-
Prozessdiagnostik Die Prozessdiagnostik zur Über- sundheitsbezogene Lebensqualität (7 Abschn. 1.2.3,
prüfung der verordneten Therapie erfolgt durch die 7 Abschn. 9.4.3).
Verlaufsbeobachtung der Patienten. Es werden ein-
i Vertiefen
7 getretene Veränderungen ermittelt, um zu entschei-
Schmitt M, Gerstenberg F (2014) Psycholo-
den, ob die Behandlungsmaßnahme beibehalten
gische Diagnostik kompakt. Beltz, Weinheim
wird oder modifiziert werden muss (adaptive, pro-
(Grundlagen der Diagnostik und Urteilsbildung)
zessuale Indikation).

Methoden der Veränderungsmessung


7.2 Urteilsqualität
5 Indirekte Veränderungsmessung: Bildung
von Differenzen zwischen 2 Zustandsbe-
M. Richard, H. Faller
urteilungen (z. B. Differenz zwischen dem
Wert in einer Depressionsskala zu Therapie-
Lernziele
beginn und nach 4 Wochen).
Der Leser soll
5 Direkte Veränderungsmessung: retro-
5 Urteilsheuristiken, ihre Möglichkeiten
spektive Einschätzung der Veränderung zu
und Grenzen beschreiben können.
einem späteren Messzeitpunkt im Vergleich
zum Ausgangswert (z. B. Beurteilung
Ärztliches Handeln basiert auf Beurteilungen und
des Zustands nach der Therapie als ge-
Entscheidungen. Verantwortungsvolles Urteilen
bessert).
und Entscheiden ist im medizinischen Kontext von
5 Beurteilung der Therapiezielerreichung:
besonderer Bedeutung, da die Folgen ärztlichen
Veränderung vom Ausgangszustand hin zu
Handelns für Patienten sehr weitreichend sein kön-
einem definierten Zielzustand (z. B. Errei-
nen. Vor diesem Hintergrund ist es ganz wichtig,
chen einer vorher festgelegten Gewichts-
dass Urteile und Entscheidungen auf rationaler
reduktion).
Basis getroffen, kontinuierlich reflektiert und gege-
5 Beurteilung des erreichten Status be-
benenfalls optimiert werden. Auch diagnostische
züglich des Normbereichs: Liegen die
Beurteilungen unterliegen den Gütekriterien, wie
Werte nach der Therapie im Normbereich
sie für Tests entwickelt wurden (7 Abschn. 3.3.2).
(z. B. normale Blutdruckwerte)?

Werden Patienten einige Zeit (z. B. 1 Jahr) nach Ab- 7.2.1 Beurteilerübereinstimmung
schluss der Behandlung nachbefragt, so bezeichnet
man dies als Katamnese (follow-up). Katamnesen Beurteilungen und Entscheidungen sind in der
ermöglichen es herauszufinden, ob eine Behand- Medizin häufig mit Unsicherheit belastet. Wenn
lung langfristig erfolgreich war. beispielsweise auffällige Strukturen in einem Rönt-
7.2 · Urteilsqualität
245 7
genbild zu beurteilen sind, kann es vorkommen, 7.2.2 Entscheidungskonflikte
dass sich unterschiedliche Beurteiler in ihrem Ur- und -fehler
teil unterscheiden. Der eine sieht einen pathologi-
schen Befund, der andere nicht. Um abschätzen zu Abwägen zwischen gleichwertigen Behandlungs-
können, wie objektiv und zuverlässig (reliabel, alternativen Für viele medizinische Probleme exis-
7 Abschn. 3.3.2) bestimmte Einschätzungen sind, tieren mehrere gleichwertige Behandlungsoptio-
können statistische Kennwerte, wie z. B. Cohens nen. Beispiel: Ein milder Bluthochdruck kann so-
Kappa, berechnet werden. Dieser Kennwert gibt an, wohl durch ein Medikament als auch ein körper-
wie stark 2 Urteile über den reinen Zufall hinaus liches Trainingsprogramm behandelt werden.
miteinander übereinstimmen. Es können nämlich Während der Nutzen beider Maßnahmen gleich ist,
auch per Zufall hohe Übereinstimmungen vorkom- unterscheiden sich die jeweiligen »Kosten«: mög-
men, ohne dass die beiden Urteile dasselbe aus- liche Nebenwirkungen beim Medikament, größere
sagen. Kappa kann Werte annehmen zwischen 0 Anstrengung und höherer Zeitbedarf beim Trai-
(Übereinstimmung geht nicht über den Zufall hi- ningsprogramm. Diese Situation bietet sich dafür
naus) und 1 (perfekte Übereinstimmung). an, den Patienten bei der Therapieauswahl ein-
zubeziehen (partizipative Entscheidungsfindung,
> Die Übereinstimmung von Beurteilern lässt
7 Abschn. 5.4.4). Weiteres Beispiel: Ein Mamma-
sich mit Cohens Kappa bestimmen.
karzinom im frühen Stadium kann sowohl durch
Entfernung der Brust (Mastektomie) als auch eine
Klinik: Beurteilerübereinstimmung durch Zufall brusterhaltende Operation (Op) behandelt wer-
Zwei Radiologen beurteilen unabhängig voneinan- den.  Der Nutzen in Bezug auf die Überlebens-
der eine Serie von 100 Röntgenbildern. Radiologe 1 chancen ist gleich groß, die brusterhaltende Op
schätzt 90 als normal und 10 als pathologisch ein. hat ein gering höheres Rezidivrisiko. Auch hier
Radiologe 2 kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass 90 können die betroffenen Frauen bei der Entschei-
normal und 10 pathologisch sind. Es sind aber nicht dung einbezogen werden. Die meisten würden sich
dieselben 90 bzw. 10. Nehmen wir einmal an, dass für eine brusterhaltende Op entscheiden. Manche
die beiden Einschätzungen völlig zufällig erfolgen. Frauen aber, vor allem ältere Patientinnen, bewer-
Der 2. Radiologe würde also von den 90 unauffälli- ten die subjektive Sicherheit, die eine Mastektomie
gen Befunden des 1. Radiologen 90 %, also 81, eben- ihnen vermittelt, höher als die körperliche Unver-
falls als unauffällig und 10 %, also 9, als pathologisch sehrtheit.
bewerten. Von den 10 auffällig beurteilten Röntgen-
bildern des 1. Radiologen würde er ebenfalls 90 %, Nutzen-Risiko-Abwägung Schon in die Entschei-
also 9, als unauffällig und 10 %, also eines, als auffäl- dung zwischen gleichwertigen Behandlungsalter-
lig bewerten. Obwohl beide Beurteilungen keinen nativen gingen die Kosten-Nutzen-Profile der bei-
systematischen Zusammenhang miteinander zeigen, den Maßnahmen ein. Aber auch bei der Entschei-
kommt allein per Zufall eine Übereinstimmung in dung für oder gegen eine einzelne Maßnahme
82 % der Beurteilungen zustande (81 Röntgenbilder muss zwischen ihrem Nutzen und ihren Risiken ab-
werden von beiden Ärzten als unauffällig und gewogen werden. Beispiel: Früherkennungsmaß-
1 Röntgenbild wird von beiden als auffällig beurteilt). nahmen wie die Mammographie haben einerseits
Cohens Kappa jedoch würde in diesem Fall den den Nutzen, Frauen vor dem Tod durch Brustkrebs
Wert 0 annehmen und damit zum Ausdruck bringen, zu bewahren, andererseits aber die Risiken, dass
dass tatsächlich keine über den Zufall hinausgehen- Tumoren entdeckt und behandelt werden, die ohne
de Übereinstimmung zwischen den beiden Beurtei- Früherkennung nie klinisch auffällig geworden
lern besteht. wären (Überdiagnose/Übertherapie), und dass
viele Frauen durch einen falsch-positiven Befund
beunruhigt werden und sich weiteren diagnos-
tischen Maßnahmen unterziehen müssen (7 Ab-
schn. 10.4.3).
246 Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung

Entscheidung auf unsicherer Informationsgrund- das größte Fachwissen beisteuern kann, so besitzt
lage In der Medizin müssen häufig schnelle Ent- diese aufgrund ihres Wissens – für dieses Problem,
scheidungen getroffen werden, insbesondere in zu diesem Zeitpunkt und in dieser Situation – die
Notfallsituationen, ohne dass alle erforderlichen meiste Autorität (funktionale Autorität). Ist unklar,
Informationen zur Verfügung stehen. Dies stellt an wer bei dem vorliegenden Entscheidungskonflikt
den Arzt die Anforderung, die Unsicherheit aus- die Person mit der größten Fachkenntnis (Exper-
zuhalten und eine Entscheidung zu treffen, auch tise) ist, empfiehlt es sich, im Gespräch mit allen
wenn diese für den Patienten schwerwiegende Fol- beteiligten Kollegen einen Konsens zu finden, um
gen haben kann. eine Entscheidung herbeizuführen. Wichtig bei
dieser Art von Gespräch ist, dass alle Beteiligten
Dissens zwischen Ärzten Die Tätigkeit des Arztes gleichberechtigt ihre Meinung und Expertise ein-
ist in vielfältige Beziehungen eingebettet (z. B. als bringen können (kollegiale Entscheidungsfin-
Teil des Gesundheitssystems, Teil der Belegschaft dung). Dieser Führungsstil vermeidet die Nachteile
einer Krankenhausstation usw.), zwischen denen es des direktiven Führungsstils, erfordert jedoch meist
ebenfalls leicht zu Entscheidungskonflikten kom- mehr Zeit und zusätzlich zum Fachwissen auch so-
7 men kann. Besonders deutlich wird dies am Beispiel ziale und kommunikative Kompetenzen seitens der
der Teamarbeit. Hier kann es zu Meinungsverschie- Beteiligten, um solche Diskussionen durchführen
denheiten (Dissens) zwischen ärztlichen Kollegen zu können.
kommen, sei es über diagnostische Fragen, über die
Indikation bestimmter Interventionen oder auch Individuelles Wohl vs. Allgemeinwohl Ein anderes
über organisatorische Dinge. konfliktträchtiges Thema besteht darin, dass Ärzte
primär dazu verpflichtet sind, zum Wohle des Pa-
Direktiver und partizipativer Führungsstil Wenn im tienten zu handeln, gleichzeitig aber auch das Allge-
Team Meinungsunterschiede über verschiedene meinwohl berücksichtigen sollen. So kann z. B. eine
Statuspositionen hinweg bestehen, z. B. zwischen Intervention im Rahmen einer Behandlung dem
Stationsarzt und Oberarzt oder Oberarzt und Chef- individuellen Patienten potenziell nutzen, aber für
arzt, so kommt es sehr auf den Führungsstil an, das Allgemeinwohl eher schädlich sein. Der Scha-
wie Entscheidungen schließlich zustande kommen. den für das Allgemeinwohl entsteht dabei in der
Im direktiven Führungsstil erfolgt eine Entschei- Regel auf finanzieller Seite, also bei Interventionen,
dung durch den Vorgesetzten, der aufgrund seiner die mehr Ressourcen als notwendig verbrauchen.
Dienststellung »von oben herab« eine Entscheidung Ein typisches Beispiel ist das Verschreiben von un-
vorgibt (positionale Autorität), an die sich die un- nötig teuren Medikamenten. Aber es gibt auch we-
tergeordneten Mitarbeiter halten müssen. Auf diese niger eindeutige Situationen, wo die Entscheidung
Art und Weise kann sehr schnell und wirksam ge- schwerer fällt. Das Konfliktpotenzial und die mög-
handelt werden. Deshalb ist der direktive Führungs- liche Tragweite von ärztlichen Entscheidungen be-
stil in Kliniken noch immer weit verbreitet. Aller- deuten eine Herausforderung für angehende Ärzte,
dings besteht das Risiko, dass die Entscheidungen sich mit diesen möglichen Konflikten auseinander-
gegen die Ansichten der Mitarbeiter gefällt werden zusetzen, um für das eigene Handeln eine Grund-
und so ein schlechtes Arbeitsklima entsteht. Als lage zu haben.
weiterer Nachteil beruht eine so durchgesetzte Ent-
scheidung letztlich auf nur einer Person und über- Klinik: Entscheidungskonflikt
geht dabei die Expertise der Mitarbeiter, was zu Eine Patientin mit häufig wechselnden, multiplen
Entscheidungsfehlern beitragen kann. körperlichen Beschwerden (Bauchschmerzen, Glieder-
Der partizipative Führungsstil nutzt dagegen schmerzen, Übelkeit, Druckgefühl im Hals, allge-
den Sachverstand aller Mitarbeiter, so dass derje- meines Unwohlsein usw.) macht sich ernsthaft Sorgen
nige am meisten zur Entscheidung beiträgt, der die um ihre Gesundheit und wünscht trotz bereits vorlie-
fachlich fundierteste oder zutreffendste Meinung gender negativer Befunde eine genauere Abklärung
äußert. Steht eine Person fest, die unbezweifelbar ihrer Beschwerden. Der Arzt vermutet eine Somati-
7.2 · Urteilsqualität
247 7
sierungsstörung und erwartet von weiteren somati- Entscheidung. Dies bedeutet auch, den Umfang von
schen Abklärungen keine neuen Erkenntnisse. Außer- Entscheidungsbäumen (Algorithmen) zu begren-
dem wären die nun anstehenden diagnostischen zen. In einer Studie in der Notfallmedizin wurde
Prozeduren deutlich aufwändiger als bisher und zum untersucht, anhand welcher Kriterien die Entschei-
Teil invasiv (z. B. Gewebeentnahme oder mehrtägiger dung getroffen werden kann, ob ein Patient mit
stationärer Aufenthalt zur diagnostischen Abklärung). Brustschmerz auf die Intensivstation aufgenommen
Nun muss der Arzt entscheiden, ob er die gewünschte werden muss oder nicht. Hierzu wurden unter-
Diagnostik einsetzen möchte oder nicht. Tut er dies schiedlich lange Entscheidungsbäume gegeneinan-
nicht, so läuft er Gefahr, das bisher erarbeitete Ver- der geprüft. Der effizienteste Entscheidungsbaum
trauensverhältnis zur Patientin zu verlieren und damit umfasste nur 3 Kriterien, die nacheinander mit »ja«
auch die Möglichkeit, ihre Mitarbeit für eine (für ihr oder »nein« beantwortet werden konnten.
individuelles Wohl) sinnvolle Behandlung zu gewin- Heuristiken sind nützliche und unverzichtbare
nen. Erklärt er sich mit der umfangreichen Zusatz- gedankliche Werkzeuge, aber nicht gegen Fehler ge-
diagnostik einverstanden, so erhält er sich zwar die feit, die im Folgenden dargestellt werden.
Zusammenarbeit mit der Patientin, aber verursacht
erhebliche Mehrkosten (zum Schaden der Allgemein- Verfügbarkeitsheuristik Diese Faustregel zieht zur
heit), die aller Voraussicht nach keinen medizinisch Entscheidungsfindung die aktuell gerade noch im
sinnvollen Nutzen erbringen. Gedächtnis verfügbaren Informationen heran. So
In manchen Fällen kann eine Überweisung zu einem kann sich ein Arzt bei der diagnostischen Urteils-
psychotherapeutisch arbeitenden Kollegen sinn- bildung eines neuen Patienten für eine bestimmte
voll sein. Und auch hier kann ein Konflikt zwischen Diagnose entscheiden, da die berichteten Beschwer-
Ärzten und Psychologen entstehen, wenn beide den denen eines der letzten 10 Patienten ähneln.
unterschiedliche Auffassungen über das weitere Pro- Problem dabei ist, dass die vorhergehenden Patien-
zedere haben. Entscheidet sich z. B. der Arzt dazu, ten u. U. Extremfälle gewesen waren oder die Be-
sowohl psychodiagnostische Gespräche als auch ihm schwerden eben nur teilweise mit dem neuen Pa-
gerade noch vertretbare somatische Abklärungen tienten übereinstimmen.
einzuleiten, so könnte der psychotherapeutisch ar- Abhilfe schafft hier nur eine ausführliche Infor-
beitende Kollege die weitere somatische Diagnostik mationssuche. Da dies in der Alltagspraxis manch-
für überflüssig halten und dem Patienten gegen die mal schwer möglich ist, greift man auf die Verfüg-
Entscheidung des ärztlichen Kollegen davon abraten. barkeitsheuristik zurück. Mit ihr können die am
Daher ist es notwendig, über die Berufsgruppen hin- häufigsten vorkommenden Diagnosen gut erkannt
weg das geplante Vorgehen transparent zu machen werden – allerdings bleibt die Gefahr, die selteneren
und abzusprechen, damit die Behandlung zielge- Diagnosen dabei zu übersehen.
richtet verlaufen kann und es beim Patienten nicht
zu einem Vertrauensverlust kommt. Anker- oder Anpassungsheuristik Diese Strategie
steht für die (einseitige) Suche nach den Informa-
tionen, die den ersten Eindruck unterstützen. So
7.2.3 Urteilsheuristiken erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich pas-
sende Information zu bekommen, die den ersten
Gerade in komplizierten Situationen mit vielen Ein- Eindruck bestätigt. Gleichzeitig verringert sich die
flussfaktoren haben sich intuitive Entscheidungen Wahrscheinlichkeit, andere Informationen zu erhe-
bewährt, die auf einfachen Faustregeln (»Heuris- ben, die nicht zum anfänglichen Eindruck passen,
tiken«) beruhen. Gerade in Situationen, in denen obwohl sie jedoch tatsächlich zutreffen.
schnell ein Urteil gefunden werden muss, schlagen Hier wäre eine weitergehende Exploration hilf-
einfache Strategien komplexe Strategien. Hinsicht- reich, die sich nicht nur auf die Perspektive der
lich der Menge an Informationen, die man einbe- ersten Vermutung beschränkt. Ebenso könnte es
ziehen sollte, gilt hier »weniger ist mehr«. Ein Mehr sinnvoll sein, die zweite Meinung eines Kollegen
an Information heißt nicht unbedingt eine bessere einzuholen, um diesen Fehler zu vermeiden.
248 Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung

Klinik: Ankerheuristik pressive Verstimmung vorliegt, und steht in der Ge-


Im diagnostischen Interview verfolgt der Arzt seinen fahr, die häufig mit depressiven Symptomen einher-
ersten Eindruck, dass die Patientin unter einer gehenden suizidalen Tendenzen zu übersehen.
depressiven Störung leidet. Folglich fragt er nach
depressiven Symptomen, von denen sie tatsächlich Blinder Gehorsam Dieser Fehler bezeichnet ein zu
viele aufweist. Zufrieden darüber, eine Diagnose starkes Vertrauen in eine bestimmte Vorgehens-
gefunden zu haben, beendet er das Interview. Dass weise. Hiermit ist z. B. die Bevorzugung eines be-
die Patientin zusätzlich Symptome einer posttrau- stimmten Tests gemeint, ohne vorher abzuwägen,
matischen Belastungsstörung hat, entgeht dem Arzt, welcher Test zum Erkennen welcher möglichen
da die Patientin sich des traumatischen Ereignisses, Krankheitsindikatoren geeigneter ist. Genauso be-
einer Vergewaltigung, schämt und es daher nicht von zeichnet es auch das Nachgeben gegenüber einem
selbst mitteilt. Kollegen oder Vorgesetzten, der vehement seine
Meinung vertritt und ein bestimmtes Vorgehen er-
Kontexteffekte Eine weitere Quelle fehlerhafter wartet. Auch dies führt dazu, dass das Abwägen der
Entscheidungen besteht darin, dass die Urteils- Möglichkeiten im Prozess der Entscheidungsfin-
7 findung vom Kontext und/oder von der Art und dung an einem gewissen Punkt aufhört und damit
Weise der Formulierung abhängig ist. Präsentiert die Chance, wichtige Informationen zu finden, ein-
man die Informationen über eine risikoreiche geschränkt wird.
Operation einerseits im Kontext des »Sterberisikos«
von 5 % und andererseits im Kontext der Ȇber- Vorzeitiges Beenden der Informationssuche Inter-
lebenschancen« von 95 %, so entscheiden sich in essanterweise neigen Menschen dazu, die Urteils-
letzterem Fall mehr Personen für die Operation findung zu beenden, obwohl noch Hinweise für
als im ersteren, obwohl in beiden Fällen die exakt mehrere andere Alternativen bestehen. Dafür kann
gleichen Chancen bzw. Risiken vorliegen. Um eine Reihe von Gründen verantwortlich sein. Der
solchen Kontexteffekten vorzubeugen, sollte der häufigste ist der, dass man bereits eine Meinung
Arzt Informationen immer in beiden Rahmen vor- gefasst hat und daher gegenteilige Informationen
stellen. herunterspielt. Gerade auch bei mehreren noch vor-
Ein Kontexteffekt besteht auch bei der Interpre- handenen Möglichkeiten (z. B. mögliche Erklärun-
tation von statistischen Kennwerten. So werden ab- gen für einen entzündlichen Befund) mag die Suche
solute Risiken (also Häufigkeiten) meist besser ver- nach weiteren Informationen zu komplex oder zu
standen als relative Risiken; letztere haben jedoch aufwändig erscheinen, zumal ja schon eine erste
eine dramatischere Wirkung, da sie mit größeren (wenn auch vorläufige) Vermutung besteht. Dieser
Zahlen arbeiten. Beispiel: Durch Mammographien Fehler entsteht besonders häufig, wenn in einem
wird das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 20 % Teamgespräch unter Kollegen eine Entscheidung
reduziert. In absoluten Zahlen ist es jedoch nur getroffen werden muss. In dieser Situation muss,
1 Frau aus 1.000, die durch die Mammographien um ein vorzeitiges Beenden zu verhindern, eine
gerettet wird (7 Abschn. 10.4.3). Person entgegen der Gruppenmeinung »Advokat
des Teufels« spielen, um auch gegen die Meinung
Klinik: Kontexteffekt aller Gruppenmitglieder die Alternativen zu ver-
Ein Patient mit der Diagnose »rezidivierende de- treten.
pressive Episoden« in der Vorgeschichte kommt we- Um den genannten Entscheidungsfehlern vor-
gen unklarer Bauchschmerzen und Unruhezustän- zubeugen, ist es in allen Fällen angeraten mehr
den in die Klinik. Der Patient berichtet sehr lebhaft Information einzuholen. Daher empfiehlt sich ein
und engagiert von seinen Beschwerden, den zu weiterer, 2. Kontakt oder ein 2. Treffen mit dem
Hause vorliegenden Problemen, die ihm über den Patienten, um zu einer soliden Entscheidung zu fin-
Kopf wachsen, und dass er deswegen nicht lange in den. Der Vorteil besteht darin, bis zum nächsten
der Klinik bleiben wolle. Aufgrund der lebhaften Kontakt Gelegenheit zur Beschaffung weiterer In-
Darstellung fragt der Arzt nicht, ob aktuell eine de- formationen zu haben und gegebenenfalls mit ei-
7.2 · Urteilsqualität
249 7
nem »freieren Blick« das Gespräch fortzuführen.
Der Nachteil liegt offensichtlich im erhöhten Auf-
wand, der in der Alltagsroutine oft nicht zu leis-
ten ist. Gerade deswegen ist ja der Einsatz von Heu-
ristiken notwendig – jedoch sollte jedem Arzt die
hohe Fehleranfälligkeit dieses täglich ausgeführten
Verhaltens bewusst sein.
i Vertiefen
Gigerenzer G (2008) Bauchentscheidungen:
Die Intelligenz des Unbewussten und die
Macht der Intuition. 6. Aufl. München, Gold-
mann (bringt viele Belege für die Überlegenheit
von Entscheidungen auf der Basis von einfachen
Heuristiken)
Redelmeyer DA (2005) The cognitive psycho-
logy of missed diagnosis. Ann Int Med
142:115–120 (erklärt die Fehlerformen und
demonstriert sie an einem Beispiel)
251 8

Interventionsformen
und besondere medizinische
Situationen
H. Faller, M. Richard, S. Brunnhuber, S. Neuderth, T. Wischmann, H. Lang,
R. Verres

8.1 Ärztliche Beratung und Patientenschulung – 254


H. Faller
8.1.1 Ärztliche Beratung – 254
8.1.2 Gesundheitsberatung – 255
8.1.3 Patientenschulung – 256

8.2 Psychotherapie – 259


M. Richard, H. Faller
8.2.1 Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – 260
8.2.2 Kognitive Verhaltenstherapie – 263
8.2.3 Nondirektive Gesprächspsychotherapie – 266
8.2.4 Systemische Familientherapie – 268
8.2.5 Entspannungstechniken – 269
8.2.6 Hypnose – 269
8.2.7 Neuropsychologische Therapie – 270
8.2.8 Behandlungssettings – 271
8.2.9 Störungsspezifische Psychotherapie – 271

8.3 Intensiv- und Notfallmedizin – 272


H. Faller, S. Brunnhuber
8.3.1 Patient als Notfall oder auf der Intensivstation – 272
8.3.2 Schock (psychischer Ausnahmezustand)
und verzögerte Reaktionen – 272
8.3.3 Psychosoziale Belastungsfaktoren auf der Intensivstation – 273
8.3.4 Betreuungserfordernisse – 274
8.3.5 Belastungen beim ärztlichen und pflegerischen Personal – 275

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
8.4 Transplantationsmedizin und Onkologie – 276
S. Neuderth, H. Faller
8.4.1 Transplantationsmedizin – 276
8.4.2 Psychosoziale Situation bei Transplantationen – 277
8.4.3 Psychoimmunologische Aspekte der Transplantation,
Immunkonditionierung – 278
8.4.4 Rechtliche und ethische Aspekte – 278
8.4.5 Lebendspende – 279
8.4.6 Belastungen bei Krebskranken – 280
8.4.7 Modelle der Krebsverarbeitung – 281
8.4.8 Psychische Unterstützung – 283
8.4.9 Psychoonkologische Interventionsformen – 284

8.5 Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin – 284


H. Faller, T. Wischmann
8.5.1 Psychosoziale Aspekte der humangenetischen Beratung – 284
8.5.2 Hereditärer Brustkrebs – 285
8.5.3 Morbus Huntington – 286
8.5.4 Pränataldiagnostik – 287
8.5.5 Interdisziplinäre humangenetische Beratung – 287
8.5.6 Ungewollte Kinderlosigkeit und Reproduktionsmedizin – 288
8.5.7 Psychosoziale Merkmale ungewollt kinderloser Paare – 288
8.5.8 Psychische Auswirkungen reproduktionsmedizinischer
Maßnahmen – 289
8.5.9 Entwicklung der Kinder nach ART – 289
8.5.10 Psychologische Kinderwunschberatung – 290

8.6 Sexualmedizin – 291


H. Lang, H. Faller
8.6.1 Psychosexuelle Entwicklung – 291
8.6.2 Psychophysiologische Grundlagen sexueller Reaktion – 292
8.6.3 Menschliches Sexualverhalten – 294
8.6.4 Sozialer Wandel und Sexualität – 294
8.6.5 Sexualität in verschiedenen Lebensabschnitten – 295
8.6.6 Sexualität bei organischer und psychischer Krankheit – 296
8.6.7 Sexuelle Störungen: diagnostische und therapeutische Ansätze – 296
253 8
8.7 Tod und Sterben, Trauer – 300
R. Verres
8.7.1 Was ist eine »Kultur des Sterbens«? – 300
8.7.2 Phasenmodelle – 302
8.7.3 Angst – 304
8.7.4 Selbsterfahrung des medizinischen Personals – 304
8.7.5 Trauer – 304
8.7.6 Altersabhängige Todesvorstellungen – 305
8.7.7 Unheilbar krankes Kind – 305
8.7.8 Sterbehilfe und Euthanasie – 305
254 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Nachdem der Arzt alle nötigen Informationen erho- 8.1 Ärztliche Beratung
ben hat, um eine Diagnose zu stellen, geht es darum, und Patientenschulung
dem Patienten die Behandlungsoptionen zu präsen-
tieren. Dies geschieht in einem Beratungsgespräch. H. Faller
Wenn der Arzt das Gespräch optimal gestaltet, kann
der Patient die medizinische Ausgangslage nach- Lernziele
vollziehen und als gleichberechtigter Partner bei der Der Leser soll
Entscheidung über die Behandlung mitwirken. Für 5 das praktische Vorgehen bei der ärztlichen
chronisch Kranke werden Patientenschulungen Beratung beschreiben können,
durchgeführt, in denen sie das nötige Wissen und die 5 Ziele, Komponenten und didaktische Vorgehens-
erforderlichen Fertigkeiten erwerben, um eigenver- weisen von Patientenschulungen beschreiben
antwortlich ihre Krankheit zu bewältigen. Chronisch können.
Kranke werden dadurch zu Experten ihrer eigenen
Krankheit. Eine spezialisierte ärztliche und psycho-
logische Interventionsform stellt die Psychotherapie 8.1.1 Ärztliche Beratung
dar. Unterschiedliche Psychotherapieformen, wie
z. B. die psychoanalytisch orientierten Verfahren Eine der Haupttätigkeiten des niedergelassenen
Arztes wie auch des Klinikarztes ist die Beratung
8 (Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte
seiner Patienten. Ärztliche Beratung spielt in vielen
Psychotherapie) und die Verhaltenstherapie (kogni-
tiv-behaviorale Therapie), wurden entwickelt, um Situationen eine Rolle: Sie ist notwendig zur Siche-
Menschen mit psychischen Problemen zu helfen. rung der Mitarbeit bei der Behandlung (Compli-
Den »besonderen medizinischen Situationen«, die in ance, 7 Abschn. 5.5.2), bei der Aufklärung vor einer
diesem Kapitel dargestellt werden, ist gemeinsam, Operation oder über eine schwerwiegende Diagno-
dass sie sowohl für die betroffenen Patienten als se (Aufklärungsgespräch, 7 Abschn. 5.5.3), bei der
auch die professionellen Helfer besonders belastend Motivierung zu einem gesunden Lebensstil (Ge-
sind. Dies gilt z. B. für den schwer herzkranken Pa- sundheitsberatung) oder im Kontext von struktu-
tienten, der auf die Transplantation eines neuen Her- rierten Patientenschulungen. Durch ärztliche Bera-
zens wartet, oder für den Notarzt, der bei einem tung wird das Informationsbedürfnis der Patienten
Verkehrsunfall Tote und Schwerverletzte antrifft. Die gestillt, das sehr groß ist (7 Abschn. 5.4.3). In-
Medizinische Psychologie kann sowohl den Betroffe- formationen zu erhalten, ist eine der wichtigsten
nen bei der Krankheitsbewältigung helfen als auch Erwartungen von Patienten an den Arztbesuch
Ärzte und Pflegekräfte im Umgang mit den Patienten (7 Abschn. 6.1.2). Wenn Patienten ihre Fragen äu-
unterstützen. Deshalb haben sich in diesen medizini- ßern können und die erwartete Information erhal-
schen Handlungsfeldern oft enge Kooperationen mit ten, so hat dies nicht nur günstige Auswirkungen
Psychotherapeuten entwickelt. auf die Zufriedenheit, sondern auch auf das emo-
tionale Befinden, die Beschwerden, die Funktions-
fähigkeit im Alltag, die Krankheitsbewältigung und
sogar den körperlichen Krankheitsverlauf.

Funktionen der Beratung Beratung vermittelt dem


Kranken ein Erklärungsmodell für seine Be-
schwerden (Pathogenese) und erläutert die Dia-
gnose und Behandlungsoptionen. Dadurch ge-
winnt der Betroffene Sicherheit und das Gefühl,
in Therapieentscheidungen einbezogen zu werden
sowie selbst etwas zur Bewältigung seiner Be-
schwerden tun zu können (internale Kontrollüber-
zeugung).
8.1 · Ärztliche Beratung und Patientenschulung
255 8
> Der Patient kann Informationen nur dann auf-
nehmen, wenn er sie auch emotional verarbei- 5 Verdeutlichen Sie dem Patienten, dass er
ten kann. Deshalb ist emotionale Unterstüt- an der Entscheidung über die Behandlungs-
zung auf der Basis eines tragfähigen Arbeits- maßnahme beteiligt werden kann. Ver-
bündnisses Voraussetzung jeder Beratung. suchen Sie schon früh herauszufinden, wie
stark der Patient in die Entscheidung über
Informationen können nämlich auch Angst auslösen, die Behandlungsoptionen einbezogen wer-
wie z. B. vor einem diagnostischen Eingriff (z. B. den möchte.
Herzkatheteruntersuchung), einer Operation oder 5 Bedenken Sie, dass sich die Präferenzen des
bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung (z. B. Patienten mit der Zeit ändern können, und
Krebs). Hier kommt es nicht selten vor, dass Patien- überprüfen Sie diese regelmäßig. Fragen
ten nach der Beratung nur einen Teil dessen erinnern Sie den Patienten nach seinen eigenen Wer-
können, was ihnen gesagt wurde, und den Rest aus ten und nach seiner Lebenssituation in Hin-
Angst wieder verleugnet haben. Mit Informations- blick auf die Behandlungsmöglichkeiten.
vermittlung allein ist es also nicht getan. Emotionale 5 Fragen Sie den Patienten, ob Familienmit-
Unterstützung, vermittelt durch aktives Zuhören und glieder in die Besprechung miteinbezogen
Empathie, ausreichend Zeit und kontinuierlich als werden sollen.
Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, gehört 5 Fassen Sie zum Gesprächsende die wich-
dazu. Beratung ist ein Prozess, kein einmaliger Akt. tigsten Punkte des Beratungsgesprächs zu-
Die folgenden Hinweise können helfen, ein Be- sammen und schätzen Sie ein, wie viel der
ratungsgespräch so zu führen, dass Patient und Arzt Patient davon verstanden hat. Vergewissern
den größten Nutzen davon haben. Sie sich, dass der Patient tatsächlich alles
verstanden hat.
5 Fragen Sie, ob es noch weitere Dinge gibt,
Praktisches Vorgehen bei der ärztlichen die der Patient mit Ihnen besprechen
Beratung möchte. Ermutigen Sie ihn, weitere Fragen
5 Erklären Sie dem Patienten in verständ- zu stellen.
licher Sprache, welche Diagnose vorliegt 5 Vermitteln Sie dem Patienten, dass Sie ge-
und welche Behandlungsalternativen es nügend Zeit haben, die einzelnen Alterna-
gibt, und fragen Sie, wie viel er über jede tiven durchzusprechen, und bieten Sie ihm
Möglichkeit wissen möchte. an, die Dinge erst einmal zu überdenken.
5 Passen Sie die Informationen an die Bedürf- Signalisieren Sie dem Patienten, dass Sie für
nisse und Präferenzen des Patienten weitere Fragen oder auftauchende Sorgen
hinsichtlich Inhalt und Ausführlichkeit an. zur Verfügung stehen.
5 Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass
jede Behandlungsform mit einer gewissen
Unsicherheit des Erfolgs behaftet ist, und
erklären sie das Für und Wider jeder Option. 8.1.2 Gesundheitsberatung
Benutzen Sie gegebenenfalls Medien, wie
z. B. Graphiken, Broschüren etc. Um Krankheiten zu verhindern, sollten Patienten
5 Fragen Sie den Patienten ausdrücklich, ob er einen gesundheitsförderlichen Lebensstil anneh-
irgendwelche Fragen zu den Behandlungs- men und Risikoverhaltensweisen abstellen. Im
optionen hat. Ermuntern Sie den Patienten, Internet frei zugängliche Programme, wie z. B. das
seine Sorgen und Vorbehalte gegenüber ARRIBA-Programm, sind hierbei hilfreich. ARRIBA
den einzelnen Optionen zu äußern. Spre- erlaubt es sehr einfach, anhand von Geschlecht,
chen Sie peinliche Themen direkt, aber fein- Alter, Raucherstatus, systolischem Blutdruck und
fühlig an. Cholesterin die Wahrscheinlichkeit zu berechnen,
innerhalb der nächsten 10 Jahre einen Herzinfarkt
256 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

oder Schlaganfall zu erleiden. Zugleich kann man Salaten und Früchten sein mit einem hohen Anteil
darstellen, wie groß die Risikoreduktion infolge von an ungesättigten Fettsäuren, wie sie z. B. in der
medikamentöser Behandlung oder Lebensstilände- mediterranen Kost enthalten sind. Moderater Alko-
rung ausfallen würde. Wichtig ist dabei, mit welcher holkonsum hat hingegen keine ungünstige Wirkung
Maßnahme man das Gesamtrisiko eines Patienten auf das kardiovaskuläre und das Gesamtrisiko.
am stärksten senken kann, weniger wichtig, dass Hinsichtlich körperlicher Aktivität werden
man für jeden einzelnen Risikofaktor Normalwerte 4- bis 5-malige wöchentliche Aktivitäten über
anstrebt. Die Darstellung ist graphisch so einfach 30–50 min mäßiger Intensität in Form von Gehen,
aufbereitet, dass man die Patienten an diesen Über- Joggen, Radfahren oder einer anderen Ausdauer-
legungen gut beteiligen kann und dann eine gemein- belastung empfohlen. Daneben sollten die Patien-
same Entscheidung trifft. ten versuchen, mehr Aktivität in ihr tägliches Leben
Als Schutzfaktoren gegenüber der Entstehung einzubauen, wie Spazierengehen in den Arbeits-
vieler Krankheiten haben sich eine ausreichende pausen, Treppensteigen (statt Aufzug) oder Garten-
körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung arbeiten.
erwiesen. Dadurch lässt sich insbesondere kardio- Generell sollte Normgewicht (Body-Mass-
vaskulären Erkrankungen, wie koronarer Herz- Index, BMI <25) angestrebt werden. Dies ist aber
krankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall und arterieller nicht immer möglich. Doch auch eine Gewichts-
Verschlusskrankheit, vorbeugen. reduktion von lediglich 5–10 % des Körpergewichts
8 hat schon starke Auswirkungen auf die kardiovas-
> Der wichtigste einzelne Risikofaktor ist das
kulären Risikofaktoren, z. B. den arteriellen Blut-
Zigarettenrauchen. Wenn Patienten mit dem
druck. Eine Gewichtsreduktion von 1 kg führt zu
Rauchen aufhören, können sie ihr Risiko im
einer Blutdrucksenkung um 2 mmHg.
Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen
Zusätzlich zu Änderungen des Gesundheitsver-
und Krebserkrankungen drastisch reduzie-
haltens können medikamentöse Behandlungsver-
ren. Es hat sich gezeigt, dass schon kurze Be-
fahren angezeigt sein. Wenn der systolische Blut-
ratungen in der Praxis des niedergelassenen
druck 140 mmHg oder höher oder der diastolische
Arztes einen klaren Effekt in Richtung Niko-
Blutdruck 90 mmHg oder höher ist, sollte der Arzt
tinabstinenz ausüben.
eine medikamentöse Behandlung empfehlen.
Die medizinischen Fachgesellschaften haben Emp- Ein wichtiger Risikofaktor für kardiovaskuläre
fehlungen für das Gesundheitsverhalten herausge- Erkrankungen ist Diabetes mellitus. Der Typ-2-
geben, die der ärztlichen Beratung im Hinblick auf Diabetes ist überwiegend vom Lebensstil der Be-
einen gesunden Lebensstil zugrunde gelegt werden troffenen abhängig. Durch eine Gewichtsreduktion
können. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für und ausreichende Bewegung lässt sich die Ent-
Kardiologie, dass ein Patient bei jedem Arztbesuch stehung eines Diabetes verhindern bzw. ein vorhan-
auf das Rauchen angesprochen werden sollte und dener Diabetes oft alleine wieder wegbekommen.
die eindeutige ärztliche Empfehlung erhalten sollte, Auch wenn zusätzlich medikamentöse Behandlung
das Rauchen völlig einzustellen. Der Arzt sollte mit notwendig ist, sind Bewegung und Ernährung die
dem Patienten einen Termin für den Rauchverzicht Basis jeder Therapie. Die Kombination von Über-
vereinbaren, ihm Literatur bzw. Ansprechpartner gewicht, Insulinresistenz, Fettstoffwechselstörung
zur weiteren Beratung empfehlen und ihn auf Niko- und Hypertonie wird metabolisches Syndrom ge-
tinersatztherapie und Tabakentwöhnungsprogram- nannt. Es erhöht das Risiko für eine Herz-Kreislauf-
me, z. B. an den Volkshochschulen, hinweisen. Erkrankung um den Faktor 2–4.
Weiterhin sollte er eine Ernährungsberatung
durchführen, die auf eine kaloriengerechte, ballast-
stoffreiche, fettarme Kost mit nur geringem Anteil 8.1.3 Patientenschulung
an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin sowie an
Fleisch und tierischen Fetten zielt. Die Kost sollte Patientenschulung ist ein zentraler Bestandteil der
reich an Vollkornprodukten, frischem Gemüse, medizinischen Versorgung bei chronischen Er-
8.1 · Ärztliche Beratung und Patientenschulung
257 8
krankungen. Sie bringen für die Betroffenen eine
Reihe von Folgen im Alltag mit sich, die sich auf die 5 Verbesserte Compliance
Lebensqualität auswirken. 5 Änderung von Einstellungen gegenüber
Ziel der Patientenschulung ist es, die Folgen der Krankheit
chronischer Krankheiten für den Betroffenen zu 5 Erhöhte Lebensqualität
mildern und einer weiteren Verschlechterung vor- 5 Günstigerer Krankheitsverlauf
zubeugen (tertiäre Prävention, 7 Abschn. 10.5). 5 Entlastung von Bezugspersonen
Traditionellerweise werden Patientenschulungen 5 Reduzierte Krankheitskosten
während einer stationären Rehabilitationsmaß-
nahme durchgeführt. Aktuell sind in vermehrtem
Maße Anstrengungen zu verzeichnen, Schulungs- Übergeordnete Ziele Um die Folgen chronischer
programme auch in die ambulante und die statio- Krankheiten angemessen zu bewältigen, müssen
näre akutmedizinische Versorgung einzubeziehen Patienten zuerst einmal akzeptieren, chronisch
(z. B. im Rahmen von Disease-Management-Pro- krank zu sein (Akzeptanz der chronischen Krank-
grammen, 7 Abschn. 5.1.4). Wie gut ein chronisch heit) und konsequent krankheitsgerechtes Verhal-
Kranker lernt, mit seiner Krankheit ein weitgehend ten in ihr Alltagsleben einbauen. Dies bedeutet u. a.
normales Leben zu führen, hängt in hohem Maße körperliche Funktionsstörungen und Symptome
von seinen Krankheitsbewältigungsstrategien ab. rechtzeitig wahrzunehmen und angemessen darauf
zu reagieren (Symptommonitoring), Komplika-
Begriffe Patientenaufklärung oder Patientenin- tionen und Notfallsituationen zu beherrschen, ris-
formation beziehen sich im Wesentlichen auf die kante Gewohnheiten abzulegen und einen gesund-
Informationsvermittlung (z. B. Vorträge, Einsatz heitsförderlichen Lebensstil anzunehmen.
von Medien), während die Patientenberatung eher Durch ihre jahrelange Erfahrung im Umgang
im persönlichen Gespräch stattfindet. Geht es um mit krankheits- oder behandlungsbedingten Ein-
das Einüben neuer Verhaltensweisen, wird auch von schränkungen haben viele Betroffene zwar ein
Patiententraining oder Gesundheitstraining ge- hohes Ausmaß an Expertise erlangt und wissen
sprochen. beispielsweise oft sehr gut, in welchen belastenden
Patientenschulung ist dagegen umfassender Situationen die Symptomatik zunimmt. Sie stehen
angelegt. Sie enthält sowohl Informationsvermitt- im Alltag aber immer wieder vor dem Problem, die
lung als auch aktives Einüben und Training von richtige Entscheidung hinsichtlich der angemes-
Verhaltensweisen und Fertigkeiten. In Abgrenzung senen Behandlung zu treffen, auch darüber, in
zu Maßnahmen der Gesundheitsförderung (7 Ab- welchen Fällen sie professionelle Hilfe in Anspruch
schn. 11.1.1) sind Patientenschulungen nicht pri- nehmen müssen und in welchen nicht.
märpräventiv für Gesunde, sondern für Patienten Hier setzt die Patientenschulung ein. Beispiel: In
mit einer bereits bestehenden, meist chronischen einer Schulung können Asthma-Patienten lernen,
Erkrankung konzipiert. Synonym mit Patienten- ihren Atemstrom beim Ausatmen mit dem Peak-
schulung wird auch die Bezeichnung psychoeduka- Flow-Meter, einem Röhrchen mit Anzeige, zu mes-
tive Intervention gebraucht. sen. Wird der Atemstrom schwächer, können sie
ihre Medikamentendosis mittels Dosieraerosolen
steigern. Indem sie auf diese Weise rechtzeitig auf
Ziele von Patientenschulungen Veränderungen reagieren, werden Notfälle und un-
5 Differenziertes Krankheits- und Behand- geplante stationäre Behandlungen verhindert.
lungswissen
5 Verbessertes Gesundheitsverhalten > Durch Schulungen sollen Patienten zu Exper-
(Lebensstiländerung) ten für ihre Krankheit werden. Sie sollen
5 Verbesserte Körperwahrnehmung Kompetenzen und Fertigkeiten (skills) erwer-
(Symptommonitoring) ben, um eigenverantwortlich mit der Erkran-
kung umgehen zu können (Selbstmanage-
258 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

ment). Patienten sollen durch die Schulung Didaktik Schulungen streben die Vermittlung von
in die Lage versetzt werden, die Bewältigung Wissen, Einstellungsänderungen und den Erwerb
ihrer Krankheit in eigener Regie zu überneh- von Fertigkeiten an. Diese Ziele erfordern unter-
men, die Inanspruchnahme professioneller schiedliche didaktische Vorgehensweisen. Wissens-
Hilfe selbst zu steuern und informierte Ent- vermittlung erfolgt durch einen strukturierten Vor-
scheidungen über ihren Lebensstil zu treffen trag in einfacher, verständlicher Sprache mit Bei-
(Empowerment). spielen aus dem Alltagsleben der Teilnehmer. An-
schaulichkeit und Verständlichkeit haben Vorrang
vor wissenschaftlicher Gründlichkeit und Genauig-
Komponenten von Schulungsprogrammen
keit. In der sich anschließenden Diskussion kann
5 Informationsvermittlung über die Krankheit
überprüft werden, was die Zuhörer eventuell nicht
und ihre Behandlung.
oder falsch verstanden haben oder wogegen es Vor-
5 Training von Fertigkeiten zur Selbstdia-
behalte gibt. Einstellungsänderungen können am
gnostik und -behandlung (z. B. Blutzucker-
besten in der interaktiven Gruppendiskussion er-
kontrolle und Insulininjektion bei Diabetes
reicht werden. »Selbstverfertigte« Gedanken wer-
mellitus).
den leichter akzeptiert als vom Experten gelieferte.
5 Motivierung, Risikofaktoren (z. B. Rauchen,
Beim Erwerb von Handlungskompetenzen wieder-
Übergewicht, Bewegungsmangel) abzu-
um steht das praktische Üben im Vordergrund.
8 bauen und einen gesundheitsförderlichen
Schulungsleiter können die nötigen didaktischen
Lebensstil (z. B. gesunde Ernährung, körper-
Qualifikationen in speziellen Seminaren erwerben
liche Aktivität) anzunehmen.
(Train-the-Trainer-Seminare).
5 Verbesserung der Stressbewältigung
(z. B. Entspannungsverfahren).
Lernziele Durch konkrete Lernziele ist festgelegt,
5 Training sozialer Kompetenzen (z. B. zur
was in einer Schulungseinheit erreicht werden soll.
Inanspruchnahme sozialer Unterstützung
Lernziele bieten dem Schulenden und den Teil-
durch die Angehörigen und zur Kommu-
nehmern Struktur und Orientierung. Sie ermög-
nikation mit den medizinischen Experten).
lichen es zudem, den Schulungserfolg zu überprü-
5 Psychologische Unterstützung durch den
fen. Hierzu gibt es Wissensfragebögen und Hand-
Leiter und die anderen Teilnehmer (z. B. um
lungstests. Der Patient soll aber nicht nur Wissen
krankheits- und behandlungsbedingte
erwerben und bestimmte Handlungen ausführen
Ängste und Depressivität zu vermindern).
können, sondern auch in Problemsituationen ent-
scheidungsfähig werden.
Rahmenbedingungen Die Bausteine (Module)
eines Schulungsprogramms werden üblicherweise Patientenorientierung Die Förderung der Motiva-
in einem strukturierten Manual (Handbuch) detail- tion zu Verhaltensänderung ist bei der Patien-
liert beschrieben, das die Schulungsinhalte, didak- tenschulung zentral. Neue krankheitsangemessene
tische Prinzipen, konkrete Unterrichtsgestaltung, Verhaltensweisen werden eingeübt und im Alltag
Lernziele und deren Überprüfung sowie Unter- erprobt. Wenn Patienten als Experten ihrer Krank-
richtsmaterialien für Leiter und Teilnehmer enthält. heiten betrachtet werden, müssen ihre individuellen
Schulungen werden meist in einem Gruppenset- Erfahrungen ernst genommen werden. Schulungs-
ting mit ca. 8 Teilnehmern (bei Kindern ca. 5) und programme beschränken sich deshalb nicht auf
einem festen zeitlichen Umfang (z. B. 6–10 Doppel- Informationsvermittlung, sondern setzen an der
stunden) vermittelt. Individuelle Schulungen sind Alltagssituation an: Die Wahrnehmungen und Be-
ebenfalls möglich. Um alle Themenbereiche kom- wertungen der Betroffenen, ihre Ziele und Motive
petent abdecken zu können, ist eine interdiszipli- müssen zum Gegenstand der Schulung gemacht
näre Zusammensetzung des Schulungsteams werden. Damit kann zum einen das Engagement
günstig (Arzt, Psychologe, Pädagoge, Ernährungs- während des Schulungsprozesses gefördert werden.
berater, Sporttherapeut, Physiotherapeut etc.). Zum anderen wird eigenverantwortliches Handeln
8.2 · Psychotherapie
259 8
erleichtert, und auf diese Weise werden optimale sondere auch dann erzielt, wenn die Programme
Voraussetzungen für einen Transfer in den Alltag bestimmten didaktischen Prinzipien folgten. We-
geschaffen. sentlich ist dabei der Einbezug des Patienten, d. h.
Aus diesem Grund werden die Teilnehmer er- die Schulungsinhalte sollten an den Bedürfnissen,
mutigt, eigene Erfahrungen einzubringen und mit- den Fertigkeiten und Ressourcen der Patienten
einander zu diskutieren. Ein interaktives Vorgehen anknüpfen. Strukturierte Schulungsprogramme
bei der Schulung ersetzt den traditionellen Frontal- scheinen auch effektiver zu sein als offene Ge-
unterricht. Wenn professionelle Betreuer zwar die sprächsgruppen. In einer randomisierten Studie mit
notwendigen Informationen liefern, der Patient Brustkrebspatientinnen bewirkte eine strukturierte
aber selbst auf dieser Basis seine Entscheidungen Schulungsgruppe positive Effekte auf psychisches
trifft, wird dieser auch stärker motiviert sein, Befinden und Lebensqualität, die auch nach 3 Jah-
Einstellungs- und Verhaltensänderungen nach Ab- ren noch nachweisbar waren, während sich bei
schluss der Schulung in das Alltagsleben zu über- einer reinen Gesprächsgruppe zum Austausch von
tragen. Gefühlen zum Teil sogar Hinweise auf negative
Effekte zeigten. Insbesondere Programme, die das
> In einer großen Zahl wissenschaftlicher Stu-
Erleben von Selbstwirksamkeit fördern, waren bei
dien hat sich erwiesen, dass intensive, um-
Krebskranken wirksam. Hierbei handelte es sich
fassende, strukturierte Patientenschulungen
um praktische Übungen oder Rollenspiele, die die
effektiv und effizient (Kosten sparend) sind.
Überzeugung stärkten, ein günstiges Gesundheits-
verhalten auch unter widrigen Umständen ausfüh-
Effektivität Die Wirksamkeit von Schulungen wur- ren zu können (Kompetenzerwartung).
de insbesondere für die Indikationsbereiche Dia-
i Vertiefen
betes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B.
Faller H, Reusch A, Meng K (2011) Innovative
koronare Herzkrankheit), Krankheiten der At-
Schulungskonzepte in der medizinischen Reha-
mungsorgane (z. B. Asthma), Krankheiten des Be-
bilitation. Bundesgesundheitsblatt 54:444–450
wegungsapparats (z. B. chronischen Rückenschmer-
(Übersicht über aktuelle Entwicklungen)
zen) und Krebserkrankungen demonstriert. Er-
folge  wurden nachgewiesen sowohl im Hinblick
auf die subjektive Lebensqualität als auch in Bezug
auf »harte« medizinische Fakten, wie z. B. Mortalität 8.2 Psychotherapie
oder Re-Infarktrate bei der koronaren Herzkrank-
heit oder Häufigkeit der Spätkomplikationen bei M. Richard, H. Faller
Diabetes mellitus. Auch die Krankheitskosten infol-
ge der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen Lernziele
oder von Arbeitsunfähigkeit konnten vermindert Der Leser soll
werden. Die meisten Studien stammen allerdings 5 die Grundprinzipien der wichtigsten Psycho-
aus den angelsächsischen Ländern, mit unterschied- therapieverfahren beschreiben können,
lichen Gesundheits- und Sozialversicherungssys- 5 neue therapeutische Beziehungserfahrungen
temen, so dass die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf als Wirkfaktor der psychodynamischen Psycho-
deutsche Verhältnisse übertragen werden können. therapie benennen können,
Die Effekte von Schulungsmaßnahmen sind je- 5 operante und kognitive Therapietechniken
doch nicht in allen Ergebnisbereichen gleich gut. Sie beschreiben können,
halten unter Umständen auch nur kurz- bis mittel- 5 Basisvariablen der nondirektiven Gesprächs-
fristig an, so dass Nachsorgemaßnahmen (z. B. psychotherapie benennen können,
Telefonnachsorge) notwendig sind. Programme 5 Entspannungstechniken benennen können.
waren umso effektiver, je stärker sie verhaltens-
medizinische, d. h. lernpsychologische Komponen- Psychotherapie als ärztliches Behandlungsverfah-
ten enthielten. Positive Ergebnisse wurden insbe- ren wird erst seit knapp 100 Jahren angewandt.
260 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Neue Erkenntnisse aus den damals jungen Dis- also durch unterschiedliche Mechanismen zu er-
ziplinen Psychiatrie und Psychologie führten zu zielen. Bildgebende Verfahren können vielleicht
unterschiedlichen Therapieformen, die mit jeweils zukünftig benutzt werden, um herauszufinden, wel-
eigenen theoretischen Modellen (7 Abschn. 2.1, che Behandlungsmethode bei einem bestimmten
7 Abschn. 2.3) und Methoden psychische wie auch Patienten am aussichtsreichsten ist.
körperliche Beschwerden zu lindern suchen. Die
wichtigsten Therapieformen werden in diesem
Kapitel dargestellt. Psychotherapie ist ein sehr 8.2.1 Psychoanalyse und
wirksames Verfahren, dessen Effekte sich mit den- tiefenpsychologisch
jenigen von Pharmakotherapie messen können. fundierte Psychotherapie

Neurobiologie und Psychotherapie Psychotherapie Die manchmal unter dem Oberbegriff »psycho-
verändert das Gehirn. Psychotherapieeffekte lassen dynamische Psychotherapie« zusammengefassten
sich in bildgebenden Verfahren nachweisen. Ein Verfahren Psychoanalyse (Psa) und tiefenpsycholo-
wichtiger Wirkfaktor von Psychotherapie ist es, be- gisch fundierte Psychotherapie (Tp) sind psycho-
lastende Gefühle wie Angst oder Ärger in Worte zu analytisch begründete Verfahren (7 Abschn. 2.3).
fassen und dadurch abzumildern. Psychotherapeu-
> Psychodynamischen (psychoanalytisch be-
ten unterstützen ihre Patienten durch aktives Zu-
8 hören darin, Worte für ihren emotionalen Zustand
gründeten) Verfahren gemeinsam ist die
Annahme unbewusster psychischer Prozesse
zu finden. Dass die Benennung von Gefühlen deren
(Konflikte, Erlebens- und Handlungsmuster),
Intensität abmildert, konnte experimentell mittels
die zu psychischen und körperlichen Be-
funktionellem MRT demonstriert werden. Proban-
schwerden führen.
den erhielten Fotos mit Gesichtern präsentiert, die
eine bestimmte Emotion zum Ausdruck brachten. Das Ziel der Therapie besteht darin, durch neue
Wenn sie diese Emotion mit Worten benannten, Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung
zeigte die Amygdala eine geringere Aktivität. Er- die unbewussten Erlebensmuster zu verändern und
höhte Aktivität wies eine Region im präfrontalen Konfliktlösungen zu ermöglichen. Früher nahm
Kortex (rechter ventrolateraler PFC) auf, in wel- man an, dass dies vor allem durch Bewusstmachen
chem emotionsbezogene Informationen verarbei- und Einsicht gelingt. Heute weiß man, dass neue
tet werden. Je höher die Aktivität in dieser Region, Erfahrungen in der Therapie wichtiger sind.
desto größer auch der Abfall der Aktivität in der Psa und Tp unterscheiden sich in den Rahmen-
Amygdala. Dies ist ein Beispiel für die Funktion des bedingungen (Setting) und der Zielsetzung:
PFC, Emotionen zu regulieren. 4 In der Psa liegt der Patient auf der Couch und
Bei Angststörungen zeigen sich Psychotherapie- der Therapeut sitzt ohne Blickkontakt am
effekte durch eine verminderte Aktivität in Amyg- Kopfende. Die Sitzungen finden 2- bis 3-mal
dala und Hippocampus. Bei Zwangsstörungen ver- pro Woche über einen Zeitraum von mehreren
mindert sich der Metabolismus im rechten Nucleus Jahren statt. Als Ziel der Behandlung werden
caudatus. Bei beiden Krankheitsbildern sind die strukturelle Veränderungen der Persönlichkeit
Effekte denjenigen ähnlich, die man nach Psycho- angestrebt.
pharmakotherapie findet, was auf dieselben biolo- 4 In der Tp sitzen sich Patient und Therapeut
gischen Mechanismen hinweist. Anders ist es bei gegenüber und treffen sich ca. 1–1,5 Jahre lang
der Depression. Hier zeigen sich die Wirkungen von 1-mal pro Woche. Die Behandlung hat häufig
Psychotherapie und Pharmakotherapie in unter- einen speziellen Schwerpunkt (Fokus), meist
schiedlich lokalisierten Aktivitätsmustern. Medika- handelt es sich um einen umschriebenen Kon-
mentöse Therapie bewirkt eine Reduzierung der zu flikt, dessen Lösung angestrebt wird.
hohen Aktivität der Amygdala, Psychotherapie eine
Normalisierung der zu geringen Aktivität des PFC. Freie Assoziation Die Grundregel besagt, dass der
Beide Therapieansätze scheinen ihre Wirkung hier Patient über alle ihm in den Sinn kommende Inhal-
8.2 · Psychotherapie
261 8
te sprechen soll, auch wenn sie ihm nicht dazuge- den unangenehmer Wünsche und Bedürfnisse. Der
hörig, unangenehm oder peinlich erscheinen. Eine Status quo erscheint dem Patienten dann sicherer
unterstützende und Sicherheit vermittelnde Ge- als eine Veränderung, die ihm Angst macht. Wider-
sprächsatmosphäre soll es ihm ermöglichen, seine stand kann viele Formen annehmen: zu spät kom-
Äußerungen möglichst wenig einer Zensur zu un- men, Termine versäumen, nur über Belangloses
terwerfen, damit auch bisher abgewehrte Themen reden usw.
zur Sprache kommen können.
Klinik: Widerstand
Traumdeutung In Trauminhalten können sich un- Eine Patientin berichtet ohne große innere Beteiligung
bewusste Wünsche und Konflikte widerspiegeln. In über 20 min lang allerlei Belanglosigkeiten, die sie seit
der klassischen Psychoanalyse wurde der Traum als der letzten Sitzung erledigt hat. Sie redet ohne Punkt
besonders geeigneter Zugang zum Unbewussten und Komma und wirkt dabei recht hektisch und
aufgefasst. Auch wenn Träume und deren Inter- nervös. Schließlich gelingt es dem Therapeuten, sie
pretation spezifisch für die psychoanalytischen Ver- mit ihrem Verhalten zu konfrontieren, indem er sie auf
fahren sind, so spielt die Traumdeutung heute nicht ihren ununterbrochenen und distanzierten Redefluss
mehr eine so hervorgehobene Rolle wie früher. hinweist. Die Patientin ist zunächst ein wenig verwun-
Traumberichte können als Gesprächsthema ver- dert, fährt aber mit einer weiteren Episode, die sie
wandt werden, genauso wie Erlebnisberichte, Phan- noch zu berichten vergessen habe, in gleichem Stil
tasien oder Erinnerungen. fort. Erst nach erneuter Konfrontation des Therapeu-
ten mit ihrem Verhalten kann die Patientin innehalten.
Therapeutische Techniken Zu den wichtigsten Auf- Im daran anschließenden Dialog stellt sich heraus,
gaben des Therapeuten gehört es, den Schilderun- dass ihr geschiedener Ehemann nach langer Zeit
gen des Patienten »gleichschwebende Aufmerk- einen Besuch angekündigt hat. Seither ist die Patientin
samkeit« entgegenzubringen, also keine voreilige in starke Betriebsamkeit verfallen, die ihr kaum Zeit
Auswahl zu treffen, und wo nötig nach Präzisierun- zum Nachdenken lässt. Schließlich kann die Patientin
gen zu fragen (Klärung). Ebenso macht der Thera- erkennen, dass die Betriebsamkeit sie von ihren nega-
peut den Patienten auf sein aktuelles Verhalten in tiven Gefühlen gegenüber ihrem Exmann ablenkt
der therapeutischen Beziehung oder Widersprüche (Verdrängung) und der starke Redefluss eine direkte
in seinem Erleben aufmerksam (Konfrontation), Fortsetzung dieses Mechanismus darstellt.
wenn er darin Aspekte eines unbewussten Konflikts
vermutet. Traditionell gilt die Deutung als Kern- Therapeutische Beziehung In der Psa wie der Tp
stück der Arbeit. Sie soll es dem Patienten ermög- kommt der therapeutischen Beziehung nicht nur
lichen, einen Zusammenhang zwischen seinen aus Gründen des Vertrauens und der Unterstützung
aktuellen Problemen und seinen (bislang) unbe- eine besondere Bedeutung zu, sondern sie ist ein
wussten Bedürfnissen herzustellen. Heute werden zentrales »Werkzeug« für den Therapeuten. Die
neue Beziehungserfahrungen als zentral ange- Haltung des Therapeuten ist von wohlwollender
sehen (s. u.). Beim Durcharbeiten lernt der Patient, Zugewandtheit, Aufmerksamkeit, aber persönlicher
neue Erfahrungen und Einsichten immer wieder Zurückhaltung gekennzeichnet. Er bringt sich nicht
durchzuspielen und auch im Alltag umzusetzen. als Privatperson ein und benutzt den Patienten
Da die Therapie darauf abzielt, die als bedroh- nicht zur Befriedigung eigener Bedürfnisse, z. B.
lich oder schmerzhaft erlebten und daher verdräng- nach Bewunderung oder Macht (Abstinenzregel).
ten Erlebnisinhalte aufzudecken, ist mit Wider- Er gibt weder Ratschläge, was der Patient tun solle,
stand des Patienten zu rechnen. Dies hat zur Folge, noch mischt er sich direkt in die Entscheidungen
dass in der Behandlung die charakteristischen Ab- des Patienten ein (Neutralitätsregel). Diese zu-
wehrmechanismen (7 Abschn. 2.3.5) des Patienten rückgenommene Haltung begünstigt es, die thera-
aktiviert werden. Widerstand richtet sich somit peutische Situation als Inszenierungsbühne für die
nicht gegen die gesamte Therapie oder die Person früheren pathogenen Beziehungserfahrungen des
des Therapeuten, sondern gegen das Bewusstwer- Patienten zu benutzen.
262 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

> Die therapeutische Situation weckt im Pa- ständigkeit hinsichtlich eigener Entscheidungen
tienten Gefühle, die aus früheren Beziehun- und führt wegen des blockierten Ärgerausdrucks zu
gen stammen und nun dem Therapeuten ent- körperlicher Anspannung und mangelnder Durch-
gegengebracht werden (Übertragung). Das setzungsfähigkeit.
daraus resultierende Verhalten des Patienten
gegenüber dem Therapeuten offenbart – Neue Beziehungserfahrung Ein zentraler Wirkme-
sozusagen »in Echtzeit« – die Erlebens- und chanismus von Psa und Tp besteht in einer neuen,
Handlungsmuster, die der Introspektion korrigierenden Beziehungserfahrung. Der Ausgangs-
des Patienten sonst nicht zugänglich wären. punkt des Konzeptes besteht darin, dass sich Men-
Der Therapeut kann nun gemeinsam mit dem schen im Laufe ihrer Entwicklung ein implizites
Patienten versuchen, die unbewussten Bezie- Wissen darüber aneignen, was in Beziehungen zu
hungsmuster zu verstehen. anderen Menschen geschehen wird (»unbewusste
Erwartungen«). Dieses Wissen ist nicht bewusst und
Analog zur Übertragung werden die Gefühle des spontan abrufbar, so dass man ohne weiteres darüber
Therapeuten als Reaktion auf die Äußerungen des Auskunft geben könnte. Es handelt sich vielmehr
Patienten als Gegenübertragung bezeichnet. Auch um nichtsprachlich repräsentiertes Wissen, um Erle-
diese eigenen Empfindungen, wie z. B. Langeweile, bens- und Handlungsmuster, die man automatisch
Ärger oder Mitleid, dienen dem Therapeuten als ausführt, und zwar nicht nur in bekannten Situa-
8 Hinweise auf die Beziehungskonstellationen, die tionen, sondern auch gegenüber neuen Beziehungs-
der Patient gestaltet. Um zu gewährleisten, dass partnern.
der Therapeut nicht durch unbewusste Konflikte Auch in der Therapie handeln die Patienten
seinerseits seine Wahrnehmung der therapeuti- nach eben diesen unbewussten Mustern, und der
schen Beziehung verzerrt, ist eine Lehranalyse not- Therapeut hat nun die Aufgabe, so zu reagieren,
wendig, die eigene unbewusste Tendenzen des The- dass die unbewussten Befürchtungen nicht ein-
rapeuten aufarbeitet. treten. Er sollte sich in der Therapie so verhalten,
dass die Beziehung zum Patienten sich nicht so ent-
Klinik: Beziehungsschemata wickelt wie die früheren Beziehungen des Patienten
Ein junger Mann kommt wegen sozialer Ängste zur zu seinen Eltern. Damit wird ein gefestigtes Bezie-
Therapie. Er ist in einer überbehüteten Atmosphäre hungsmuster, das beim Patienten in der Vergangen-
aufgewachsen, in der ihm viele Entscheidungen ab- heit immer wieder zu psychischem Leid und belas-
genommen und gleichzeitig nur wenig Freiraum tenden Erfahrungen führte, infrage gestellt und eine
zur eigenen Lebensgestaltung gelassen wurde. So neue, korrigierende Erfahrung ermöglicht.
konnte er bei anstehenden Fragen zwar immer zu Schon allein durch die neue therapeutische Er-
seinen Eltern kommen, die ihm dann Lösungen fahrung können verfestigte Muster verändert wer-
nahelegten und für ihn durchsetzten, mit denen er den. Der Therapeut kann diese Muster jedoch auch
jedoch letztlich nicht zufrieden war – so auch die darüber hinaus dem Patienten bewusst machen,
Entscheidung zur aktuellen Ausbildung, in der er sich indem er eine Parallele zieht zwischen dem aktu-
nicht wohl fühlt. Kritisiert er die Lösung den Eltern ellen Erleben des Patienten und seinen früheren
gegenüber, reagieren diese verärgert und werfen Erfahrungen mit den Eltern. Dies nennt man eine
ihm vor, undankbar zu sein. Übertragungsdeutung. Wenn auf diese Weise die
Sein implizites Wissen über die Beziehungsgestal- neue Beziehungserfahrung gemeinsam verstanden
tung geht entsprechend dahin, bei anstehenden wird, gewinnt der Patient eine neue Einsicht, und
Problemen Rat zu suchen und anzunehmen, auch zwar eine Einsicht, die nicht allein intellektuell-
dann, wenn dieser sein Problem nicht wirklich löst. kognitiv ist, sondern emotional fundiert und damit
Kritik und Ärger darüber äußert er nicht, da dies nur von größerer Wirksamkeit auf sein Erleben und
zu noch mehr Ärger führt, aber er bleibt mit einem Verhalten.
Gefühl der Hilflosigkeit und Unfähigkeit zurück.
Dieses pathogene Muster unterstützt seine Unselb-
8.2 · Psychotherapie
263 8
Klinik: Neue Beziehungserfahrung dererseits auf dem Aufbau neu zu erlernender er-
Das Beziehungsmuster des gerade beschriebenen wünschter Verhaltensweisen.
Patienten veranlasst ihn beispielsweise, den The- Die Kritik an einer ausschließlich am Verhalten
rapeuten nach konkreten Verhaltenstipps für seine orientierten Therapie, die die gedanklichen Prozes-
sozialen Ängste zu fragen. Geht der Therapeut nun se ihrer Patienten vernachlässigte (behavioristisches
nicht konkret darauf ein, sondern ermuntert den Modell), führte zur Weiterentwicklung der VT zur
Patienten, nach eigenen Lösungen zu suchen, so kognitiven Verhaltenstherapie (KVT).
macht der Patient eine neue Beziehungserfahrung:
> Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) setzt
Vermutlich wird der Patient überrascht sein, weil das
an der Veränderung pathogener gedank-
Muster, gleich einen Rat zu bekommen, nicht »be-
licher Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ver-
dient« wird. Ebenso mag der Patient ärgerlich wer-
arbeitungsmuster an, die unerwünschte
den, weil er sich hilflos und unfähig fühlt. Mit Unter-
Emotionen und Verhaltensweisen fördern.
stützung des Therapeuten wird der Patient jedoch
erfahren, dass Rat einholen nicht zur Folge haben Von besonderer Bedeutung sind hier Interven-
muss, dass er bevormundet wird, sondern dass er mit tionen zur kognitiven Umstrukturierung und das
einem Gegenüber als Katalysator selbst in der Lage so genannte ABC-Schema der Rational-Emotiven-
ist, Lösungen zu finden. Therapie (7 Übersicht, »ABC-Schema der Rational-
Äußert sich der Patient ärgerlich oder kritisierend Emotiven Therapie [Beispiel]).
dem Therapeuten gegenüber, besteht ebenfalls Mit dem Einzug der kognitiven Techniken haben
die Gelegenheit für eine neue Beziehungserfahrung. die verhaltensorientierten Interventionen keines-
Der Patient kann in der therapeutischen Beziehung wegs an Bedeutung verloren, vielmehr sind die
die Erfahrung machen, nach Kritik oder Unmuts- Methoden der KVT als Erweiterung der VT zu ver-
bezeugungen eben nicht der Undankbarkeit bezich- stehen. Mit dem Begriff »Verhaltenstherapie« wird
tigt zu werden wie bei seinen Eltern, sondern beim in der Praxis meist die Kombination von Interven-
Therapeuten weiterhin ein offenes Ohr und Unter- tionen der VT und der KVT verstanden – so gibt es
stützung zu finden. Diese Erfahrung wirkt ermu- heute kaum mehr Therapeuten, die rein verhaltens-
tigend auf ihn, so dass er sich immer mehr zutraut, therapeutisch arbeiten.
selbständige Entscheidungen zu treffen und diese
durchzusetzen. Operante Verfahren Die Interventionen dieser
Gruppe machen sich die Lernprinzipien der operan-
ten Konditionierung zunutze und zielen darauf ab,
8.2.2 Kognitive Verhaltenstherapie durch Kontrolle der auslösenden Reize oder der
Konsequenzen eines Verhaltens neues bzw. alter-
natives Verhalten aufzubauen. Hierzu wird in der
> Die Verhaltenstherapie (VT) fußt auf der An-
individuellen Verhaltensanalyse das Problemver-
wendung allgemeinpsychologischer Lern-
halten mit seinen Auslösern und Konsequenzen de-
mechanismen in der therapeutischen Praxis.
tailliert beschrieben (SORKC-Schema, 7 Kap. 2.1.2),
Aus den Befunden der experimentellen Lernpsy- um konkrete Ansatzpunkte für Alternativen zu
chologie (7 Abschn. 2,1, 7 Abschn. 4.2) ist eine ganze finden. Bei der Stimuluskontrolle geht es darum,
Reihe von Interventionen entwickelt worden, die diejenigen Situationen zu kontrollieren, die als Aus-
sich in erster Linie mit dem Problemverhalten sowie löser für problematisches Verhalten dienen, und sie
seinen auslösenden und aufrechterhaltenden Be- so zu ändern, dass das Problemverhalten weniger
dingungen beschäftigen. Von hervorgehobener Be- wahrscheinlich wird. Gleichzeitig soll das Problem-
deutung sind hier die Expositionsverfahren und die verhalten isoliert werden, indem alle seine angeneh-
operanten Verfahren, die in vielen Facetten in der men (und folglich verstärkenden) Begleiterschei-
VT eingesetzt werden (s.u.). Ihr Schwerpunkt liegt nungen möglichst ausgeschaltet werden.
einerseits auf dem Abbau von erlernten uner- Die Selbstbeobachtung ist ein anderes wich-
wünschten Reaktionen, wie z. B. Ängsten, und an- tiges Instrument zur Verhaltensänderung. Hierbei
264 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

protokolliert der Patient Dauer, Häufigkeit und Exposition Ziel der Expositionsverfahren ist der
Intensität erwünschter und unerwünschter Verhal- Abbau der gelernten Angstreaktion. Der Kern be-
tensweisen, wobei schon das Registrieren des er- steht in der wiederholten Konfrontation des Pa-
wünschten Verhaltens als Belohnung (Verstärkung) tienten mit der Situation bzw. dem Gegenstand, der
und das Registrieren des unerwünschten Verhal- die Angst auslöst. Wichtig ist dabei, dass der Patient
tens  als Bestrafung wirkt. Gleichzeitig erhält der so lange in der Situation bleibt, bis das Angsterleben
Patient Feedback über sein Verhalten und kann merklich nachlässt. Bricht der Patient die Exposi-
darin Ansätze zur Veränderung finden. Häufig wer- tion ab, bevor die Angst merklich nachgelassen hat,
den auch Verhaltensverträge eingesetzt, in denen wird die Angst durch diese Vermeidung (negative
sich der Patient per Unterschrift verpflichtet, ein Verstärkung!) wieder verstärkt. Da die Angstreak-
neues Verhalten bis zur nächsten Sitzung auszu- tion (aus physiologischen Gründen) nicht über
probieren. In dem schriftlich festgehaltenen Kon- einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten
trakt legt der Patient mit dem Therapeuten genau werden kann, wird die Angstreaktion abnehmen
fest, welche Verstärker (bzw. Bestrafungen) bei und der Patient sich an diese Situation gewöhnen
(Nicht-)Einhaltung folgen. Um Verhalten aufzu- (Habituation). Die Konfrontation kann sowohl
bauen, eignet sich auch die Selbstverstärkung, wo- durch das tatsächliche Aufsuchen der Situation (in
bei nicht der Therapeut, sondern der Patient selbst vivo) geschehen und/oder auch nur in der bild-
die Konsequenzen seines Handelns bestimmt. So lichen Vorstellung des Patienten (in sensu). Ebenso
8 kann z. B. eine Person, die sich beim Lernen immer ist es möglich, sich dem Angst auslösenden Reiz
wieder ablenken lässt, beschließen, sich erst dann langsam und stufenweise zu nähern (systematische
mit alltäglichen erfreulichen Dingen (Fernsehen, Desensibilisierung) oder sich gleich in die maximal
Spaziergang, Telefonat mit Freund) zu belohnen, Angst auslösende Situation zu begeben (Reizüber-
wenn sie eine festgelegte Zeit tatsächlich mit Lernen flutung, flooding).
verbracht hat.
Klinik: Expositionsbehandlung
Klinik: Stimuluskontrolle Herr H. leidet unter Höhenangst. Sobald er vor sich
Für Bulimie-Patientinnen ist es hilfreich, nur wenige einen tiefen Abgrund sieht, bekommt er starke Angst
und eher kalorienarme Lebensmittel zu Hause vor- und meidet daher solche Orte. Seine Behandlung
rätig zu haben. Verspürt die Patientin dann den Drang mit stufenweiser Exposition in vivo sieht vor, ihn ge-
zu essen, wird sie kaum etwas dafür vorfinden und nau über die Störung und die Lernmechanismen
muss erst einkaufen gehen. Dadurch bekommt sie seines Verhaltens aufzuklären, insbesondere über die
Gelegenheit, ihr Essverhalten zu kontrollieren, bevor Angst aufrechterhaltende Funktion seines Vermei-
die Attacke beginnt. Genau festgelegte Essenszeiten dungsverhaltens. Mit diesem Wissen kann er den
und -mengen helfen dabei, das Essen von seinen ver- Sinn der Exposition verstehen. Nach seiner Einwilli-
stärkenden Konsequenzen (z. B. Spannungsreduktion) gung sucht er mit seinem Therapeuten zusammen
zu entkoppeln, weil so nicht »bei Bedarf« gegessen zunehmend schwierigere (d. h. immer mehr Angst
wird – also wenn die Spannung oder der Frust am erzeugende) Orte auf. Sie beginnen mit kleinen
größten ist, sondern unabhängig vom emotionalen Brücken über den örtlichen kleinen Fluss, gefolgt von
Befinden. Hochhausbalkonen auf der Höhe verschiedener
Ganz ähnlich kann ein Raucher seine Zigaretten statt Stockwerke und anderen hohen Stellen bis hin zum
wie bisher ständig verfügbar in der Hosentasche nun Fernsehturm.
in einer separaten, mit Schloss versehenen Kiste in Herr H. bleibt mit dem Therapeuten so lange auf
der Vorratskammer aufbewahren und die Schlüssel dem Hochhausbalkon, bis seine Angst sich merklich
dazu im Schlafzimmer deponieren. Durch das Hin- reduziert. Er bekommt zwar während der Übung in-
auszögern des Zugangs zu den Zigaretten wird die tensive Angst und fängt an zu zittern und zu weinen,
häufig automatisierte Ausführung des problema- aber der Therapeut unterstützt ihn dabei, trotz der
tischen Verhaltens unterbrochen und einer bewuss- starken Angst durchzuhalten (z. B. durch Anleitung
ten Kontrolle zugänglich gemacht. zu ruhigerem Atmen oder Blickkontakt) und auf die
8.2 · Psychotherapie
265 8
Angstreduktion zu warten. Herr H. verlässt den tionen zu erkennen und durch angemessenere Ge-
hohen Balkon erst, wenn sich seine Angst gemindert danken zu ersetzen. Dies geschieht zum einen mit
hat und er ohne intensive Angst hinunterschauen Hilfe gezielter Selbstbeobachtung der eigenen Ge-
kann. Dieses Vorgehen wiederholt Herr H. an jedem danken, zum anderen mit Hilfe von gelenkten Fragen
der oben genannten Orte mehrmals. Bei jedem (sokratischer Dialog), die dem Patienten erkennen
Durchgang tritt die Angst weniger stark auf und ver- lassen, dass es auch andere und womöglich realitäts-
geht schneller wieder. Wenn die Angst schon deut- nähere Möglichkeiten der gedanklichen Bewertung
lich reduziert ist, geht Herr H. alleine auf den Balkon, gibt. So könnte der Therapeut Herrn M. beispiels-
während der Therapeut in einiger Entfernung wartet, weise fragen, ob es noch andere Erklärungsmöglich-
um die Abnahme der Angst nicht mit der Anwesen- keiten für das Verhalten seines Bekannten gibt oder
heit des Therapeuten zu koppeln. Zur Förderung wie er denn herausfinden könnte, dass seine Vermu-
seiner Selbständigkeit führt Herr H. die Expositions- tung, der Freund wolle nichts mehr von ihm wissen,
übungen schließlich ganz alleine durch, bis die Angst richtig sei (7 Klinik »Dysfunktionale Kognition«).
so gut wie verschwunden ist. Bei ähnlichen gedanklichen Prozessen setzt
beispielsweise das ABC-Schema von Albert Ellis,
Klinik: Dysfunktionale Kognition dem Begründer der Rational-Emotiven Therapie,
Insbesondere depressive Personen neigen zu Denk- an. Es besagt, dass die Qualität der emotionalen
fehlern: Ein guter Bekannter von Herr M. brach Reaktion die Folge der eigenen inneren Bewertung
ein Telefonat mit den Worten »Ich kann jetzt grade eines Ereignisses ist. Negative Emotionen, die unser
nicht.« ab und legte schnell auf. Herr M. reagierte Verhalten steuern, sind folglich das Resultat unserer
enttäuscht und war davon überzeugt, sein Freund eigenen Bewertung bestimmter Ereignisse. Gelingt
wolle von ihm nichts mehr wissen (voreilige Schluss- es, die innere Bewertung zu verändern, so ändern
folgerung). Er hatte fortan die feste Erwartung, sich auch Emotionen und Verhalten.
dass jeder weitere Anruf bei ihm ebenfalls ungünstig Beispiel: Nach einem Bewerbungsgespräch er-
verlaufen werde (falsche Vorhersage). hält jemand die Mitteilung, dass er aufgrund kom-
Frau Z. wurde über ihrer Arbeit sehr entmutigt, weil munikativer Schwächen für die Arbeitsstelle nicht
sie ständig unzufrieden mit ihrer eigenen Leistung angenommen wurde, und fällt in depressive Stim-
war. Der Bericht musste »perfekt« sein, bevor sie ihn mung. Dass die »Ursache« der depressiven Stim-
abgeben konnte, ansonsten wäre sie eine totale Ver- mung nicht in der Ablehnung (also dem Auslöser)
sagerin (Alles-oder-nichts-Denken). zu suchen ist, wird deutlich, wenn man sich vor
Herr F. bekam an der Kasse 10 € zu wenig Wechsel- Augen hält, dass es andere Personen gibt, denen das
geld zurück, bemerkte dies jedoch erst zu Hause. gleiche passiert, ohne in Depressionen zu verfallen.
Er war niedergeschlagen und davon überzeugt, dass Sie bewerten das Ereignis anders, z. B.: »Schade,
ihm das dauernd passieren werde (übertreibende aber dann bewerbe ich mich eben woanders.
Verallgemeinerungen). Wenigstens weiß ich jetzt, woran ich noch arbeiten
muss, und kann mich darauf vorbereiten.«
Kognitive Umstrukturierung Aus den oben genann-
ten verhaltensbezogenen Interventionen wird deut-
lich, dass bei diesen natürlich auch schon gedank- ABC-Schema der Rational-Emotiven
liche Prozesse eine Rolle spielen (z. B. bei der Selbst- Therapie (Beispiel)
beobachtung). Bei Menschen mit psychischen Stö- 5 A = Auslöser: »Ich wurde für die Arbeits-
rungen finden sich häufig typische Gedankengänge, stelle nicht angenommen.«
die die Symptomatik weiter perpetuieren. Sie wei- 5 B = Bewertung: »Das ist furchtbar!
sen charakteristische Verzerrungen auf, die in der Ich schaffe das nie! Ich hätte die Arbeit so
Therapie dem Patienten aufgezeigt und schrittweise dringend gebraucht. Jetzt ist alles aus!«
verändert werden. 5 C = Consequence: Depressivität, Rückzug,
In der KVT lernen die Patienten, solche häufig Resignation, Passivität, Suizidgedanken.
automatisch auftretenden, dysfunktionalen Kogni-
266 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Verhaltensexperimente Diese Technik setzt an den fürchteten Situation, wobei das Ausmaß an Schwie-
Gedanken sowie am Verhalten an. Haben Patienten rigkeit in den Rollenspielen gut variiert werden
automatische, dysfunktionale Gedanken erkannt, kann.
können sie deren Realitätsgehalt in kleinen Expe-
rimenten überprüfen. So kann z. B. der Gedanke:
»Ich strahle so viel Negatives aus, dass niemand 8.2.3 Nondirektive Gesprächs-
etwas für mich tut.« überprüft werden, indem Pa- psychotherapie
tient und Therapeut gemeinsam überlegen, wie
man diesen Gedanken an der Realität testen könnte. Im Alltagsgebrauch verstehen viele Menschen unter
Der Patient könnte z. B. in der Fußgängerzone Pas- Gesprächspsychotherapie die Situation, dass sich
santen fragen, ob sie für ihn einen Geldschein in 2 Menschen gegenüber sitzen und miteinander re-
Münzen wechseln würden. In der nächsten Sitzung den. Dies ist natürlich in vielen Therapieformen der
kann die Auswertung des Experimentes vorgenom- Fall, jedoch steht der Begriff Gesprächspsycho-
men werden. therapie für eine ganz spezielle Therapieform, die
sich durch ihr Menschenbild und die Gesprächs-
Gruppentraining der sozialen Kompetenz Inzwi- technik von anderen Therapieformen abhebt.
schen sind verschiedene gruppentherapeutische Die nondirektive Gesprächspsychotherapie
Programme entwickelt worden, die sich mit spe- (GT) oder auch klientenzentrierte Psychotherapie
8 ziellen Problembereichen befassen. Darunter fällt (Begründer: Carl Rogers) beruht auf der humanis-
auch das Gruppentraining Sozialer Kompetenzen tischen Denktradition. Sie begreift den Menschen
(GSK). Bei diesem Training geht es um den Aufbau als freie Person, die sich autonom ständig weiter-
von sozialem Verhalten, was bei einer Reihe von entwickelt. Der Mensch »ist« nicht, sondern »wird«
psychischen Störungen als Behandlungsbereich ständig neu. Die GT versteht sich so auch in Ab-
eine Rolle spielen kann. Die Gruppe bietet gerade grenzung zum von unbewussten Motiven gesteuer-
bei diesem Thema viele Vorteile, da in ihr eine ten Bild des Menschen der Psychoanalyse einerseits
Reihe von Lernbedingungen gleichzeitig realisiert wie auch zur mechanistischen Ansicht des Behavio-
werden: Den Teilnehmern wird ein Störungsmo- rismus.
dell vermittelt, das sie gemeinsam auf ihre jeweilige Im Zentrum der GT steht das Ziel, dem Men-
Situation übertragen können. Sie lernen von den schen dazu zu verhelfen, sich voll zu entfalten
Berichten und Erlebnissen der anderen Teilnehmer (Selbstverwirklichung). Die Entwicklung des Men-
und erfahren von ihnen Unterstützung. Das Pro- schen ist normalerweise durch ein zunehmendes
gramm vermittelt Strategien zur aktiven Bewälti- Maß an Wachstum, Reife und Lebensbereicherung
gung von Angst auslösenden Situationen (Hilfe zum gekennzeichnet (Selbstaktualisierungstendenz).
Selbstmanagement) und enthält Übungen zur Gesunde Personen zeichnen sich dadurch aus, dass
Unterscheidung zwischen aggressivem und selbst- ihr tatsächliches Erleben mit dem Bild über ihre
sicherem Verhalten sowie zwischen der Verbalisa- eigene Person (»Selbst«) in Übereinstimmung
tion von Gefühlen und Meinungen (Diskrimina- steht. Bei Menschen mit einer psychischen Störung
tionslernen). In der geschützten Atmosphäre der fallen aus verschiedenen Gründen beide Bereiche
Gruppe können sie mit Hilfe von Rollenspielen auseinander (Inkongruenz). Die Therapie besteht
neues Verhalten mehrfach ausprobieren und trai- nun darin, die Selbstaktualisierungstendenz des
nieren, erhalten Rückmeldung, was man gegebe- Menschen zu stärken und wieder Raum zur Weiter-
nenfalls noch anders machen könnte. Die beobach- entwicklung zu geben.
tenden Teilnehmer lernen an den Fortschritten der
anderen (Modelllernen). Der Therapeut kann dem Basisvariablen des Therapeutenverhaltens Diesen
Patienten mit konkreten Vorschlägen bei Formulie- Raum finden die Patienten in der therapeutischen
rungen helfen und sie ihm vorsagen (Prompting). Beziehung zum Therapeuten, wenn dieser den Kon-
Die Gruppensituation ist für Menschen mit sozia- takt zum Patienten in charakteristischer Weise ge-
len Ängsten insgesamt eine Exposition mit der ge- staltet.
8.2 · Psychotherapie
267 8
> Empathie wird realisiert durch die Verbali-
Basisvariablen der therapeutischen Grund- sierung emotionaler Erlebnisinhalte. Hierbei
haltung in der Gesprächspsychotherapie paraphrasiert (»spiegelt«) der Therapeut
5 Positive Wertschätzung und emotionale den emotionalen Gehalt der Äußerungen des
Wärme Patienten und hebt dabei ganz gezielt die
5 Echtheit/Kongruenz häufig nur »zwischen den Zeilen« erkenn-
5 Einfühlendes Verstehen/Empathie baren und im nonverbalen Ausdruck sichtba-
ren Gefühlsregungen hervor. (Der Therapeut
wiederholt folglich nicht nur papageienhaft
Positive Wertschätzung und emotionale Wärme das Gesagte, obwohl dieses Missverständnis
Dies bezeichnet die innere Haltung des Therapeu- häufig anzutreffen ist!)
ten, dem Patienten als Menschen in seiner Einzig-
artigkeit mit Akzeptanz, Achtung und Respekt zu Der Therapeut sollte hier so wenig wie möglich
begegnen. Der Patient soll sich vom Therapeuten interpretieren. Meist ist es günstig, das Gesagte in
uneingeschränkt akzeptiert fühlen. Er soll spüren, fragendem Tonfall zu spiegeln, so dass sich der Pa-
dass die Wertschätzung des Therapeuten nicht von tient aufgefordert fühlt, gegebenenfalls zu korrigie-
einem bestimmten gewünschten Verhalten abhängt. ren oder genauer zu erklären. So werden Missver-
Dies stärkt das Selbstvertrauen des Patienten und ständnisse vermieden und gleichzeitig das emo-
festigt sein Vertrauen in die Therapie. Darüber hi- tionale Erleben des Patienten vertieft. Dieser Punkt
naus muss sich der Therapeut Wertungen und Be- verdeutlicht, dass die GT durchaus auch direktiv
urteilungen dem Patienten gegenüber enthalten vorgeht, indem sie konsequent das aktuelle emo-
(das bedeutet nicht, dass er alles gut heißen muss, tionale Erleben des Patienten fokussiert.
was der Patient sagt, tut und fühlt), sondern zu- Durch diese Art wird das Gefühlserleben der
nächst alle Erlebensinhalte des Patienten zur Kennt- Patienten vertieft und die Selbstaktualisierungsten-
nis nehmen. denz gestärkt, so dass durch diese vertieften Ein-
sichten und Erlebnisse eine Verhaltensänderung
Echtheit/Kongruenz Echtheit bezieht sich auf die möglich wird.
Person des Therapeuten und meint, dass dieser sich
im Kontakt mit dem Patienten nicht hinter einer Klinik: Verbalisation emotionaler Erlebnisinhalte
Fassade versteckt oder in Floskeln mit dem Patien- Eine Patientin berichtet von wiederholten Konflikten
ten redet. Vielmehr ist der Therapeut in der Bezie- mit ihren Freundinnen, bei denen sie sich ständig
hung offen und ehrlich und kommuniziert dies übergangen vorkommt. Ihre Vorschläge für Unter-
auch so. Dabei sollen Inhalt des Mitgeteilten, Ton- nehmungen würden immer verworfen oder nur kurz
fall, Mimik, Gestik und Gefühle in ihrer Aussage aufgegriffen, um dann wieder ignoriert zu werden.
übereinstimmen. Diese Echtheit fördert zusammen Während die Patientin davon erzählt, wird ihre Stim-
mit der Wertschätzung das Vertrauen des Patienten, me immer leiser und sie sinkt kraftlos im Stuhl zu-
von seinen persönlichsten Dingen zu reden (Selbst- sammen. Der Therapeut antwortet: »Das scheint Sie
offenbarung), denn er erfährt, was in dem Thera- ja ganz schön zu belasten. So wie Sie das sagen, hört
peuten vorgeht und kann sich daher ganz seiner sich das sehr entmutigt an.« Patientin: »Ja, ich weiß
eigenen Person widmen, ohne über die Reaktionen auch überhaupt nicht mehr, was ich da noch machen
des Therapeuten spekulieren zu müssen. soll. Ich finde das schrecklich.« (Dabei klopft sie mit
der Faust ganz leicht auf die Stuhllehne, schüttelt
Einfühlendes Verstehen/Empathie Der Therapeut den Kopf und presst die Lippen etwas zusammen.)
versucht, das Erleben des Patienten – also dessen Therapeut: »Ja, schrecklich. … Haben Sie gerade Ihre
Wahrnehmungen, Bewertungen und Empfindun- Hand bemerkt? Mir scheint, dass Sie gerade unter
gen – nachzuvollziehen und zu verstehen. Spannung stehen, oder?« Damit lenkt der Therapeut
die Aufmerksamkeit auf den emotionalen Ausdruck
der Patientin, die im weiteren Verlauf bemerkte, dass
268 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

sie nicht nur entmutigt, sondern auch sehr ärgerlich werden Handlungen »verschrieben«, die – auf den
auf ihre Freundinnen war, jedoch viel Angst spürte, ersten Blick – zum Problem führen oder es auf-
ihren Ärger ihnen gegenüber zu äußern. rechterhalten (im Klinik-Beispiel, dass der Sohn
keine Arbeit annimmt und zu Hause bleibt, 7 Klinik
»Paradoxe Intervention«).
8.2.4 Systemische Familientherapie Ziel dieser Interventionen ist es, Bewegung in
das System zu bringen und den Aufmerksamkeits-
fokus von den gewohnten und letztlich das Problem
> Kennzeichen von systemischen Therapien
aufrechterhaltenden Punkten wegzulenken. Im
ist, dass sie die Symptome individueller
Beispiel wurde der Schwerpunkt von den Streite-
Patienten im Kontext größerer Systeme,
reien der Eltern um die Wertigkeit der Arbeit des
z. B. der Familie, verstehen.
Sohnes auf das eigentliche Thema, die Ablösung,
Das Symptom eines Patienten wird in der systemi- gelenkt. Dieses Thema war bisher jedoch durch den
schen Familientherapie als Resultat der vielfältigen Streit komplett überlagert.
und miteinander vernetzten Einflüsse des Systems
> Die Idee einer systemischen Behandlung
»Familie« angesehen. Alle Elemente dieses Systems
besteht darin, das Gleichgewicht des Systems
stehen miteinander in Beziehung und beeinflussen
»Familie«, in dem sich zwischen den Mit-
sich gegenseitig (zirkuläre Kausalität), so dass zur
8 Entstehung eines Symptoms keine eindeutige Ur-
gliedern krankmachende Erwartungen, Deu-
tungs- und Kommunikationsmuster einge-
sache eruierbar ist. Vielmehr entsteht durch dieses
spielt haben, zu »stören«, damit sich wieder
Zusammenspiel ein Gleichgewicht (Homöostase)
ein neues Gleichgewicht einstellen kann und
der verschiedenen Kräfte, wobei die Krankheit eines
das »Symptom« (die Krankheit eines Mit-
Familienmitglieds als Resultat eines Ungleichge-
glieds) überflüssig wird.
wichts in diesem Kräftespiel verstanden wird und
nicht als »Schaden« in der Person. »Patient« ist zu-
nächst derjenige, der die auffälligsten Symptome hat. Klinik: Reframing
Er wird entsprechend als »identifizierter« Patient Im Rahmen einer Familientherapie wird deutlich,
bezeichnet. Er trägt lediglich das Symptom, das je- dass die Eltern einer essgestörten Patientin nur noch
doch eine Störung des ganzen Systems signalisiert. deshalb zusammenbleiben, weil ihre Tochter krank
ist. Der Therapeut »erschüttert« das Familiensystem,
Typische Interventionen Häufig befragt der The- indem er die Familie mit einer positiven Neuinter-
rapeut ein Familienmitglied über die Beziehung pretation (Reframing) der Essstörung der Tochter ent-
bzw. das Verhalten zweier anderer Familienmit- lässt. Die Essstörung wird z. B. als verzweifelter
glieder (zirkuläre Fragen). Zum Beispiel fragt er die Versuch dargestellt, eine drohende Trennung der
Tochter, wie der Vater reagiert, wenn die Schwester zerstrittenen Eltern zu verhindern.
ihren Freund nach Hause bringt. Dieses Vorgehen
fördert differenziertes Denken und die Unterschei- Klinik: Paradoxe Intervention
dung unter den Familienmitgliedern. Bei Müllers entstanden ständig Konflikte, die sich um
Eine zentrale Rolle spielt auch das Reframing die Arbeitssituation des 25-jährigen Sohns drehten.
(Umdeuten). Dabei versucht der Therapeut, die Trotz vieler Möglichkeiten, eine Arbeitsstelle anzuneh-
eingefahrenen Muster der Familie umzudefinieren men, kam aufgrund von Streitereien um die Wertig-
und in einen neuen Zusammenhang zu stellen. So keit der Beschäftigung nie ein Arbeitsverhältnis zu-
erscheint das Problem in einem neuen Zusammen- stande, und der Sohn blieb in der Abhängigkeit der
hang, zu dem sich alle Familienmitglieder neu ori- Eltern zu Hause. Der Therapeut gab den Eltern den
entieren müssen. Auftrag, ihren Sohn in den nächsten 4 Wochen konse-
Symptomverschreibungen (paradoxe Interven- quent wie einen 10-Jährigen zu behandeln. Aus eige-
tion) eignen sich ebenfalls, um festgefahrene Inter- nem Antrieb entschloss sich dieser, zu einem Freund
aktionsmuster in Bewegung zu bringen. Hierbei zu ziehen und selbständig eine Arbeit zu suchen.
8.2 · Psychotherapie
269 8
8.2.5 Entspannungstechniken dabei die mit den Vorstellungen verbundenen Emp-
findungen (wahrscheinlich aus der eigenen Erinne-
Andauernder Stress führt häufig zu innerer Unruhe rung heraus). So ist es möglich, durch Imagination
und Anspannung. Bei dauerhafter Belastung kann sein Empfinden zu verändern.
die Fähigkeit zu entspannen verloren gehen, so dass Diesen Mechanismus machen sich alle imagina-
der notwendige körperliche und seelische Ausgleich tiven Entspannungsverfahren zu nutze. Im Auto-
fehlt. Dieser Zustand begünstigt die Entwicklung genen Training stellt man sich eine körperliche
von psychosomatischen und psychischen Störun- Empfindung vor, die mit Entspannung einhergeht,
gen. Daher sind Entspannungstechniken inzwi- und unterstützt diese Vorstellung, in dem man sie
schen ein fester Bestandteil psychotherapeutischer innerlich mit Worten wiederholt (z. B. »Mein Arm
Behandlungsprogramme geworden. ist ganz schwer.«). In einer Phantasiereise werden
Die Palette an Entspannungsmethoden ist um- bestimmte Orte imaginiert, die für eine Person mit
fangreich. Allen Techniken ist jedoch gemeinsam, Ruhe und Entspannung verbunden sind. Dabei ist
dass sie über ein gleichförmiges Ritual einen »Aus- es wichtig, in der Vorstellung alle Sinnesmodali-
stieg« aus belastenden Situationen und Gedanken täten einzubeziehen, um die Imagination so konkret
ermöglichen, so dass sich innere Ruhe und körper- und lebendig wie möglich werden zu lassen, damit
liche Entspannung ausbreiten können. Grundvor- auch die entsprechenden körperlichen Zustände
aussetzung für alle Techniken ist es, für die Dauer wachgerufen werden.
der Übung alle anderen Dinge zurückzustellen und Das Element der Konzentration auf einen be-
sich nur auf sich selbst zu konzentrieren, ohne dabei stimmten Fokus und damit das teilweise Ausblenden
jedoch die Entspannung krampfhaft »erkämpfen« anderer Sinneseindrücke ist allen imaginativen Ver-
zu wollen. fahren gemeinsam. Diese Verfahren bilden einen
(fließenden) Übergang zur Hypnose.
Progressive Muskelrelaxation Bei der Progressiven
Muskelrelaxation (PMR; neuerdings auch Pro-
gressive Relaxation, PR, genannt) nach Jacobson 8.2.6 Hypnose
wird durch die bewusste, abwechselnde An- und
Entspannung von Muskelgruppen ein Zustand
> Mit Hypnose ist eine Intervention gemeint,
tiefer körperlicher Entspannung erreicht. Während
bei der der Patient durch Suggestion einen
der Übung werden einzelne Muskelpartien in einer
speziellen Bewusstseinszustand (Trance)
bestimmten Reihenfolge zunächst angespannt, die
erlebt.
Spannung für ein paar Sekunden gehalten und
anschließend wieder gelöst. Die Personen sollen Im Trancezustand ist der größte Teil der Aufmerk-
dabei ihre Konzentration auf den Unterschied samkeit auf eine bestimmte Sache gerichtet, so dass
zwischen Anspannung und Entspannung und auf die restliche Umgebung kaum noch wahrgenom-
die begleitenden Empfindungen in den entspre- men wird. Um einen solchen Zustand zu erleben,
chenden Körperteilen richten. Das Ziel der PMR ist bedarf es der Fähigkeit, Suggestionen in lebhafte
die Senkung des allgemeinen Muskeltonus unter Vorstellungen umzusetzen.
das normale Niveau und die Verbesserung der Kör- Bei der Einleitung einer Trance wird die Auf-
perwahrnehmung – insbesondere der Wahrneh- merksamkeit – meist durch die monotone Sprache
mung des Muskeltonus. Durch häufiges Wieder- des Therapeuten – von den äußeren Reizen weg
holen lernen die Personen, den Zustand ihrer Mus- auf das innere Erleben gelenkt. Die Folge ist zu-
keln jederzeit wahrzunehmen und bei Bedarf zu nächst meist eine körperliche Entspannung. Der so
entspannen. entstandene Entspannungszustand ist zusätzlich
mit einer Beruhigung der inneren Rhythmen (z. B.
Imaginative Verfahren Viele Menschen besitzen die Atmung und Pulsschlag) verbunden, so dass der
Fähigkeit, sich in ihrer Vorstellung in emotional ge- Blick auf das innere Erleben in ganz besonderer
tönte Situationen hineinzuversetzen und erleben Weise möglich wird.
270 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

> Hypnose ist kein sicherer Weg, Zugang zu der emotionalen Belastung, die mit bewährten psy-
verdrängten Erinnerungen zu finden. Hypno- chotherapeutischen Methoden angegangen werden.
tisierte Patienten sind sehr anfällig dafür,
> Neuropsychologische Therapie nutzt die
infolge suggestiver Fragen falsche Erinnerun-
Plastizität des Gehirns zur Wiederherstellung
gen zu produzieren.
ausgefallener Hirnfunktionen.

Hypnotherapie Das Ziel der Hypnotherapie ist


nicht, den Patienten durch entsprechende Sugges- Restitution Um ausgefallene Funktionen über den
tionen zu etwas zu bewegen, das dieser unter Um- Weg der Restitution wieder herzustellen, darf das
ständen gar nicht will, sondern vielmehr, dem Pa- betroffene Gehirnareal nicht vollständig zerstört
tienten dabei zu helfen, seine Möglichkeiten für sich sein, damit die verbleibenden Strukturen die Funk-
nutzbar zu machen. Die therapeutische Hypnose tionen übernehmen können. Durch eine intensive
hat das Ziel, den Patienten zu mehr Selbstbestim- und repetitive Stimulation der geschädigten neu-
mung und geistiger/körperlicher Gesundheit zu ronalen Netzwerke kann deren Funktionieren teil-
verhelfen und steht damit in deutlichem Gegensatz weise oder vollständig wieder reaktiviert werden.
zur Show-Hypnose! Sie zielt auf die systematische Das geschieht z. B. mit Computerprogrammen
therapeutische Nutzung der mit der Trance einher- zum Aufmerksamkeits- oder Gedächtnistraining.
gehenden mentalen und physiologischen Prozesse. Bei Schlaganfallpatienten können ausgefallene Ge-
8 Darunter fallen die Veränderung physiologischer sichtsfeldfunktionen durch ein Gesichtsfeldtraining
Prozesse, die u. a. die Entspannung und Wund- mit Stimulation durch Lichtreize wiederhergestellt
heilung unterstützen. Durch die Transformation werden. Bei Lähmungen führt eine Fixierung der
von Wahrnehmungen und Symptomen können bei- gesunden Hand, die den Patienten zwingt, die ge-
spielsweise Schmerzen in ihrer Dauer und Qualität schädigte Hand zu benutzen, zu Funktionsverbes-
verändert wahrgenommen werden bzw. einen Teil serungen (Constraint-Induced Movement Therapy,
des negativen Affektes verlieren. Diese analgetische 7 Abschn. 4.2.1). Diese Übungen müssen über einen
Wirkung wird heute gezielt bei der Anästhesie von längeren Zeitraum mit intensiver Wiederholung
Zahnbehandlungen eingesetzt. durchgeführt werden, um eine Reaktivierung der
ausgefallenen Hirnstrukturen zu erreichen.

8.2.7 Neuropsychologische Therapie Kompensation Hier werden die Aufgaben geschä-


digter Systeme durch andere Funktionen übernom-
Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns men – das geschädigte Hirnareal regeneriert sich
haben häufig erhebliche und lang andauernde Kon- nicht wieder. Dies bedeutet, dass die Patienten ler-
sequenzen, wie z. B. Einschränkung des Gesichts- nen müssen, ihre Alltagsaufgaben mit den noch
feldes, Verlust der Sprache, Gedächtnisstörungen vorhandenen und intakten Fähigkeiten anzugehen
oder Teillähmungen (7 Abschn. 4.1). Grundlage der (z. B. das Benutzen von Gedächtnishilfen, wie etwas
Behandlung ist die Erkenntnis, dass das Gehirn in aufschreiben, oder spezielle Erinnerungsstrategien
seiner Struktur veränderbar ist und auch nach einer zur Kompensation von Gedächtnisstörungen oder
schwerwiegenden Schädigung noch erhebliche Plas- eine Zeichensprache als Ersatz für die ausgefallene
tizität besitzt, d. h. dass ausgefallene Gehirnareale akustische Sprache). Zur Kompensation gehört
sich wieder regenerieren (Restitution) oder die auch der Prozess der Umorientierung, wenn klar
Funktionen der ausgefallenen Areale durch alterna- ist, dass alte Fähigkeiten nicht mehr wiedererlangt
tive Strategien übernommen werden können (Kom- werden können und dadurch alte Ziele bzw. Anfor-
pensation). Zum neuropsychologischen Training derungen unrealistisch geworden sind. Im neuro-
gehört jedoch nicht nur Wiederherstellung von psychologischen Training lernen die Patienten, die-
Funktionen, sondern auch die Entwicklung neuer se Einschränkung zu verarbeiten und nach alterna-
Lebensziele, der Umgang mit bleibenden Beeinträch- tiven Lebensplänen oder Perspektiven zu suchen,
tigungen und Behinderungen und die Bewältigung die für sie bewältigbar sind.
8.2 · Psychotherapie
271 8
8.2.8 Behandlungssettings festgehalten, einerseits um eine korrekte Durchfüh-
rung des Programms zu gewährleisten und anderer-
Psychotherapie kann in verschiedenen Rahmen- seits auch, um die Vorgehensweise transparent und
bedingungen (Settings) und Organisationsformen damit besser nachvollziehbar und vermittelbar zu
durchgeführt werden. Üblich ist die ambulante Ein- machen. Solche störungsspezifischen Therapie-
zeltherapie, zu der der Patient in der Regel 1-mal manuale gibt es inzwischen für eine große Anzahl
pro Woche den Therapeuten aufsucht und mit ihm von Störungen, so z. B. für Depressionen, Angst-
alleine seine Anliegen bearbeitet. Es ist jedoch auch störungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, post-
möglich, dass ein Patient gemeinsam mit seinem traumatische Belastungsstörung, einige Persönlich-
Partner eine Therapie durchführt (Paartherapie), keitsstörungen und somatoforme Störungen.
z. B. bei Partnerkonflikten oder sexuellen Proble- Die Wirksamkeit dieser Programme ist meist
men, oder mehrere Patienten in einer gemeinsamen durch randomisierte klinische Studien gut belegt.
Sitzung mit dem Therapeuten arbeiten (Gruppen- Dennoch ist ihr Einsatz umstritten, denn der Erfolg
therapie), so dass die Patienten voneinander lernen einer Psychotherapie hängt nicht nur vom geschick-
oder im unmittelbaren Kontakt mit der Gruppe the- ten Einsatz geeigneter Interventionen ab (Therapie-
rapeutische Erfahrungen machen können. Grup- technik), sondern auch von einer Reihe anderer
pentherapien finden häufig im stationären Kontext Faktoren. So unterscheiden sich die Patienten hin-
statt, wo die Möglichkeit besteht, Patienten mit sichtlich ihrer Persönlichkeit, ihrer Stressverarbei-
ähnlichen Diagnosen bzw. ähnlichem Schweregrad tungsstrategien, ihrer Behandlungsmotivation oder
der Störung zusammenzufassen. Ein stationärer ihrer Art des Beziehungsaufbaus zum Therapeuten,
Aufenthalt stellt für die Patienten durch das nicht ihres sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes
alltägliche Umfeld, die Entlastung vom Alltag in Be- und einer ganzen Reihe anderer Dinge. All diese
ruf/Familie und die Konzentration auf die eigene Unterschiede können ein jeweils recht andersartiges
Person eine besondere Möglichkeit dar, Verände- Vorgehen in der Therapie notwendig machen, was
rungen einzuleiten. Meist bedarf es nach einer jedoch in den Beschreibungen der Behandlungs-
mehrwöchigen stationären Therapie aber einer wei- manuale so nicht berücksichtigt werden kann. Und
terführenden ambulanten Therapie, um die in die tatsächlich legen die Ergebnisse aus der Psycho-
Wege geleiteten Veränderungen im Alltag umzu- therapieforschung nahe, dass spezielle Therapie-
setzen und zu festigen. techniken nur zu etwa 15 % für das Therapieer-
gebnis verantwortlich zu machen sind. Ein anderer
Kritikpunkt besteht darin, dass eine Überlegenheit
8.2.9 Störungsspezifische störungsspezifischer Programme gegenüber tradi-
Psychotherapie tioneller Psychotherapie noch nicht ausreichend
untersucht und damit auch nicht belegt ist. Dieser
Eine aktuelle Entwicklung in der Psychotherapie Nachweis ist auch erheblich schwieriger zu führen,
besteht darin, sich von der ausschließlichen Anwen- da hierzu 2 wirksame Verfahren miteinander ver-
dung eines bestimmten Therapieansatzes (Psycho- glichen werden müssen und etwaige Unterschiede
analyse oder Verhaltenstherapie) zu lösen und statt- zwischen beiden weniger deutlich zu Tage treten
dessen Therapieprogramme zusammenzustellen, bzw. geringer ausfallen als im Vergleich zu einer
deren Interventionen speziell auf eine psychische Kontrollgruppe ohne Behandlung.
Störung und deren Charakteristika zugeschnitten Dennoch sprechen für den Einsatz dieser Pro-
sind. Mit der Entwicklung dieser Programme ver- gramme, dass sie leichter zu vermitteln und hin-
bindet sich die Hoffnung, die Patienten nach festge- sichtlich einer lege artis ausgeführten Behandlung
stellter Diagnose einer wirksamen und speziell für besser zu überprüfen sind. Es bleibt die Herausfor-
sie geeigneten Therapie zuweisen zu können (stö- derung für die Therapeuten, das Programm auf die
rungsspezifische Indikation). Der theoretische Hin- jeweiligen individuellen Erfordernisse der Patien-
tergrund und eine detaillierte Beschreibung des ten anzupassen. Ansonsten besteht die Gefahr, sich
Vorgehens sind dafür in einem Therapiemanual zwar an das Manual zu halten, aber dennoch für
272 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

bestimmte Patienten unpassende Interventionen psychische Belastungen mit ausgelöst oder zumin-
einzusetzen. dest unterhalten. So kann beispielsweise eine Ar-
beitslosigkeit zu Alkoholismus und infolge dessen
i Vertiefen
zu suizidalem Verhalten führen. Der Tod eines
Kriz J (2014) Grundkonzepte der Psychothe-
nahen Angehörigen kann zu einem psychischen
rapie. 7. Aufl. Belz, Weinheim (erklärt in gut
Schock, chronische Ehekonflikte können zu einer
verständlicher und komprimierter Form Hinter-
Depression führen. Hinzu kommt, dass das psycho-
gründe, Theorieansätze und Vorgehensweisen
soziale Umfeld selbst häufig wichtige Informa-
der wichtigsten Therapieschulen)
tionen für die Diagnosegewinnung beinhaltet. Bei-
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch
spielsweise kann bei einem bewusstlosen Patienten,
der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin
der keine äußerlichen Verletzungen aufweist, ein
(4-bändiges Lehrbuch, in dem sowohl allgemeine
Spritzenbesteck den Hinweis geben, dass er sich
Konzepte und Interventionen der Verhaltens-
eine Überdosis Heroin gespritzt hat.
therapie als auch Ätiologie und therapeutisches
Aus einer psychosozialen Perspektive sind Not-
Vorgehen für einzelne psychische Störungen
fallsituationen dadurch gekennzeichnet, dass sie
anschaulich beschrieben werden)
einen unausweichlichen Charakter haben, in der
Senf W, Broda M (Hrsg) (2011) Praxis der Psycho-
Regel unvorhersehbar sind und ein hohes trauma-
therapie. Ein integratives Lehrbuch. 5. Aufl.
tisches Potenzial in sich bergen. Den Betroffenen
8 Thieme, Stuttgart (umfassendes Werk, das
stehen ähnliche Erfahrungswerte meist nicht zur
schwerpunktmäßig tiefenpsychologische Therapie
Verfügung, um das Erlebte einordnen zu können.
beschreibt, daneben aber auch Einblick in viele
Statistisch spielen psychiatrische Notfälle, die z. B.
andere Therapieformen sowie in Diagnostik,
Suizidversuche oder auch akute Belastungsreak-
Störungsbilder und berufspraktische Themen gibt)
tionen umfassen, eine nicht unerhebliche Rolle und
werden je nach Einzugsgebiet mit bis zu 10 % der
Notarzteinsätze registriert.
8.3 Intensiv- und Notfallmedizin

H. Faller, S. Brunnhuber 8.3.2 Schock (psychischer


Ausnahmezustand)
Lernziele und verzögerte Reaktionen
Der Leser soll
5 Belastungsfaktoren für Patienten und Personal Patienten reagieren in solchen Extremsituationen
auf der Intensivstation beschreiben können, häufig mit einem psychischen Ausnahmezustand
5 den Begriff Sekundärtraumatisierung definieren oder psychischem Schock. Klinisch spricht man
können. dann von einer akuten Belastungsreaktion. Diese
bildet sich innerhalb von Stunden oder wenigen
Tagen wieder zurück. Nicht selten kann es aber zu
8.3.1 Patient als Notfall verzögerten psychischen Reaktionen kommen, die
oder auf der Intensivstation erst Tage oder Wochen nach dem Ereignis auftreten.
Das Vollbild solcher Ausnahmezustände, das dann
Medizinische Notfallsituationen entstehen nicht mehr als 3 Monate andauert, nennt man post-
nur bei Naturkatastrophen oder Flugzeugabstürzen, traumatische Belastungsstörung. Diese ist gekenn-
sondern ereignen sich tagtäglich, etwa wenn Men- zeichnet durch Albträume, Intrusionen (Flash-
schen in einen Verkehrsunfall involviert sind, einen backs), d. h. sich unwillkürlich aufdrängende Ge-
Suizidversuch unternehmen oder einen Herzinfarkt danken an die Krankheit oder den Unfall, Vermei-
bekommen. Jedes Mal stehen solche Extremereig- dungsverhalten, vegetative Übererregbarkeit und
nisse mit psychosozialen Faktoren in einem engen emotionale Abstumpfung (7 Abschn. 2.2.1). Die
Zusammenhang. Oft werden sie durch soziale oder Dauer und der Schweregrad des Traumas, das Ge-
8.3 · Intensiv- und Notfallmedizin
273 8
fühl der fehlenden Kontrolle, Selbstvorwürfe, aber
auch mangelnde soziale Unterstützung und (früh-) schwer, nach dem Erwachen die Orientie-
kindliche Belastungen können als Risikofaktoren rung wiederzugewinnen und aufrechtzuer-
für eine Chronifizierung angesehen werden. halten. Wegen der fehlenden Zeitgeber
(ständiges Licht, ständige Geräuschkulisse)
kann der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört
8.3.3 Psychosoziale Belastungs- sein.
faktoren auf der Intensivstation

Die Behandlung auf einer Intensivstation stellt für Aufgrund dieser Belastungen, aber auch der Ein-
die Betroffenen eine starke Belastung dar. Dies gilt flussfaktoren der Grunderkrankung, der vorbe-
sowohl für Patienten, die nach einem Unfall un- stehenden Persönlichkeit und der Bewältigungs-
vorbereitet auf der Intensivstation wieder zu sich möglichkeiten können bei Intensivpatienten
kommen, als auch für Patienten nach einer geplan- viele unterschiedliche psychische Störungen auftre-
ten Operation. ten. Früher hat man für dieses Spektrum psychi-
scher Störungen den Begriff Intensive-Care-Unit-
Syndrom (ICU-Syndrom) gebraucht. Diese Be-
Psychosoziale Belastungsfaktoren zeichnung suggeriert, dass es sich dabei um etwas
von Patienten auf der Intensivstation für Intensivstationen Spezifisches handle. Dies ist
5 Reizmonotonie: Auf der Intensivstation aber nicht der Fall. Statt vom ICU-Syndrom zu
herrscht einerseits ein Reizmangel. Die Pa- sprechen, wird deshalb heute empfohlen, die auftre-
tienten sind von ihrer gewohnten Umge- tenden psychischen Störungen nach den auch sonst
bung abgeschottet. Gleichzeitig sind sie üblichen Klassifikationssystemen zu diagnostizie-
immer wiederkehrenden monotonen Reizen, ren (z. B. hirnorganisches Psychosyndrom, Depres-
z. B. den Geräuschen und Pieps-Tönen der sion, Angststörung etc.).
Apparate, ausgeliefert. Die Fülle an gleich- Ein Patient mit einem hirnorganischen Psycho-
zeitig auf sie einprasselnden Wahrnehmun- syndrom ist bewusstseinsgetrübt, zeitlich und
gen kann zeitweise sogar in einer Reizüber- örtlich desorientiert, verwirrt, innerlich oder auch
flutung resultieren. motorisch unruhig oder sogar aggressiv. Durch
5 Bewusstseinstrübung: Insbesondere nach diese Symptome ist die Kommunikation erheblich
einer Operation, aber auch nach einem erschwert. Leichte Formen des organischen Psycho-
Schlaganfall kann ein akutes hirnorganisch syndroms werden oft verkannt oder als psychogen
bedingtes Psychosyndrom (Durchgangs- fehleingeschätzt.
syndrom) auftreten, welches mit einem ein-
geschränkten Bewusstsein, Verwirrtheit und Typische Abwehrmechanismen Die Intensivbe-
Unruhe einhergehen kann. Man spricht handlung führt dem Patienten die Lebensbedroh-
heute auch von einem Delir. lichkeit seiner Erkrankung und die Abhängigkeit
5 Verlust der Intimsphäre: Auf der Intensiv- seiner Vitalfunktionen von medizinischem Per-
station gibt es keinen Ort, wohin der Pa- sonal und Apparaten vor Augen. Die dadurch aus-
tient sich zurückziehen könnte. Auch in sei- gelöste Todesangst kann Abwehrmechanismen auf
nen intimsten Körperfunktionen ist er den den Plan rufen (7 Abschn. 2.3.5). Charakteristisch
Blicken des Personals ausgesetzt. sind Verleugnung (Nicht-wahrhaben-wollen der
5 Informationsdefizit: Intensivpatienten sind Lebensbedrohung), aber auch Regression, d. h. die
oft Maßnahmen ausgesetzt, deren Sinn und Flucht in einen Zustand der Hilflosigkeit. Manche
Zweck sie nicht verstehen. Patienten trauen sich nicht mehr zu, ohne Unter-
5 Isolation: Intensivpatienten entbehren eine stützung durch das Beatmungsgerät allein zu atmen,
feste Alltagsstruktur. Es fällt ihnen deshalb oder entwickeln große Angst, wenn sie von der In-
tensivstation auf eine Normalstation verlegt werden
274 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

sollen. Diese Regression ist insofern nachvollzieh- chanismen und weist darauf hin, dass er jetzt in
bar, als die Patienten während der Intensivbehand- sicherer ärztlicher Hand ist und alles Menschen-
lung einen starken Kontrollverlust erfahren. Umso mögliche für ihn getan wird. Der Arzt sollte da-
wichtiger ist es, die Patienten zu unterstützen, bei das Gefühl vermitteln, dass er die Situation im
Schritt für Schritt die an Personal oder Apparate Griff hat.
delegierten Funktionen selbst wieder zu über-
nehmen. Einbeziehung von Angehörigen Angehörige sind
eine wichtige Ressource zur Unterstützung des Pa-
tienten. Wenn Angehörige regelmäßig zu Besuch
8.3.4 Betreuungserfordernisse kommen, erfährt der Patient, dass sie an ihn denken
und ihn nicht aufgeben. Dadurch wird sein Gene-
Patienten müssen darin unterstützt werden, Orien- sungsverlauf gefördert. Besonders wichtig ist die
tierung zu gewinnen (z. B. eine im Blickfeld sicht- Möglichkeit zu engem Kontakt auf der Kinder-
bare Uhr). Sie sollen alle relevanten Informationen station, damit der Krankenhausaufenthalt für das
erhalten, sobald sie von der Bewusstseinslage her Kind nicht zu einer traumatischen Erfahrung wird,
dazu fähig sind. Im Zweifelsfall sollte davon aus- aber auch, um die Ängste und Sorgen der Eltern
gegangen werden, dass der Patient bei Bewusstsein zu mildern. So sollte ein Kind bei der Anamnese-
ist, und selbst mit bewusstlosen Patienten ist ein erhebung auf dem Schoß der Mutter sitzen, der
8 höflicher und respektvoller Umgang selbstverständ- Teddybär darf mitgenommen werden oder eine
lich. Wenn Patienten nachvollziehen können, wes- Spritze (ohne Nadel) wird dem Kind mitgegeben,
halb eine bestimmte Therapiemaßnahme notwen- um die Angst zu verringern und die Kooperations-
dig ist, tolerieren sie diese besser und erleben sie als bereitschaft zu erhöhen.
weniger bedrohlich. Deshalb sollte man Patienten, Andererseits brauchen Angehörige selbst Un-
wenn immer möglich, erklären, was man mit ihnen terstützung, zumal wenn der Patient noch bewusst-
macht und warum man es macht. Man sollte den los ist und sie seinen Zustand hilflos mit ansehen
Patienten vermitteln, dass Ängste und Depressivität müssen, ohne Kontakt mit ihm aufnehmen zu
normale Reaktionen in ihrer Situation darstellen. können. Aus dieser Hilflosigkeit heraus kann es
Wenn es ihnen erlaubt ist, ihre Gefühle auszuspre- vorkommen, dass sie immer wieder die gleichen
chen, hilft ihnen dies mehr als eine vorschnelle Be- Fragen zur Prognose stellen, die geduldig beant-
ruhigung. wortet werden müssen. Manche Angehörige ver-
schieben ihre Wut darüber, dass ein geliebter
Kommunikations- und Informationsprobleme Pa- Mensch schwerkrank ist, auf das Behandlungsteam,
tienten, die intubiert sind und beatmet werden, machen diesem Vorwürfe oder versuchen es zu
können sich nicht durch Sprache verständigen. Da- kontrollieren. Eine möglichst kontinuierliche Infor-
rauf sollte man den Patienten schon bei der prä- mation und eine Grundhaltung der Akzeptanz kön-
operativen Aufklärung hinweisen. Als Ersatz für die nen es dem Team erleichtern, solche schwierigen
sprachliche Kommunikation können Zeichen, wie Situationen zu bewältigen.
Nicken und Kopfschütteln auf geschlossene Fragen, Eine besondere Herausforderung stellt das Ge-
Handzeichen oder auch schriftliche Kommunika- spräch mit Angehörigen verstorbener Patienten
tion mittels Tafel oder Klemmbrett und Filzstift dar. Für einen gelungenen Trauerprozess ist es güns-
fungieren. Wenn der Patient psychotische Symp- tig, wenn Angehörige die Patienten beim Sterben
tome (Wahnvorstellungen) hat oder intoxiziert begleiten können oder sich wenigstens nach dessen
(Alkohol, Drogen) ist, liegt meist kein ausreichen- Tod noch einmal von ihm verabschieden dürfen
der Realitätsbezug vor, und eine geordnete Explora- (7 Abschn. 8.7.5). Für die Gesprächsführung bei der
tion ist erschwert. Beim Talk-down geht es darum, Übermittlung der Todesnachricht gelten dieselben
dass der Arzt durch direktives Vorgehen versucht, Prinzipien wie bei der Mitteilung einer schwer-
dem Patienten die Angst vor der aktuellen Situation wiegenden Diagnose (7 Abschn. 5.5.3): ungestörte
zu nehmen. Er appelliert an seine Bewältigungsme- Gesprächsgelegenheit, persönliche Zuwendung, Er-
8.3 · Intensiv- und Notfallmedizin
275 8
mittlung der bisherigen Informationslage der Ange- ten, ist es sinnvoll, dass der zuständige Arzt eine
hörigen, klare und verständliche Mitteilung des Einsatzfrequenz von ca. 100–800 Notfalleinsätzen
Todes, Akzeptanz gegenüber Gefühlen von Ohn- im Jahr bewältigt. Ist die Zahl zu hoch, sind Fehlein-
macht und Trauer sowie Vermittlung von Unter- schätzungen und psychische Überforderungen
stützungsangeboten. deutlich höher. Ist die Einsatzzahl zu niedrig, fehlt
dem Arzt die entsprechende Praxis.
Kooperation mit psychosozialen Diensten Für eine
Intensivstation ist es hilfreich, mit einem psycho- Teamsupervision Mobile Einsatzgruppen der Hilfs-
sozialen Dienst zusammenzuarbeiten. Dieser kann organisationen bieten Kriseninterventionen an.
sowohl zur direkten psychotherapeutischen Be- Man nennt das Vorgehen auch Debriefing: Nach
handlung von Patienten als auch für die Unterstüt- dem Einsatz werden ereignisnah die psychischen
zung der Teamkommunikation herangezogen wer- Belastungen der einzelnen Teilnehmer angespro-
den. Für ängstliche und angespannte Patienten sind chen, Erklärungsmodelle über die Entstehung wie
Entspannungsverfahren angezeigt. Diese haben im auch die Verarbeitung von Stress geliefert und eine
Unterschied zu sedierenden Medikamenten den Neuorientierung ermöglicht. Dabei geht es darum,
Vorteil, dass sie sich nicht nachteilig auf den Be- vom »hilflosen Opfer« zum »aktiven Bewältiger« zu
wusstseinsgrad auswirken. Angstzustände und Pa- werden. Ein Beispiel hierfür ist das Critical Incident
nikanfälle können z. B. auftreten, wenn ein langzeit- Stress Management (CISM). Routinemäßiges De-
beatmeter Patient von der Beatmung abtrainiert briefing wird inzwischen nicht mehr empfohlen, da
werden soll. Auch Trauer und Depressivität können es sich nicht als wirksam, ja möglicherweise sogar als
psychotherapeutische Unterstützung erfordern. schädlich herausgestellt hat.
Wenn es gelingt, die Mitarbeiter der Intensivstation
in Techniken der Gesprächsführung zu schulen, Sekundärtraumatisierung Beim Rettungsdienst-
können sie immer mehr Aufgaben des Psychothe- personal kann ein Krankheitsbild auftreten, das der
rapeuten selbst übernehmen, so dass ein Konsil- posttraumatischen Belastungsstörung sehr ähnlich
besuch überflüssig werden kann. Zur Behandlung ist. Man spricht dann von einer Sekundärtrauma-
psychischer Störungen stehen schließlich auch me- tisierung. Das Rettungspersonal erlebt stellver-
dikamentöse Ansätze zur Verfügung. tretend zum Unfallopfer psychisch ebenfalls das
Trauma (stellvertretende Traumatisierung). Die
Häufigkeit liegt je nach Ausmaß der Notfälle zwi-
8.3.5 Belastungen beim ärztlichen schen 3–15 %. Neben dem Erkennen einer Sekun-
und pflegerischen Personal därtraumatisierung hat das Krankheitsbild auch
gesundheitsökonomische Relevanz (Krankheits-
Ärzte und Rettungspersonal, die im Notfalldienst tage, Ausfallzeiten). Der leitende Arzt muss für sich
tätig werden, sind einem zusätzlichen Handlungs- selbst und für seine Mitarbeiter über diese zusätz-
und Entscheidungsdruck ausgesetzt. So erfordert liche Belastung Bescheid wissen, um früh inter-
die Überbringung der Todesnachricht an Angehö- venieren zu können. Dies geschieht dadurch, dass er
rige mit der Bitte um Organspende besonderes Ein- beispielsweise die Dienstzeiten für den Mitarbeiter
fühlungsvermögen. Auf der einen Seite besteht eine reduziert und ihn über das Krankheitsbild aufklärt
verstärkte Vulnerabilität (Verletzbarkeit) der Be- oder die Indikation für eine Psychotherapie stellt.
troffenen. Auf der anderen Seite steht das Notfall- Auch Ärzte und Pflegekräfte auf Intensivstatio-
personal vor der Aufgabe, eine schnelle Entschei- nen sind stärker belastet als diejenigen peripherer
dung herbeizuführen. Neben einer raschen Anam- Stationen. Dies zeigt sich beispielsweise in erhöh-
neseerhebung und einer diagnostischen Zuordnung tem Krankenstand und hoher Fluktuation (Wech-
muss häufig bereits präklinisch eine medikamentö- sel des Arbeitsplatzes).
se Behandlung eingeleitet werden. Daraus können
Fehlhandlungen und Fehleinschätzungen resultie-
ren. Um eine optimale Versorgung zu gewährleis-
276 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

i Vertiefen
Psychosoziale Belastungsfaktoren Bengel J (Hrsg) (2004) Psychologie in Notfall-
von Ärzten und Pflegekräften auf der medizin und Rettungsdienst. 2. Aufl. Springer,
Intensivstation Berlin (umfassende Darstellung der psychologi-
5 Hohe Sterblichkeit: Auf Intensivstationen schen Aspekte bei Notfallsituationen)
sterben 20–30 % der Patienten. Oft ist Über- Brunnhuber S, Lieb K (2012) Psychiatrische
leben das einzige Erfolgskriterium, und der Notfälle. In: Lieb K, Frauenknecht S, Brunn-
Tod wird als Niederlage erlebt. huber S. Intensivkurs Psychiatrie und Psycho-
5 Frühzeitige Verlegung der Patienten, so therapie. 7. Aufl. Elsevier, München, S 391–396
dass keine kontinuierliche Beziehung (Übersicht zu den wichtigsten psychiatrischen
aufgebaut werden kann (z. B. Aufwachsta- Notfällen mit klinischen Beispielen und konkreten
tion). Handlungsanweisungen)
5 Schwierige Kommunikation mit bewusst- Loew T, Köllner V, Deister A (2007) Psychische
seinsgetrübten Patienten. und psychosomatische Störungen bei Intensiv-
5 Hektik und Zeitdruck. patienten. In: Burchardi H, Larsen R, Kuhlen R,
5 Konfrontation mit emotional belastenden Jauch KW, Schölmerich J (Hrsg) Die Intensiv-
Situationen. medizin. 10. Aufl. Springer, Berlin, S. 665–676
5 Rahmenbedingung wie geringe finanzielle
8 Entlohnung und Schichtdienst.
(guter Überblick über die Thematik mit vielen
praktischen Ratschlägen und Gesprächsbei-
spielen)

Burn-out-Syndrom Es handelt sich nicht um ein


isoliertes Krankheitsbild, sondern viel eher um 8.4 Transplantationsmedizin
einen Risikozustand für die Entwicklung zahlrei- und Onkologie
cher körperlicher und psychischer Erkrankungen
durch Arbeitsüberlastung. Das Burn-out Syndrom S. Neuderth, H. Faller
besteht aus einem Symptomkomplex mit 3 Facetten:
1. emotionale Erschöpfung, Lernziele
2. Entfremdungserleben (Depersonalisation) Der Leser soll
mit Zynismus gegenüber der Arbeit sowie 5 psychische Belastungen während der Wartezeit
3. reduzierter beruflicher Leistungsfähigkeit vor einer Transplantation benennen können,
(7 Abschn. 5.2.5). 5 psychische Konflikte und positive Auswirkungen
bei Nierenlebendspende beschreiben können,
Zunahme der Arbeitsverdichtung sowie Herausfor- 5 psychosoziale Belastungen bei Krebskranken
derungen im Umfeld der Work-Life-Balance spie- beschreiben können,
len mit ein Rolle. Erholung während der Urlaubszeit 5 die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien
gelingt meist nicht. Krankschreibungen sind häufig bei Krebskranken beschreiben können,
kontraproduktiv. 5 psychoonkologische Interventionen beschreiben
können.
Prävention Neben einer Gestaltung der Arbeits-
bedingungen (Pausen, Erholungszeiten) und des
Arbeitsklimas (Gefühle der Überlastung rechtzeitig 8.4.1 Transplantationsmedizin
ansprechen) stellen regelmäßige Weiterbildung und
Supervision Maßnahmen gegen Burn-out dar. In Seit im Jahr 1963 die 1. Nierentransplantation
Balintgruppen und Fallsupervisionen können vorgenommen wurde, sind in Deutschland ca.
schwierige Situationen im Umgang mit Patienten 116.650 Organe übertragen worden (Stand 2013).
bearbeitet werden (Beispiel: Entscheidung über le- Am häufigsten werden Nieren transplantiert (65 %),
bensverlängernde Maßnahmen). gefolgt von Leber- (18 %) und Herztransplantatio-
8.4 · Transplantationsmedizin und Onkologie
277 8
nen (10 %). Seltener werden Transplantationen von stadt) scheiterte aufgrund der Abstoßungsreaktion.
Pankreas (4 %) und Lunge (3 %) vorgenommen. Erst mit der Einführung wirksamer Immunsup-
Die jährliche Zahl der Transplantationen (ein- pressiva in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts
schließlich Lebendspende-Transplantationen) lag etablierte sich der Eingriff bei terminaler Erkran-
nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtrans- kung des Herzmuskels. In Deutschland wurden
plantation (DSO) im Jahr 2013 bei ca. 4.000, wobei 2013 ca. 300 Herztransplantationen vorgenommen
seit 2010/11 ein deutlicher Rückgang der Spender- (5-Jahres-Transplantatfunktionsrate ca. 65 %).
zahlen zu beobachten ist. Der Bedarf an Transplan- Patienten mit terminaler Herzinsuffizienz, die
taten ist aktuell viel größer als das Angebot: Etwa auf eine Transplantation warten, sind einer starken
11.000 Patienten warten in Deutschland auf ein psychischen Belastung ausgesetzt. Im Vergleich zur
Organ. Allgemeinbevölkerung ist die Rate an Angststörun-
gen und depressiven Verstimmungen erhöht. Auch
Nierentransplantation Im Jahr 2013 wurden in die Lebensqualität ist deutlich schlechter.
Deutschland ca. 1.550 Nierentransplantationen
nach postmortaler Organspende durchgeführt. Knochenmarktransplantation Eine Knochenmark-
Dazu kommen noch 725 Transplantationen nach oder Stammzellentransplantation wird vor allem
Lebendnierenspende. Die Niere ist eines der weni- zur Therapie von Blutkrebserkrankungen einge-
gen Organe, das vom lebenden Spender entnommen setzt. Zunächst wird das blutbildende System des
werden kann. Durch diese Möglichkeit können die Patienten durch eine Chemo- oder Strahlentherapie
Wartezeiten auf ein Transplantat deutlich verkürzt weitgehend zerstört, anschließend durch die Trans-
und bessere Ergebnisse hinsichtlich der Transplan- plantation von gesunden Blutstammzellen wieder
tatfunktionsraten erzielt werden (5-Jahres-Trans- aufgebaut. Diese Stammzellen werden direkt aus
plantatfunktionsrate bei Lebendspende ca. 87 %, bei dem Blut oder aus dem Knochenmark eines Spen-
postmortaler Spende ca. 71 %). ders gewonnen.
> Bei der Lebendnierenspende handelt es sich
um einen mit den üblichen Risiken behaf-
8.4.2 Psychosoziale Situation
teten operativen Eingriff an einem gesunden
bei Transplantationen
Menschen, der ausschließlich dem Wohl einer
anderen Person dient. Vor diesem Hinter-
Psychosoziale Belastungen Je nach Behandlungs-
grund werden Aspekte der Freiwilligkeit
phase ist der Patient unterschiedlichen psychoso-
(subtiler Druck von Angehörigen, Schuldge-
zialen Belastungen ausgesetzt. Im Vorfeld einer
fühle) und Unentgeltlichkeit (Ausschluss von
Transplantation sind durch die meist chronischen
Organhandel) der Spende wichtig.
Erkrankungen (z. B. Herz- oder Niereninsuffizienz)
die körperliche, psychische und soziale Funktions-
Lebertransplantation Nicht immer ist chronischer fähigkeit eingeschränkt. Viele Patienten müssen
Alkoholkonsum der Grund für ein Versagen der ihre Berufstätigkeit, vertraute Rollen und Lebens-
Leber, auch Krebserkrankungen oder Hepatitis kön- umstände aufgeben. Soziale Kontakte und ange-
nen eine Lebertransplantation notwendig machen. nehme Aktivitäten werden häufig durch die Be-
Lebertransplantate können postmortal, aber auch handlung (z. B. Dialyse) eingeschränkt. Die Lebens-
vom lebenden Menschen entnommen werden qualität kann dadurch deutlich vermindert sein.
(Lebersegment). Jährlich werden in Deutschland ca. Depressionen und Ängste zählen in dieser Phase
1.000 Lebertransplantationen durchgeführt (5-Jah- zu den häufigsten psychischen Beeinträchtigungen.
res-Transplantatfunktionsrate bei Lebendspende ca.
61 %, bei postmortaler Spende ca. 53 %). Wartezeit Da die Anzahl der auf eine Transplanta-
tion wartenden Patienten die Anzahl der zur Ver-
Herztransplantation Die 1. menschliche Herztrans- fügung stehenden Spenderorgane deutlich über-
plantation (1967 durch Christiaan Barnard in Kap- steigt, müssen Transplantationspatienten zum Teil
278 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Viele ster- grieren. Dies ist häufig schwieriger, wenn das Organ
ben »auf der Warteliste«. Für Patienten und An- von einem Verstorbenen stammt, da Schuldgefühle
gehörigen ist die Wartezeit psychisch belastend, da aufkommen können. Bei der Lebendnierenspende
einerseits die Organerkrankung und die Beschwer- treten selten Schwierigkeiten bezüglich des Körper-
den fortschreiten und andererseits die Dauer der erlebens beim Empfänger auf, wenn es dem Spender
Wartezeit ungewiss ist und damit auch die lang- gut geht. Beim Prozess der Integration des neuen
fristige Lebensplanung in Frage steht. Die Angst, Organs kommt es vor, dass der Empfänger das neue
vor Eingang eines geeigneten Organs zu versterben, Organ personifiziert. Dies drückt sich darin aus,
kann sehr belastend sein. Dies trifft insbesondere dass das Transplantat als »Gast im Körper« oder als
bei lebenswichtigen Organen wie Herz, Lunge oder »Freund« begrüßt wird oder dass dem Organ ein
Leber zu, wo die Organfunktion nicht wie bei den Namen gegeben wird.
Nieren durch die Dialyse auch über eine längere
Zeit ersetzt werden kann. Die Verteilung der Or-
gane nach Dringlichkeit erfolgt für Deutschland 8.4.3 Psychoimmunologische Aspekte
über Eurotransplant in Leiden (NL). der Transplantation,
Unmittelbar vor der Transplantation können Immunkonditionierung
Ängste vor der Operation (präoperative Angst) und
der Zeit danach verstärkt auftreten. Manche Pa- Um die Abstoßungsreaktion eines transplantierten
8 tienten empfinden es als belastend, dass bei vielen Organs zu verhindern, müssen vom Patienten le-
Transplantationen der Tod eines anderen Men- benslang immunsuppressive Medikamente einge-
schen die Voraussetzung für das eigene Weiterleben nommen werden. Regelmäßige ärztliche Kontrollen
darstellt. sind notwendig, um auf mögliche Nebenwirkungen
rechtzeitig reagieren zu können. Alle Immunsup-
Lebensqualität nach Transplantation Zahlreiche pressiva beeinträchtigen die natürliche Abwehrleis-
Studien belegen eine Verbesserung der Lebensqua- tung des Körpers gegen Bakterien, Viren und Pilze.
lität nach einer Transplantation. Präoperative De- Zudem besteht eine erhöhte Gefahr, an Krebs zu
pressivität und mangelnde soziale Unterstützung erkranken.
wirken sich allerdings ungünstig auf die Lebens- Im Forschungsfeld der Psychoimmunologie
qualität aus und stellen sogar Risikofaktoren für wurde festgestellt, dass immunologische Funktio-
eine erhöhte Sterblichkeit nach Transplantation dar. nen konditionierbar sind (7 Abschn. 2.1.1). Da die
medikamentöse Immunsuppression mit zahlrei-
Nachsorge Die Betreuung der Patienten endet chen Nebenwirkungen einhergeht, wird in der For-
nicht mit der Operation. Das Langzeitergebnis nach schung der Frage nachgegangen, ob Konditio-
einer Transplantation hängt ganz entscheidend von nierungsprozesse genutzt werden können, um die
der Güte der Nachsorge ab. Im Allgemeinen ist das Immunabwehr zu schwächen und damit eine Ab-
körperliche Befinden der Empfänger nach Trans- stoßung des Transplantats zu verhindern. Im Tier-
plantation gut. Dennoch erfordert das Leben mit experiment haben sich erste Erfolge gezeigt, die
dem neuen Organ eine Umstellung der Lebenssitua- Anwendung am Menschen ist bislang noch nicht
tion: regelmäßige Einnahme von Immunsuppres- möglich.
siva, regelmäßige Kontrollen der Medikamenten-
nebenwirkungen und der Funktionsfähigkeit des
Transplantats. Die Compliance des Patienten trägt 8.4.4 Rechtliche und ethische Aspekte
entscheidend zum langfristigen Erfolg der Trans-
plantation bei. Voraussetzung für eine postmortale Organspende
ist die Feststellung des Hirntods des Spenders. Für
Veränderung des Körpererlebens Der Empfänger die Spende von Organen gilt in Deutschland die
muss lernen, mit dem neuen – eigentlich fremden – »erweiterte Zustimmungsregelung« (Transplanta-
Organ zu leben und es in sein Körperbild zu inte- tionsgesetz, 1997). Dies bedeutet, dass eine Organ-
8.4 · Transplantationsmedizin und Onkologie
279 8
entnahme nur möglich ist, wenn der Verstorbene zu dass ein nahe stehender Mensch sich einem nicht
Lebzeiten zugestimmt hat (z. B. in einem Organ- unbedenklichen operativen Eingriff unterziehen
spenderausweis dokumentiert). Liegt kein Organ- muss. Das Ausmaß der inneren Konflikte von Spen-
spenderausweis vor, können die Angehörigen auf der und Empfänger wird in starkem Maße von der
der Grundlage des mutmaßlichen Willens des Ver- emotionalen Nähe der Betroffenen beeinflusst. Eine
storbenen über eine Organspende entscheiden. Für ausführliche ärztliche Aufklärung und psycholo-
die Angehörigen stellt dies eine sehr schwierige gische Beratung von Spender und Empfänger sind
Situation dar, da sie meist erst kurz zuvor vom Tod notwendig, um die Entscheidung zu reflektieren
eines geliebten Menschen erfahren haben und emo- und sicherzustellen, dass beide Beteiligte hinter
tional sehr aufgewühlt sind. Ist der Wille des Ver- dem Entschluss stehen. Eine positive Einstellung
storbenen den Angehörigen nicht bekannt, so spielt zur Lebendnierenspende gilt als Voraussetzung für
die Einstellung der Angehörigen zur Organspende den langfristigen Erfolg der Transplantation.
bei der Entscheidung eine wichtige Rolle. Auch Da bei der Lebendnierenspende ein gesunder
für den Arzt ist es oft nicht leicht, Angehörige auf Mensch einem Risiko ausgesetzt wird, um einem
eine Organspende anzusprechen und die Bitte um anderen Patienten zu helfen, sind an die Einwilli-
Spende von Organen in angemessener Weise zu gung zur Lebendnierenspende besonders strenge
äußern. Spezielle Schulungsprogramme für medizi- Anforderungen geknüpft. Insbesondere muss ge-
nisches Personal sind hilfreich, um Unsicherheiten währleistet sein, dass eine tragfähige Beziehung
zu reduzieren und die Bereitschaft zur Organ- zwischen Spender und Empfänger besteht und dass
spende zu erhöhen. die Spende freiwillig erfolgt (d. h. ohne Druck durch
In anderen Ländern (z. B. Österreich) gilt eine Familienmitglieder, ohne Einschränkung der Ent-
Widerspruchslösung. Dies bedeutet, dass nach dem scheidungsfreiheit durch psychische Erkrankungen
Tod Organe entnommen werden können, sofern etc.). Darüber hinaus muss dafür Sorge getragen
der Spender zu Lebzeiten nicht seinen Widerspruch werden, dass keine finanziellen Interessen die Ent-
dokumentiert hat. scheidung beeinflussen. Um einer Kommerzialisie-
rung im Sinne von »Organhandel« vorzubeugen,
ist im Transplantationsgesetz festgelegt, dass die
8.4.5 Lebendspende Spende nur zwischen Verwandten 1. und 2. Grades
bzw. zwischen Personen mit besonderer persön-
Spender-Empfänger-Probleme am Beispiel der Le- licher Verbundenheit (z. B. Lebensgefährten) erfol-
bendnierenspende Bei Lebendnierenspenden han- gen und nicht vergütet werden darf.
delt es sich bei Spender und Empfänger in der Regel Auch bei optimaler Aufklärung und guter Be-
um Verwandte bzw. Personen, die sich sehr nahe ziehung zwischen Spender und Empfänger kann
stehen. Eine Transplantation kann sich stark auf es vorkommen, dass – insbesondere kurz vor dem
die Beziehungen innerhalb der Familie bzw. die Operationstermin – Unsicherheiten beim Spender
Partnerschaft auswirken. Das frühzeitige Erkennen auftreten. Einerseits fühlt der Spender sich ver-
eines Konfliktpotentials ist von entscheidender pflichtet, seine Zusage zu halten, andererseits
Bedeutung für den Operationserfolg wie auch für können Zukunftsängste aufkommen, die in dem
die Vermeidung psychischer Belastungen nach der Wunsch münden, die Niere als »eigene Notreserve«
Transplantation. zu behalten. Der Druck auf den Spender kann sich
Spender und Empfänger sehen sich bei der Ent- verstärken, wenn er sich von den Ärzten alleine ge-
scheidung zur Lebendnierenspende zwangsläufig lassen fühlt, wenn die Aufmerksamkeit nach er-
einem inneren Konflikt ausgesetzt: Für den Spender folgter Einwilligung zunehmend dem »eigentlichen
besteht ein ambivalentes Verhältnis zwischen dem Patienten« gilt und die erwartete Anerkennung von
Wunsch, einem Angehörigen zu helfen, und dem Seiten der Angehörigen ausbleibt. Stehen Spender
eigenen Bedürfnis nach körperlicher Unversehrt- und Empfänger der Lebendnierenspende ab-
heit und Schmerzfreiheit. Beim Empfänger steht die lehnend gegenüber, können Probleme nach der
Hoffnung auf Heilung dem Bewusstsein gegenüber, Operation (z. B. Wundschmerz beim Spender oder
280 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Abstoßungsreaktionen beim Empfänger) die Be- Chemotherapie), die dem Betroffenen den Verlust
ziehung extrem belasten und die Betroffenen psy- der körperlichen Integrität vor Augen führen. Das
chisch überfordern. Es gilt als gesichert, dass sich Körperbild verändert sich. Frauen empfinden nach
bestehende Beziehungskonflikte und psychische einer Mastektomie (Brustamputation) ihre körper-
Probleme bei Spender und Empfänger durch eine liche Attraktivität und Weiblichkeit als vermindert.
Transplantation nicht verbessern, sondern vielmehr Infolge der reduzierten Leistungsfähigkeit
ein Risiko für die postoperative Anpassung darstel- müssen möglicherweise Alltagsaktivitäten einge-
len. Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung schränkt werden. Oft ist der ganze bisherige Lebens-
der Beziehungsdynamik sowie der Motivation zur entwurf in Frage gestellt. Lebensziele müssen über-
Spende unumgänglich. dacht oder neu gefunden werden. Hieraus können
Trauer über den Verlust, aber auch Auflehnung,
Positive Folgen der Lebendnierenspende In der Hader und Wut über das als ungerecht erlebte
Regel wirkt sich die Lebendnierenspende positiv Schicksal resultieren.
auf Spender und Empfänger aus. Der Empfänger Soziale Rollen in Beruf und Familie stehen in
erfährt eine Verbesserung der Lebensqualität und Frage: Werde ich weiter meinen Beruf ausüben
des psychischen Gesamtbefindens, was auch häufig können? Werde ich meine Familie versorgen kön-
mit einer Erhöhung des Selbstwertes und dem nen? Wie wirkt sich die Erkrankung auf meine Part-
Gefühl eines »neuen Lebens« verbunden ist. Auch nerschaft aus? Auf der einen Seite ist ein Schwer-
8 beim Spender gibt es Hinweise darauf, dass sich eine kranker in hohem Maße auf andere angewiesen,
erfolgreiche Transplantation positiv auf die Psyche ist beispielsweise abhängig von Ärzten, die zen-
auswirkt. Insbesondere eine Stärkung des Selbst- trale Therapieentscheidungen treffen, und von An-
wertgefühls und das Bewusstsein, etwas Sinnvolles gehörigen, die ihn unterstützen (oder auch nicht).
getan zu haben, können die Lebensqualität des Auf der anderen Seite ist Krebs noch immer eine
Spenders positiv beeinflussen. Dass der Empfänger Krankheit, über die man nicht gerne spricht. Kom-
normalerweise weniger eingeschränkt ist als vor der munikationstabus sind verbreitet. Oft trauen sich
Operation, erleichtert das gemeinsame Leben (v. a. Angehörige nicht, offen über die Krankheit zu
bei Ehepartnern) beträchtlich. Die Beziehung wird sprechen, oder Patient und Angehörige vermeiden
im optimalen Fall gestärkt. aus Befangenheit gemeinsam dieses belastende
Thema. Manchmal kommt es auch zu sozialem
Rückzug oder gar Stigmatisierung durch die Um-
8.4.6 Belastungen bei Krebskranken gebung.

Der Einbruch einer Krebserkrankung stellt für die Emotionale Folgen Vor dem Hintergrund der auf-
meisten Menschen ein äußerst belastendes Le- geführten Belastungsquellen ist es verständlich,
bensereignis dar. An erster Stelle steht die Todes- wenn Krebskranke mit emotionaler Belastung
drohung. Während Gesunde meist nicht daran reagieren. Diese kann von normalen Gefühlen der
denken, dass sie einmal sterben müssen, ist dies für Trauer, Angst und Verletzlichkeit einerseits bis hin
Krebskranke unmittelbare psychische Realität, und zum Vollbild einer psychischen Störung wie einer
zwar zunächst unabhängig von den Behandlungs- Depression oder Angststörung andererseits rei-
möglichkeiten und der tatsächlichen Prognose. Die chen. Aber nur in maximal 50 % der Fälle wird eine
natürliche Selbstverständlichkeit des Daseins ist psychische Störung auch diagnostiziert, und noch
verloren gegangen. Auch nach einer erfolgreichen weniger Betroffene erhalten die angemessene The-
Primärbehandlung bleibt der Verlauf unsicher. Wie rapie. Dies hat mehrere Gründe: Viele Patienten
ein Damokles-Schwert hängt die Bedrohung durch berichten nicht von sich aus über ihre Beschwerden.
ein Rezidiv über der Zukunft. Man muss deshalb aktiv nach den Symptomen z. B.
Hinzu kommen körperliche Beschwerden einer Depression fragen. Zu diesen Symptomen ge-
durch die Erkrankung wie auch durch eingreifende hören neben einer bedrückten, niedergeschlagenen
Behandlungsmaßnahmen (Operation, Bestrahlung, Stimmung vor allem ein Verlust an Interessen und
8.4 · Transplantationsmedizin und Onkologie
281 8
Lebensfreude sowie Antriebsstörung und Energie- wichtig waren, wie beruflicher Erfolg, werden weni-
losigkeit. Weitere Zeichen einer Depression sind ger wichtig, und andere Lebensbereiche, z. B. die
vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Pes- Familie, gewinnen an Bedeutung. Krebskranke be-
simismus, Gefühle der Sinnlosigkeit und Selbst- werten paradoxerweise ihre Lebensqualität oft bes-
mordgedanken. ser als Gesunde. Dies kann als Folge einer Verände-
Ein anderer Grund für die Unterdiagnose be- rung des Bewertungsmaßstabs verstanden werden
steht darin, dass körperliche Beschwerden wie (response shift). Der Response shift umfasst sowohl
Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, Müdigkeit, ein Herunterschrauben des Anspruchsniveaus, ab
Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und dem man zufrieden ist, als auch eine neue Einord-
Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation nicht nur nung der unterschiedlichen Lebensbereiche hin-
Symptome einer Depression, sondern auch Folgen sichtlich ihrer Bedeutung für die Zufriedenheit.
der Tumorerkrankung sein können und eventuell
deshalb nicht zur Diagnose herangezogen werden. Klinik: Fatigue
Schließlich existiert immer noch der Mythos, Viele Krebspatienten leiden an Fatigue. Unter Fatigue
dass jeder Krebskranke als Folge der lebensbedroh- versteht man eine andauernde Müdigkeit, Erschöp-
lichen Krankheit eine Depression entwickelt oder fung und Energielosigkeit, die sich auch durch Schlaf
gar entwickeln muss, um die Tumordiagnose zu nicht bessert. Fatigue wurde vor allem im Rahmen
verarbeiten. Dies ist aber nicht der Fall. einer Chemotherapie beobachtet, kann aber auch
lange danach weiterbestehen oder auch ganz unab-
> Depression darf nicht einfach als unvermeid-
hängig davon auftreten. Die Ursachen von Fatigue
liche Folge einer Krebserkrankung missver-
sind vielfältig und noch nicht ganz geklärt. Die Symp-
standen werden, sondern ist eine psychische
tome überlappen mit denjenigen einer Depression.
Störung von Krankheitswert und muss ange-
Es gibt aber auch Betroffene, die außer der Energie-
messen behandelt werden (Psychotherapie,
losigkeit keine weiteren depressiven Symptome zei-
Antidepressiva).
gen, so dass Fatigue und Depression nicht ineinander
Eine Depression beeinträchtigt die Lebensqualität aufzugehen scheinen. Auf der anderen Seite gibt es
der Betroffenen, macht sie unzufrieden mit der körperliche Ursachen, die gezielt behandelt werden
ärztlichen Behandlung, verzögert die Krankenhaus- können, wie z. B. eine Anämie. Bei der Diagnostik ist
entlassung und steigert die Inanspruchnahme me- es wichtig, solche konkreten Ursachen zu entdecken.
dizinischer Leistungen (z. B. Arztbesuche, Notfall- Außerdem helfen ein Plan der täglichen Aktivitäten
behandlungen). mit ausreichenden Erholungspausen sowie regel-
Die genannten Belastungen stellen zusammen- mäßige körperliche Aktivität.
genommen eine Bedrohung für das Erleben als
selbstbestimmte, kompetente und vollständige Per-
son dar. Dennoch kommen erstaunlich viele Men- 8.4.7 Modelle der Krebsverarbeitung
schen mit einer Krebskrankheit zurecht, ohne nach-
haltig im emotionalen Befinden und der Alltags- Jeder 2. Mann und 43 % der Frauen erkranken im
bewältigung beeinträchtigt zu sein – und dies heißt Laufe ihres Lebens an Krebs. Eine Krebserkrankung
nicht, dass sie ihre Belastung verleugnen würden wird von vielen Betroffenen als bedrohlich, un-
und diese dann eben später umso stärker zum vorhersehbar und unkontrollierbar erlebt. Um eine
Ausbruch kommen wird. Die Bedingungen dieser derartige Situation bewältigen zu können, ist es an
Resilienz genannten Fähigkeit sind noch wenig er- 1. Stelle wichtig, sich möglichst umfassend darüber
forscht. zu informieren, was man unternehmen kann, um
Viele Krebskranke profitieren davon, wenn sie den Verlauf der Krankheit günstig zu beeinflussen.
der Erkrankung einen Sinn verleihen können. Sie Deshalb haben Krebskranke im Allgemeinen ein
versuchen herauszufinden, was ihre wahren Be- sehr großes Informationsbedürfnis. 80–95 % der
dürfnisse sind, und ein selbstbestimmteres Leben Befragten geben an, möglichst vollständig über
als vor der Erkrankung zu führen. Dinge, die früher ihre Erkrankung informiert werden zu wollen. An
282 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

2. Stelle rangiert das Bedürfnis, bei Entscheidun- > Den Patienten sollte vermittelt werden, dass
gen, die die Behandlung, Diagnostik und Nach- Trauer und Angst angesichts einer Krebs-
sorge betreffen, einbezogen zu werden (7 Abschn. erkrankung normal sind und dass man am
5.4.3). Dies heißt nicht unbedingt, selbst zu ent- besten mit ihnen umgeht, indem man ihnen
scheiden, sondern meist eher, gemeinsam mit dem einen gewissen Raum zugesteht – dann wir-
Arzt zu entscheiden bzw. vielleicht sogar nur vor- ken sie nicht unbewusst weiter und »vergif-
her angehört zu werden, bevor der Arzt die letzte ten« das emotionale Befinden. Traurige Ge-
Entscheidung trifft. Modelle und Strategien der fühle müssen kein Ausdruck von Depression
psychosozialen Krankheitsbewältigung werden in sein, und sie stehen nicht unbedingt im Wider-
7 Abschn. 5.3.2 und 7 Abschn. 10.5.2 vorgestellt. spruch zu positiven, hoffnungsvollen Gefüh-
len – beides kann nebeneinander existieren.
Adaptivität der Krankheitsverarbeitung Welche
Strategien günstig (adaptiv) sind und welche nicht Insbesondere muss ein Patient nicht befürchten,
(maladaptiv), ist nicht leicht zu sagen. Aktives durch traurige Gefühle seine Prognose negativ zu
Coping, wie aktive Auseinandersetzung und Kon- beeinflussen (7 Abschn. 10.6.3). Gerade im Hinblick
frontation mit der Erkrankung und Kampfgeist, auf eine Verbesserung der Lebensqualität gibt es
aber auch Humor, Akzeptanz der Krankheit, Aus- viele verschiedene Bewältigungsstrategien. Die eine
druck von Gefühlen und Suche nach sozialer Un- einzig richtige existiert nicht. Stattdessen sollten die
8 terstützung gelten als adaptiv. Wenn es dem Betrof- Patienten ermuntert werden, diejenige Form der
fenen gelingt, in der Krankheit einen Sinn zu sehen Krankheitsbewältigung zu finden, mit der es ihnen
(Sinnfindung), z. B. die Prioritäten in seinem Leben persönlich am besten geht.
neu zu ordnen und zukünftig mehr das zu tun, was
ihm selbst wichtig ist, statt was die anderen von ihm Subjektive Krankheitstheorien Im Rahmen der
erwarten, kann die Krankheitserfahrung sogar ein Krankheitsbewältigung entwickeln viele Krebs-
psychisches Wachstum mit sich bringen. kranke eine persönliche Vorstellung davon, warum
Depressive Verarbeitung, wie Hoffnungslosig- sie Krebs bekommen haben. Sie wollen der Krank-
keit, Resignation, Fatalismus und soziale Isolation heit einen Sinn geben und die Frage »Warum gerade
sowie Unterdrückung von Gefühlen gelten als mal- ich?« beantworten. Solche subjektiven Krankheits-
adaptiv. theorien sollten zunächst einmal respektiert wer-
Zur Adaptivität von Verleugnung bzw. Vermei- den, auch wenn sie nicht mit dem Stand der Wissen-
dung gibt es zwiespältige Befunde. Teilweise schei- schaft übereinstimmen.
nen diese Strategien zunächst zu helfen, Angst ab- Wenn Patienten jedoch eine psychosomatische
zumildern, aber mittelfristig gehen sie mit schlech- Ursachenvorstellung entwickeln, sollte man ihr
tem emotionalem Befinden einher. emotionales Befinden genauer explorieren, denn
diese Patienten sind oft sehr belastet. Die Idee, dass
Was rät man Patienten? Einigen Patienten fällt es die Krebskrankheit Ausdruck der eigenen Persön-
aufgrund ihrer Persönlichkeit oder einer guten lichkeit oder bestimmter Lebenserfahrungen ist,
Prognose leicht, eine kämpferische Einstellung zur geht mit Schuldvorwürfen an sich selbst einher. Im
Krankheit einzunehmen – andere fühlen sich von Gespräch lassen sich diese Selbstvorwürfe eventuell
diesem Anspruch überfordert. Wenn sie hören, dass relativieren. Wissenschaftlich hat sich kein Zusam-
von ihnen eigentlich eine »positivere« Einstellung menhang zwischen bestimmten Persönlichkeits-
erwartet wird, können sie unter Leistungsdruck ge- eigenschaften (»Krebspersönlichkeit«) oder auch
raten und meinen, bei der Krankheitsbewältigung dem Ausmaß an Depressivität und der Anfälligkeit
zu versagen. Sie glauben sich zu »positivem Den- für Krebs erwiesen. Auch zur Frage, ob belastende
ken« verpflichtet und fürchten sich vor traurigen Lebensereignisse, z. B. der Verlust des Partners, als
und angstvollen Gefühlen, die sie unterdrücken Auslöser wirken, gibt es keine eindeutige Evidenz.
wollen. Das ist aber schwer möglich und führt nur Aspekte von Schuld und Strafe, die Überzeu-
zu zusätzlicher Belastung. gung, die Krankheit in irgendeiner Weise zu Recht
8.4 · Transplantationsmedizin und Onkologie
283 8
bekommen zu haben, mischen sich häufig in sub- Kranken dabei zu unterstützen, die durch die Er-
jektive Krankheitstheorien. Dahinter steht die weit krankung ausgelösten emotionalen Belastungen zu
verbreitete Vorstellung einer gerechten Welt, in verarbeiten. Hierbei ist es erforderlich, sich daran
der jeder das bekommt, was er verdient. Aus diesem zu orientieren, was der Patient verarbeiten kann.
Grund wird bei Menschen, die traumatische Ereig- Dies bedeutet, dass Verleugnung respektiert und
nisse erlebt haben, nach dem Beitrag gesucht, den nur dann vorsichtig konfrontiert werden sollte,
sie selbst zu dem Ereignis geleistet haben könnten wenn sie die medizinische Behandlung gefährdet.
(blaming the victim). Eine solche Viktimisierung ist Im günstigsten Fall besteht in der Klinik ein
in vielen Bereichen, beispielsweise auch bei Ver- psychoonkologischer Dienst oder ein psycho-
gewaltigungen, zu beobachten. Wenn Krebspatien- somatischer Liaison-Dienst (regelmäßige Tätigkeit
ten eine solche Schuldzuweisung übernehmen, eines Psychotherapeuten auf einer Station), der auf
können sie vielleicht ihren Glauben an eine ge- den individuellen Bedarf zugeschnittene Inter-
rechte  Welt retten – allerdings zu einem hohen ventionen wie Beratung, Kurzzeit-Psychotherapie,
Preis. Familiengespräche, Kriseninterventionen oder
Sterbebegleitung anbietet. Die Indikation hierfür
muss in der Regel der behandelnde Arzt stellen. Die
8.4.8 Psychische Unterstützung Patienten sind nämlich häufig in der Vorstellung
befangen, dass sie ihren Zustand ertragen müssten,
Ansprechpartner Emotionale Unterstützung bei und kommen nicht von selbst darauf, nach profes-
psychischen Belastungen wird in erster Linie vom sioneller Hilfe zu fragen. Deshalb sollten allen Pa-
Partner, anderen Familienangehörigen wie Eltern tienten über das vorhandene psychoonkologische
und Kindern sowie Freundinnen und Freunden Angebot informiert werden. Die neue S3-Leitlinie
geleistet (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk; Psychoonkologie fordert darüber hinaus ein syste-
7 Abschn. 2.4.3). matisches Screening auf psychosozialen Unterstüt-
Primärer Ansprechpartner im Krankenhaus ist zungsbedarf.
der behandelnde Arzt. Er kann in einem vertrau- Etwa die Hälfte der Patienten bewältigt die auf-
ensvollen Gespräch die Belastung oft auffangen. tretenden Belastungen mit ihren eigenen persona-
Um einem Patienten bei seiner Krankheitsbewäl- len oder sozialen Ressourcen und äußert daher kein
tigung zu unterstützten, genügt es vollauf, ihm mit Bedürfnis nach zusätzlicher fachlicher Unterstüt-
Geduld und Einfühlungsvermögen aktiv zuzuhö- zung. Hingegen 20–40 % der befragten Krebs-
ren. Wichtige Voraussetzungen sind die Haltungen, kranken wünschten in verschiedenen Befragungen
die von der klientenzentrierten Gesprächsthera- einen Kontakt mit einem Psychotherapeuten. Etwa
pie beschrieben werden (Wertschätzung, Echtheit, ein Drittel nimmt im Verlauf der Erkrankung
Empathie; 7 Abschn. 8.2.3). Selbst wenn man dann eine spezifische psychoonkologische Beratung
keine definitive Lösung für Probleme vorzuschla- in Anspruch. Es steht zu hoffen, dass sich die
gen hat – und das ist die Regel – so kann man doch Versorgungssituation Krebskranker während der
etwas Wichtiges geben, nämlich Aufmerksamkeit Akutbehandlung kontinuierlich verbessert, weil ein
und Zuwendung. Meist kann dadurch die Belastung psychoonkologisches Angebot eine Voraussetzung
in bewältigbaren Grenzen gehalten werden. Bei vie- der Zertifizierung als Tumorzentrum darstellt.
len Betroffenen sinkt der emotionale Distress auch
ohne professionelle Hilfe im Verlauf von Wochen
und Monaten wieder auf ein normales Maß ab.
Gelingt es nicht, die Belastung zu mildern, oder
hält sie zu lange an, sollte der Patient aktiv an pro-
fessionelle Psychotherapeuten, Beratungsstellen
(z. B. Deutsche Krebshilfe) oder Selbsthilfegrup-
pen vermittelt werden. Das prinzipielle Ziel der
Psychotherapie Krebskranker besteht darin, die
284 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

8.4.9 Psychoonkologische (7 Abschn. 10.2.1). Psychoonkologische Interven-


Interventionsformen tionen verlängern die Überlebenszeit jedoch wahr-
scheinlich nicht (7 Abschn. 10.6.3).
i Vertiefen
Die 3 wichtigsten psychoonkologischen Faller H (Hrsg) (2005) Psychotherapie bei
Interventionsformen somatischen Erkrankungen. Thieme, Stuttgart
5 Supportiv-expressive (psychodynamische) (enthält viele Beiträge zur psychosozialen Unter-
Therapie: will den Betroffenen helfen, sich stützung Krebskranker)
mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, Herschbach P, Heußner P (2008) Einführung
die damit verbundenen Gefühle auszudrü- in die psychoonkologische Behandlungspraxis.
cken und einen Sinn zu finden, um die Be- Klett-Cotta, Stuttgart (guter, informativer,
wältigung zu fördern. klinisch orientierter Einstieg in die Psycho-
5 Kognitiv-behaviorale Therapie: benutzt onkologie)
verhaltenstherapeutische Techniken, wie Lukasczik M, Neuderth S, Köhn D, Faller H
kognitive Umstrukturierung, Gedanken- (2008) Psychologische Aspekte der Lebend-
stopp bei belastenden Gedanken und ima- nierenspende und -transplantation. Zeitschrift
ginative Techniken sowie Entspannungs- für Medizinische Psychologie 17:107–123
8 verfahren, mit dem Ziel, die Ressourcen der (gut lesbarer Überblick)
Patienten zur Krankheitsbewältigung zu
stärken.
5 Psychoedukative Interventionen: werden
8.5 Humangenetische Beratung
meist in der Gruppe durchgeführt und
und Reproduktionsmedizin
basieren auf einem strukturierten Manual.
Auch hier geht es um psychische Unterstüt-
H. Faller, T. Wischmann
zung. Zusätzlich erhalten die Patienten
jedoch Information über die Krankheit und
Lernziele
ihre Behandlung, sie erlernen Entspan-
Der Leser soll
nungsverfahren und bekommen Strategien
5 den Verlauf der psychischen Belastung im
vermittelt, mit denen sie Wohlbefinden und
Rahmen humangenetischer Untersuchungen
Gesundheit verbessern können.
beschreiben können,
5 die psychische Situation ungewollt kinderloser
Eine große Zahl von Studien hat gezeigt, dass psy- Paare beschreiben können.
choonkologische Interventionen wirksam sind im
Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität
und des emotionalen Befindens. Entspannungs- 8.5.1 Psychosoziale Aspekte
verfahren, z. B. Imaginationstechniken (7 Abschn. der humangenetischen Beratung
8.2.5), haben sich als sehr wirksam zur Verminde-
rung von Therapienebenwirkungen, z. B. der Übel- Zunehmend wird es möglich, Menschen über ihre
keit bei Chemotherapie, erwiesen. Besonders güns- eigenen genetischen Prädispositionen zu infor-
tig scheinen strukturierte psychoedukative Inter- mieren und ihnen individuelle Erkrankungsrisiken
ventionen zu sein, während unstrukturierte Grup- mitzuteilen. Dies ist traditionell eine Aufgabe der
pentherapien, die lediglich dem Austausch von Humangenetik. Psychologische Fragestellungen
Gefühlen dienen, sogar schaden können. Wichtig konzentrieren sich in diesem Zusammenhang auf
ist es, den Teilnehmern der Intervention Erfolgs- den persönlichen Nutzen, den sich Menschen von
erlebnisse zu vermitteln, indem sie beispielsweise genetischen Informationen versprechen, sowie auf
bestimmte Bewältigungsformen aktiv ausprobieren die Frage, welchen Einfluss das Wissen um be-
können. Dies stärkt ihr Selbstwirksamkeitserleben stimmte Erkrankungs- und Vererbungswahrschein-
8.5 · Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin
285 8
lichkeiten auf das emotionale Befinden, die familiä- einer sporadischen Mutation getroffen (second hit),
ren Beziehungen, gesundheitsbezogene Überzeu- ist die Funktionsfähigkeit des Gens verloren gegan-
gungen, das individuelle Gesundheitsverhalten und gen. Mutationsträgerinnen haben ein Risiko von
die Familienplanung ausübt. 60–80 % für Brustkrebs und von 10–40 % für Eier-
stockkrebs.
Problemfelder Die individuelle Erfassung und Frauen aus Hochrisikofamilien, die an Brust-
Vermittlung von genetischer Information birgt viel- krebs erkrankt sind, können eine molekulargene-
fältige Probleme. Zahlreiche teilweise auch wissen- tische Untersuchung auf BRCA1 und BRCA2 durch-
schaftlich noch ungeklärte Sachverhalte müssen den führen lassen. Ist eine solche Mutation identifiziert,
ratsuchenden Laien erläutert werden. Damit sie besteht auch für gesunde Frauen und Männer dieser
eine persönliche informierte Entscheidung treffen Familie die Möglichkeit zu erfahren, ob sie eine ge-
können, müssen Fragen des Erkrankungsrisikos, der netische Disposition für Mamma- oder Ovarialkar-
Vielfalt möglicher Mutationen, der eingeschränkten zinom tragen (prädiktive Diagnostik).
Sensitivität molekularbiologischer Untersuchungen
und der manchmal fraglichen Effektivität risiko- Erwartungen und Befürchtungen Meist besteht bei
reduzierender Maßnahmen erklärt werden. Frauen aus Hochrisikofamilien ein sehr großes
Da die genetischen Informationen nicht nur Interesse am Gentest. Die Erwartungen sind hoch,
das Individuum, sondern auch andere Familienmit- die Befürchtungen gering. Als Nutzen einer mole-
glieder betreffen können, stellen sich Fragen des kulargenetischen Untersuchung wird angegeben,
sozialen Rückhalts in der Familie, des Datenschut- das eigene Früherkennungsverhalten zu optimieren
zes und ethische Fragen. Beispiel: Ein Familien- und das Erkrankungsrisiko ihrer Kinder zu kennen.
mitglied möchte das Risiko einer späteren Krebs- Die wenigen Frauen, die einer solchen Untersu-
erkrankung erfahren. Um dieses Risiko bestimmen chung ablehnend gegenüber standen, nannten als
zu können, ist es erforderlich, dass alle Mitglieder Nachteile am häufigsten die Ungenauigkeit der
einer Hochrisikofamilie ihren Mutationsstatus be- Diagnostik, die bleibende Ungewissheit und die
stimmen lassen. Andere Familienmitglieder wei- antizipierten emotionalen Belastungen.
gern sich jedoch, eine molekulargenetische Unter- Den Vorteilen von Gentests, wie Beseitigung
suchung durchführen zu lassen. Das Recht auf der Ungewissheit, Möglichkeit intensivierter Früh-
informationelle Selbstbestimmung schließt auch erkennungs- und prophylaktischer Maßnahmen,
das Recht auf Nichtwissen ein. Auf der anderen bessere Familien- und Lebensplanung, verringerte
Seite kann sich bei positivem Mutationsbefund Angst und verbesserte Lebensqualität, stehen po-
eines Familienmitglieds die Frage stellen, ob diese tenzielle Nachteile gegenüber, wie die Gefahr der
Information an dritte Familienmitglieder weiter- Stigmatisierung und Diskriminierung am Arbeits-
gegeben werden darf oder sogar muss, um Gefahren platz oder durch Versicherungen. In Deutschland
von ihnen abzuwenden. haben Versicherungen bisher freiwillig darauf ver-
zichtet, Informationen aus Gentests zur Berech-
nung der Krankheitsrisiken heranzuziehen. Gesetz-
8.5.2 Hereditärer Brustkrebs liche Regelungen sollen den Missbrauch genetischer
Information verhindern.
In Deutschland erkrankt etwa jede 10. Frau bis zu
ihrem 70. Lebensjahr an Brustkrebs. Bei 5–10 % Psychische Probleme Im Durchschnitt weisen Rat-
dieser Fälle treten familiäre Häufungen auf. Ein suchende, die zur genetischen Diagnostik bei here-
Großteil der familiären Häufungen geht auf 2 Gene ditären Krebserkrankungen kommen, im Vergleich
zurück: BRCA1 und BRCA2. Es handelt sich dabei zur Allgemeinbevölkerung weder vor noch nach
um Tumorsuppressorgene. Hat eine Frau schon ein der genetischen Testung eine erhöhte emotionale
mutiertes Allel geerbt, steht ihr nur noch ein ein- Belastung auf. Die psychische Belastung nimmt
ziges funktionsfähiges Allel zur Verfügung. Wird nach der Ergebnismitteilung bei negativem, aber
dieses im Verlaufe ihres Lebens dann auch noch von auch bei unklarem Testergebnis mit der Zeit ab, und
286 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

selbst bei positivem Test steigt sie nur kurzfristig an gegenwärtigen Daten nicht darauf hin, dass Perso-
und geht im Lauf der Zeit wieder auf das Maß vor nen nach genetischer Testung ihr Gesundheits-
der Testung zurück. Lediglich Subgruppen, die we- verhalten ändern. Zur Prophylaxe können Chemo-
nig auf einen Mutationsbefund vorbereitet sind prävention mit Antiöstrogenen und prophylak-
bzw. die Verarbeitung eines Mutationsbefundes tische Ovarektomie und Mastektomie eingesetzt
unterschätzen, können eine betreuungsbedürftige werden. Die Mastektomie reduziert das Brustkrebs-
Belastung aufweisen. Stärker belastet waren die- risiko um über 95 %, die Ovarektomie das Eier-
jenigen Personen, die eine genetische Untersuchung stockkrebsrisiko um 97 %.
ablehnten bzw. den vorliegenden Befund nicht er- Eine prophylaktische Mastektomie mag für
fahren wollten. Auch mehrere Jahre nach dem Er- Außenstehende als sehr radikale Maßnahme er-
halt des Testergebnisses sind kaum erhöhte psy- scheinen. Für Frauen, die aus Hochrisikofamilien
chische Belastungen nachzuweisen. stammen, in denen über Generationen hinweg die
Mütter früh starben, bevor die Kinder erwachsen
> Weder vor noch nach der genetischen Tes-
waren, ist dies jedoch manchmal ein gangbarer
tung wegen hereditärem Brustkrebs weisen
Weg. In der Abwägung zwischen dem Überleben
die Ratsuchenden in der Regel eine außer-
und der körperlichen Unversehrtheit entscheiden
gewöhnliche psychische Belastung auf.
sie sich für das Überleben. Nach den bisherigen
Gleichwohl sollten genetische Berater sensi-
Studien bereuen die wenigsten Frauen diese Ent-
8 bel dafür sein, dass psychische Belastungen
scheidung. In einer Studie zeigte sich bei denjenigen
im Einzelfall auftreten können, und entspre-
Frauen, die eine prophylaktische Mastektomie
chende Unterstützung anbieten.
durchführen ließen, 6 Monate später eine Abnahme
Auch nach molekulargenetischer Untersuchung der psychischen Belastung im Unterschied zu
und genetischer Beratung bleibt allerdings die Frauen, die die Mastektomie abgelehnt hatten. Die
Risikoeinschätzung oft unrealistisch hoch, zumal meisten Frauen wiesen danach keine beeinträch-
wenn eine Frau starke Angst vor Krebs hat. Es reicht tigte Lebensqualität oder erhöhte psychische oder
also nicht aus, das Wissen der Frauen zu korrigieren Körperbildprobleme auf. Nur eine Subgruppe zeig-
und ihnen die entsprechende Information zu ver- te Auffälligkeiten. Interventionsbedürftige emotio-
mitteln. Zusätzlich muss auch die emotionale Be- nale Beeinträchtigungen traten insbesondere bei
lastung einbezogen und gegebenenfalls abgemildert chirurgischen Komplikationen oder schon vor-
werden. Hintergrund der psychischen Belastung her bestehenden Partnerkonflikten auf. Frauen mit
kann z. B. eine problematische Mutter-Tochter-Be- hereditärem Brustkrebsrisiko, die anstelle der
ziehung sein. Die Mutter befürchtet, das mutierte Mastektomie an einem strukturierten Früherken-
Gen an ihre Tochter weitergegeben zu haben, und nungsprogramm teilnahmen, wiesen ebenfalls
leidet deshalb unter Schuldgefühlen. Die Tochter keine erhöhte psychische Belastung im Vergleich
selbst hat jedoch möglicherweise gar kein Interesse zur Allgemeinbevölkerung auf.
an einer genetischen Untersuchung und möchte
deren Ergebnis nicht mitgeteilt bekommen.
Frauen, die nicht aus Hochrisikofamilien stam- 8.5.3 Morbus Huntington
men, wünschen manchmal aufgrund übertriebener
Krebsängste eine genetische Testung. In diesem Fall Anders ist die Situation beim Morbus Huntington,
ist es wichtig, die Krebsängste abzumildern, da eine einer monogenetischen neurologischen Erkran-
molekulargenetische Untersuchung bei Angehöri- kung mit 100%iger Penetranz und tödlichem Aus-
gen der Allgemeinbevölkerung nicht aussagekräftig gang. Die prädiktive Diagnostik kann hier weder
wäre. zur Prävention noch zur Frühbehandlung etwas
beitragen, weil es keine kausale Therapie gibt.
Prävention Frauen mit einem erhöhten Erkran- Lediglich zur Familienplanung könnte das Test-
kungsrisiko wird ein engmaschiges Früherken- ergebnis herangezogen werden. Dementsprechend
nungsprogramm empfohlen. Allerdings weisen die wird eine Testung nur von der Hälfte der Risikoper-
8.5 · Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin
287 8
sonen in Anspruch genommen, während ein Drittel 8.5.5 Interdisziplinäre
sie klar ablehnt. Für erstere Gruppe spielt das Motiv, humangenetische Beratung
die Unsicherheit nicht länger ertragen zu wollen,
eine wichtige Rolle, für letztere die Befürchtung, ein Sowohl vor einer genetischen Testung als auch nach
positives Testergebnis nicht bewältigen zu können. der Befundmitteilung ist eine ausführliche Beratung
Sowohl vor als auch nach einer molekulargene- notwendig. Dies schon deshalb, weil sehr viele Pro-
tischen Untersuchung ist deshalb eine psycholo- banden, insbesondere diejenigen, die nicht aus
gische Betreuung dringend notwendig. Hochrisikofamilien stammen, ihr Mutationsrisiko
stark überschätzen. Humangenetische Beratung
sollte grundsätzlich nondirektiv erfolgen. Der Bera-
8.5.4 Pränataldiagnostik ter sollte dem Ratsuchenden keine Entscheidungen
nahe legen, sondern die Möglichkeiten und Gren-
Schon bald nach Beginn der Schwangerschaft müs- zen der jeweiligen Optionen darlegen und ihn dazu
sen Frauen sich damit auseinandersetzen, ob sie befähigen, aufgrund dieser Information selbst eine
Maßnahmen zur pränatalen Diagnostik in An- Entscheidung zu treffen (Empowerment).
spruch nehmen wollen, mit denen sich Hinweise auf In einem Modellprojekt der Deutschen Krebs-
etwaige Missbildungen des Fötus (z. B. Trisomie 21) hilfe hat sich eine interdisziplinäre Beratung be-
gewinnen lassen (z. B. Nackentransparenzmessung, währt, in der Humangenetiker, Gynäkologen und
Amniozentese, hochauflösende Ultraschalluntersu- Psychologen zusammenarbeiteten. Aufgabe des
chung). Damit stellt sich auch die Frage, welche Kon- Psychologen war es insbesondere, die Erwartungen
sequenzen ein auffälliger Befund für das Paar hätte der Patienten zu klären und eventuelle Entschei-
(Abtreibung ja oder nein?). Die wenigsten Paare dungskonflikte zu besprechen. Auch schwierige
können sich ein Leben mit einem behinderten Kind familiäre Beziehungen waren Thema. Die meisten
vorstellen, und so fällt die Entscheidung meist zu- Interessenten erwarteten von den Experten, in ihrer
gunsten einer Abtreibung. Trauer über den Verlust Entscheidung zur genetischen Testung bestärkt zu
des ungeborenen Kindes und Schuldgefühle können werden, und hatten weniger Interesse daran, deren
die Folge sein. Häufig sind die Auffälligkeiten, die Einschränkungen und mögliche negative Konse-
man findet, allerdings nicht so aussagekräftig, dass quenzen zu diskutieren. Obwohl sich die interdis-
eine Missbildung definitiv festgestellt werden kann. ziplinäre Beratung als hilfreich erwiesen hat, ist sie
Kontrolluntersuchungen und Sorgen während des doch mit einem hohen Aufwand verbunden. In Zu-
gesamten Schwangerschaftsverlaufs kommen auf die kunft ist deshalb zu erwarten, dass immer mehr
betroffenen Paare zu. Das Angebot psychologi- Frauen ausschließlich durch ihren Allgemeinarzt
scher  Beratung ist hier sinnvoll. Sie sollte ergeb- oder Gynäkologen beraten werden. Um auch hier
nisoffen durchgeführt werden (Prinzip der Nicht- eine qualitativ hochwertige Beratung zu gewährleis-
Direktivität). ten, wurden Leitlinien und Manuale entwickelt.
Ethische und psychische Konflikte können auch Sehr kritisch zu sehen ist demgegenüber eine
im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik (PID) Testung ohne Beratung, z. B. mittels Angeboten aus
auftreten. Damit ist die genetische Untersuchung dem Internet. Gene spielen zwar für die allermeis-
von Embryonen auf Chromosomenanomalien ten Krankheiten eine Rolle. Bei vielen Krankheiten,
und Genmutationen bei einer In-Vitro-Fertilisation insbesondere auch chronischen Erkrankungen,
(7 Abschn. 8.5.6) gemeint. Ziel ist es, bei Eltern mit sind jedoch sehr viele Gene wie auch viele Umwelt-
erhöhtem Risiko Erbkrankheiten beim Embryo faktoren beteiligt. Der Einfluss eines einzelnen
auszuschließen, bevor dieser in den Uterus implan- Gens ist deshalb relativ gering. Da diese Gene zu-
tiert wird. In Deutschland ist die PID nur bei ent- dem in der Bevölkerung sehr häufig sind, ist eine
sprechender Indikation erlaubt. genetische Diagnostik nicht sinnvoll.
288 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

8.5.6 Ungewollte Kinderlosigkeit


und Reproduktionsmedizin 5 In-vitro-Fertilisation (IVF): Nach Hormon-
stimulation punktierte Eizellen werden mit
Lebensplanung und generatives Verhalten Seitdem Sperma in der Petrischale kultiviert. Nach
durch die »Pille« die Möglichkeit einer fast sicheren einigen Tagen im Brutschrank Rücktransfer
Empfängnisverhütung besteht und Sexualität von von zwei bis maximal drei befruchteten
der Fortpflanzung entkoppelt ist, können Familien- Eizellen in die Gebärmutter.
gründungen besser geplant – aber auch »verpasst« – 5 Intrazytoplasmatische Spermieninjektion
werden. Inzwischen werden in Deutschland nicht (ICSI): Punktion und Rücktransfer wie bei
nur immer weniger Kinder geboren – in den letzten der IVF, dazwischen Mikroinjektion eines
50 Jahren hat sich die Zahl der Geburten hier hal- Spermiums in die Eizelle.
biert (7 Abschn. 4.9) – innerhalb Europas steht der
Geburtsjahrgang 1955 aller (gewollt und ungewollt)
kinderlosen Frauen in Deutschland mit 22 % an Diese reproduktionsmedizinischen Behandlungen
1. Stelle (zum Vergleich: 8 % in Frankreich). werden immer öfter in Anspruch genommen: Die
Zahl der Behandlungszyklen ist seit 2004 inner-
Prävalenz ungewollter Kinderlosigkeit Als unge- halb  von 10 Jahren um 36 % auf ca. 81.000 ange-
wollt kinderlos gelten Paare mit Kinderwunsch, bei stiegen.
8 denen es trotz regelmäßigen ungeschützten Ge- Der Prozentsatz der Lebendgeburten (sog.
schlechtsverkehrs innerhalb 1 Jahres nicht zu einer Baby-take-home-Rate) liegt pro abgeschlossenem
Schwangerschaft gekommen ist. In Deutschland IVF- bzw. ICSI-Zyklus im Durchschnitt unter 20 %.
sind 3–9 % der Paare mit Kinderwunsch ungewollt Nach 3 Behandlungszyklen bleibt damit mehr als
kinderlos. Es wartet allerdings jede 3. Frau länger die Hälfte der Paare weiterhin kinderlos.
als 1 Jahr auf eine Schwangerschaft. Das Durch- Hauptrisiko sind Mehrlingskinder. Die Rate
schnittsalter der Erstgebärenden in Deutschland der Zwillingsgeburten ist um das 18-fache, die der
stieg innerhalb der letzten 3 Jahrzehnte von ca. Drillingsgeburten um das 80-fache gegenüber
25 Jahren auf jetzt knapp 30 Jahre. Das Alter der spontan gezeugten Kindern erhöht, d. h. ca. 21 %
Frau ist der wichtigste prognostische Faktor für aller Geburten nach ART sind Mehrlingsgeburten.
den Schwangerschaftseintritt. Die Risikofaktoren Mit Mehrlingsschwangerschaften sind erhebliche
Übergewicht und Chlamydieninfektion nehmen bei medizinische und psychologische Risiken sowohl
Frauen durchschnittlich zu, so dass allein aus diesen für die werdende Mutter als natürlich auch für die
3 Gründen von einem weiteren Anstieg ungewollter Kinder zu erwarten (7 Abschn. 8.5.9).
Kinderlosigkeit ausgegangen werden muss.

Ursachen Die medizinischen Ursachen sind auf 8.5.7 Psychosoziale Merkmale


Frauen und Männer etwa gleich verteilt: 25–30 % ungewollt kinderloser Paare
gynäkologischer oder andrologischer Faktor, 30–
40 % kombiniert und 10–15 % ohne psychische oder Die psychosomatische Sicht dominierte über Jahr-
organische Ursache (idiopathische Infertilität). zehnte ein stark pathologieorientierter Blick – fast
ausschließlich auf die »sterile Frau« – , was sich in
der Laienpresse, aber auch in etlichen Ratgeber-
Verfahren der assistierten Reproduktion büchern weiterhin noch häufig fortsetzt: So seien
(assistierte Reproduktionstechnik, ART) insbesondere die Frauen in ihrer Persönlichkeit
5 Intrauterine Insemination nach Stimula- stark gestört, hätten unbewusst erhebliche Ängste
tion (IUI): Das Einbringen von Sperma in bezüglich Schwanger- bzw. Elternschaft oder die
die Gebärmutter mittels Katheter nach Hor- Partnerschaft lasse eine Schwangerschaft nicht zu.
monstimulation. Systematische Studien entkräften all diese Vorur-
teile durchweg.
8.5 · Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin
289 8
> Ungewollt kinderlose Paare weisen keine un- tionsmedizinische Behandlung, die für viele Frauen
gewöhnlichen psychischen Auffälligkeiten auf. zusätzlich eine starke psychische Belastung dar-
stellt, vor allem nach »erfolglosen« Behandlungs-
Es zeigen sich nur eine leicht erhöhte Depressivität, zyklen, mit der damit einhergehenden »Achter-
Ängstlichkeit und vermehrte Körperbeschwerden bahn der Gefühle«. Deshalb kann man davon aus-
bei vielen Frauen, die als Folge der reproduktions- gehen, dass die gefühlsmäßige Belastung mit der
medizinischen Diagnostik bzw. Therapie interpre- Zahl erfolgloser Behandlungszyklen in den ersten
tiert werden können. Bei Kinderwunschpaaren liegt Jahren einer solchen Behandlung bei vielen Frauen
der Anteil psychopathologisch auffälliger Personen erst einmal ansteigt. Liegt zudem eine idiopathische
mit 15 bis maximal 20 % keinesfalls höher als in der Sterilität vor, führt dies häufig zu der fälschlichen
Allgemeinbevölkerung. Auch die Partnerschaft Gleichsetzung mit psychisch bedingter Fertilitäts-
dieser Paare ist unauffällig. Mit längerer Behand- störung (»psychogene Sterilität«), was die betrof-
lungsdauer stellen sich ungewollt kinderlose Frauen fenen Paare in der Regel noch mehr in Form von
mit ihrer Partnerschaft im Durchschnitt sogar zu- Schuldgefühlen unter Druck setzt. Auch bei voll-
friedener dar. Eine hohe Ambiguitätstoleranz be- ständiger Kostenübernahme nimmt bis zur Hälfte
deutet hier, sich durch die üblichen Widersprüch- der Paare trotz Misserfolges nicht alle angebotenen
lichkeiten der Kinderwunschmotive nicht verun- Behandlungszyklen in Anspruch, in erster Linie we-
sichern zu lassen. Sie hilft in der Regel, die Belas- gen der emotionalen Belastungen der ART.
tung durch den unerfüllten Kinderwunsch zu
verringern. Langfristige Folgen ungewollter Kinderlosigkeit
Systematische Studien haben gezeigt, dass es nur
Stress und Fruchtbarkeit Es gibt in der wissen- geringe Unterschiede in der Lebensqualität und
schaftlichen Literatur diverse Modelle, die versuch- der Lebenssituation zwischen kinderlos gebliebe-
ten, psychischen Stress und das reproduktive Sys- nen Paaren und Paaren mit Kindern gibt. Prognos-
tem zu verbinden. So solle Stress beispielsweise zu tisch günstig ist dabei, wenn kinderlos Gebliebene
Tubenspasmen führen können oder zu einer ein- diese Situation positiv neu bewerten und akzep-
geschränkten Spermatogenese. Dies würde die tieren können, aktiv nach Alternativen suchen und
Fruchtbarkeit beeinträchtigten, was dann Schuld- soziale Kontakte aufrechterhalten und ausbauen.
und Schamgefühle und Wut zur Folge hätte und Entsprechend prognostisch ungünstig sind Grü-
als emotionaler Stress wiederum das reproduktive beln, das Gefühl der Machtlosigkeit und des Ver-
System beeinflusse. Diese Zusammenhänge sind sagens sowie eine weiterhin starke Fokussierung auf
bisher nur postuliert und noch nicht ausreichend Kinder als wichtiges Lebensziel.
untersucht worden. Aus wissenschaftlicher Sicht
sind die Zusammenhänge zwischen psychischem
Stress und Fruchtbarkeitsstörungen beim Men- 8.5.9 Entwicklung der Kinder
schen also keineswegs geklärt. nach ART

In den neueren Studien finden sich keine Häufun-


8.5.8 Psychische Auswirkungen gen gravierender Auffälligkeiten in der sozialen und
reproduktionsmedizinischer psychischen Entwicklung von Einlingen nach ART.
Maßnahmen Dieses gilt auch für die Paarbeziehung und die
Eltern-Kind-Beziehung.
Viele Studien haben ergeben, dass Infertilität von Familien mit Mehrlingen nach ART erscheinen
sehr vielen Frauen als schlimmste emotionale Krise nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus psy-
empfunden wird, manchmal gleichzusetzen mit chologischer Sicht eindeutig als Risikogruppe.
dem Verlust eines nahe stehenden Angehörigen. Mehrlingskinder neigen vermehrt zu Verhaltens-
Hinzu kommt die nicht nur zeitlich, sondern auch und Sprachentwicklungsstörungen, Mehrlings-
emotional und finanziell aufwändige reproduk- mütter haben ein größeres Risiko, Depressionen zu
290 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

entwickeln, Mehrlingseltern trennen sich häufiger


als Ein- oder Zwei-Kind-Eltern. 5 Begrenztheit: Eine begrenzte Zahl an
Während die psychische und soziale Entwick- Sitzungen hat eine entängstigende und
lung von Einlingen oder Zwillingen nach ART also zentrierende Funktion.
eher unauffällig erscheint, wiegen die Risiken der 5 Ergebnisoffenheit: Die Beratung ist den
körperlichen Entwicklung höher: Es gibt für alle verschiedenen Behandlungsansätzen ge-
Kinder nach ART ein höheres Risiko für chro- genüber aufgeschlossen und versucht, eine
mosomale Anomalien im Vergleich zu spontan für das jeweilige Paar möglichst tragfähige
gezeugten Kindern. Während mit einer schweren einvernehmliche Lösung zu entwickeln.
Fehlbildung bei einem Kind nach Spontankonzep-
tion bei jeder 15. Schwangerschaft zu rechnen ist,
betrifft dies in Deutschland jede 12. Schwanger- Effekte psychosozialer Interventionen Bei der
schaft nach ART. Mehrzahl der Frauen reduziert bereits ein nieder-
schwelliges Angebot die emotionale Belastung
deutlich. Noch befürchtet allerdings ein erhebli-
8.5.10 Psychologische cher Prozentsatz von Paaren mit unerfülltem Kin-
Kinderwunschberatung derwunsch eine Stigmatisierung und emotionale
Labilisierung durch eine psychologische Beratung.
8 Beratungsziele Als primäre Ziele werden häufig Eine Verbesserung der Schwangerschaftschancen
genannt, den Paaren eine bessere Bewältigung der durch psychosoziale Interventionen ist eher un-
Kinderlosigkeit zu ermöglichen, Entscheidungs- wahrscheinlich.
hilfen bezüglich medizinischer Therapieschritte
anzubieten, potenziell auftretende Paarkonflikte zu i Vertiefen
vermindern, die Kommunikation des Paares mitei- Kentenich H, Brähler E, Kowalcek I, Strauß B,
nander, mit den Ärzten und mit der sozialen Um- Thorn P, Weblus, A-J, Wischmann T, Stöbel-
welt zu verbessern, die Akzeptanz bei erfolgloser Richter Y (Hrsg) (2014) Fertilitätsstörungen –
medizinischer Therapie zu fördern und das Paar psychosomatisch orientierte Diagnostik und
in der Findung alternativer Perspektiven zu unter- Therapie. Leitlinie und Quellentext. Psycho-
stützen. sozial, Gießen (Leitlinie mit Übersicht über den
aktuellen Forschungsstand)
Stammer H, Verres R, Wischmann T (2004) Paar-
Elemente des Beratungsablaufs beratung und -therapie bei unerfülltem Kinder-
5 Transparenz: Ablauf, Inhalte und Ziele der wunsch. Hogrefe, Göttingen (Beratungsmanual
Beratung werden dem Paar erläutert und mit vielen Fallbeispielen)
begründet. Wallraff D, Thorn P, Wischmann T (Hrsg) (2014)
5 Paarzentrierung: Der Kinderwunsch wie Kinderwunsch. Der Ratgeber des Beratungs-
auch der Umgang damit geht beide Partner netzwerkes Kinderwunsch Deutschland (BKiD).
an. Es ist sinnvoll, gemeinsame Lösungs- Kohlhammer, Stuttgart (Ratgeber für Paare mit
ansätze zu entwickeln. konkreten Anleitungen und Übungen)
5 Klärung und Entlastung: Informationen Wischmann T (2012) Einführung Reproduk-
darüber, dass fast jedes Paar die Sexualität tionsmedizin. UTB Reinhardt, München (Lehr-
während der Kinderwunschbehandlung buch mit dem Schwerpunkt Psychosomatik und
als beeinträchtigt empfindet. psychosoziale Aspekte)
5 Ressourcenaktivierung: Die Gestaltungs- Worringen U, Vodermaier A, Faller H, Dahlben-
möglichkeiten des Paares in der jetzigen der RW (2000) Psychotherapeutische Aufgaben
Situation der Kinderlosigkeit werden ge- im Rahmen molekulargenetischer Diagnostik
stärkt. bei familiärem Brust- und Eierstockkrebs. Zeit-
schrift für klinische Psychologie, Psychiatrie
8.6 · Sexualmedizin
291 8
und Psychotherapie 48: 135–150 (Beschreibung die sexuellen Funktionsstörungen (7 Abschn. 8.6.7)
häufiger Problemsituationen bei der interdiszipli- mitverantwortlich. Ein Scheitern im Beruf, ein
nären Beratung anhand vieler Fallbeispiele) tiefer Einbruch in das Selbstwertgefühl kann auch
Worringen U, Faller H (Hrsg) (2003) Schwer- auf sexuellem Gebiet zur »Impotenz« führen.
punktheft Prädiktive Diagnostik. Zeitschrift für
Medizinische Psychologie 12:145–192 (Über-
blick über unterschiedliche Aspekte der prädikti- 8.6.1 Psychosexuelle Entwicklung
ven Diagnostik von der Beratungssituation bis
hin zu Einstellungen bei Medizinstudenten und in Die psychoanalytischen Stadien der psychosexu-
der Allgemeinbevölkerung) ellen Entwicklung wurden in 7 Abschn. 2.3.2 be-
schrieben. Von der Psychoanalyse, wie auch von der
Lernpsychologie (Modelllernen), werden Identifi-
8.6 Sexualmedizin kationsprozesse für den Verhaltenserwerb verant-
wortlich gemacht. Durch Identifikation mit dem
H. Lang, H. Faller Vater, die dann auf alles Männliche generalisiert
wird, übernimmt der Junge auch die geschlechtsty-
Lernziele pischen Verhaltensweisen des Vaters. Das Mädchen
Der Leser soll setzt sich an die Stelle der Mutter, wie es das in sei-
5 die Phasen des Sexualzyklus beim Mann und bei nen Spielen schon immer getan hat. Für den Jungen
der Frau beschreiben können, sei diese Entwicklung problematischer, da er zu ei-
5 sexuelle Störungen definieren können. ner »Entidentifizierung« kommen müsse, d. h. eine
anfängliche Identifizierung mit der primären Be-
Menschliche Sexualität ist vielschichtig. In biolo- zugsperson Mutter zu beenden und sich mit einer
gischer Sicht erscheint sie als eine spezialisierte männlichen Person zu identifizieren habe. Männer
Form der Fortpflanzung, als Reproduktion. Im Er- seien deshalb für das Problem der Geschlechtsiden-
leben des Subjekts vermittelt Sexualität die Er- tität anfälliger als Frauen, die ihre anfängliche Iden-
fahrung von Lust, Freude am eigenen Körper, ver- tifizierung mit der Mutter durchgängig aufrechter-
bunden mit dem narzisstischen Aspekt der Selbst- halten können.
bestätigung, des Selbst- und Lebensgefühls. Im Wie sehen die empirischen Befunde zur Ge-
zwischenmenschlichen Bereich stellt Sexualität eine schlechtsentwicklung aus?
Form der Bezogenheit auf andere dar. Sie verschafft
Intimität und Nähe, wie diese anders in zwischen- Bindungsstile Studien weisen darauf hin an, dass
menschlichen Bezügen kaum möglich ist. Die in der ein sicherer Bindungsstil (7 Abschn. 4.7.3) auch eine
Sexualität erfahrene Nähe kann enorme Glücksge- gute Voraussetzung für eine befriedigende sexuelle
fühle vermitteln, aber auch enorme Ängste wecken, Begegnung darstellt und mit einer geringeren Prä-
Ängste z. B., dass man dem anderen ausgeliefert ferenz für das Erleben von Sexualität außerhalb
ist, im Verschmelzungserlebnis die Selbstkontrolle einer Beziehung einhergeht. Personen mit »ambi-
verliert. valenter Bindung« scheinen vor allem Zärtlichkeit,
Die besondere Erlebnisintensität der mensch- »Gehaltenwerden« im sexuellen Kontakt zu suchen.
lichen Sexualität rührt daher, dass sie mit anderen Solche mit »vermeidendem Bindungsstil« zeigen
Bedürfnissen eng verflochten sein kann. Körper- häufiger ein Verhalten von »Sexualität ohne Liebe«.
empfindungen allein haben kein sehr großes Lust-
potenzial. Der »thrill« der Sexualität speist sich erst Geschlechtsstereotyp Die Geschlechtsentwicklung
aus der Aufladung mit Phantasien wie z. B. derjeni- steht unter dem Einfluss biologischer (sex; chromo-
gen, mit dem anderen im Orgasmus zu verschmel- somales Geschlecht, das sich in den äußeren Ge-
zen, aber auch aggressiven und Machtphantasien schlechtsmerkmalen manifestiert) und kultureller
oder solchen narzisstischer Bestätigung. In dieser Faktoren (gender; Geschlechtsstereotyp). Das Ge-
Verschränkung liegen aber auch Gefahren, sie ist für schlechtsstereotyp umfasst alle Wahrnehmungen,
292 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Erwartungen und Einstellungen gegenüber dem Verführung erklären. Auch fand sich kein Einfluss
Geschlecht. Diese prägen das individuelle Verhal- des Erziehungsstils oder der Präferenz der Eltern.
ten. Sie können jedoch Geschlechtsunterschiede
nicht vollständig erklären, da solche schon intraute- Sexualverhalten und Partnerwahl Auch im Sexual-
rin auftreten (größere motorische Aktivität des verhalten und der Partnerwahl lassen sich Ge-
männlichen Fetus). Unter dem Einfluss von Ge- schlechtsunterschiede feststellen. Männer haben
schlechtshormonen kommt es zur geschlechtsspe- etwas häufiger sexuelle Kontakte ohne emotionale
zifischen Differenzierung bestimmter Gehirnstruk- Bindung sowie Masturbation. Die Unterschiede
turen (neuronales Geschlecht). In der weiteren Ent- nahmen in den letzten Jahrzehnten aber ab. Bei der
wicklung spielen aber auch geschlechtstypische Partnerwahl ist physische Attraktivität der Part-
Umwelterfahrungen eine wichtige Rolle. Das Ge- nerin für Männer wichtig, für Frauen vor allem so-
schlechtsstereotyp beinhaltet u. a., dass Frauen eher zialer Status und Ehrgeiz des Partners.
bereit sind, über ihre Gefühle zu sprechen und psy-
chische Probleme zuzugeben. Dies trägt zur höhe-
ren Prävalenz psychischer Störungen bei Frauen bei 8.6.2 Psychophysiologische
(7 Abschn. 4.9.6). Grundlagen sexueller Reaktion

Geschlechtspräferenzen Das Geschlechtskonzept, Die psychophysiologischen Erregungsabläufe beim


8 d. h. eine Vorstellung davon, dass Jungen und Mäd- Sexualakt sind vor allem durch den Gynäkologen
chen sich voneinander unterscheiden, wird ab dem William H. Masters und die Psychologin Virginia E.
2. Lebensjahr erworben. Drei- bis vierjährige Vor- Johnson untersucht worden. Es zeigte sich eine Vier-
schulkinder können das Geschlecht einer Person Phasen-Struktur des Sexualzyklus sowohl für die
richtig zuordnen und geschlechtstypische Präfe- Frau als auch den Mann.
renzen gegenüber Gegenständen (Auto, Puppe) be-
nennen. In der Vorschulzeit ist das Geschlechts-
Phasen des Sexualzyklus
konzept noch rigide, in der Grundschulzeit wird es
5 Erregungsphase
flexibler. Individuelle Präferenzen und geschlechts-
5 Plateauphase
typisches Verhalten können jedoch durchaus eine
5 Orgasmusphase
gewisse Unabhängigkeit vom Geschlechtsstereotyp
5 Rückbildungsphase
zeigen. Von der Kindergartenzeit an bevorzugen
Kinder Spielpartner oder Freunde des eigenen Ge-
schlechts. Diese Präferenz, die ihr Maximum in der
Vorpubertät erreicht, bleibt abgeschwächt bis ins Erregungsphase Diese Phase ist durch das Gefühl
junge Erwachsenenalter bestehen. sexueller Lust und die begleitenden physiologi-
schen Veränderungen gekennzeichnet. Bei der Frau
Sexuelle Orientierung Über 90 % der befragten kommt es zu vermehrter Durchblutung (Vasokon-
Männer und Frauen bezeichnen sich als hetero- gestion) im Becken, Lubrikation (Feuchtwerden)
sexuell, zwischen 2 und 3 % als homosexuell und und Ausdehnung der Vagina, extragenital zur Erek-
zwischen 4 und 5 % als bisexuell. Die sexuelle tion der Mamillen und Größenzunahme der Brüste,
Orientierung ist mittelfristig stabil. Sie steht unter beim Mann infolge einer Zunahme der genitalen
einem substantiellen genetischen Einfluss, der die Durchblutung zu einer Erektion des Penis. Zeitlich
Orientierung jedoch nicht alleine erklären kann. In bildet die Erregungsphase den längsten Teil des
der Kinderzeit fallen spätere homosexuelle Männer Reaktionszyklus, sie ist durch äußere Einwirkungen
dadurch auf, dass sie häufiger Spielpartner des oder auch innere Hemmungen leicht störbar. Bei
anderen Geschlechts bevorzugen. Der erste homo- Nachlassen der stimulierenden Reize oder bei Stö-
sexuelle Kontakt findet durchschnittlich erst 3 Jahre rung kann die Erektion schnell wieder verloren ge-
nach dem ersten Interesse am eigenen Geschlecht hen. Wird die wirksame sexuelle Stimulierung fort-
statt. Homosexualität lässt sich also nicht durch geführt, kommt es zur Plateauphase.
8.6 · Sexualmedizin
293 8
Plateauphase Darunter ist eine Stufe hoher sexuel-
ler Spannung zu verstehen, von der aus der Orgas- Unterschiede im Erregungsablauf
mus möglich wird oder auch ein langsames Abfallen zwischen Frau und Mann
der Spannung und Rückbildung der Erregung ein- 5 Der sexuelle Erregungsablauf ist bei der
tritt. So können eine unzureichende Stimulierung Frau variabler als beim Mann. Die sexuelle
oder auch eine Unterbrechung der Reizung wie Befriedigung ist beim Mann an die Orgas-
auch eine unzureichende Orgasmusbereitschaft musejakulation gebunden, während man-
eine Steigerung zum Orgasmus verhindern. Bei der che Frauen auch ohne einen solchen phy-
Frau ist extragenital ein weiteres Anschwellen der siologisch messbaren Höhepunkt zu einer
Mamillen und weitere Größenzunahme der Brust für sie sexuell befriedigenden Erfahrung
charakteristisch. Genital wird die Klitoris an den kommen können.
vorderen Rand der Symphyse gezogen, und es 5 Die Verlaufskurve der sexuellen Erregung
kommt zur Ausbildung der sog. orgastischen Man- ist bei der Frau während des Koitus länger,
schette des äußeren Scheidendrittels. Beim Mann sowohl insgesamt als auch in den einzelnen
vergrößert sich das Hodenvolumen. Atem- und Phasen. Während der Mann in weniger als
Pulsfrequenz sowie Blutdruck steigen an. einer Minute alle Phasen der sexuellen Erre-
gung im Verkehr durchlaufen kann, ist dies
Orgasmusphase Eine maximale Steigerung der bei der Frau nicht möglich.
Stimulation führt jetzt den Orgasmus herbei. Dieser 5 Der Mann hat nach der Orgasmusejakula-
Höhepunkt der sexuellen Lust unter Lösung sexueller tion eine absolute Refraktärphase von
Spannung ist körperlich durch rhythmische Kontrak- einigen Minuten, in der er sexuell nicht an-
tionen (unwillkürliche Bewegungen) der perinealen sprechbar ist. Die Frau hat dies nicht: so-
Muskulatur und der Sexualorgane, bei der Frau der wohl im Hinblick auf die Plateauphase als
orgastischen Manschette wie auch des Uterus, beim auch in der Fähigkeit zu wiederholten
Mann der Becken- und Harnröhrenmuskulatur ge- Orgasmen mit entsprechenden Muskelkon-
kennzeichnet. Die Ejakulation tritt ein. Ist der Samen- traktionen.
erguss einmal in Gang gekommen, ist es nicht mehr 5 Der Mann kann in Phantasien sowie visuell
möglich, den Ablauf willkürlich zu bremsen. Mus- stärkere Anregungen erfahren als die Frau.
kuläre Anspannung, Atemfrequenz, Pulsfrequenz Dieses Ergebnis wird allerdings in neueren
und Blutdruck erreichen ihr Maximum. Subjektiv Untersuchungen in Frage gestellt, zumin-
wird dieser Höhepunkt der Erregung häufig durch dest bei Filmen sei die Stimulation eher
eine Einengung der äußeren Sinneswahrnehmung gleich. Bei den meisten Frauen ist indessen
beschrieben; bezeichnend auch die Empfindung einer die sexuelle Anregung mehr an körperliche
Wärmeausbreitung, die vom Becken ausgehend Berührungen, an Zärtlichkeiten gebunden.
schließlich den ganzen Körper erfasst. Die Frau scheint so eher konkret partner-
bezogen zu sein als der Mann.
Rückbildungsphase Diese Phase ist durch ein Ge- 5 Mehr als der Mann scheint die Frau von
fühl muskulärer Entspannung und allgemeinen äußeren situativen Einflüssen, vom Part-
Wohlbefindens gekennzeichnet. Pulsfrequenz, Blut- nerkontakt, abhängig zu sein. Insofern ist
druck und Atemfrequenz normalisieren sich. Bei die Frau bei der Sexualbetätigung selbst
der Frau schwellen Mamillen und Brüste sowie die ablenkbarer und störbarer. Aufgrund dieser
orgastische Manschette ab, die Klitoris kehrt in ihre offensichtlich mehr situativen Abhängigkeit
Normallage zurück, ebenso die Labien. Beim Mann der Frau ist gerade für sie ein Gefühl der
geht die Erektion zurück, wobei jetzt gegen eine un- Sicherheit und Geborgenheit wichtig. So
mittelbar erneute sexuelle Stimulierung ein psycho- hatte sich gezeigt, dass vor allem solche
physiologischer Widerstand besteht (Refraktärzeit), Frauen Orgasmusschwierigkeiten angeben,
wogegen Frauen fast unmittelbar auf weitere Stimu- die Trennungs- und Verlustängste haben.
lation reagieren können.
294 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Eine andere weit verbreitete falsche Vorstellung


Damit mag auch zusammenhängen, dass ist, dass die Potenz des Mannes mit einem größeren
eine verheiratete oder in fester Partner- Penis größer sei. Auch kann aus der Größe des
schaft lebende Frau in der Regel orgasmus- nichterigierten Penis nicht auf die erreichbare
fähiger ist. Wohl deshalb hat auch die Mehr- Länge bei der Erektion geschlossen werden. Die
zahl der Frauen Schwierigkeiten, bei den Angst, einen zu kleinen Penis zu haben und deshalb
ersten sexuellen Kontakten zu einer vollen weniger sexuell leistungsfähig zu sein, kann dann
Befriedigung zu kommen; die Orgasmus- tatsächlich zu Sexualstörungen, z. B. zur Erektions-
fähigkeit der Frau steigt erst allmählich an. schwäche, führen.
5 Die Triebintensität in den einzelnen Le-
bensphasen ist bei Mann und Frau verschie-
den. Beim Mann ist die stärkste Triebinten- 8.6.3 Menschliches Sexualverhalten
sität bereits im Alter von 17–18 Jahren er-
reicht. Bei der Frau hingegen ist die Fähig- Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier ein weit-
keit und Bereitschaft zum intensivsten gehend »instinktreduziertes Wesen«. Diese Sonder-
sexuellen Erleben zwischen 30 und 40 gege- stellung des Menschen manifestiert sich auch im
ben, in einem Alter also, wo beim Mann die Sexualverhalten. Menschliche Sexualität ist sehr va-
Triebintensität schon wieder abnimmt. riabel ausgeprägt. Sie kann durch eine Dauerspan-
8 nung charakterisiert sein, aber auch umgekehrt
durch Askese und Abstinenz. Nur ein verschwin-
Mythen Es ist nicht möglich, einen vaginalen Or- dend kleiner Teil der menschlichen Geschlechtsakte
gasmus von einem, der durch die Klitoris ausgelöst dient dem biologischen Zweck der Reproduktion.
wird, zu unterscheiden. Der Orgasmus ist immer Ihre Funktion liegt auch in der Partnerbindung.
gleich, unabhängig davon, wie und wo er hervor- Zwei Partner, die sich sexuell verstehen, werden
gerufen wird, wo die hauptsächlichen Stimulierun- dahin tendieren, beieinander zu bleiben. Sexualität
gen der weiblichen Genitalregion ausgeübt werden. ermöglicht Bindung und erhält sie. Diese Bindung
Man kann auch von einer individuell unterschied- ist schon deshalb lebensnotwendig, weil die aus ihr
lichen Orgasmusschwelle bei Frauen ausgehen, die hervorgehenden Kinder im Allgemeinen eine sehr
– wenn sie niedrig ist – durch koitale Reizung bereits lange Zeit ihrer Entwicklung betreut und begleitet
überschritten wird, während eine höhere Schwelle werden müssen. Wovon hängt es ab, ob ein inten-
einer intensiveren direkten Klitorisreizung bedarf. sives Sexualleben auch in schon sehr lang bestehen-
Die Annahme, die Vagina einer Frau sei zu den Partnerschaften erhalten bleibt? Der Sexualwis-
klein, um den Penis aufzunehmen, ist in der Regel senschaftler Volkmar Sigusch hat einmal angemerkt,
eine falsche Vorstellung. Es handelt sich hier zu- die beste Garantie für gegenseitige sexuelle Attrak-
meist um eine psychische Abwehrhaltung gegen das tivität in langjährigen Partnerschaften sei es, wenn
Eindringen des Mannes, die sich dann als »Schei- jeder am anderen seinen persönlichen »Fetisch«,
denkrampf«, als »Vaginismus«, äußert, also um eine also eine sexuell anziehende Eigenschaft, entdecke,
muskuläre unwillkürliche Abwehrspannung der möglichst, ohne dass ihm dies bewusst sei.
Scheidenmuskulatur. Traumatische Folgen kann es
haben, wenn hier der Gynäkologe instrumentell
Dehnungseingriffe vornimmt, ohne dass die Patien- 8.6.4 Sozialer Wandel und Sexualität
tin psychologisch vorbereitet ist. Dabei kann es zu
heftigen psychosomatischen und depressiven Reak- Sexualverhalten wird durch Normensysteme ge-
tionen kommen. Eine Macht-Ohnmacht-Dynamik regelt. Diese Normen sind nicht als »naturgegebene
kann einem Vaginismus zugrunde liegen, wenn se- Moral« vorgegeben, sie haben sich vielmehr unter
xuelle Hingabe als gefährliche Schwäche erscheint, dem Einfluss soziokultureller Faktoren entwickelt,
mit dem »Eindringen« des Mannes Phantasien der und deshalb können sie von Kultur zu Kultur, von
Ohnmacht und Zerstörung verbunden werden. Generation zu Generation, von Sozialschicht zu So-
8.6 · Sexualmedizin
295 8
zialschicht verschieden sein. So erscheint in heu- wieder an Bedeutung, »Beziehung« wird wichtiger
tiger Sicht Homosexualität als eine Variante des als Sexualität. Zugleich treten die »dunklen Seiten«
»Normalen« und nicht mehr als Abweichung im der Sexualität, wie Missbrauch und Gewalt, in das
Sinne einer sog. Perversion. Noch vor wenigen Jahr- Blickfeld der Öffentlichkeit.
zehnten galten in psychiatrischen Lehrbüchern Weitere Merkmale dieser Transformation sind
oral-genitale Kontakte als krankhafte Perversitäten. die Ablösung der Sexualität von zwischenmensch-
Dasselbe galt auch lange für die Masturbation. lichem Kontakt (z. B. Telefonsex, Internetsex) und
Heute nicht mehr aufrechtzuerhalten ist auch die Verschiebung der Grenze zwischen normal und
die Auffassung, die Sigmund Freud zeitweise ver- pathologisch. Früher als pervers tabuisierte sexuelle
trat, dass »verdrängte« Sexualität als alleinige Ur- Vorlieben werden nun in Talkshows im Fernsehen
sache für neurotische Störungen anzusetzen wäre. öffentlich präsentiert. Insgesamt ist eine große Viel-
Freuds These mochte damit zusammenhängen, gestaltigkeit des sexuellen Verhaltens, der Lebens-
dass aufgrund der durchgehenden Tabuisierung der und Beziehungsformen festzustellen. Die Grenzen
Sexualität im sog. viktorianischen Zeitalter in Psy- zwischen den sexuellen Orientierungen (hetero-
choanalysen vor allem sexuelle Inhalte thematisiert sexuell, homosexuell, bisexuell) lösen sich teilweise
wurden. Zu einer Enttabuisierung haben die em- auf. Ehemalige Perversionen werden zu »Neosexu-
pirisch-wissenschaftlichen Untersuchungen durch alitäten«, in denen es primär nicht nur um Sexua-
Alfred Kinsey beigetragen. In seinen sog. Kinsey- lität, sondern um narzisstische Motive, wie Selbst-
Reporten wurden erstmals in einem sehr breiten werterhöhung, Macht und thrill, zu gehen scheint.
Spektrum sexuelle Einstellungen und Verhaltens- Auf der anderen Seite können die medial überhitz-
weisen der US-amerikanischen Bevölkerung nach ten Erwartungen neue Ängste hervorrufen, welche
dem 2. Weltkrieg dargestellt. Auf sexualwissen- die Sexualität mehr zur Last als zur Lust werden
schaftlichem Gebiet wurde diese Liberalisierung lassen. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern
dann durch Masters und Johnson fortgesetzt. wird eine zunehmende Lustlosigkeit registriert.
An die Stelle der traditionellen Sexualmoral tritt
Sexuelle Revolution In der zweiten Hälfte der die Verhandlungsmoral der beteiligten Partner. Er-
60er-Jahre des 20. Jahrhunderts begann im Rahmen laubt ist, wozu beide im Konsens bereit sind. Dies
der Studentenbewegung eine »sexuelle Revolution«, setzt voraus, dass in der Beziehung keine Abhängig-
die die sexuelle Befreiung proklamierte. Hierfür keits- und Machtverhältnisse existieren. Abhängig-
spielte die Entwicklung der Antibabypille, die die keitsverhältnisse, die sexuelle Beziehungen ver-
Trennung von Sexualität und Fortpflanzung er- bieten, finden sich in der Beziehung zwischen Arzt
leichterte, eine wichtige Rolle. In der Schule wurde und Patient, Lehrer und Schüler, Erwachsenem
Sexualkundeunterricht eingeführt, die Homosexua- und Kind. Die von Pädophilen manchmal vor-
lität wurde nicht mehr unter Strafe gestellt. Zugleich gebrachte Entschuldigung, die Kinder hätten ein-
konnten eine Sexualisierung der Medien und eine gewilligt, kann einen Missbrauch deshalb niemals
Kommerzialisierung der Pornographie beobachtet rechtfertigen.
werden.

Neosexuelle Revolution Seit den 90er-Jahren des 8.6.5 Sexualität in verschiedenen


vorigen Jahrhunderts ereignet sich eher langsam Lebensabschnitten
und weniger spektakulär eine »neosexuelle Revolu-
tion« (Sigusch). Sexualität wird entmystifiziert, gilt Die Sexualität in Pubertät, Adoleszenz und Erwach-
nicht mehr als Weg der gesellschaftlichen Befreiung. senenalter wurde schon in 7 Abschn. 4.8 dargestellt.
Sexuelle Leistungsanforderungen werden wieder
zurückgenommen (die Hälfte der Befragten hat Sexualität im Alter Erst in jüngster Zeit wird der
derzeit seltener als 1-mal pro Woche Geschlechts- Sexualität älterer Frauen und Männer mehr Beach-
verkehr). Werte wie Treue und Abstinenz gewinnen tung geschenkt, war man doch früher der Meinung
– auch unter dem Eindruck der AIDS-Epidemie – gewesen, dass Sexualität im Alter keine Rolle mehr
296 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

spiele. Erst die zunehmende Zahl älterer Menschen, läre Insuffizienz). Auch bei der koronaren Herz-
die bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen krankheit können sexuelle Störungen auftreten. Die
und Erotik und Sexualität als wichtigen Bestandteil Arteriosklerose betrifft nicht nur die Koronararte-
ihrer Lebensqualität betrachten, hat dazu geführt, rien, sondern kann auch die arterielle Blutver-
dass sich die Forschung mehr und mehr für die sorgung der Genitalien vermindern. Viele Herzin-
sexuellen Bedürfnisse und Verhaltensweisen älterer farktpatienten haben jedoch auch Angst, während
Menschen interessiert. Die sexuelle Aktivität im des Geschlechtsverkehrs einen erneuten Herzin-
Alter wird v. a. durch den körperlichen und psy- farkt zu erleiden. Der plötzliche Herztod während
chischen Gesundheitszustand und den Partner- des Geschlechtsverkehrs ist jedoch sehr selten.
schaftsstatus bestimmt. Auch bei chronischer Niereninsuffizienz und Dia-
Durch das Absinken der Androgen- und Östro- lyse sind sexuelle Störungen häufig. Hier spielen
genwerte und die Zunahme möglicher organischer wohl auch endokrine Ursachen eine Rolle. Auch
Störfaktoren (u. a. Gefäßerkrankungen und Neben- Medikamente können die Sexualfunktion beein-
wirkungen von Medikamenten, 7 Abschn. 8.6.6) trächtigen. Erektionsstörungen wurden bei den
werden die somatischen Sexualfunktionen stör- klassischen Betablockern, die zur Behandlung des
anfälliger. Wie groß indessen der Einfluss der alters- hohen Blutdrucks eingesetzt werden, beschrieben.
bedingten hormonellen Veränderungen auf die Bei einer Krebserkrankung können mehrere
sexuelle Erregbarkeit und Aktivität ist, kann nicht Faktoren zusammenkommen, die die Sexualität be-
8 eindeutig geklärt werden. Die häufig zu beobach- einträchtigen: Die vitale Bedrohung lässt Sexualität
tende Abnahme sexueller Aktivität im Alter braucht weniger wichtig werden. Frauen fühlen sich nach
nicht allein Folge endokriner Veränderungen zu einer Mastektomie wegen Brustkrebs häufig sexuell
sein; psychosoziale Faktoren wie Partnerverlust und weniger attraktiv, oder der Partner zieht sich mög-
soziale Isolation sind hier mit zu berücksichtigen. licherweise zurück. Sexuelle Störungen können
Wie verschiedene Untersuchungen gezeigt ha- jedoch auch als unmittelbare Behandlungsfolgen
ben, hängt die sexuelle Aktivität im Alter von der in auftreten, z. B. Schmerzen beim Geschlechtsver-
früheren Jahren praktizierten ab. Im Alter sexuell kehr (Dyspareunie) infolge einer verkürzten und
aktive Menschen waren auch früher sexuell aktiver verengten Vagina nach Operation eines Gebärmut-
als jene, die jetzt ein reduziertes Sexualleben haben. terhalskarzinoms. Beim Mann kann eine radikale
Während in jüngeren Jahren zwischen dem sexu- Entfernung der Prostata (Prostatektomie) wegen
ellen Reaktionszyklus des Mannes und der Frau Prostatakarzinom zum Verlust der Erektionsfähig-
deutliche Unterschiede bestehen, findet im Alter keit führen.
eine gewisse Angleichung im Ablauf der psychi- Auch bei psychischen Störungen kann die Sexu-
schen und physischen Sexualreaktionen statt, inso- alität beeinträchtigt sein. Beispiel: Bei einer Depres-
fern sich der Reaktionszyklus des älter werdenden sion ist das sexuelle Bedürfnis oft vermindert.
Mannes dem der Frau angleicht. Ältere Menschen
sind mit ihrer Sexualität im Allgemeinen nicht we-
niger zufrieden als jüngere. 8.6.7 Sexuelle Störungen:
diagnostische
und therapeutische Ansätze
8.6.6 Sexualität bei organischer
und psychischer Krankheit Störungen der Sexualität sind häufig. Bevor Pa-
tienten einen Psychotherapeuten oder gar eine
Viele Krankheiten, Operationen und Medikamente Spezialambulanz aufsuchen, werden sie zunächst
können die Sexualität beeinträchtigen. Besonders einen Allgemeinarzt, Gynäkologen, Dermatologen
häufig treten Erektionsstörungen oder eine Abnah- oder Internisten konsultieren. Sexualmedizinische
me des sexuellen Verlangens bei der Zuckerkrank- Kenntnisse zu haben, ist deshalb für jeden Arzt von
heit (Diabetes mellitus) auf. Ursachen sind die dia- großer Bedeutung. Bei der Sexualanamnese ist
betische Neuropathie und die Angiopathie (vasku- wichtig, dass der Arzt klare Fragen stellt und ein
8.6 · Sexualmedizin
297 8
eindeutiges Vokabular verwendet. Damit ermutigt langen, einer Störung der für den Geschlechtsakt
er den Patienten, offen und präzise über sein Pro- nötigen physiologischen Reaktionen oder einer
blem zu sprechen. Unfähigkeit, den Orgasmus zu erleben, bestehen.
Im Hinblick auf eine systematische Ordnung dieser
Störungsbilder liegt es nahe, sich an den oben be-
Klassifikation sexueller Störungen
handelten physiologischen Phasen der sexuellen
5 Sexuelle Funktionsstörungen
Reaktion zu orientieren, wobei es sinnvoll ist, die
5 Störungen der Sexualpräferenz (syn. Para-
Vier-Phasen-Struktur durch eine vorgeschaltete
philien, »Perversionen«)
Appetenzphase zu ergänzen (. Tab. 8.1).
5 Störungen der Geschlechtsidentität.
Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion)
sind sehr häufig. 52 % der Männer im Alter von
40–70 Jahren haben zumindest leichtgradige Erek-
Sexuelle Funktionsstörungen Sexuelle Funktions- tionsstörungen. Zur Verursachung können organi-
störungen verhindern eine befriedigende Sexua- sche und psychische Faktoren beitragen (multifakto-
lität. Sie können in einem Mangel an sexuellem Ver- rielle Ätiologie). Oft ist es schwierig, deren Anteil

. Tab. 8.1. Sexuelle Funktionsstörungen, zugeordnet zu den Phasen der physiologischen sexuellen Reaktion

Phase Physiologisch Störungen

Mann Frau Mann Frau

1. Appetenz Erwachen des sexuellen Begeh- Mangel an sexuellem Verlangen (Inappetenz, Alibidimie)
rens (sexuelle Phantasien, Ver-
langen, sich sexuell zu betätigen)

2. Erregung Erektion Vaginale Lubrika- Erektionsstörungen Ausbleiben der Lubrika-


tion und An- (erektile Dysfunktion, Impo- tions-Schwell-Reaktion
schwellen der tentia coeundi)
äußeren Genita-
lien und Brüste

3. Plateauphase Immissio/Koitus Erektionsstörungen Vaginismus (unwillkürliche


(erektile Dysfunktion, Erek- Spasmen im äußeren
tionsverlust während des Drittel der Vaginal- und
Koitus, Impotentia coeundi) Beckenbodenmuskulatur
Dyspareunie (Schmerzen an beim Koitusversuch)
der Eichel) Dyspareunie (Schmerzen
bei zu geringer oder aus-
bleibender Lubrikation)

4. Orgasmus Ejakulation Kontraktion Ejaculatio praecox (vor- Orgasmusstörung


der orgastischen zeitig); Ejaculatio retardata (Anorgasmie)
Manschette (verzögert); Ejaculatio
deficiens (ausbleibend);
Ejakulation ohne Orgasmus-
gefühl

Höhepunkt der sexuellen Lust


unter Lösung sexueller Spannung

5. Entspannung Verlust der Allgemeine


bzw. Rückbildung Erektion, Abschwellung
Refraktärzeit
298 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

genau zu bestimmen. Man findet deshalb in der Li- Einstellungen Ängstigende Einstellungen, wie z. B.
teratur sehr unterschiedliche Angaben über ihre je- Vorstellungen des gleichzeitigen oder mehrfachen
weilige Bedeutung. Beispiele für somatische Ur- Orgasmus, der immer beim Geschlechtsverkehr zu
sachen wurden im 7 Abschn. 8.6.6, »Sexualität bei erreichen sei, oder für die sexuelle Befriedigung des
organischer Krankheit« aufgeführt. Das wichtige dif- Partners verantwortlich zu sein oder die weiter oben
ferenzialdiagnostische Kriterium zur Abgrenzung beschriebenen Mythen können sexuelle Funktions-
gegen eine somatogene Störung ist die »Praktik- störungen begünstigen.
abhängigkeit«. Tritt ein Symptom, wie Erektions-
schwäche oder Anorgasmie, nur beim Koitus auf, Sexuelle Orientierung und Perversion Beispiels-
aber nicht bei der Masturbation, spricht dies für eine weise wird ein eher homosexuell orientierter Mann
Psychogenese. in der Begegnung mit einer Frau keine oder keine
Die folgenden Bereiche psychosozialer Ein- genügende sexuelle Stimulierung erfahren können.
flussfaktoren lassen sich unterscheiden. Pädophile tendieren häufig aus Angst vor einer
emanzipierten Partnerin zum sexuellen Missbrauch
Psychodynamik Bestimmte Konflikte, wie eine un- einer wehrlosen »Kindfrau«, die sie in ihrem Kon-
ausgewogene Polarität zwischen Selbsthingabe und troll- und Machtbedürfnis nicht in Frage stellt. In
Selbstbehauptung, Nähe und Distanz, lösen bei in- einer partnerschaftlichen Beziehung würden sie
timer Annäherung z. B. Angst vor Kontrollverlust »versagen«.
8 aus, die die sexuelle Reaktion beeinträchtigt.
Selbstverstärkungsmechanismus Das erste Auftre-
Inzestphantasie und sexueller Missbrauch Für einen ten eines sexuellen Misserfolgs kann bei gegebe-
Mann kann die Beziehung zu einer Partnerin unbe- ner Selbstunsicherheit Angst vor der nächsten sexu-
wusst eine »Wiederauflage« der infantilen Mutter- ellen Situation erwecken, die dann zu einem erneu-
bindung bedeuten und deshalb die sexuelle Vereini- ten Misserfolg führt. Es kann sich auf diese Weise
gung auf eine neurotische Inzestschranke stoßen. ein Teufelskreis »Misserfolg → Angst → Erwartungs-
Bei einer anderen Partnerin, wie z. B. bei einer Pro- druck → Misserfolg → Angst etc.« im Sinne einer
stituierten, wo dies nicht der Fall ist, ist dann die sich selbst erfüllenden Vorhersage einspielen. Je
sexuelle Reaktion möglich. In der Psychoanalyse ist mehr die sexuelle Reaktion als »Leistung«, als nar-
diese Fehleinstellung unter der Alternative »Heilige zisstische (d. h. den Selbstwert betreffende) Selbst-
oder Hure« bekannt. bestätigung eingesetzt wird, desto größer ist die
Bei Frauen, die als Kind oder Jugendliche sexu- Gefahr dieses Zirkels.
ellem Missbrauch durch Vater oder Stiefvater aus-
gesetzt waren, ist häufig die Integration der sinn- Störungen der Sexualpräferenz (syn. Paraphilien,
lichen und zärtlichen Liebe zur reifen Sexualität »Perversionen«) Wie 7 Abschn. 8.6.4, »Sozialer Wan-
nicht möglich, weil diese Verbindung zu sehr an die del und Sexualität« ausgeführt, sind die Auffassun-
inzestuöse Konstellation erinnert, sexuelles Erleben gen, was als »pervers« anzusehen ist, stark kultur-
deshalb nur da vollziehbar ist, wo keine emotionale und zeitabhängig. Die Paraphilien sind gekennzeich-
Nähe und Abhängigkeit gegeben sind. net durch wiederkehrende, intensive, sexuell drang-
hafte Bedürfnisse, Phantasien oder Verhaltensweisen,
Partnerdynamik Was die Sexualität in besonderem die sich auf ungewöhnliche Objekte, Aktivitäten oder
Maße problemanfällig macht, ist ihre Partnerbezo- Situationen beziehen. Als krankhaft sind sie dann
genheit. Sexuelle Störungen können deshalb part- zu werten, wenn sie in suchtartiges Verhalten um-
nerabhängig sein. Jeder der Partner hat schon seine schlagen, welches das ganze Leben dominiert, so dass
Geschichte, seine Schwächen, die gerade in der se- auf keine andere Weise mehr Lust und Befriedigung
xuellen Begegnung besonders virulent werden kön- gewonnen werden können. In klinisch bedeutsamer
nen. Damit eine sexuelle Begegnung glücken kann, Weise können sie Leiden oder Beeinträchtigungen in
müssen die Partner harmonieren, das Gefühl haben sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funk-
können, in der Beziehung geborgen zu sein. tionsbereichen verursachen.
8.6 · Sexualmedizin
299 8
Helen Singer Kaplan propagiert wurde, durch-
Störungen der Sexualpräferenz gesetzt. Die von Masters und Johnson eingeführte
5 Fetischismus: Gegenstände, wie z. B. Klei- verhaltenstherapeutische Übungsbehandlung, die
dungsstücke, Schuhe, (Fetische) werden in der Regel als Paartherapie durchgeführt wird,
dazu benutzt, um sexuell erregt/befriedigt kann ergänzt werden durch eine psychodynamisch
zu werden. orientierte Therapie, in der Konflikte bearbeitet
5 Fetischistischer Transvestitismus: Tragen werden, die der Störung zugrunde liegen können.
der Kleidung des anderen Geschlechts zum Eine bekannte Technik der Sexualtherapie ist die
Erreichen sexueller Erregung. paradoxe Intervention: Der Therapeut verbietet
5 Exhibitionismus: Entblößung der Ge- dem Paar den sexuellen Verkehr; Zärtlichkeiten
schlechtsteile vor einem unbefangenen und Vorspiel sind jedoch erlaubt. Damit wird die
Fremden in der Öffentlichkeit, meist von Angst zu versagen gemildert. Irgendwann wird das
sexueller Erregung begleitet. Verbot unweigerlich durchbrochen und damit die
5 Voyeurismus: Drang, anderen Menschen sexuelle Störung beseitigt, wenn ihr lediglich eine
bei sexuellen oder intimen Handlungen Versagensangst zugrunde lag. Im Bereich der Se-
zuzusehen, meist von sexueller Erregung xualtherapie besteht ein großes Versorgungsdefizit.
begleitet. Spezialisierte Sexualtherapeuten sind selten. Sexu-
5 Pädophilie: sexuelle Präferenz für Kinder elle Funktionsstörungen können aber auch im Rah-
vor der Pubertät. men einer traditionellen Psychotherapie behandelt
5 Sadomasochismus: sexuelle Aktivitäten werden.
mit Zufügen bzw. Erleiden von Schmerzen Seit der Einführung von Sildenafil (Viagra) im
oder Erniedrigung. Jahre 1998 hat eine zunehmende Medikalisierung
bei der Behandlung männlicher Sexualstörungen
eingesetzt. Die Wirkung von Sildenafil setzt un-
Störung der Geschlechtsidentität Als Störung der gefähr eine Stunde nach Einnahme ein, sexuelle
Geschlechtsidentität gilt v. a. der Transsexualismus. Appetenz und entsprechende Stimulation voraus-
Transsexuelle sind davon überzeugt, sich im »fal- gesetzt. Es wirkt bei organischen und psychischen
schen Körper« zu befinden und eigentlich dem Erektionsstörungen. Zur Behandlung organischer
anderen Geschlecht anzugehören. Sie streben eine Erektionsstörungen stehen weitere pharmakolo-
Geschlechtsumwandlung an (entweder von Frau zu gische und operative Verfahren zur Verfügung. Eine
Mann oder, was häufiger ist, von Mann zur Frau), einseitige »Symptombehandlung« läuft allerdings
die auch unter bestimmten Voraussetzungen hor- Gefahr, eine der Störung zugrunde liegende psychi-
monell und operativ durchgeführt wird. sche Problematik zu vernachlässigen und so keinen
Zu unterscheiden sind Transsexuelle von Trans- durchgreifenden Heilungserfolg zu erzielen.
vestiten. Transvestiten werden von dem Drang
i Vertiefen
ergriffen, die Kleidung des anderen Geschlechts
Sigusch V (Hrsg) (2007) Sexuelle Störungen
heimlich anzulegen oder auch sich in ihr öffentlich
und ihre Behandlung. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart
darzustellen. Viele von ihnen drängen ins Show-
(breit gefasste Darstellung der Entwicklung sexu-
geschäft, in Variétés und Nachtlokale.
eller Störungen und ihrer Behandlung)
Lang H (Hrsg) (2009) Gestörte Sexualität.
Therapie sexueller Störungen Die Therapie sexu-
Königshausen & Neumann, Würzburg (umfas-
eller Störungen bezieht sich ganz vorrangig auf
sende Darstellung von Ursachen, Erscheinungs-
die Therapie der sexuellen Funktionsstörungen,
formen und Therapie von Sexualstörungen)
machen diese doch über 90 % aller sexuellen Stö-
rungen aus. Neben Vermittlung von Wissen und
entsprechender Sexualberatung zur Entkräftung
falscher Vorstellungen (Mythen, 7 Abschn. 8.6.2)
hat sich v. a. ein integratives Konzept, wie es von
300 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

8.7 Tod und Sterben, Trauer solche Wirkungen informiert werden, damit er ge-
gebenenfalls noch wichtige Angelegenheiten regeln
R. Verres und bewusst Abschied nehmen kann, bevor das
nicht mehr möglich ist.
Lernziele Viele Empfindungen gegenüber Sterbenden
Der Leser soll scheinen eine depressive Dynamik zu haben. Man
5 die Ziele der Palliativmedizin benennen können, glaubt, sich des eigenen Lebens nicht mehr freuen
5 Phasenmodelle des Sterbeprozesses kritisch zu dürfen, wenn ein anderer in der Nähe stirbt. Das
bewerten können. daraus oft resultierende maskenhafte Spiel kann
jedoch durch eine ehrliche Aussprache im Team zu-
Es gehört zu den vornehmsten und anspruchvolls- gunsten einer freundlich bleibenden Atmosphäre
ten Aufgaben des Arztes, zu einer »Kultur des Ster- überwunden werden.
bens« beizutragen, in der sich Menschen mit ihren
Ängsten und Hoffnungen aufgehoben fühlen kön- Palliativmedizin Das Wort Palliativmedizin kommt
nen. Dies setzt voraus, dass der Tod nicht grund- von pallium (lat. der Mantel) und bezeichnet einen
sätzlich als Feind angesehen wird, gegen den man »ummantelnden«, umsorgenden Umgang mit dem
bis zum letzten Atemzug des Patienten anzukämp- Patienten, der notwendig wird, wenn die kurative
fen versucht, sondern dass er als das letztendliche Medizin, die an Heilungsversuchen orientiert ist,
8 Ziel, als die Vollendung des menschlichen Lebens ihre Grenzen erreicht hat. Die Weltgesundheits-
gewürdigt wird. Das Begleiten eines Menschen organisation definiert: »Palliativmedizin ist ein An-
beim Erlöschen seines Lebens wird dann als eine satz zur Verbesserung der Lebensqualität von Pa-
positive professionelle Aufgabe angesehen, die – tienten und ihren Familien, die mit den Problemen
auch wenn es vordergründigen Denkschablonen zu konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen
widersprechen scheint – vielfältige Möglichkeiten Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeu-
einer tragfähigen beruflichen Zufriedenheit eröff- gen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges
net. Äußerungen gegenüber Patienten oder Ange- Erkennen, Einschätzen und Behandeln von Schmer-
hörigen wie »Wir können nichts mehr für Sie tun!« zen sowie anderen belastenden Beschwerden kör-
sind grundsätzlich obsolet. perlicher, psychosozialer und spiritueller Art.«
Implizite Normen und Verhaltensstandards
zum bestmöglichen Umgang mit Sterbenden sind
8.7.1 Was ist eine oft an folgenden Idealen orientiert:
»Kultur des Sterbens«? 4 Sterbebegleitung bedeutet, Beschwerden
und Schmerzen auf ein mögliches Minimum
Zu einem würdigen Umgang mit Sterben, Tod und zu reduzieren.
Trauer gehört zunächst einmal, Alltagsroutinen und 4 Alle Sterbebegleiter sind immer an den
»Sachzwänge« zu unterbrechen. Das gemeinsame Bedürfnissen des Sterbenden orientiert.
Innehalten kann wichtiger werden als der übliche 4 Ein Sterbender darf nicht allein gelassen
Aktionismus, der als »Handlungsdruck« erlebt wird werden. Sterbebegleitung bedeutet unbedingte
und persönliche Freiheitsgrade unnötig einschränkt. Nähe zum Sterbenden.
Das Sterben ist nicht immer friedlich und sanft, 4 Sterbebegleitung ist immer fürsorglich und
sondern oft auch unruhig, mit Angst und Leiden liebevoll.
verbunden. Viele Ärzte lassen sich in solchen Situa-
tionen dazu verleiten, neben der Schmerzbekämp- Solche Ideale klingen zwar gut, sie werden aber
fung, die oberste Priorität hat, den Patienten mit meist nahezu frei von allen personellen, ökonomi-
Psychopharmaka »ruhig zu stellen«. Wenn dabei schen und strukturellen Ressourcen aufgestellt und
eine Bewusstseinstrübung, ein »Dahindämmern« dann von Ärzten wie eine zu hoch gehängte Mess-
des Patienten in Kauf genommen wird, sollte der latte empfunden. Unrealistisch formulierte Ideale
Patient möglichst vor diesen Maßnahmen über führen fast zwangsläufig zu Enttäuschungen. Auch
8.7 · Tod und Sterben, Trauer
301 8
die Helfer, vom Arzt bis zum Famulus, haben Ge- Eine Tabuisierung von Gefühlen führt zu überflüs-
fühle und Bedürfnisse, und sie sollten sich auf eine sigen Belastungen der Helfenden.
tragfähige gegenseitige Unterstützungskultur ver-
> Die Gefühle von Ärzten, Pflegenden und An-
lassen können.
gehörigen sind eine ebenso wichtige Realität
Sterbebegleitung geschieht nur selten indivi-
wie die Gefühle des Patienten. Sie sind nicht
dualisiert zwischen 2 Personen, sondern meist eher
als Störfaktoren effektiver Arbeitsabläufe an-
innerhalb eines institutionellen Rahmens. Dieser
zusehen, sondern als vielleicht wichtige Pro-
kann Ausdruck einer durchdachten Philosophie
blemsignale und Quellen der Erkenntnis und
der jeweiligen Institution sein, z. B. in Hospizen,
Entscheidungsfindung. Sie weisen auch auf
die explizit einer bestmöglichen Sterbebegleitung
die Notwendigkeit von Selbstfürsorge hin.
gewidmet sind und entsprechend auch personell
gut ausgestattet sind. Zunehmend wird auch in Daher erfordert der Umgang mit Gefühlen ebenso
normalen Krankenhäusern und in palliativmedi- Zeit und Raum wie die sorgfältige Vorbereitung von
zinischen Einrichtungen versucht, Erfahrungen Infusionen oder Operationen. Genauso wie es un-
aus der Hospizwelt zu nutzen. Interessant ist bei- denkbar ist, dass ein Arzt während des Anlegens
spielsweise die Erkenntnis, dass Helfer in Hospizen eines Venenkatheters ans Telefon geht, sollte es auch
und anderen palliativmedizinischen Einrichtungen selbstverständlich sein, dass Störungen während
deutlich weniger Burn-out-Syndrome aufweisen, wichtiger Gespräche bei lebensgefährlichen Erkran-
obwohl sie täglich mit sterbenden Menschen zu kungen tabu sind. Das gegenseitige Mitteilen von
tun haben. Dies liegt nicht nur an der günstigeren Gefühlen im Team ist nicht als Schwäche, sondern
Personalausstattung mit Einbeziehung freiwilliger als eine Stärke zu bewerten.
Helfer, sondern auch daran, dass die Menschen, Da die Pflegenden den sterbenden Patienten und
die in einem Hospiz mitwirken, eine grundsätzli- seine Angehörigen meist näher kennen lernen, als
che  Entscheidung getroffen haben: Sie wollen das es den Ärzten möglich ist, können neben den offizi-
Sterben begleiten und so gut wie möglich erleich- ellen Besprechungen (z. B. bei der Visite) gerade
tern. Diese Orientierung hat etwas mit Sinngebung auch die vielfältigen »Ad-hoc-Kontakte« zwischen
zu tun. Tür und Angel zu einer guten Beziehungskultur bei-
Da viele Krankenhäuser aber zu einseitig auf tragen. Aus der Summe vieler kurzer Interaktionen
die kurative Medizin eingestellt sind (»Wir bieten ergibt sich ein kontinuierliches Empfinden von Zu-
Ihnen noch einen 10. Chemotherapiezyklus an.«), sammengehörigkeit und gemeinsamer Stärke. Dies
sind Veränderungen zu Gunsten der Palliativmedi- wird zu einer wichtigen Kraftquelle, wenn der Ein-
zin nur möglich, wenn sie offiziell auf die Tagesord- zelne beim Umgang mit Sterbenden Insuffizienzge-
nung gesetzt werden und deutlich als Strukturen, fühle und Versagensängste erlebt.
Verfahren und Regeln erkennbar sind. Das Auftauchen von Seelsorgern oder einem
Konkret bedeutet dies: Es müssen Räume (z. B. psychoonkologischen Konsiliardienst »von außen«
vor Hektik geschützte Sterbezimmer am Ende des wird von Ärzten oft als eine wirksame Entlastung
Flures) und Zeiten (z. B. Übergabebesprechungen empfunden. Es besteht aber das Risiko einer Alibi-
zwischen Pflegenden beim Schichtwechsel) für die funktion von Seelsorgern und Psychotherapeuten.
notwendige Kommunikation organisiert werden. Es Sie werden zuständig für Bereiche und Aufgaben,
ist wichtig, dass die Helfenden auch regelmäßig und für die sich vielleicht kaum jemand im Stations-
»offiziell« über ihre eigenen Gefühle sprechen und dienst verantwortlich fühlt, z. B. das seelische Lei-
ihr Verhalten miteinander absprechen. Dies wirkt den und Trauern. Dabei haben sie aber oft nur eine
entlastend. Burn-out-Syndromen und Krankmel- Gastrolle auf der Krankenstation. Die zeitweilige
dungen von überforderten Ärzten und Pflegenden Präsenz von Seelsorgern und Psychotherapeuten
kann dadurch vorgebeugt werden, dass im Team kann davon ablenken, dass alle Beteiligten gleicher-
auch Zweifel über die Sinnhaftigkeit einer Behand- maßen dafür zuständig sind, eine Kultur des Ster-
lung, die den Patienten trotz aussichtsloser Lage bens zu gestalten. Werden diese Personen aber im
künstlich am Leben hält, offen besprochen werden. Sinne eines interdisziplinären Gesamtkonzepts in
302 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

die täglichen Interaktionen einbezogen, können


sie oft wertvolle Hinweise geben, nicht zuletzt zur überlassen, sondern gemeinsam organisiert,
Frage, inwieweit sich der Sterbende auch mit der z. B. als Workshop zur Selbstfürsorge.
spirituellen Dimension seiner Situation auseinan- 5 Ehrenamtliche Mitarbeiter/innen werden
der setzt. So können Psychologen und Seelsorger integriert und gefördert.
eine wichtige Vermittleraufgabe wahrnehmen. Die 5 Supervision kostet zwar Zeit, kann aber so-
»Psyche« von Patienten darf nicht an »Psychospe- wohl die Klarheit von Entscheidungen (z. B.
zialisten« abgeschoben« werden. als gemeinsamer Konsens zur Beendigung
Zu einer Kultur des Sterbens gehört auch, geeig- lebensverlängernder Maßnahmen) als auch
nete Rituale zu gestalten. In den meisten Kranken- die Berufszufriedenheit fördern.
häusern, vor allem in den Universitätskliniken der
Maximalversorgung, in denen Studierende der
Medizin ausgebildet werden, ist ein würdiges Ab-
schiednehmen von dem Toten oft nicht vorgesehen. 8.7.2 Phasenmodelle
Im Gegenteil: Sobald der Sterbende zur Leiche ge-
worden ist, wird er sanitätshygienisch entsorgt. Die schweizerisch-amerikanische Psychiaterin
Ein zeitweiliges »Bleiben mit dem Toten«, ein Elisabeth Kübler-Ross publizierte im Jahre 1969 ihr
gemeinsamer Abschied (z. B. als Schweigeminute Buch »On Death and Dying« (»Interviews mit
8 oder als Gebet) mit Einbeziehung von Angehörigen Sterbenden«), mit dem sie weltberühmt wurde und
hat etwas mit Sinngebung und Sinnerfüllung zu tun. eine neue Forschungsrichtung begründete, die als
Dies ist auch wichtig für die Identifikation der Kli- »Thanato-Psychologie« bezeichnet wird (griech.
nikmitarbeiter mit ihrer Klinik und ihrem beruf- thanatos, der Tod). Bei der Auswertung von Ge-
lichen Selbstverständnis. Wenn Angehörige vom sprächen mit sterbenden Patienten kam Kübler-
Verstorbenen Abschied nehmen wollen, ist dies Ross zur Schlussfolgerung, dass sterbende Men-
grundsätzlich als ein bedeutsames Element einer schen häufig bestimmte Phasen durchlaufen.
Kultur des Sterbens zu betrachten. Für den Arzt ist es wichtig, zwischen Traurig-
Da die Rahmenbedingungen ärztlichen Han- keit, Trauer und Depression zu unterscheiden
delns im Krankenhaus oft Zeichen impliziter Nor- (7 Abschn. 4.4.8). Von einer Depression im engeren
men und Gewohnheiten sind (z. B. »Wenn jemand Sinne sprechen wir in der Medizin nur dann, wenn
gestorben ist, tun wir möglichst immer so, als sei sich Patienten in lang anhaltender negativer Stim-
nichts gewesen, damit die anderen Patienten nicht mung befinden, unter Interessenverlust, Freud-
beunruhigt werden«), glauben viele junge Ärzte losigkeit und Hoffnungslosigkeit leiden und der
und Pflegende, solche Normen seien feste Konstan- Antrieb stark herabgesetzt ist. Die nachvollziehbare
ten und müssten hingenommen werden. Im Unter- Traurigkeit eines Menschen, der mit den Grenzen
schied zu dieser etwas starren Sichtweise kann es seiner Existenz konfrontiert wird, ist dem gegen-
aber wichtiger sein, Rahmenbedingungen zu ver- über aus heutiger Sicht – im Unterschied zu der
ändern. Dies ist nur gemeinsam möglich. Schematisierung von Elisabeth Kübler-Ross – nicht
mit der psychiatrischen Diagnose einer Depression
gleichzusetzen.
Methoden der Organisationsentwicklung Die Phasenlehre von Elisabeth Kübler-Ross wird
5 Schwierige Entscheidungen werden inter- häufig in einer Weise rezipiert, als ob es sich hierbei
professionell und mit Berücksichtigung um einen regelhaften Ablauf handle. Dies konnte
möglichst vieler Perspektiven getroffen, jedoch empirisch nicht bestätigt werden. In Wirk-
also auch unter Einbeziehung von Schmerz- lichkeit reagiert jeder Mensch auf seine eigene Weise
therapeuten und Pflegenden. auf die Konfrontation mit dem Ende. Wenn die von
5 Eine gegenseitige Unterstützungskultur im Kübler-Ross genannten Phasen des Sterbeprozesses
Team wird nicht der Initiative Einzelner als gesicherte Fakten aufgefasst werden, besteht die
Gefahr, dass man dem einzelnen Menschen nicht
8.7 · Tod und Sterben, Trauer
303 8
gerecht wird. So kann es vorkommen, dass ein Hel-
fer, der diese Phasenlehre wörtlich nimmt, glaubt, 5 Verhandeln: Menschen, die zunächst nicht
der Patient müsse zum Fortschreiten von Phase 3 im Stande sind, die Tatsachen anzuerken-
(Verhandeln) zur Phase 4 (Depression) veranlasst nen und die in der 2. Phase mit Gott und
werden, weil sich sein Zustand so rapide verschlech- der Welt hadern, versuchen vielleicht, das
tere, dass ihm vielleicht nicht mehr genug Zeit bleibe, Unvermeidliche durch eine Art Handel
um Phase 5 (Akzeptieren) zu erreichen. hinauszuschieben: »Wenn Gott beschlossen
Wichtiger ist die grundsätzliche Erkenntnis, hat, uns Menschen von der Erde zu neh-
dass viele unheilbar Erkrankte die Aussicht eines men, und all mein zorniges Flehen ihn nicht
baldigen Todes teils zulassen und teils negieren. umstimmen kann – vielleicht gewährt er
Die Anteile von Akzeptieren und Negation können mir eine freundliche Bitte.« Viele Patienten
phasenweise fluktuieren. Diese Bewusstseinslage feilschen innerlich um einen Aufschub, ver-
bei der Auseinandersetzung mit existenziell be- sprechen Wohlverhalten, in der Hoffnung,
drohlichen Informationen wird als middle know- das Schicksal vielleicht doch noch beein-
ledge bezeichnet. Zwar ist die tödliche Bedrohung flussen zu können.
bereits im Wahrnehmungshorizont des Kranken 5 Depression: Wenn der sterbenskranke
aufgetaucht, sie kann aber noch nicht eingestanden Mensch zunehmend merkt, dass alles Kämp-
werden. Wahrnehmungsabwehr ist nicht patholo- fen nicht mehr wirkt, kann allmählich das
gisch, sondern nachvollziehbar. Gefühl einer schrecklichen Unausweichlich-
Das Phasenmodell von Kübler-Ross ist auch keit entstehen. Das Erleben, weder den
insofern nützlich, als die Bedeutung von Wut und Körper noch die eigene Gedankenwelt unter
Zorn besser verständlich wird. Wenn der Betroffene Kontrolle zu haben, plötzlich aufkommende
mit seinem Schicksal hadert und aggressives Ver- Gefühle nicht mehr beherrschen zu können
halten zeigt, kann sich dies als Kritik und Nör- und einer unsicheren, bedrohten Zukunft
gelei ausdrücken. Für das Personal ergibt sich die ausgesetzt zu sein, kann hilflos und sehr
Schlussfolgerung, Zorn, Wut und Neid eines Patien- traurig machen.
ten nicht zu persönlich zu nehmen, sondern als Zei- 5 Zustimmung: Wenn der Kranke Zeit genug
chen dafür, dass sich der Patient mit seinem bedroh- hat, kann er ein Stadium erreichen, in dem
lichen Zustand auseinanderzusetzen beginnt, sich er sein Schicksal nicht mehr niedergeschla-
dagegen auflehnt und somit die Haltung des Nicht- gen oder zornig hinnimmt. Er konnte seine
wahrhabenwollens überwunden hat. Emotionen aussprechen, auch seinen Neid
auf die Lebenden und Gesunden, seinen
Zorn auf alle, die ihren Tod nicht so nahe
Phasen des Sterbeprozesses vor sich sehen. Diese Phase bedeutet nicht
nach Kübler-Ross ein resigniertes und hoffnungsloses »Auf-
5 Nichtwahrhabenwollen und Isolierung: geben« im Sinne von »Wozu denn auch.«
Die meisten Patienten reagieren auf die Er- oder »Ich kann jetzt nicht mehr kämpfen.«.
kenntnis ihrer bösartigen Erkrankung zu- Diese Phase ist fast frei von Gefühlen. Der
nächst mit Worten wie: »Ich doch nicht, das Schmerz scheint vergangen, der Kampf ist
ist doch gar nicht möglich! Man hat wahr- vorbei, nun kommt die Zeit der »letzten
scheinlich die Röntgenbilder verwechselt!« Ruhe vor der langen Reise«.
5 Zorn: Auf das Nichtwahrhabenwollen fol-
gen häufig Zorn, Groll, Wut, Neid. Dahinter
steht die Frage: »Warum denn gerade ich?« > Wut und Zorn eines Sterbenden sind keine
Dann kann es auch vorkommen, dass der bösartigen Verhaltensweisen, sondern Zei-
Kranke die Ärzte abwertet und Pflegenden chen einer starken emotionalen Belastung.
voller Ärger begegnet. Aggressives Verhalten des sterbenden Patien-
ten kann Ausdruck dafür sein, dass er sich
304 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

zumindest zeitweise als aktiv Handelnder hören, sich auch auf gemeinsame Meditationen
und nicht nur als passiv Erduldender zu füh- zum Thema Sterben und Tod einzulassen. Jeder
len versucht. Arzt muss sich mit der Vergänglichkeit des mensch-
lichen Lebens auseinandersetzen. Diese Auseinan-
dersetzung wird für den Arzt dann hilfreich, wenn
8.7.3 Angst er auch eigene Lebenskrisen und eigene Ängste als
Elemente seines Lebens zu akzeptieren lernt.
Religiosität bedeutet für viele Menschen
eine Möglichkeit zur Bewältigung von Angst und
Häufige Ängste und Sorgen bei Sterbenden
Stress im Angesicht der Bedrohung des Lebens. Vie-
5 Angst vor körperlichem Leiden, z. B. vor
le Ärzte empfinden es jedoch als etwas Fremdes,
Schmerzen während des Sterbeprozesses
sich neben der Behandlung von Krankheiten auch
5 Angst vor Demütigung durch Hilflosigkeit
noch auf Lebensphilosophien oder Religiosität von
und Abhängigkeit von anderen
Patienten einlassen zu sollen. Für den Umgang mit
5 Angst vor dem Verlust der persönlichen
Patienten in existenziellen Grenzsituationen kann
Würde, der sich aus der Abhängigkeit von
dies aber auch für den Arzt erleichternd sein.
anderen ergibt
5 Angst vor Einsamkeit
8 5 Angst, wichtige Ziele aufgeben zu müssen
8.7.5 Trauer
5 Sorge vor den Folgen, die der eigene Tod
für die Angehörigen haben könnte
Trauern bedeutet nicht nur, sich mit dem Fehlen
eines wichtigen Menschen abfinden zu müssen,
Für den Umgang des Arztes mit derartigen Emp- sondern der Prozess der Ablösung kann auch zu
findungen ist es empfehlenswert, diese nicht un- einer neuen Selbstfindung beitragen. Jeder Verlust
bedingt explizit als Angst anzusprechen, sondern kann eine Beeinträchtigung unseres Selbst- und
als verständliche Sorge. Angst wird nämlich oft als Weltverständnisses bedeuten und im Extremfall als
Zeichen persönlicher Schwäche angesehen, für die Identitätskrise erlebt werden, die am Beginn der
man sich schämt und mit der man nicht gern kon- sog. Trauerarbeit steht.
frontiert werden möchte. Sorge ist dem gegenüber Der Prozess des Trauerns beginnt häufig mit
eine Haltung, die man leichter bejahen kann. chaotischen Emotionen, wobei auch Schuldgefühle
eine Rolle spielen können. Appetitlosigkeit, Schlaf-
störungen, Unruhe oder Apathie kommen dabei
8.7.4 Selbsterfahrung vor. Zur Trauerarbeit im engeren Sinne gehören das
des medizinischen Personals bewusste Erinnern und der Versuch, die Bedeutung
des Verstorbenen für das eigene Leben möglichst
Der ungarisch-englische Arzt Michael Balint ent- realistisch einzuordnen. Trauernde neigen manch-
wickelte eine Methode für die ärztliche Fortbildung, mal dazu, den Verstorbenen zunächst zu ideali-
die Gefühle des Arztes als wichtige Hinweise für sieren. Erst am Ende der Trauerarbeit erlebt der
einen angemessenen Umgang mit Patienten ver- Hinterbliebene, dass er wieder Mut bekommt, sich
stehen zu lernen. Balintgruppen haben sich welt- wieder neu auf Beziehungen einzulassen. Manche
weit als Methode etabliert, die Arzt-Patient-Be- Menschen glauben in dieser Phase, sie müssten
ziehung unter Anleitung eines psychoanalytisch eigentlich den seelischen Schmerz behalten, sozu-
geschulten Supervisors anhand von Fallbeispielen sagen als Ersatz für den verstorbenen Menschen,
zu reflektieren (7 Abschn. 5.4.9). und sie kommen sich treulos vor, wenn der Verstor-
Neuere Ansätze versuchen, Ärzten und Pfle- bene allmählich an Wichtigkeit verliert.
genden dabei zu helfen, auch beim Umgang mit Von komplizierter (früher: pathologischer)
existenziell schwierigen Themen wie Sterben und Trauer spricht man, wenn der Trauernde nicht
Tod »Selbstfürsorge« zu sichern. Dazu kann ge- mehr aus seiner Trauer herauskommt. Die seelische
8.7 · Tod und Sterben, Trauer
305 8
Weiterentwicklung stagniert. Komplizierte Trauer 8.7.7 Unheilbar krankes Kind
kommt besonders bei gewaltsamen Todesfällen
vor, bei Tod durch Suizid und bei Mitverschulden In der Kinderheilkunde entwickelt sich ein zuneh-
am Tod eines anderen. Eine solche Art der Trauer mender Konsens zum Umgang mit unheilbar kran-
kann in eine behandlungsbedürftige Depres- ken Kindern. Kinder sollten immer fragen können
sion  einmünden.  Diese Entwicklung kann unter und möglichst verständliche Antworten erhalten.
anderem dadurch vermieden werden, dass der Lügen werden äußerst kritisch bewertet. Eltern
Trauernde allmählich den Mut aufbringt, die emo- oder Kinder sollten zu jeder Tages- und Nachtzeit
tionale Energie, die einst in die Beziehung mit dem den betreuenden Arzt anrufen können bzw. in die
Verstorbenen eingegangen war, nun dort zu inves- Klinik kommen können.
tieren, wo eventuell neue befriedigende Erfahrun- Fast alle Kinder, die um ihren nahenden Tod
gen möglich werden. wissen, haben Phantasien zu einem Leben nach
dem Tod. Durch Malen, Märchen und Metaphern
aller Art können diese Phantasien aufgegriffen und
8.7.6 Altersabhängige auch in eine Form gebracht werden, so dass die da-
Todesvorstellungen mit einhergehenden Ängste in einen gewissen Rah-
men verwiesen werden. Die Eltern brauchen aber
Kinder unter 5 Jahren haben noch kein klares To- häufig mindestens so viel Betreuung wie die Kinder.
deskonzept. Sie verstehen zunächst nur, dass einige Unterstützung bieten auch Selbsthilfegruppen für
Menschen (z. B. alte Leute) sterben müssen, und Eltern, die ein Kind verloren haben.
glauben, der Tod sei vermeidbar (z. B. durch Ver-
steckspiele). Der Tod wird zunächst als vorüber-
gehender Zustand, als Schlaf, wahrgenommen und 8.7.8 Sterbehilfe und Euthanasie
erst später als irreversibel erkannt.
Kinder im Alter von etwa 6–8 Jahren verstehen Als aktive Sterbehilfe bezeichnet man die ab-
allmählich, dass der Tod universell ist, also jeden sichtliche Herbeiführung des Todes auf Verlangen
Menschen trifft, dass er irreversibel ist und dass er des Patienten, bevor der Sterbeprozess irreversibel
Ursachen hat. Erst ab einem Alter von etwa 9 Jahren eingesetzt hat. Außerhalb des deutschsprachigen
ist das kindliche Todeskonzept an das der Erwach- Raumes wird die aktive Sterbehilfe auch als Eutha-
senen angeglichen. nasie bezeichnet (griech. guter Tod). Sie ist in
Kinder brauchen andere Hilfen als Erwachsene, Deutschland nicht zulässig. In diesem Land ist
wenn ein nahestehender Mensch gestorben ist. Da das Wort Euthanasie seit den Massenmorden an
Kinder oft nicht zwischen Realität und Phantasie Kranken während der Nazizeit derart vorbelastet,
unterscheiden können (»Oma ist gestorben, weil ich dass nicht nur der Gebrauch dieses Wortes, sondern
so gemein zu ihr war!«), sollte dem Kind verständ- auch eine liberalere Gesetzgebung zur aktiven
lich gemacht werden, weshalb ein Mensch gestor- Sterbehilfe (als Tötung auf Verlangen) stark umstrit-
ben ist (z. B. durch seine schwere Erkrankung, durch ten ist. In einigen Ländern darf sterbewilligen, un-
Selbstmord). Wenn einem Kind der Anblick des heilbar erkrankten Patienten bei der Selbsttötung
toten Körpers des Verstorbenen vorenthalten wird, geholfen werden (assistierter Suizid). Ein assis-
wirkt dies nicht unbedingt schonend, da die Phan- tierter Suizid kann z. B. so erfolgen, dass dem Kran-
tasie der Kinder grauenhafter sein kann als jede Rea- ken ein Medikament in tödlicher Dosis bereitge-
lität. Kinder sollten grundsätzlich in die Trauerritu- stellt wird, welches der Kranke selbst einnimmt.
ale der Erwachsenen einbezogen werden. Es wird Die Mitwirkung eines Arztes an einer Selbsttötung
allgemein als günstig angesehen, wenn Kinder auch wird von einigen ärztlichen Standesorganisationen
die Gefühle trauernder Eltern miterleben können. (Ärztekammern) als Widerspruch zum ärztlichen
Bei alten Menschen sind Vorstellungen vom Ethos angesehen. Trotz umfassender juristischer
Tod häufig mit Erlösungs- und Jenseitsvorstellun- und politischer Klärungsversuche kommt es häufig
gen verbunden, die angstlindernd wirken. zu Gewissenskonflikten von Ärzten.
306 Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen

Befürworter der aktiven Sterbehilfe und des as- auch darum, der Angst vor der Einsamkeit entgegen
sistierten Suizids führen als Argumente an, es gebe zu wirken.
ein Recht auf den eigenen Tod und auf Selbst-
i Vertiefen
bestimmung bis zuletzt. Gegner stellen den Schutz
Borasio G (2012) Über das Sterben. 5. Aufl.
des Lebens als wichtigste ärztliche Aufgabe und die
Beck, München (Beschreibung von Verhaltens-
Unverfügbarkeit des menschlichen Daseins in den
möglichkeiten am Lebensende)
Vordergrund.
Saalfrank E (2009) Innehalten ist Zeitgewinn –
Als indirekte Sterbehilfe, die nicht strafbar ist,
Praxishilfe zu einer lebendigen Sterbekultur.
bezeichnet man eine Beschwerden lindernde Be-
Lambertus, Freiburg (mit Berücksichtigung der
handlung, die mit der möglichen Nebenfolge ver-
spirituellen Dimension)
bunden ist, dass der Tod des Patienten früher ein-
Student J-C (Hrsg) (2008) Sterben, Tod und
tritt. In diesem Zusammenhang wird häufig das
Trauer. 3. Aufl. Herder, Freiburg (praxisorien-
Beispiel der Schmerztherapie mit Morphinen an-
tierte Hinweise vieler erfahrener Experten)
geführt. Dieses Beispiel bezieht sich nur auf eine
absichtliche eher hohe Dosierung in Absprache mit
dem Patienten oder seinen Bevollmächtigten. Bei
präziser Dosierung von Morphinen wird allerdings
nicht nur Schmerzlinderung erreicht, sondern Pa-
8 tienten mit guter Schmerztherapie leben tatsächlich
länger.
Als passive Sterbehilfe wird der Abbruch oder
das Unterlassen lebenserhaltender Heilbehandlung
verstanden: als Zulassen des natürlichen Sterbens.
Das Beenden von künstlicher Ernährung oder
Beatmung ist erlaubt und sogar geboten, wenn
der Patient, z. B. durch eine schriftliche und mög-
lichst konkrete Patientenverfügung, einen entspre-
chenden Willen erklärt hat. Wird die Beatmungs-
maschine abgestellt, unterdrückt man den Atem-
reflex medikamentös, damit der Patient nicht qual-
voll erstickt. Es besteht keine Behandlungspflicht
des Arztes gegen den Willen des Patienten. Liegt
eine schriftliche Verfügung nicht vor, so muss über
die Angehörigen der mutmaßliche Wille des Pa-
tienten herausgefunden werden. Allerdings besteht
manchmal das Risiko, dass Angehörige eine lebens-
verlängernde Behandlung aus egoistischen Motiven
(die Kosten können das Erbe mindern) ablehnen.
In Deutschland wird die Diskussion über Ster-
behilfe vorwiegend mit dem Ziel geführt, Bedin-
gungen zu schaffen, unter denen die aktive Sterbe-
hilfe oder der assistierte Suizid möglichst nicht
mehr gewünscht werden. Dazu gehört die Förde-
rung der Palliativmedizin. Sterbewünsche können
nämlich Ausdruck einer Depression oder unerträg-
licher Schmerzen sein und verschwinden häufig
wieder, wenn die Depression oder die Schmerzen
adäquat behandelt werden. Ganz besonders geht es
307 9

Patient und Gesundheitssystem


H. Faller, S. Neuderth

9.1 Stadien des Hilfesuchens – 308


H. Faller
9.1.1 Entscheidungsstufen – 308
9.1.2 Verzögertes Hilfesuchen – 310
9.1.3 Determinanten der Inanspruchnahme von Ärzten – 312
9.1.4 Inanspruchnahme komplementärer und alternativer Heilkunde – 312

9.2 Bedarf und Nachfrage – 314


H. Faller
9.2.1 Über-, Unter- und Fehlversorgung – 314
9.2.2 Diskrepanz zwischen Bedarf und Nachfrage – 315
9.2.3 Ungleichheiten der Versorgung – 315
9.2.4 Medikalisierung und iatrogene Einflüsse – 316

9.3 Patientenkarrieren im Versorgungssystem – 316


H. Faller
9.3.1 Primärarztfunktion und ärztliches Überweisungsverhalten – 316
9.3.2 Strukturelle Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems – 317
9.3.3 Gesundheitskosten – 318
9.3.4 Gesetzliche und private Krankenversicherung – 319

9.4 Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen – 320


S. Neuderth
9.4.1 Qualitätssicherung und -management – 321
9.4.2 Methoden zur Sicherung bzw. Optimierung der Qualität – 322
9.4.3 Patientenzufriedenheit
und gesundheitsbezogene Lebensqualität – 322
9.4.4 Qualitätswettbewerb, Kostendruck und organisatorischer Wandel
im Gesundheitswesen – 324

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
308 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Wie findet ein Patient seinen Weg durch die Institu- gemeinbevölkerung, ob sie im Verlauf des letzten
tionen des Gesundheitswesens? Zumeist hat er be- Jahres an Schmerzen gelitten haben, die die Le-
reits eine weite Wegstrecke zurückgelegt, bevor er bensqualität beeinträchtigten, nennen drei Viertel
überhaupt dort ankommt. Manche Patienten mit bis die Hälfte Schmerzen unterschiedlicher Lokali-
Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung zögern die sation: Kopfschmerzen (73 %), Rückenschmerzen
notwendige diagnostische Abklärung zu lange (56 %), Muskelschmerzen (53 %), Gelenkschmer-
hinaus. Andere Menschen sind umgekehrt von der zen (51 %) und Magenschmerzen (46 %). Gleich-
Sorge getrieben, eine bösartige Krankheit in sich zu wohl sind die meisten Deutschen mit ihrer Ge-
tragen, und kommen mit Beschwerden, für die sich sundheit zufrieden. Nur 7 % der Frauen und 6 %
dann keine medizinische Erklärung findet. Bedarf der Männer bewerten ihre Gesundheit als schlecht
und Nachfrage müssen also nicht übereinstimmen. oder sehr schlecht. Daraus kann man zweierlei
Hier hat der Arzt eine wichtige Steuerungsfunktion. schließen:
Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Pa-
> Gesundheit ist nicht gleichbedeutend mit
tient die ihm angemessene, bedarfsgerechte Thera-
Beschwerdefreiheit. Menschen mit Beschwer-
pie erhält. In den letzten Jahren wurden große An-
den suchen deswegen nicht unbedingt einen
strengungen unternommen, um die Qualität der
Arzt auf.
Versorgung im Gesundheitswesen zu verbessern.
Ginge nahezu die gesamte Bevölkerung 1-mal pro
Woche wegen körperlicher Beschwerden zum Haus-
9.1 Stadien des Hilfesuchens arzt, bräche unser Gesundheitssystem zusammen.
9 Es muss also noch mehr passieren, damit ein Mensch
H. Faller wegen neuartiger und unangenehmer Beschwerden
zum Arzt geht. Die einzelnen Schritte in diesem Pro-
Lernziele zess vom Symptom zur Krankheit sind in . Abb. 9.1
Der Leser soll dargestellt.
5 die Häufigkeit körperlicher Beschwerden in der
Allgemeinbevölkerung beschreiben können, Symptomaufmerksamkeit Veränderte Körperemp-
5 die Häufigkeit organischer Ursachen neu auf- findungen können beim Gesunden aufgrund phy-
getretener Beschwerden beschreiben können, siologischer Vorgänge, bei körperlicher Anstrengung
5 Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme aufgrund Trainingsmangel, aber auch durch vorüber-
medizinischer Versorgung nennen können, gehende Infekte, Nahrungsunverträglichkeiten etc.
5 Motive für die Inanspruchnahme alternativer vorkommen. Diese Empfindungen werden meist gar
Medizin nennen können. nicht bewusst wahrgenommen. Das adaptive Un-
bewusste stuft sie als unbedeutend ein. Damit sie be-
wusst werden, ist eine selektive Ausrichtung der Auf-
9.1.1 Entscheidungsstufen merksamkeit auf diese Körperempfindungen erfor-
derlich.
Körperliche Beschwerden in der Allgemeinbevölke- Eine solche Symptomaufmerksamkeit wird unter
rung Wenn man Angehörige der deutschen Allge- bestimmten Umständen gefördert: Sehr intensive
meinbevölkerung danach befragt, ob sie in der letz- (z. B. starker Schmerz) oder auffällige (z. B. Blut im
ten Woche körperliche Beschwerden hatten und Urin) Symptome werden eher wahrgenommen, oder
ihnen eine Liste mit Symptomen vorlegt, kreuzen Bedingungen in der jeweiligen Person wie z. B. eine
96 % mindestens ein belastendes Symptom an. Die ängstliche Stimmung fördern eine erhöhte Symp-
häufigsten Beschwerden in der gesunden Allge- tomaufmerksamkeit. Letzteres trifft insbesondere
meinbevölkerung sind innere Unruhe (33 %), Er- für Menschen mit somatoformen Störungen zu, die
schöpfung (28 %), Kopfschmerzen (24 %), Konzen- ihren Körper im Hinblick auf Beschwerden scannen,
trationsstörungen (24 %) und Schlafstörungen oder auch für Menschen mit körperbezogenen, hy-
(23 %). Fragt man Angehörige der deutschen All- pochondrischen Ängsten, die andauernd überprü-
9.1 · Stadien des Hilfesuchens
309 9

. Abb. 9.1 Entscheidungsstufen vom Symptom zur Krankheit

fen, ob die Anzeichen der von ihnen gefürchteten pressivität und mehr belastende Lebensereignisse
Krankheit festzustellen sind (checking behavior). aufwiesen.
> Es ist nicht allein die Beschwerdesymptomatik
Laienätiologie Ist eine Beschwerdesymptomatik in
als solche, die den Ausschlag dafür gibt, ärzt-
den Fokus der Aufmerksamkeit geraten und wird
liche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern
bewusst wahrgenommen, kann sie immer noch als
die psychische Belastung. Jemand, der ängst-
harmlos und normal bewertet werden (Normali-
lich oder depressiv ist, achtet eher auf seine
sierung). Dann stellt sie keinen Anlass dar, sich Sor-
körperlichen Symptome, macht sich mehr Sor-
gen zu machen oder zum Arzt zu gehen. Wenn ein
gen und geht eher zum Arzt, um Erleichterung
Mensch die Körperbeschwerden aber als Anzeichen
durch die diagnostische Abklärung oder Hilfe
einer schweren Krankheit interpretiert, z. B. als
bei der Bewältigung der Beschwerden zu
Hinweis auf eine Krebserkrankung, macht er sich
finden.
Sorgen und sucht eher einen Arzt auf, um die Be-
schwerden abklären zu lassen. Die Ursachenvor-
stellungen der Symptome (Kausalattribution, Laien- Selbstbehandlung Auch wenn eine Beschwerde-
ätiologie) sind ein Bestandteil der subjektiven symptomatik als Anzeichen einer Krankheit inter-
Krankheitstheorie des Betroffenen. pretiert wird, bedeutet dies nicht unbedingt, des-
wegen gleich einen Arzt aufzusuchen. Viele Betrof-
Emotionale Einflüsse Ob eine Person neu aufge- fene versuchen, die Beschwerden durch Selbst-
tretene Symptome als Anzeichen einer Krankheit behandlung zu beseitigen. Sie schonen sich oder
interpretiert und damit zum Arzt geht, ist auch von benutzen Hausmittel bzw. Medikamente, die sie von
emotionalen Einflüssen wie Stress, Angst oder De- früheren Krankheitsepisoden in der Hausapotheke
pression abhängig. Dies weiß man aus epidemiolo- haben, oder kaufen sich rezeptfreie Arzneimittel.
gischen Untersuchungen, in denen man Patienten,
die an bestimmten körperlichen Beschwerden z. B. Ärztliche Untersuchung Was passiert schließlich,
aus dem Magen-Darm-Bereich (Magenschmerzen, wenn Menschen mit neu aufgetretenen Beschwer-
Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung oder Durch- den in die Arztpraxis kommen? Auch nach aus-
fall) litten, mit Menschen aus der Allgemeinbevöl- führlicher Diagnostik wird nur bei der Minderzahl
kerung verglichen hat, die an denselben Beschwer- eine organische Ursache festgestellt. In einer Studie
den mit derselben Intensität litten, deswegen aber an 3.000 Patienten einer internistischen Poliklinik,
nicht zum Arzt gegangen waren. Beim Vergleich der in der alle neu aufgetretenen körperlichen Be-
Patienten mit den »Nicht-Patienten« stellte man schwerden abgeklärt wurden, fand man nur bei
fest, dass die Patienten höhere Werte von Angst, De- 16 % eine organische Ursache. Bei Brustschmerzen,
310 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Müdigkeit oder Schwindel betrug die Aufklärungs- psychischen Beschwerden nachfragen, werden psy-
quote sogar nur ungefähr 10 %. Sie lag etwas höher chische Störungen im Durchschnitt nur in 50 % der
bei Beschwerden wie Atemnot oder Ödemen (Was- Fälle richtig diagnostiziert und noch viel seltener
seransammlungen in den Beinen), etwas niedriger angemessen behandelt. Beispiel: Von den Patienten,
bei Kopfschmerz, Rückenschmerz, Bauchschmerz die sich wegen Brustschmerzen in einer kardiolo-
oder Schlaflosigkeit. In den meisten Fällen konnte gischen Notfallambulanz vorstellten, hatten 25 %
also keine organische Ursache gefunden werden. eine Panikstörung. Diese Diagnose wurde von den
Die Medizin ist stark an der Behandlung von orga- behandelnden Kardiologen aber so gut wie immer
nischen Krankheiten orientiert. Sie besitzt effektive übersehen. Ein großes Ziel besteht deshalb darin,
Behandlungsmaßnahmen für diejenigen 16 %, bei Ärzten die Kompetenz zu vermitteln, um psychi-
denen etwas gefunden wird. sche Störungen richtig diagnostizieren und behan-
Wenn keine organische Krankheit vorliegt, sind deln zu können. Drei Viertel aller Menschen mit
die Betroffenen meist erleichtert und treten be- psychischen Erkrankungen werden nämlich aus-
ruhigt den Heimweg an. Diese Reaktion ist auch schließlich von Allgemeinärzten und Fachärzten
angemessen, denn nach mehreren Untersuchungen somatischer Gebiete versorgt. nicht bei Spezialisten,
in allgemeinmedizinischen Ambulanzen bessern wie Psychotherapeuten oder Psychiatern. In den
sich zwischen 70 und 80 % neu aufgetretener kör- USA hat ein strukturiertes, umfassendes Behand-
perlicher Beschwerden innerhalb von 2 Wochen lungsprogramm für ältere Menschen mit Depres-
wieder. Von denjenigen Beschwerden, die sich bis sion in der Primärversorgung nicht nur die De-
zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebessert hatten, pression gebessert, sondern auch die Mortalität re-
9 waren 60 % immerhin nach 3 Monaten gebessert. duziert.
Beschwerden haben also im Allgemeinen eine gute
Prognose.
Eine Teilgruppe der Betroffenen ist jedoch nicht 9.1.2 Verzögertes Hilfesuchen
beruhigt, sondern macht sich weiterhin Sorgen.
Diese Patienten haben ein erhöhtes Risiko für die Während manche Menschen ärztliche Behandlung
Entwicklung einer somatoformen Störung. in Anspruch nehmen, obwohl keine organische
Krankheit vorliegt, zögern andere umgekehrt da-
Somatoforme Störung Patienten mit einer soma- mit, den Arzt aufzusuchen, obwohl sie organisch
toformen Störung nehmen die Versicherung ihres krank sind. Diese verzögerte Inanspruchnahme
Arztes nicht an, dass keine schwere Krankheit (delay) hängt ebenfalls mit psychosozialen Einfluss-
vorliegt. Sie sind trotzdem von einer organischen faktoren zusammen. Sie spielt eine große Rolle beim
Verursachung der Beschwerden überzeugt. Wenn Herzinfarkt.
nichts gefunden wird, reagieren sie unzufrieden,
wechseln den Arzt und wollen erneute diagnos- Herzinfarkt Die Letalität des akuten Herzinfarkts
tische Untersuchungen durchgeführt haben, um die beträgt 40 %. Der größte Teil der Sterblichkeit er-
vermutete körperliche Erkrankung doch noch zu eignet sich in der Prähospitalzeit, also bevor die Pa-
entdecken (7 Abschn. 1.3.3). tienten das Krankenhaus erreichen. Wenn die Kran-
ken rechtzeitig in der Klinik ankommen, kann das
Angststörung und Depression Neben der somato- Blutgerinnsel, das das Herzkranzgefäß verstopft,
formen Störung sind auch Angststörungen und de- mittels einer Ballondilatation (PTCA, perkutane
pressive Störungen in der Allgemeinpraxis häufig. transluminale koronare Angioplastie) aufgelöst
Meist schildern die Patienten dem Arzt zuerst oder werden. Außerdem wird der Herzrhythmus über-
sogar ausschließlich ihre körperlichen Beschwer- wacht, um lebensbedrohliche Rhythmusstörungen
den, wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Abge- (Kammerflimmern) zu bekämpfen. Die Prognose
schlagenheit (bei einer Depression) oder Luftnot, ist am besten, wenn die Behandlung innerhalb der
Herzklopfen und Schwindel (bei einer Angststö- 1. Stunde erfolgt (»goldene Stunde«). Die Prähospi-
rung). Weil die Ärzte dann manchmal nicht nach talzeit beträgt jedoch im Durchschnitt 3 Stunden
9.1 · Stadien des Hilfesuchens
311 9
und hat in den letzten Jahren nicht abgenommen. langen Verschleißes seiner Wirbelsäule. Er sei immer
Bei älteren Patienten, Frauen (atypische Symp- gesund gewesen, habe gedacht, er könne Bäume
tome!), Diabetikern oder wenn der Infarkt nachts ausreißen, und nie geglaubt, dass er etwas am Her-
oder am Wochenende eintritt, dauert sie besonders zen haben könnte. Nach dem Wochenende geht er
lange. Drei Viertel dieser Zeit gehen zu Lasten des wieder zur Arbeit, wo der Schmerz wiederkehrt und
Betroffenen, der nicht sofort erkennt, dass er einen schließlich so stark wird, dass er nicht mehr weiter-
Herzinfarkt hat, sondern andere Ursachen in Er- arbeiten kann. Daraufhin sucht er einen Arzt auf, aber
wägung zieht. nur, um eine Spritze gegen den Schmerz zu be-
Auch im folgenden Fallbeispiel wird deutlich, kommen. Im EKG wird jedoch ein Herzinfarkt dia-
wie der Patient versucht, eine harmlose Kausal- gnostiziert. Auf die Frage, was in ihm vorgegangen
attribution seiner Beschwerden zu finden. Da er sei, äußert er: »Todesangst habe ich nicht gehabt,
eine schwere körperliche Tätigkeit ausübt, hält er aber ein Peinlichkeitsgefühl, dass jemand sehen
seine Wirbelsäule für anfällig. Er könnte bei der könnte, wie ich mit der Arbeit aussetzen musste, war
Gartenarbeit eine ungeschickte Bewegung gemacht schon da.« Später berichtet er, dass seine Mutter und
haben, die eine Nerveneinklemmung ausgelöst sein Bruder an einem Herzinfarkt verstorben seien.
haben könnte. Ähnliche verharmlosende Erklärun-
gen für ihre Beschwerden hatten drei Viertel der Verzögerungsgründe Patienten brauchen bei einem
von uns befragten Herzinfarktpatienten vorge- 2. oder 3. Herzinfarkt (Reinfarkt) nicht kürzer als
nommen. beim 1. Mal, bis sie in die Klinik kommen, obwohl sie
Hinzu kommt oft ein Selbstkonzept, das durch die Symptome und ihre eigene Anfälligkeit ja kennen
Stärke und geringe Anfälligkeit für Herzkrankhei- müssten. Nach ihren Gründen für die Verzögerung
ten geprägt ist. 50 % der von uns befragten Herz- befragt, gaben sie folgendes zu Protokoll: Sie glaub-
infarktpatienten argumentierten so oder ähnlich: ten, dass die Symptome nicht ernst genug waren; hiel-
»Ich war immer überzeugt davon, ich hab ein Wun- ten sich für wenig anfällig, weil sie seit dem 1. Infarkt
der wie starkes und gesundes Herz.« gesund gelebt hatten; sie erlebten die erneute Symp-
Auch ein vorübergehendes Nachlassen der Be- tomatik als derjenigen beim 1. Infarkt nicht ähnlich,
schwerden bestärkt den Patienten darin, dass es wollten es einfach nicht glauben, dass es schon wie-
nicht so ernst sein könnte. Erst als die Beschwerden der ein Herzinfarkt ist; oder sie wollten ihren Arzt
wiederkommen, kann er die Ernsthaftigkeit der nicht unnötig belästigen bzw. zögerten in der Nacht
Erkrankung nicht mehr ignorieren. Letztlich war es oder am Wochenende, den Notdienst zu rufen oder
das Verhalten des Arztes, der den Notarztwagen direkt ins Krankenhaus zu gehen. Wenn die Ehefrau
alarmiert, das ihm klar macht, wie ernst es um ihn für sie anrief, hatten sie weniger Schuldgefühle.
steht. Informationskampagnen können die Prähos-
Interessant ist, dass der Patient durch die Vorer- pitalzeit vermindern. Sie reichen allein aber nicht
fahrungen in seiner Familie eigentlich wissen aus. Neben der Information spielt auch die Motiva-
konnte, wie sich ein Herzinfarkt äußert. Möglicher- tion eine entscheidende Rolle. Kognitive (Selbst-
weise war er jedoch durch den Tod von Mutter und konzept), emotionale (Angst, Scham, Schuldge-
Bruder unbewusst so sehr geängstigt, dass er den fühle) und soziale Faktoren (Erreichbarkeit des
Infarkt nicht wahrhaben wollte (Verleugnung). Arztes, Anwesenheit eines Dritten) müssen ebenso
berücksichtigt werden.
Klinik: Herzinfarkt
Ein 50-jähriger Mann, der beruflich eine schwere kör- Krebsfrüherkennung Auch bei Krebserkrankungen
perliche Arbeit ausübt, verspürt bei der Gartenarbeit vergeht oft eine lange Zeit zwischen der Wahr-
plötzlich einen starken Schmerz in Brust und Rücken. nehmung erster Symptome und dem Arztbesuch
Er muss mit jeder Bewegung inne halten, damit der (delay). Wenn Frauen zu große Angst davor haben,
Schmerz wieder nachlässt. Er glaubt zunächst, dass dass der Knoten in der Brust bösartig sein könnte,
sich infolge einer ungeschickten Bewegung »ein verdrängen sie die Angst und warten erst einmal ab.
Nerv eingeklemmt« haben könnte, infolge des jahre- Welche Faktoren delay fördern, ist erst wenig geklärt.
312 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Geringeres Einkommen, eine niedrigere Schulbil-


dung, Fatalismus, ungünstiges Gesundheitsverhal- 5 Erreichbarkeit des Arztes: z. B. Notauf-
ten, mangelnde soziale Unterstützung, ungünstiger nahme am Wochenende.
Bewältigungsstil und mangelnde Information tru- 5 Kosten: Leistungskatalog der Kranken-
gen in einer Studie in den USA zu einer Verzögerung versicherung.
bei. Auch auf ärztlicher Seite kann es zu einer 5 Alter: Anstieg der Inanspruchnahme im
Verzögerung der rechtzeitigen Diagnostik und Alter.
Behandlung kommen. 5 Geschlecht: stärkere Inanspruchnahme bei
Da die Teilnahmerate an Krebsfrüherkennungs- Frauen.
untersuchungen meist sehr gering ist, wurden schon 5 Bildungsstand: mehr Arztkontakte bei
früh psychologische Theorien entwickelt, die die niedrigerem Sozialstatus.
geringe Teilnahmebereitschaft erklären und An- 5 Vorerfahrungen mit Krankheiten und
satzpunkte für Abhilfe finden sollten (z. B. Health- Medizin.
Belief-Modell, 7 Abschn. 10.2.1). Wissen über Krebs, 5 Finanzielle Zuzahlungen: z. B. Praxis-
insbesondere darüber, dass Krebs lange Zeit asymp- gebühr.
tomatisch sein kann, dass es aber frühe Warn- 5 Arbeitsmarkt: niedriger Krankenstand bei
zeichen gibt und Screening die Sterblichkeit ver- hoher Arbeitslosigkeit
mindert, fördert die Teilnahme an Screening-Ver-
fahren (7 Abschn. 10.4.3). Förderlich ist auch die
subjektive Risikowahrnehmung, d. h. die Einschät- Der Versicherungsstatus spielt in Deutschland
9 zung, selbst für Brustkrebs anfällig zu sein. Ein ge- keine große Rolle, weil so gut wie alle Bürger (im
wisses Maß an Angst begünstigt die Teilnahme am Unterschied zu den USA) einen ausreichenden Ver-
Mammographie-Früherkennungsprogramm, aber sicherungsschutz besitzen. Auch die für die Erreich-
die Angst darf nicht zu groß sein. Hinderlich sind barkeit wichtige räumliche Nähe einer Arztpraxis ist
auch wahrgenommene Barrieren wie Zeitaufwand infolge einer relativ hohen Arztdichte meist (noch)
und Kosten. Einen großen Einfluss hat die indivi- gegeben. In ländlichen Regionen ändert sich dies
duelle Empfehlung des Arztes. Auch hier spielen aber derzeit.
neben der Information Fragen der Motivation also
die entscheidende Rolle.
9.1.4 Inanspruchnahme
komplementärer
9.1.3 Determinanten der und alternativer Heilkunde
Inanspruchnahme von Ärzten
Heilverfahren, die üblicherweise nicht während
des Medizinstudiums vermittelt werden, bezeichnet
Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme man als komplementäre oder alternative Medizin.
des Arztes Sie werden von ihren Vertretern gegenüber der
5 Subjektive Gesundheit: der selbst einge- »Schulmedizin« abgegrenzt. Oft sind sie mit einer
schätzte Gesundheitszustand. Dies ist der besonderen therapeutischen Philosophie oder
wichtigste Einzelfaktor. Weltanschauung verbunden (z. B. Homoöpathie,
5 Subjektiv eingeschätzte Ernsthaftigkeit Anthroposophie). Teilweise wurden sie auch aus
der Gesundheitsstörung: z. B. Befürchtung, nichteuropäischen Kulturen übernommen (Aku-
an Krebs erkrankt zu sein. punktur, Ayurveda). Manche dieser in ihrer Vielfalt
5 Emotionale Einflussfaktoren: Angst, kaum zu überschauenden Verfahren haben in
Depression, Stress. Deutschland eine starke Tradition (Naturheilkunde,
5 Einstellung gegenüber Ärzten: arztaffin vs. Homöopathie) und spielen in der Gesundheitsver-
arztmeidend. sorgung eine wichtige Rolle. Der Anteil der Bevöl-
kerung, der schon einmal Naturheilmittel benutzt
9.1 · Stadien des Hilfesuchens
313 9
hat, steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Im beeinflussen (internale Kontrollüberzeugung).
Jahr 2004 haben 75 % der Westdeutschen ange- Auch der Wunsch, die Behandlung ein Stück weit
geben, schon einmal Naturheilmittel verwendet zu selbst in der Hand zu haben, mag eine Rolle spie-
haben. len. In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen, die
3 Monate nach der Operation befragt wurden, wie-
Wirksamkeit Zu immer mehr Methoden aus der sen diejenigen Frauen, die alternative Medizin in
alternativen und komplementären Medizin werden Anspruch nahmen, eine höhere körperliche und
inzwischen randomisierte, kontrollierte Wirksam- psychische Belastung auf.
keitsstudien durchgeführt. Gleichwohl fehlt in vie- Früher dachte man, dass negative Erfahrungen
len Fällen noch immer ein Wirksamkeitsnachweis. mit der »Schulmedizin« oder weltanschauliche Vor-
Es gibt aber prinzipiell keine Hinderungsgründe, eingenommenheiten das Hauptmotiv für die In-
auch diese Verfahren einem Effektivitätsnachweis anspruchnahme alternativer Medizin darstellen.
nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Vielmehr
zu unterziehen. Wer sich über die Wirksamkeit ein- benutzen viele Menschen alternative Verfahren,
zelner Methoden informieren möchte, findet ent- insbesondere Naturheilmittel, als Selbstmedikation
sprechende Studien und Metaanalysen in den Lite- bei Befindlichkeitsstörungen geringerer Intensität
raturdatenbanken (z. B. Cochrane Library). (z. B. bei grippalen Infekten). Auch als Begleit-
Eines der häufigsten alternativen Verfahren ist medikation zusätzlich zu ärztlich verordneten Me-
die auf der traditionellen chinesischen Medizin dikamenten werden »natürliche« Heilmittel einge-
beruhende Akupunktur, deren Effektivität noch setzt. Nur 4 % verwenden ausschließlich Naturheil-
ungeklärt ist. In vielen Studien war eine als Plazebo mittel. Naturheilmittel gelten oft als »sanfte Me-
verwandte Scheinakupunktur, bei der nur ober- dizin«, nebenwirkungsarm und förderlich für die
flächlich und nicht an den richtigen Stellen ge- Selbstheilungskräfte (im Unterschied zu der als ag-
stochen wurde, genauso wirksam wie die echte Aku- gressiv erlebten Pharmakotherapie).
punktur. Johanniskrautöl (engl. St. John’s Wort), Ein Heilpraktiker wird von manchen Menschen
das zur Behandlung einer milden Depression ein- auch deshalb in Anspruch genommen, weil er oft
gesetzt wird, hat sich hingegen laut vielen RCTs mehr Kommunikation und Zuwendung bietet als
(randomized controlled trial, randomisierte kon- ein Allgemeinarzt. Alternative Medizin kann des-
trollierte Studie) und Metaanalysen bei leichten De- halb auch als niederschwelliges Psychotherapiean-
pressionen als ebenso wirksam erwiesen wie phar- gebot genutzt werden, das weniger stigmatisierend
makologische Antidepressiva (SSR, selective sero- erlebt wird als der Besuch beim Psychiater oder
tonin reuptake inhibitor, selektive Serotonin-Wie- Psychotherapeuten.
deraufnahmehemmer).
Ärztliche Gesprächsführung Ärzte müssen davon
Motive für die Inanspruchnahme alternativer Me- ausgehen, dass viele ihrer Patienten, zumal Krebs-
dizin Frauen nehmen alternative Medizin häufiger kranke, an alternativer Medizin interessiert sind
in Anspruch als Männer, Personen mit höherer oder diese nutzen. Es ist deshalb sinnvoll, dieses
Bildung häufiger als solche mit niedrigerer Bildung. Thema offen anzusprechen. Die Patienten fühlen
Meist sind es Menschen, die eine eher hohe Körper- sich dann besser verstanden und brauchen entspre-
sensibilität aufweisen, für die Gesundheit ein hoher chende Aktivitäten nicht vor ihrem Arzt geheim
Wert darstellt und die sich gesundheitsbewusst zu halten. Für den Arzt wiederum ist es wichtig,
verhalten wollen. über alle Behandlungsmaßnahmen, die der Patient
Unter den Kranken sind es häufig Menschen in Anspruch nimmt, Bescheid zu wissen, weil auch
mit chronischen Krankheiten und Krebskranke, Naturheilmittel Nebenwirkungen haben können.
zumal in einem fortgeschrittenen Stadium. Ihr Be- Sie können Interaktionen mit Medikamenten besit-
streben geht oft dahin, nichts unversucht zu lassen zen und so deren Wirksamkeit abschwächen.
und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Wie soll man sich als Arzt verhalten? Liegen für
Krebserkrankung vielleicht doch noch günstig zu ein alternatives Verfahren sowohl Belege für die
314 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Wirksamkeit wie auch die Sicherheit (keine gra- kurzfristig lebensbedrohliche Stoffwechselentglei-
vierenden Nebenwirkungen) vor, kann man es dem sungen und langfristig vermehrte Spätkompli-
Patienten empfehlen. Ist die Wirksamkeit zwar un- kationen wie Erblindung, Niereninsuffizienz oder
geklärt, aber es bestehen keine Hinweise auf po- Fußamputationen zur Folge. Eine Unterversorgung
tenzielle Schädlichkeit, kann man es akzeptieren, besteht auch bei der Diagnostik und Behand-
wenn der Patienten alternative Methoden einsetzt. lung einer  arteriellen Hypertonie. Diese wird nur
Abraten sollte man ihm aber dann, wenn weder die bei ungefähr der Hälfte der Betroffenen auch er-
Wirksamkeit noch die Sicherheit ausreichend be- kannt und selbst dann nicht konsequent genug
legt ist. behandelt. Nach den Ergebnissen eines Gesund-
heitssurveys wiesen lediglich 20 % der antihy-
pertensiv Behandelten therapeutische Blutdruck-
9.2 Bedarf und Nachfrage werte auf.
Unterversorgung besteht auch bei psychischen
H. Faller Störungen. Eine Depression wird bei der Hälfte
der Betroffenen nicht erkannt. Wenn sie diagnosti-
ziert wird, wird sie in den meisten Fällen nicht kon-
Lernziele
sequent behandelt, obwohl wirksame Behandlungs-
Der Leser soll
möglichkeiten (Antidepressiva, Psychotherapie)
5 Bereiche der Unterversorgung nennen
zur Verfügung stehen. Eine psychosoziale Unter-
können.
versorgung, aber somatische Überversorgung fin-
9 det man bei Patienten mit somatoformen Störun-
gen. Sie haben häufig eine Odyssee mit vielen, teil-
weise unnötigen, biomedizinischen diagnostischen
9.2.1 Über-, Unter- und therapeutischen Maßnahmen hinter sich, be-
und Fehlversorgung vor sie fachpsychotherapeutische Hilfe erhalten.
Um diese Patienten zeitnah fachgerecht zu behan-
Man unterscheidet das subjektive Bedürfnis des deln, wäre es erforderlich, dass Psychologen vor Ort
Patienten vom objektiven, expertendefinierten Be- in internistischen Polikliniken tätig sind, damit
darf. Entspricht die medizinische Behandlung nach psychologische Diagnostik als integraler Bestand-
Art und Ausmaß diesem Bedarf, spricht man von teil der medizinischen Versorgung wahrgenommen
bedarfsgerechter Versorgung. wird. Patienten fühlen sich dann nicht »abgescho-
ben« oder stigmatisiert.
Unterversorgung Wegen der Dominanz der akut- Ein Versorgungsdefizit besteht auch im Hin-
medizinischen Versorgung ist unser Gesundheits- blick auf die psychosoziale Unterstützung körper-
system zu wenig an die Bedürfnisse chronisch lich Schwerkranker (z. B. Krebskranker). Die Be-
Kranker angepasst. Rehabilitation, aber auch Prä- dürfnisse Krebskranker im psychologischen Be-
vention kommen zu kurz (7 Kap. 10). Das Angebot reich werden meist nicht ausreichend befriedigt.
von Information und Schulung für Menschen mit Ihre emotionale Belastung wird oft nicht erkannt,
chronischen Krankheiten ist unterentwickelt (7 Ab- psychische Unterstützung zu selten in die Wege
schn. 8.1.3). Dies führt z. B. dazu, dass Asthmapa- geleitet. Dies gilt insbesondere für die stationäre
tienten ihre Medikamente fehlerhaft oder inkon- Akutversorgung, wenngleich sich dies im Rahmen
sequent anwenden, wodurch es zu vermeidbaren der Zertifizierung von Krebszentren in größeren
und kostenträchtigen akuten Exazerbationen (Ver- Krankenhäusern gebessert hat, und die ambulante
schlimmerungen) der Erkrankung kommen kann. Nachsorge.
Der Anteil von Menschen mit Diabetes mellitus, Ein regionales Versorgungsdefizit zeichnet
der eine Patientenschulung durchlaufen hat, ist im- sich für ländliche Regionen, insbesondere in den
mer noch äußerst gering. Die unzureichende Blut- neuen Bundesländern ab, wo die Arztdichte zu ge-
zuckereinstellung nicht geschulter Diabetiker hat ring ist.
9.2 · Bedarf und Nachfrage
315 9
Über- und Fehlversorgung Als Beispiele für Über- Dem versucht die Kassenärztliche Vereinigung
versorgung werden oft die große Zahl von Bypass- durch Niederlassungssperren zu begegnen. Eigent-
Operationen und interventioneller Kardiologie lich könnte eine höhere Ärztedichte gut für die Pa-
(koronare Ballondilatationen: PTCA, PCI) ange- tienten sein, weil Wettbewerb zwischen den Ärzten
führt. Sie weisen in Deutschland eine im interna- zu einer höheren Qualität, z. B. mehr Zeit für den
tionalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Leis- einzelnen Patienten, führen würde. Es gibt jedoch
tungsdichte auf, ohne dass sich dies in entspre- innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung
chend  günstigeren Morbiditäts- und Mortalitäts- kaum Wettbewerb zwischen Ärzten.
raten niederschlägt. Eine Überversorgung liegt auch
hinsichtlich elektiver (nicht notfallmäßiger) Herz- Finanzielle und rechtliche Anreize und Restriktionen
katheteruntersuchungen vor. Als weiteres Beispiel Nachfrage kann auch dann iatrogen induziert wer-
für Überversorgung wird die große Zahl von bild- den, wenn sich Ärzte auf bestimmte technische
gebenden Untersuchungen (Röntgen, CT) bei un- Untersuchungen spezialisieren und zur Auslastung
komplizierten akuten Rückenschmerzen genannt. ihrer Geräte an einer hohen Nutzung interessiert
Als Fehlversorgung können diverse passive sind. Hierbei spielt das Honorarsystem der Kran-
Behandlungsansätze (z. B. Fango, Bettruhe) bei kenversicherung eine wichtige Rolle. Eine Einzel-
akuten Rückenschmerzen gelten, weil diese wenig leistungshonorierung setzte für Ärzte Anreize, so
wirksam und potenziell schädlich sind. viele Leistungen wie möglich zu erbringen. Dem
versuchte die Krankenversicherung entgegenzu-
wirken, indem sie das maximale Honorarvolumen
9.2.2 Diskrepanz zwischen Bedarf begrenzte (Budgetierung). Eine Mengenauswei-
und Nachfrage tung ärztlicher Leistungen kann auch auf Kosten
der Qualität der einzelnen Leistung gehen. Dem
Wenn ein Patient das Bedürfnis für ein bestimmtes wiederum wird durch Maßnahmen der Qualitäts-
Versorgungsangebot verspürt und auch ein Bedarf sicherung und durch Leitlinien entgegenzuwirken
aus Sicht des Arztes vorliegt, muss das noch nicht versucht (7 Abschn. 9.4). Diese und andere Maß-
bedeuten, dass der Patient die entsprechende medi- nahmen hatten jedoch hinsichtlich der Kosten-
zinische Leistung auch nachfragt. Bedarf und Nach- dämpfung immer nur kurzfristige Effekte.
frage können auseinander klaffen. Es gibt einer-
seits  Patienten, die mehr Leistungen in Anspruch
nehmen, als ihrem Bedarf entsprechen würde 9.2.3 Ungleichheiten der Versorgung
(over-utilization), andererseits Patienten, bei denen
dies umgekehrt ist (under-utilization). Patienten Regionale Ungleichheiten Zwischen Stadt und
mit somatoformen Störungen gehören zu den high Land ist die medizinische Versorgung infolge der
utilizern des Gesundheitssystems. Sie nehmen unterschiedlichen Arztdichte sehr ungleich. Fach-
immer wieder diagnostische und therapeutische wie Allgemeinärzte lassen sich gerne in Städten
Maßnahmen in Anspruch, für die eigentlich kein nieder, auf dem Land ist die Arzt-Patienten-Quote
Bedarf besteht. Selbst Operationen werden bei viel ungünstiger, insbesondere in den neuen Bun-
ihnen viel häufiger durchgeführt als bei organisch desländern. Patienten, die auf dem Land leben,
Kranken. Auch im Bereich der chronischen müssen oft weite Wege in die nächste Stadt in Kauf
Rückenschmerzen ist es eine kleine Gruppe von nehmen, wenn sie einen Facharzt besuchen wollen.
Patienten, die den Löwenanteil der Kosten ver- Man findet auch kaum Psychotherapeuten »auf
ursacht. dem flachen Land«, was zu einer gravierenden
Unterversorgung führt.
Angebotsinduzierte Nachfrage Die Nachfrage wird Dem Missverhältnis zwischen dem steigenden
durch ein vorhandenes Angebot gefördert. Deshalb Bedarf an medizinischer Versorgung auf dem Land,
steigt mit zunehmender Arztdichte in einer Region wo im Vergleich zur Stadt mehr älteren Menschen
auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. wohnen, während junge Menschen gerne in die
316 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Stadt ziehen, und der sinkenden Arztdichte, ver- 1. Diagnostizierung organisch Gesunder als
sucht die Gesundheitspolitik mit einem Bündel von krank (Fehler 1. Art). Beispiel: Überinterpre-
Maßnahmen entgegenzuwirken. Dazu gehören u. a. tation eines abweichenden Laborwerts.
Anreize für eine Hausarzttätigkeit auf dem Land, 2. Diagnostizierung eines Kranken als gesund
Förderung der Allgemeinmedizin, Entwicklung (Fehler 2. Art). Beispiel: Fehleinschätzung
sektorenübergreifender Versorgungsmodelle und von Beschwerden als psychosomatisch, die tat-
die Qualifizierung von Pflegeberufen, damit diese sächlich organisch verursacht sind.
mehr Tätigkeiten als bisher übernehmen können.
i Vertiefen
Faller H, Weis J (2005) Bedarf und Akzeptanz
Geschlechtsbezogene Ungleichheiten Auf Unter-
psychosozialer Versorgung. In: Faller H (Hrsg)
schiede der medizinischen Versorgung zwischen
Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen.
Männern und Frauen wurde schon in 7 Abschn.
Thieme, Stuttgart 18–31 (Überblick über Bedürf-
4.9.6 hingewiesen.
nisse, Bedarf, Akzeptanz und Inanspruchnahme
psychischer Unterstützung bei körperlich Kranken)
Soziale Ungleichheiten Da in Deutschland so gut
wie alle Menschen krankenversichert sind, existie-
ren keine wesentlichen sozialen Unterschiede im
Leistungsangebot. Allerdings wird das Angebot un- 9.3 Patientenkarrieren
gleich in Anspruch genommen. Dies gilt insbeson- im Versorgungssystem
dere für Präventionsmaßnahmen, mit geringerer
9 Beteiligung von Menschen mit niedrigerem Sozial- H. Faller
status.
Lernziele
Der Leser soll
9.2.4 Medikalisierung und iatrogene 5 die sektorale Gliederung der Versorgung
Einflüsse beschreiben können,
5 die Prinzipien der gesetzlichen und der privaten
Medikalisierung Wenn Phänomene des normalen, Krankenversicherung beschreiben können.
gesunden Lebens in den Zuständigkeitsbereich der
Medizin gezogen werden, spricht man von Medika-
lisierung. Beispiele: Altern wird mit Anti-Aging- 9.3.1 Primärarztfunktion und ärztliches
Präparaten behandelt, Wechseljahresbeschwerden Überweisungsverhalten
mit Hormonersatztherapie, unerfüllter Kinder-
wunsch mit In-vitro-Fertilisation. Funktion des Hausarztes Der 1. Ansprechpartner
bei Gesundheitsproblemen ist der Hausarzt (Pri-
Iatrogene Einflüsse Einflüsse der Ärzte (iatrogene märarzt). Die meisten Gesundheitsprobleme lassen
Einflüsse) auf die Inanspruchnahme findet man sich auf der Ebene der Primärversorgung lösen.
beispielsweise bei Patienten mit somatoformen Stö- Sind spezielle diagnostische Untersuchungen oder
rungen (Somatisierungsstörung). Diese Patienten Behandlungen notwendig, kann der Hausarzt den
suchen immer neue Ärzte auf, um diagnostische Patienten an einen Facharzt oder eine universitäre
Untersuchungen wiederholen zu lassen. Wenn der Poliklinik überweisen (sekundäre Versorgung).
betreffende Arzt allzu große Angst davor hat, eine Eine wichtige Rolle in der Versorgung chronisch
organische Krankheit zu übersehen, wird er die ge- Kranker spielen spezialisierte Schwerpunktpraxen,
wünschten Wiederholungsuntersuchungen durch- z. B. für Patienten mit Diabetes mellitus. Bei beson-
führen. Auch juristische Restriktionen und die da- ders komplizierten Fällen werden schließlich spe-
mit verbundene Angst vor einem Kunstfehlerpro- zialisierte universitäre Zentren herangezogen (ter-
zess können zu einer Überdiagnostik führen. Dabei tiäre Versorgung). Je mehr ärztliche Spezialisten
können Fehlurteile in 2 Richtungen auftreten: bei einem Krankheitsfall beteiligt sind, umso größer
9.3 · Patientenkarrieren im Versorgungssystem
317 9
sind die Anforderungen an die Kooperation, damit haben direkten Zugang zu mehreren Allgemeinärz-
keine Information verloren geht. Aufgabe des Haus- ten und Fachärzten. Dies bedeutet, dass die Ärzte
arztes ist es, diese Information zu integrieren und Zeit investieren müssen, um ihre Patienten zufrie-
den Behandlungsverlauf zu steuern (Hausarzt als den zu stellen und sie an sich zu binden. Zudem
Lotse). Er soll den Zugang zu Gesundheitsleistun- werden Allgemeinärzte in Belgien und der Schweiz
gen (z. B. Facharztüberweisung) kontrollieren am Ende der Konsultation vom Patienten direkt be-
(Hausarzt als Gatekeeper). Da die Primärversor- zahlt (die Patienten erhalten die Kosten hernach
gung zudem am kostengünstigsten ist, unternimmt von ihren Versicherungen erstattet).
die Gesundheitspolitik in jüngster Zeit vermehrt Großbritannien und die Niederlande, wo die
Anstrengungen, die Rolle des Hausarztes zu stär- Hausärzte als Gatekeeper des Gesundheitssystems
ken. Beispiele: Ein Patient erhält von seiner Kran- fungieren, eine feste Anzahl von Patienten pro Wo-
kenkasse einen Bonus, wenn er immer zuerst den che versorgen und per Patient (nicht per Leistung)
Hausarzt statt direkt einen Facharzt aufsucht (sog. bezahlt werden, lagen hinsichtlich der Konsulta-
Hausarztmodell). Ziel der Hausarztmodelle ist es, tionszeit im mittleren Bereich.
die Zahl der Facharztbesuche zu reduzieren. Dieses
Ziel wurde bislang allerdings nicht erreicht.
Während in Deutschland noch freie Arztwahl 9.3.2 Strukturelle Besonderheiten des
herrscht, gibt es in den Niederlanden gesetzlich ge- deutschen Gesundheitssystems
regelte Zugangsbeschränkungen zu medizinischen
Leistungen. Dort ist für über 95 % der Patienten Das deutsche Gesundheitssystem ist stark sektoral
die Praxis des Allgemeinarztes 1. Anlaufstelle (in gegliedert. Die unterschiedlichen Sektoren der
Deutschland 69 %). In Deutschland liegt zwar der Versorgung werden vom Patienten der Reihe nach
Anteil derjenigen Patienten, die mindestens einen durchlaufen (Patientenkarriere): ambulante Ver-
weiteren Arzt aufsuchten, höher als in den Nieder- sorgung (Praxis eines niedergelassenen Arztes), sta-
landen, in den Niederlanden jedoch die Zahl der tionäre Versorgung (Krankenhaus), Rehabilitation
Krankenhauseinweisungen. Zudem ist der Anteil (stationäre oder ambulante Rehabilitationsein-
von Patienten mit psychischen Störungen, die keine richtung), wieder zurück in die ambulante Versor-
spezifische Behandlung erhalten, in den Nieder- gung usw. Dieses System ist für den Patienten oft
landen nahezu doppelt so hoch wie in Deutschland. nicht durchschaubar, weil sich Zugangswege und
Fazit: Der reduzierte therapeutische Einsatz kann finanzielle Trägerschaft unterscheiden. Während er
zwar die Kosten verringern, aber auch Nachteile für einen niedergelassenen Allgemeinarzt oder Fach-
die Patienten mit sich bringen. arzt von sich aus aufsuchen kann, muss eine statio-
näre Behandlung bei Mitgliedern der gesetzlichen
Konsultationsdauer und Honorarsystem Eine Kon- Krankenversicherung vom Arzt verordnet werden.
sultation beim Primärarzt dauerte in einer europa- Ambulante und stationäre Versorgung werden von
weiten Studie im Durchschnitt 10,7 min. Deutsch- der Krankenversicherung (gesetzlich oder privat)
land (7,6 min) und Spanien (7,8 min) hatten die bezahlt.
kürzesten, Belgien (15,0 min) und die Schweiz Stationäre Behandlungen sind teuer. Die Kos-
(15,6 min) die längsten Konsultationen. Diese Un- ten für stationäre Behandlungen sind zudem in den
terschiede lassen sich durch die Honorarsysteme letzten Jahren am stärksten angestiegen. Zwar wird
der Länder erklären. In Deutschland, wo Ärzte nach als Folge pauschalierter Vergütungssysteme (DRGs,
der Zahl der Leistungen bezahlt wurden (Einzel- Diagnosis Related Groups, diagnosebezogene Fall-
leistungsgebühr), hatten Allgemeinärzte im Durch- gruppen) die Verweildauer der Patienten im Kran-
schnitt mehr als 200 Patientenkontakte pro Woche. kenhaus immer kürzer; aber die Zahl der Behand-
Dies schlug sich in kürzeren Konsultationszeiten lungsfälle steigt. Deshalb zielen gesundheitspoliti-
nieder. sche Bemühungen darauf ab, stationäre Behandlun-
In Belgien und der Schweiz arbeiten Allge- gen zu vermeiden, indem Gesundheitsleistungen in
meinärzte in einem offenen Markt. Die Patienten das ambulante Setting verlagert werden. Infolgedes-
318 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

sen sinkt die Zahl der Krankenhäuser und der Kran- die Kosten nicht überproportional gestiegen. Der
kenhausbetten. Durch die verkürzten Liegezeiten im Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlands-
Akutkrankenhaus kommen zunehmend schwerer produkt lag in den letzten Jahren zwischen 10,1 %
Kranke in die medizinische Rehabilitation. und 10,8 %. Damit liegt Deutschland im internatio-
Finanzieller Träger der medizinischen Reha- nalen Vergleich im oberen Drittel. Insgesamt lässt
bilitation ist bei erwerbstätigen Menschen die Ren- sich die Ausgabenhöhe durch die umfassende me-
tenversicherung, bei Rentnern die Krankenver- dizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerung
sicherung. Um eine Reha-Maßnahme zu erhalten, ohne (derzeit noch) längere Wartezeiten rechtferti-
muss der Patient einen Antrag stellen, der vom zu- gen. Zudem ist das Gesundheitswesen ein wichtiger
ständigen Träger bewilligt werden muss. Wirtschaftssektor, in welchem jeder 9. Beschäftigte
tätig ist.
Schnittstellenproblematik Wegen der starken sek-
toralen Gliederung kommt es zwischen den ein- Priorisierung Angesichts knapper Ressourcen, d. h.
zelnen Sektoren zu Schnittstellenproblemen, z. B. begrenzter Finanzierungsmöglichkeiten, muss fest-
bei der Weitergabe von Informationen. Hausärzte gelegt werden, welche medizinischen Maßnahmen
beklagen sich, dass sie oft erst spät nach der Ent- Priorität haben. Eine Möglichkeit, wie sie z. B. in
lassung eines Patienten aus dem Krankenhaus oder Schweden schon praktiziert wird, ist die Priorisie-
einer Reha-Klinik einen Arztbrief erhalten, in dem rung nach dem medizinischen Bedarf. In diesem
die durchgeführten diagnostischen und therapeu- Modell steht an der Spitze die Versorgung von un-
tischen Maßnahmen und Empfehlungen für die mittelbar lebensbedrohlichen Erkrankungen sowie
9 Weiterbehandlung enthalten sind. Diese Schnitt- Erkrankungen, die unbehandelt zu permanenter
stellenproblematik ist vor allem bei chronisch Kran- Behinderung oder vorzeitigem Tod führen würden.
ken ausgeprägt, weil diese im Verlauf ihrer Krank- Dann folgen die Versorgung von schweren chroni-
heit die einzelnen Sektoren meist mehrfach durch- schen Erkrankungen, die palliative Versorgung und
laufen. Modelle der integrierten Versorgung, in diejenige von Menschen mit eingeschränkter Auto-
denen z. B. Akutkliniken, Reha-Kliniken und Arzt- nomie. Danach rangieren Prävention und Rehabi-
praxen zusammenarbeiten, sollen die Schnittstel- litation und schließlich weniger schwere akute und
lenprobleme vermindern (7 Abschn. 5.1.4). chronische Erkrankungen. Maßgeblich sind also
Schwere und Gefährlichkeit des Krankheitszu-
stands, Nutzen- und Schadenspotenziale, ökonomi-
9.3.3 Gesundheitskosten sche Effizienz sowie die Evidenzlage. Keine Rolle
spielten bei der Prioritätenfestlegung Inzidenz
Unterteilt man die Gesundheitsausgaben nach Leis- und Prävalenz der Krankheit, Alter, sozialer Status
tungsarten, so stehen ärztliche Leistungen (27 %), oder Lebensstil. Aus der Priorisierung können Be-
Waren, d. h. Arzneimittel etc. (27 %) und pflegerisch/ handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Sie darf
therapeutische Leistungen (24 %) mit ungefähr nicht mit Rationierung gleichgesetzt werden.
gleich großen Anteilen an der Spitze (Stand 2006;
Robert-Koch-Institut 2009). Bei der Einteilung nach Rationierung Wenn medizinische Maßnahmen,
Einrichtungen liegen ambulante (48 %) vor statio- z. B. neue Medikamente, mit der Begründung, dass
nären/teilstationären Einrichtungen (37 %). die zusätzlichen Kosten in keinem angemesse-
Die Gesundheitskosten steigen in Deutsch- nen  Verhältnis zum zusätzlichen Nutzen stehen,
land kontinuierlich an. Hierzu tragen der medizi- von der Finanzierung in der gesetzlichen Kranken-
nisch-technische Fortschritt, aber auch fehlende versicherung ausgeschlossen werden, handelt es
Wirtschaftlichkeitsanreize bei. Die Pro-Kopf-Aus- sich um Rationierung. Rationierungsentscheidun-
gaben stiegen allerdings weniger als in anderen gen sind gesundheitspolitische Entscheidungen,
Ländern (Deutschland liegt hier im Mittelfeld der die nicht von der Wissenschaft getroffen werden
OECD-Staaten), was auf Effizienzgewinne verweist. können, sondern eine demokratische Legitimation
Auch im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt sind benötigen.
9.3 · Patientenkarrieren im Versorgungssystem
319 9
9.3.4 Gesetzliche und private Anspruch genommen haben, weil die Leistung
Krankenversicherung direkt von der Krankenkasse über die Kassenärzt-
lichen Vereinigungen an den Arzt honoriert wird.
Die Art der Krankenversicherung setzt finanzielle Dadurch wird die finanzielle Verantwortung des
und rechtliche Anreize, die die Nachfrage nach Ge- Patienten für sein Handeln untergraben.
sundheitsleistungen steuern. In Deutschland sind Damit keine der gesetzlichen Krankenkassen im
90 % der Patienten bei gesetzlichen Krankenkassen Wettbewerb benachteiligt ist, weil sie viele ein-
(z. B. Allgemeine Ortskrankenkassen, Betriebs- kommensschwächere, ältere oder chronisch kranke
krankenkassen, Ersatzkassen) und 10 % bei pri- Versicherte versorgt, erfolgt zwischen den Kassen
vaten Krankenversicherungen versichert. Die pri- ein entsprechender finanzieller Ausgleich (Risiko-
vate Krankenversicherung trägt jedoch über 20 % strukturausgleich).
der Kosten des Gesundheitssystems.
Äquivalenzprinzip In der privaten Krankenver-
Solidarprinzip In der gesetzlichen Krankenver- sicherung gilt das Äquivalenzprinzip: Die Versiche-
sicherung gilt das Solidarprinzip: Jeder bezahlt nach rungsprämie richtet sich nach dem versicherten
seiner Leistungskraft einkommensabhängige Bei- Risiko, d. h. dem voraussichtlichen Bedarf. Der Ver-
träge, erhält aber je nach seinem Bedarf beitrags- sicherungsanspruch besteht dann für den versicher-
unabhängige Leistungen. Die Leistungen werden ten tatsächlichen Bedarf.
also nicht wie bei einer echten Versicherung nach Private Krankenversicherungen funktionieren
dem Schadensrisiko kalkuliert. Die Solidarität be- nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Dabei wird
zieht sich auf die Umverteilung von den einkom- ein Kapitalstock gebildet, der die zu erwartenden
mensstärkeren zu den einkommensschwächeren Kosten abdeckt. Altersrückstellungen während der
Personen. (Eine Solidarität zwischen Gesunden und jüngeren, gesunden Lebensjahre ermöglichen es,
Kranken bzw. Jungen und Alten gibt es auch in der die Prämien trotz höherer Krankheitskosten im
privaten Krankenversicherung.) Eine Gefahr des Alter möglichst konstant zu halten.
Solidarprinzips besteht darin, dass sie die Motiva- Private Krankenversicherungen arbeiten nach
tion zur Eigenvorsorge untergräbt, da andere für die dem Kostenerstattungsprinzip. Der Patient tritt
eigene Krankheit bezahlen. gegenüber dem Arzt in Vorleistung und erhält seine
Die gesetzliche Krankenversicherung funktio- Kosten von der Versicherung erstattet. Der Vorteil
niert nach dem Umlageverfahren, d. h. die Beiträge dieses Verfahrens liegt in der Transparenz der
werden unmittelbar wieder ausgegeben. Ein Nach- Kosten. Der Patient sieht auf der Arztrechnung, wie
teil dieses Verfahrens ist, dass bei guter Einnahme- teuer die Leistungen sind, die er in Anspruch ge-
lage kein Kapitalstock für schlechte Zeiten gebildet, nommen hat. Nur wenn er den Preis kennt, kann er
sondern der Leistungskatalog ausgeweitet wurde. entsprechend seine Nachfrage lenken.
Diese Ausweitung konnte in schlechten Zeiten nur
schwer wieder rückgängig gemacht werden (»Sozial- Verfehlte Anreizstrukturen Infolge der Preisunab-
abbau!«). Dadurch geriet die gesetzliche Kranken- hängigkeit der Nachfrage nach Gesundheitsleistun-
versicherung in Defizite, die Beitragserhöhungen gen in der gesetzlichen Krankenversicherung hat es
notwendig machten. Diese ließen wiederum die den Anschein, als würden Gesundheitsleistungen
Lohnnebenkosten ansteigen, so dass Arbeitsplätze kostenlos, zum Nulltarif, zur Verfügung gestellt wer-
abgebaut wurden. Die gesetzlichen Krankenver- den, so als wären es unbegrenzt verfügbare Güter
sicherungen sind Krankheitskostenvollversicherun- oder Dienstleistungen, nicht knappe Ressourcen.
gen. Es können keine Leistungen je nach Präferenz Dies verleitet dazu, diese Güter über Gebühr in An-
der Versicherten ausgeschlossen werden. spruch zu nehmen (moral hazard). Dabei handelt
Die Finanzierung erfolgt nach dem Sachleis- der Einzelne durchaus rational, indem er möglichst
tungsprinzip. Dies hat den Nachteil einer man- viele und teure Gesundheitsleistungen in Anspruch
gelnden Transparenz: Die Patienten erfahren in der nimmt. Er muss sie ja nicht bezahlen. Gesellschaft-
Regel nicht, wie teuer die Leistung war, die sie in lich betrachtet, kann dies aber zu Verschwendung
320 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

führen. Durch Solidarprinzip und Sachleistungs- deutlicher niedriger als in Deutschland. Deshalb
prinzip wird der Nutzen individualisiert, die Kosten reichen im National Health Service die Finanzmittel
werden kollektiviert. nicht aus, so dass wichtige Gesundheitsgüter ratio-
niert werden müssen, mit der Folge von beispiels-
Reformempfehlungen Schon innerhalb des beste- weise langen Wartezeiten für elektive (nicht dring-
henden Gesundheitssystems wird versucht, diesen liche) Operationen wie Hüftgelenksersatz oder
Fehlentwicklungen durch eine höhere Selbstbe- Altersgrenzen für lebenserhaltende Behandlungs-
teiligung und Schadensfreiheitsrabatte zu begeg- maßnahmen wie die Hämodialyse bei chronisch
nen. Weitergehende Reformvorschläge empfehlen Nierenkranken. Deshalb hat sich in Ländern mit
eine Unterscheidung von Regelleistungen und staatlichem Gesundheitssystem ein paralleler zwei-
Wahlleistungen. ter Markt für Gesundheitsleistungen entwickelt. In
Ein definierter Katalog von Regelleistungen den USA ist die Medizin zwar kundenorientierter
deckt existenzbedrohende Risiken ab. Er muss von als in den staatlich organisierten Systemen. Aller-
jeder Versicherung angeboten werden. Es bestehen dings sind dort viele Menschen nicht ausreichend
Kontrahierungszwang und Diskriminierungsver- krankenversichert, so dass sie sich teure medizini-
bot, d. h. die Versicherungen müssen jeden Interes- sche Maßnahmen nicht leisten können. In den letz-
senten annehmen. Bagatellleistungen müssten hin- ten Jahren haben in den USA Managed-Care-Sys-
gegen selbst bezahlt werden. Wenn die Krankheits- teme, in denen die Autonomie der Patienten und
ursachen durch den Patienten beeinflussbar sind, der Ärzte deutlich eingeschränkt wird, an Bedeu-
sollte die entsprechende Krankheit nicht vollständig tung zugenommen (7 Abschn. 9.4.4).
9 in die Regelleistung übernommen, sondern auch
i Vertiefen
der Eigenvorsorge anheimgestellt werden.
Oberender P, Zerth J (2010) Wachstumsmarkt
Für die Wahlleistungen wird eine Entstaat-
Gesundheit. 3. Aufl. Lucius & Lucius, Stuttgart
lichung und Deregulierung der Krankenversiche-
(umfassende Analyse der Probleme unseres Ge-
rung vorgeschlagen. Es sollte stärker der Eigenver-
sundheitssystems mit Reformvorschlägen)
antwortung der Menschen überlassen werden, wofür
Robert-Koch-Institut (Hrsg) (2009) Ausgaben
sie sich versichern wollen und wofür nicht. In diesem
und Finanzierung des Gesundheitswesens.
Bereich bestünde Wahlfreiheit. Unterschiedliche
Gesundheitsberichtserstattung des Bundes,
Krankenversicherungen könnten miteinander in
Heft 45. Robert-Koch-Institut, Berlin (nicht
Wettbewerb treten, um Marktmechanismen und
mehr ganz aktuelle Zahlen zu den Gesundheits-
Wachstumspotentiale zum Vorteil aller freizusetzen.
ausgaben)

Andere Finanzierungsmodelle Neben dem deut-


schen Modell (Bismarck-Modell) gibt es noch an-
dere Modelle der Finanzierung der Gesundheits- 9.4 Qualitätsmanagement
versorgung: aus allgemeinen Steuern (Semaschko- im Gesundheitswesen
Modell; ehemalige Sowjetunion, DDR), aus zweck-
gebundenen Steuern (Beveridge-Modell; National S. Neuderth
Health Service in Großbritannien) oder in bedeut-
samem Maße aus privaten Mitteln der Patienten Lernziele
(Markt-Modell; USA). Diese Modelle haben jeweils Der Leser soll
spezifische Nachteile. Im Semaschko-Modell war 5 die 3 Dimensionen der Qualität definieren
das Gesundheitsbudget vom wechselnden Steuer- können,
aufkommen und politischen Entscheidungen ab- 5 Maßnahmen der externen und internen
hängig. Weil die Ärzte als staatliche Angestellte we- Qualitätssicherung beschreiben können.
nige Anreize hatten, waren sie oft nicht motiviert,
ihre Patienten gut zu betreuen. In Großbritannien Patienten wie auch Kostenträger von Gesundheits-
sind die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung leistungen erwarten eine qualitativ hochwertige
9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
321 9
medizinische Versorgung. Behandlungsmaßnah- (z. B. bezüglich der Vorgabe und Einhaltung von
men sollen nachgewiesenermaßen wirksam sein Standards) einer außenstehenden Institution, die,
(evidenzbasierte Medizin, 7 Abschn. 3.8.3). Ent- wenn nötig, auch Maßnahmen ergreift, um Quali-
scheidungen von Ärzten und anderen an der Ge- tätsmängel zu beseitigen. Dies können Vorgaben
sundheitsversorgung beteiligten Berufsgruppen von Krankenkassen und anderen Kostenträgern
sollen transparent und nachvollziehbar sein. bezüglich bestimmter struktureller Anforderungen
sein (z. B. Personalschlüssel) oder auch Vorgaben,
die unmittelbar die Behandlung der Patienten be-
9.4.1 Qualitätssicherung treffen (z. B. Leitlinien).
und -management
Interne Qualitätssicherung Unter interner Quali-
Qualität im Gesundheitswesen kann definiert wer- tätssicherung werden Bemühungen der Leistungs-
den als das Ausmaß, in dem Gesundheitsleistungen erbringer selbst (z. B. Arztpraxen, Kliniken) ver-
die Wahrscheinlichkeit gewünschter gesundheitli- standen. Dies können beispielsweise Zufrieden-
cher Behandlungsergebnisse erhöhen und mit dem heitsbefragungen von Patienten und Mitarbeitern
gegenwärtigen professionellen Wissensstand über- sein, kontinuierliches Monitoring des Therapie-
einstimmen (evidenzbasierte Medizin, 7 Abschn. erfolgs, Qualitätszirkel (7 Abschn. 9.4.2) oder auch
3.8.3). Gute Qualität lässt sich als wirksame, bedarfs- Supervision. In diesem Zusammenhang wird insbe-
gerechte, fachlich qualifizierte, aber auch wirtschaft- sondere auch häufig der Begriff Qualitätsmanage-
liche Leistungserbringung beschreiben. ment gebraucht.
Interne und externe Maßnahmen ergänzen ein-
ander: Interne Maßnahmen sind notwendig, um
Dimensionen der Qualität
Probleme vor Ort zu klären und unter Mitwirkung
5 Strukturqualität: Voraussetzungen und
der Betroffenen zu lösen, während externe Maß-
Rahmenbedingungen einer Leistung. Bei-
nahmen der Kostenträger dazu dienen, ihrer Ver-
spiele: personelle, räumliche und tech-
antwortung für die Sicherstellung einer effektiven
nische Ausstattung eines Krankenhauses.
und effizienten Leistungserbringung gerecht zu
5 Prozessqualität: Anforderungen an den Ab-
werden. Ein vorrangiges Ziel von Qualitätssiche-
lauf einer Leistung. Beispiele: eine bestimm-
rung ist es immer, Abläufe transparent und damit
te Mindestanzahl von Therapieeinheiten
auch überprüfbar bzw. korrigierbar zu machen.
pro Patient; Einsatz von Behandlungsme-
Behandlungsfehler gehen meist auf eine fehlende
thoden, für die wissenschaftliche Evidenz
Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren
besteht; leitliniengerechte Behandlung,
zurück, also eine mangelhafte Prozessqualität.
Behandlungspfade.
Behandlungspfade (clinical pathways), in denen
5 Ergebnisqualität: Güte des Ergebnisses
für jedes Krankheitsbild die diagnostischen und
einer Leistung. Beispiel: Verbesserung des
therapeutischen Maßnahmen und Abläufe genau
Gesundheitszustandes oder der Lebens-
festgelegt sind, sollen hier Abhilfe schaffen.
qualität von Patienten.

Konflikte Qualitätssicherung ist notwendig, um


Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement eine hochwertige Versorgung zu gewährleisten.
beschreiben das Bemühen, die Versorgungsrealität Dennoch kann es zu Konflikten kommen. Beispiels-
mit Blick auf einen als optimal angenommenen weise können sich Ärzte oder Kliniken durch ex-
Sollwert oder Standard zu verbessern. Die Begriffe terne Qualitätssicherungsprogramme kontrolliert
Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement wer- fühlen, wenn von Seiten des Kostenträgers struk-
den häufig synonym gebraucht. turelle Anforderungen überprüft oder Patienten zu
ihrer Behandlung befragt werden. Auch internes
Externe Qualitätssicherung Bei der externen Qua- Qualitätsmanagement birgt Konfliktpotenziale.
litätssicherung unterliegt die Qualitätskontrolle Insbesondere bei der Einführung entsprechender
322 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

Maßnahmen entsteht für die Betroffenen häufig stationären medizinischen Rehabilitation beispiels-
zusätzlicher Arbeitsaufwand, beispielsweise, wenn weise begutachten Ärzte die Behandlungsunter-
die eigene Arbeit dokumentiert werden muss oder lagen (Entlassungsberichte, Therapiepläne) von
Mitarbeiter zur Qualitätszirkelarbeit »überredet« Fachkollegen im Hinblick auf mögliche Qualitäts-
werden. mängel im Behandlungsprozess. Die Begutachtung
Besteht in einer Einrichtung keine Akzeptanz erfolgt anonym, die Ergebnisse werden der begut-
bezüglich der Qualitätssicherungsmaßnahmen, so achteten Klinik zurückgemeldet, mit dem Ziel, eine
kann es zu Datenverfälschungen (»geschönte An- Qualitätsverbesserung in der Einrichtung anzu-
gaben«) und letztendlich zum Scheitern der Qua- regen.
litätsbemühungen kommen. Um diese Situation zu
vermeiden, ist es unerlässlich, die betroffenen Per- Qualitätszirkel Qualitätszirkel stellen ein geläufiges
sonen frühzeitig in die Konzeption von Qualitäts- Element der internen Qualitätssicherung dar. Hier-
sicherungsmaßnahmen einzubeziehen. Auf diese bei handelt es sich um eine überschaubare, mög-
Weise kann sichergestellt werden, dass die einge- lichst hierarchiefreie Gesprächsgruppe, in der sich
setzten Methoden für den jeweiligen Kontext an- Mitarbeiter (meist unter Anleitung eines geschulten
gemessen sind und von den Beteiligten akzeptiert Moderators) freiwillig und regelmäßig treffen, um
werden. Lösungen für konkrete Probleme des Berufsalltags
Vor dem Hintergrund eines zunehmenden zu erarbeiten.
Kostendrucks im Gesundheitswesen kann es zum
Konflikt zwischen Qualität und Wirtschaftlich- Supervision Unter Supervision versteht man eine
9 keit kommen. Gerade um zu vermeiden, dass Maß- Form von Beratung für Einzelpersonen und Teams.
nahmen zur Kostensenkung die Versorgung beein- Mit Unterstützung eines Supervisors werden be-
trächtigen, ist Qualitätssicherung notwendig. Bei- rufsbezogene Probleme (z. B. mit Kollegen oder
spielsweise wird durch die Orientierung an Leit- Patienten) besprochen, um gemeinsam Lösungen
linien (7 Abschn. 3.8.3) angestrebt, dass der Patient zu finden (z. B. Balintgruppe, 7 Abschn. 5.4.9). Ins-
eine angemessene Behandlung erhält. besondere in emotional belastenden Arbeitskon-
Da eine qualitativ angemessene Behandlung texten, wie z. B. auf einer Kinderkrebsstation, sollte
nicht zwangsläufig den Erwartungen des Patien- Supervision angeboten werden, um die Qualität der
ten  entspricht, kann es auch hier zu Konflikten Arbeit zu sichern.
zwischen Qualität und Patientenzufriedenheit
kommen. Ein Patient, der mit Erholungs- und Organisations- und Personalentwicklung Maßnah-
Wellness-Erwartungen in eine Rehabilitationskli- men zur Verbesserung der Qualität der Arbeit einer
nik  kommt und dort beispielsweise an einem Ar- Organisation, wie z. B. eines Krankenhauses, be-
beitsplatztraining teilnehmen soll, könnte sich un- zeichnet man als Organisationsentwicklung, Maß-
zufrieden über seine Behandlung äußern, wenn- nahmen zur Höherqualifizierung der Mitarbeiter
gleich  diese einem hohen Qualitätsstandard ent- als Personalentwicklung.
spricht.

9.4.3 Patientenzufriedenheit
9.4.2 Methoden zur Sicherung und gesundheitsbezogene
bzw. Optimierung der Qualität Lebensqualität

Peer-Review Beim Peer-Review handelt es sich um Das subjektive Urteil der Patienten über die Qualität
eine Qualitätsprüfung von Behandlungsprozessen ihrer Behandlung wird zunehmend wichtiger. Pa-
und -ergebnissen durch Fachkollegen (peers). Initia- tienten werden sowohl in groß angelegten Quali-
tor von solchen Qualitätsprüfungen können z. B. tätssicherungsprogrammen z. B. von den Kranken-
Kostenträger sein, womit sich diese Maßnahme der kassen (externe Qualitätssicherung) nach ihrer
externen Qualitätssicherung zuordnen lässt. In der Zufriedenheit mit den Behandlungsmaßnahmen
9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
323 9

. Abb. 9.2 Zufriedenheitsfragebogen (Ausschnitt)

gefragt als auch durch Kliniken und Arztpraxen


selbst (interne Qualitätssicherung). Dies geschieht züglich einer Verbesserung des Gesund-
meist in Form eines Fragebogens. heitszustandes erfüllt?)
5 Zufriedenheit mit der Umgebung (z. B. Frei-
Patientenzufriedenheit Die Patientenzufriedenheit zeitangebot in einer Rehabilitationsklinik)
lässt sich in mehrere Dimensionen unterteilen, wo- 5 Zufriedenheit mit »Hotelleistungen« (z. B.
bei verschiedene Fragebögen jeweils andere Schwer- Verpflegung, Ausstattung des Zimmers in
punkte setzen. der Klinik)

Dimensionen der Patientenzufriedenheit Es werden also nicht nur das Verhalten von Ärzten
5 Zufriedenheit mit dem interpersonalen und Pflegekräften oder das Behandlungsergebnis
Verhalten der Ärzte, Pflegekräfte etc. (z. B. bewertet, sondern auch Umgebungsmerkmale, von
Freundlichkeit) denen man annimmt, dass sie die Zufriedenheit des
5 Zufriedenheit mit Bürokratie und Organisa- Patienten beeinflussen könnten. In . Abb. 9.2 ist ein
tion (z. B. Wartezeiten) Ausschnitt aus einer Zufriedenheitsbefragung für
5 Zufriedenheit mit wahrgenommener tech- Patienten einer Rehabilitationsklinik abgebildet.
nischer Qualität (z. B. apparativer Aus-
stattung) und wahrgenommener fachlicher Einflussfaktoren auf die Patientenzufriedenheit Ein
Kompetenz Problem ist, dass Zufriedenheitswerte generell sehr
5 Zufriedenheit mit Art und Umfang von hoch ausfallen und sich wenig zwischen unter-
Informationen schiedlichen Kliniken oder Stationen unterschei-
5 Zufriedenheit mit den Kosten im Verhältnis den. Dies schränkt ihren Wert ein. Hinzu kommt,
zum Nutzen der Maßnahme dass Merkmale des Patienten einen stärkeren Ein-
5 Zufriedenheit mit der Wirksamkeit bzw. mit fluss auf die Zufriedenheit ausüben als Merkmale
den Ergebnissen der Behandlung (z. B. des Arztkontakts oder der jeweiligen medizinischen
Wurden die Erwartungen des Patienten be- Einrichtung. Unter den Patientenmerkmalen spielt
vor allem das Alter eine Rolle: Ältere Patienten sind
324 Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem

zufriedener als jüngere. Aber auch die allgemeine Nutzen verschiedener Behandlungsmethoden ver-
Lebenszufriedenheit, die subjektive Gesundheits- glichen wird.
wahrnehmung und das psychische Befinden stehen
mit der Zufriedenheit in Zusammenhang. Unter
den Merkmalen des Arztkontakts ist es insbeson- 9.4.4 Qualitätswettbewerb, Kosten-
dere die Kontinuität der Versorgung, die zu einer druck und organisatorischer
hohen Zufriedenheit beiträgt. Patienten, die konti- Wandel im Gesundheitswesen
nuierlich vom selben Arzt betreut werden, sind zu-
friedener als diejenigen, deren Arzt häufig wechselt. Die Frage nach der Qualität von Gesundheitsleis-
Auch Zuwendung und Empathie des Arztes führen tungen gewinnt vor dem Hintergrund der finanziell
zu höherer Zufriedenheit. Ist die Zufriedenheit angespannten Lage im Gesundheitswesen sowie der
höher, wenn das Behandlungsergebnis gut ausfällt? gesetzlichen Verpflichtung zur Qualitätssicherung
Dies gilt nur zum Teil, nämlich für die subjektive zunehmend an Bedeutung.
Bewertung des Ergebnisses aus der Sicht des Patien-
ten, nicht aber für das objektive medizinische Be- Kostendruck und organisatorischer Wandel im Ge-
handlungsergebnis. Ein weiterer Einflussfaktor auf sundheitswesen Als Beispiel für den organisato-
die Zufriedenheit ist, ob Patienten ihre Erwartun- rischen Wandel im Gesundheitswesen lassen sich
gen an einen Arztbesuch erfüllt sehen. Bei unerfüll- die Veränderung bei der Vergütung von Kranken-
ten Erwartungen sinkt die Zufriedenheit. Zufrie- hausleistungen und die stärkere Selbstbeteiligung
denheit hat auf der anderen Seite Auswirkungen auf von Patienten an den Kosten für Gesundheitsleis-
9 die Compliance: Zufriedene Patienten halten sich tungen anführen. Den zunehmenden Kostendruck
besser an die Empfehlungen ihres Arztes. spüren Kostenträger genauso wie Kliniken und Pa-
tienten. Nachweise für Effizienz und Qualität wer-
Gesundheitsbezogene Lebensqualität Als weiteres den vor diesem Hintergrund vermehrt in den Blick-
wichtiges patientenbezogenes Maß im Zusammen- punkt der Betrachtung rücken.
hang mit Qualitätssicherung wird die Lebensquali-
tät des Patienten (7 Abschn. 1.2.3) erfasst. Gesund- Diagnosis Related Groups (DRG) Die Vergütung
heitsbezogene Lebensqualität lässt sich als die sub- von Krankenhausbehandlungen wurde von Tages-
jektive Wahrnehmung des eigenen Gesundheits- sätzen auf Fallpauschalen, sog. DRGs umgestellt.
zustandes beschreiben und kann der Dimension der Dies bedeutet, dass die Behandlung bei einer be-
Ergebnisqualität (7 Abschn. 9.4.1) zugeordnet wer- stimmten Erkrankung bzw. einem bestimmten
den. Auch wenn die Möglichkeiten zur objektiven operativen Eingriff (z. B. Blinddarmoperation) mit
Verbesserung des körperlichen Zustandes eines einem Pauschalbetrag vergütet wird und nicht mehr
Patienten im Einzelfall begrenzt sein können (z. B. entsprechend der Anzahl der Tage (Tagessätze), die
bei chronischen Erkrankungen oder bei Krebser- der Patient im Krankenhaus verbringt. Qualitäts-
krankungen im Endstadium), so bleibt die Verbes- sicherung ist in diesem Zusammenhang wichtig,
serung der Lebensqualität ein wichtiges Ziel der um sicherzustellen, dass kein Patient aus Kosten-
Behandlung und kann dementsprechend erfasst gründen zu früh aus der Klinik entlassen wird.
werden, um die Ergebnisqualität zu bestimmen.
Um die Lebensqualität von Patienten zu erfas- Patientenselbstbeteiligung Patienten müssen zu-
sen, gibt es verschiedene Fragebögen (7 Abschn. nehmend mehr Geld in ihre Gesundheit investieren
1.2.3). Verrechnet man die bei einem Patienten (z. B. Zuzahlungen zu Medikamenten), was sicher-
gemessene Lebensqualität mit seiner Lebenser- lich auch dazu beiträgt, dass die eingekaufte Leis-
wartung bei einer bestimmten Erkrankung, so ist tung (Beratung und Behandlung durch Arzt und
es möglich, die sog. qualitätsangepassten Lebens- Klinik) in guter Qualität eingefordert wird.
jahre (quality adjusted life years, QALY) zu bestim-
men. Die QALYs werden häufig in gesundheits- Qualitätswettbewerb Die genannten Faktoren füh-
ökonomischen Studien verwandt, wenn z. B. der ren bei den Leistungserbringern zu einem vermehr-
9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
325 9
ten Qualitätswettbewerb, um sich auf dem Markt maßnahmen (Prozessqualität) innerhalb des Mana-
positionieren zu können. Beispielsweise müssen ged-Care-Systems soll die Qualität der Versorgung
sich im Rahmen externer Qualitätssicherung ein- gewährleistet werden.
zelne Kliniken mit anderen Kliniken im Hinblick
i Vertiefen
auf die Ergebnisqualität vergleichen lassen. In Zu-
Helou A, Schwartz FW, Ollenschläger G (2002)
kunft wird die Qualität der Klinikbehandlung ein
Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
wichtiges Kriterium für die Versorgungsplanung
in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt –
und Zuweisungssteuerung durch die Kostenträger
Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz
darstellen.
45:205–214 (Übersichtsartikel)

Zertifizierung Um zu dokumentieren, dass Kli-


niken auf einem hohen Qualitätsniveau arbeiten,
können sie sich zertifizieren lassen. Das bedeutet,
dass sie die Erfüllung der Qualitätskriterien gegen-
über einer unabhängigen Institution nachweisen,
die nach einer Vor-Ort-Begehung (Audit) ein Qua-
litätssiegel verleiht. Für eine solche Zertifizierung
stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung
(KTQ, DIN-ISO).

Managed Care Managed Care (geführte Versor-


gung) ist ein Beispiel dafür, dass in letzter Zeit ver-
mehrt Management-Prinzipien auf die medizini-
sche Versorgung angewandt werden. Das Konzept
kommt aus den USA und ist dadurch gekennzeich-
net, dass der Kostenträger den Patienten gezielt
durch bestimmte Behandlungsstationen führt und
dem Patienten damit weniger Wahlfreiheit bleibt.
Ziel von Managed Care ist es, durch eine bessere
Steuerung der Leistungserbringung eine qualitativ
angemessene Versorgung sicherzustellen und Kos-
ten zu sparen.
In Deutschland werden, beispielsweise durch
einzelne Krankenkassen, zunehmend Elemente
von Managed Care in der Versorgung realisiert.
Charakteristisch für Managed-Care-Systeme ist
eine eingeschränkte Arztwahl. Ausgewählte Ärzte
und Kliniken, die bestimmte Kriterien (Struktur-
qualität) erfüllen, werden als Vertragspartner an die
Versicherung gebunden. So entstehen Behand-
lungsnetzwerke. Eine besondere Stellung kommt
in diesem System dem Hausarzt zu. Er fungiert als
Gatekeeper der Behandlung, indem er den Pa-
tienten zu den an das Netzwerk angeschlossenen
Spezialisten überweisen kann. Fallpauschalen (s. o.
DRGs) sind ein weiteres Charakteristikum von
Managed-Care-Systemen. Durch die Anwendung
von Leitlinien und evidenzbasierten Behandlungs-
327 III

Förderung und Erhaltung


von Gesundheit
Kapitel 10 Förderung und Erhaltung von Gesundheit:
Prävention – 329
H. Faller, A. Reusch, H. Vogel

Kapitel 11 Förderung und Erhaltung von Gesundheit:


Maßnahmen – 359
H. Faller, H. Vogel, M. Jelitte
329 10

Förderung und Erhaltung


von Gesundheit: Prävention
H. Faller, A. Reusch, H. Vogel

10.1 Präventionsbegriff – 331


H. Faller
10.1.1 Formen der Prävention – 331

10.2 Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens – 333


H. Faller
10.2.1 Kontinuierliche Modelle der Verhaltensänderung – 333
10.2.2 Stadienmodelle der Verhaltensänderung – 336

10.3 Primäre Prävention – 339


H. Faller, A. Reusch
10.3.1 Gesundheitsbezogener Lebensstil – 339
10.3.2 Praktisches Vorgehen bei der Motivierung – 341

10.4 Sekundäre Prävention – 342


H. Faller
10.4.1 Risiko- und Schutzfaktoren – 342
10.4.2 Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten – 344
10.4.3 Einsatz von Screening-Verfahren – 345
10.4.4 Wichtige epidemiologische Begriffe zur Beurteilung
von Screenings – 346

10.5 Tertiäre Prävention – 349


H. Faller
10.5.1 Chronische Krankheit und Behinderung – 350
10.5.2 Personale Krankheitsbewältigung – 350
10.5.3 Interpersonelle Bewältigung – 352

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
10.6 Rehabilitation – 353
H. Faller, H. Vogel
10.6.1 Medizinische Rehabilitation – 353
10.6.2 Soziale Folgen chronischer Krankheit – 355
10.6.3 Psychosoziale Einflüsse auf Krankheitsverlauf und Mortalität – 355
10.6.4 Sozialberatung – 357
10.1 · Präventionsbegriff
331 10
Auch die Vorbeugung von Krankheiten gehört zu den dieser Gedanke allgemein akzeptiert ist, hat er
Aufgaben der Medizin. Der größte Anteil an der Ent- noch wenig Eingang in das praktische Handeln in
stehung schwerer und häufiger körperlicher Krankhei- unserem Gesundheitssystem gefunden. Zwar nimmt
ten wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Diabetes die Zahl der Menschen zu, die Präventionsangebote
mellitus und Lungenkrebs kann verhaltensabhängi- wahrnehmen, aber noch immer wird nur ein kleiner
gen und damit prinzipiell veränderbaren Risikofakto- Teil der Bevölkerung von solchen Angeboten er-
ren zugeschrieben werden. Wie diese Risikofaktoren reicht. Sozial benachteiligte Gruppen nehmen diese
beseitigt und ein gesunder Lebensstil gefördert seltener in Anspruch, ebenso Männer seltener als
werden können, ist ein zunehmend wichtigeres Auf- Frauen. Beispielsweise nimmt knapp die Hälfte der
gabengebiet der Medizinischen Psychologie. Es fällt Frauen, aber nur ein Fünftel der Männer an der
den Betroffenen nämlich meist nicht leicht, die Emp- Krebsfrüherkennung teil. Eine positive Ausnahme
fehlungen ihres Arztes in die Tat umzusetzen. Dies sind die kindlichen Früherkennungsuntersuchun-
gilt nicht nur für (noch) Gesunde, sondern auch für Pa- gen, die von 90 % der Kinder in Anspruch genom-
tienten, die schon an einer chronischen Krankheit men werden.
leiden. Sie benötigen Unterstützung, um Rezidive zu
verhindern, die Folgen ihrer Krankheit zu bewältigen
und möglichst weitgehend am normalen Leben teil- 10.1.1 Formen der Prävention
nehmen zu können. Diese Hilfe zur Bewältigung einer
chronischen Krankheit wird von der medizinischen
Rehabilitation geleistet. Eine besondere Kommunika- Formen der Prävention
tionskompetenz ist gefordert, wenn Patienten über 5 Primäre Prävention: Verhinderung der Ent-
den Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen stehung einer Erkrankung. Beispiel: Lebensstil-
informiert werden müssen. Hier herrschen sowohl bei änderung (z. B. gesunde Ernährung, körperliche
Ärzten wie auch in der Allgemeinbevölkerung oft Aktivität), um einer koronaren Herzkrankheit
falsche Vorstellungen. Dies betrifft z. B. die Vorhersa- vorzubeugen. Zielgruppe: Gesunde.
gekraft von Screening-Tests, die oft relativ gering ist, 5 Sekundäre Prävention: Früherkennung von
weil viele falsch-positive Befunde auftreten. Krankheiten; Prävention von Krankheiten
bei bestehenden Risikofaktoren. Beispiel:
Mammographie, um eine Brustkrebserkran-
10.1 Präventionsbegriff kung möglichst frühzeitig diagnostizieren
und behandeln zu können. Zielgruppe: Risi-
H. Faller kopersonen. Neuerdings wird auch die Ver-
hinderung von Krankheitsrezidiven (z. B.
Lernziele Reinfarkt) nach behandelter Ersterkrankung
Der Leser soll als Sekundärprävention bezeichnet.
5 primäre, sekundäre und tertiäre Prävention 5 Tertiäre Prävention: Verhütung von Ver-
definieren können, schlimmerungen und bleibenden Schäden
5 Verhaltens- und Verhältnisprävention unter- bei schon bestehender Krankheit. Abmilde-
scheiden können, rung des Verlaufs einer Krankheit und der
5 Unterschiede im individuellen und gesellschaft- Krankheitsfolgen (Rehabilitation). Beispiel:
lichen Nutzen zwischen primärer und sekundärer umfassendes Rehabilitationsprogramm
Prävention beschreiben können. (Ernährungsberatung, körperliches Training,
medikamentöse Behandlung, Patienten-
Vorbeugen ist besser als heilen. Es erscheint vernünf- schulung), um einem ungünstigen Verlauf
tiger, die Entstehung einer Erkrankung zu verhin- der koronaren Herzkrankheit vorzubeugen
dern, als abzuwarten, bis ein Gesundheitsschaden und die körperliche Leistungsfähigkeit zu
eingetreten ist, der dann oft nicht mehr oder nur erhalten. Zielgruppe: Erkrankte.
unvollständig wieder beseitigt werden kann. Obwohl
332 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

Eine weitere Unterscheidung bezieht sich darauf, ob dass zwar sehr viele Menschen eine Präventionsmaß-
die Präventionsmaßnahme nahme erhalten müssen, jedoch nur einige wenige
4 am individuellen Verhalten eines Menschen davon profitieren, indem bei ihnen die Entstehung
ansetzt (Verhaltensprävention, z. B. Lebens- einer Erkrankung verhindert wird (ein weiteres Prä-
stiländerung) oder ventionsparadox). Betrachtet wird jeweils das Ver-
4 an den strukturellen Umgebungsbedingungen hältnis zwischen der Zahl derjenigen, die eine Prä-
bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen, die viele ventionsmaßnahme durchführen, und der Zahl der-
Menschen betreffen (Verhältnisprävention, jenigen, bei denen eine Erkrankung verhindert wird
z. B. Gurtpflicht im Auto, Rauchverbote, Jodie- (Number needed to treat, NNT; 7 Abschn. 3.7.5). In
rung/Fluoridierung des Speisesalzes). der Primärprävention ist die NNT groß, also un-
günstig: Viele müssen behandelt werden, damit we-
Die Teilnahmerate an verhaltenspräventiven Maß- nige etwas davon haben. Die NNT fällt deutlich güns-
nahmen ist gering und liegt bei 17 %. Bei Frauen ist tiger aus, wenn man im Rahmen der sekundären
sie doppelt so hoch wie bei Männern. Sie steigt mit Prävention anstrebt, das Rezidiv einer Erkrankung zu
zunehmendem Alter an. Am häufigsten werden An- verhindern (z. B. Verhinderung eines Reinfarkts bei
gebote zur Bewegung angenommen. Herzinfarktpatienten). Dies liegt daran, dass KHK-
Patienten, die Zielgruppe der sekundären Prävention,
Aufwand und Ertrag Etwa 80 % der Herzinfarkte von vornherein ein viel größeres Risiko haben, erneut
und 70 % der Schlaganfälle sind durch verhaltens- einen Herzinfarkt zu erleiden, als gesunde Angehö-
abhängige Risikofaktoren zu erklären und damit rige der Allgemeinbevölkerung, die Zielgruppe der
prinzipiell vermeidbar. Dazu müssten allerdings primären Prävention. Auch wenn also der potenzielle
sehr viele noch gesunde Menschen, von denen jeder Ertrag einer Präventionsmaßnahme aus Sicht der
10 nur ein geringes Risiko trägt, ihr Verhalten ändern. Gesellschaft in der primären Prävention größer sein
Ein Paradox der Prävention besteht deshalb darin, dürfte, lassen sich Menschen leichter zu Maßnahmen
dass theoretisch kleine Effekte bei sehr vielen Men- der sekundären Prävention motivieren, weil ihr
schen (Allgemeinbevölkerung) mehr Ertrag bringen Risiko für ein unerwünschtes Ereignis (Krankheits-
könnten als große Effekte bei wenigen Menschen rezidiv) viel größer ist und sie deshalb auch persön-
(Hochrisikopersonen). Maßnahmen zur primären lich mehr von einer Intervention profitieren können.
Prävention sind aber sehr aufwändig und kost- Vor diesem Hintergrund sollten auch primärprä-
spielig, weil prinzipiell die ganze Bevölkerung ein- ventive Programme auf diejenigen Menschen zuge-
geschlossen werden muss. Der Nachweis der Wirk- schnitten werden, die mindestens einen Risikofaktor
samkeit konnte bisher allerdings meist nicht erbracht (Rauchen, Übergewicht etc.) aufweisen, um den Auf-
werden. Ein aktuelles Beispiel ist eine Studie, deren wand möglichst zielgerichtet einzusetzen.
Ziel es war, die Inzidenz der koronaren Herzkrank- In der Gesundheitsökonomie betrachtet man
heit in der Allgemeinbevölkerung zu senken. An die die Kosten pro gewonnenem Lebensjahr (life years
60.000 Personen wurden randomisiert entweder der saved, LYS). Programme mit Kosten von weniger als
Interventions- oder der Kontrollgruppe zugewiesen. 10.000 €/LYS gelten als eindeutig effizient, mit
Die Interventionsgruppe erhielt die Einladung zu 10.000–50.000 €/LYS als gleichwertig mit akutme-
einem Risikoscreening sowie Beratungen zu einem dizinischen Interventionen. Beispiele für effiziente
gesundheitsförderlichen Lebensstil über 5 Jahre, je Programme: Ernährungsumstellung bei Hypercho-
nach Höhe des Risikos in unterschiedlicher Inten- lesterinämie, Raucherentwöhnungsprogramme.
sität. Nach 10 Jahren konnte jedoch kein Effekt auf
die Häufigkeit von koronarer Herzkrankheit, Schlag- i Vertiefen
anfall oder Tod festgestellt werden. Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J (Hrsg) (2014)
Weil in der gesunden Allgemeinbevölkerung die Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförde-
Inzidenz selbst der häufigeren Erkrankungen insge- rung. 4. Aufl. Huber, Bern (breiter Überblick zu
samt sehr niedrig ist, lassen sich auch nur geringe Grundlagen und Anwendungen in unterschied-
absolute Risikoreduktionen erzielen. Dies bedeutet, lichen Feldern)
10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
333 10
10.2 Modelle gesundheitsrelevanten
Verhaltens

H. Faller

Lernziele
Der Leser soll
5 kontinuierliche und Stadienmodelle der
Verhaltensänderung unterscheiden können,
5 die zentralen Bestandteile der wichtigen gesund-
heitspsychologischen Modelle beschreiben
können.
. Abb. 10.1 Health-Belief-Modell

10.2.1 Kontinuierliche Modelle


der Verhaltensänderung Einflussfaktoren auf das Gesundheits-
verhalten nach dem Health-Belief-Modell
In der Gesundheitspsychologie gibt es eine Reihe 5 Wahrgenommene Gesundheitsbedro-
von Theorien, die Einflussfaktoren auf das Ge- hung: Diese setzt sich zusammen aus
sundheitsverhalten beschreiben. Diese Theorien – der subjektiven Einschätzung des
unterscheiden sich zumeist darin, welche und wie Schweregrads einer Krankheit und
viele Faktoren des Gesundheitsverhaltens sie auf- – der subjektiv wahrgenommenen per-
führen und wie sie deren Wirkungsrichtung kon- sönlichen Anfälligkeit für die Erkrankung
zeptualisieren. (subjektive Vulnerabilität);
Die folgenden Theorien können als kontinuier- 5 Wahrgenommene Wirksamkeit des Ge-
liche Modelle zusammengefasst werden. Kontinu- sundheitsverhaltens: Die Wirksamkeit
ierlich deshalb, weil sie annehmen, dass die Wahr- des Gesundheitsverhaltens als Gegenmaß-
scheinlichkeit für ein bestimmtes Gesundheitsver- nahme gegen die Bedrohung setzt sich
halten kontinuierlich zunimmt, je stärker ausge- ebenfalls aus 2 Komponenten zusammen:
prägt die Einflussfaktoren sind, die auf dieses – dem subjektiven Nutzen einer Maß-
Verhalten wirken. Damit unterscheiden sie sich von nahme (z. B. Verringerung des Risikos
Stadienmodellen (7 Abschn. 10.2.2), in denen an- für Lungenkrebs) und
genommen wird, dass eine Person unterschiedliche – den subjektiven Kosten oder Barrieren
Motivationsstufen auf dem Weg zum Gesundheits- des Gesundheitsverhaltens (z. B. be-
verhalten durchläuft, die klar voneinander abge- fürchtete Gewichtszunahme, wenn man
hoben werden können. Der Unterschied ist insofern mit dem Rauchen aufhören würde).
wichtig, als es auf der Basis kontinuierlicher Mo-
delle lediglich darauf ankommt, ganz allgemein die
verschiedenen Einflussfaktoren zu fördern, um die Zusätzlich spielen in diesem Modell situative Hin-
Verhaltenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Stadien- weisreize (cues to action) eine Rolle (z. B. Gesund-
modelle legen hingegen nahe, auf jeder Motiva- heitskampagnen in den Medien oder Wahrneh-
tionsstufe maßgeschneiderte Interventionen einzu- mung von Symptomen wie Husten beim Rauchen).
setzen.
> Wichtig in den Modellen gesundheitsrelevan-
Health-Belief-Modell Das Health-Belief-Modell ten Verhaltens ist die subjektive Sicht des
(Modell gesundheitlicher Überzeugungen; Rosen- Betroffenen. Nicht die objektive Schwere der
stock, Becker) wurde schon in den 50er-Jahren ent- Krankheit, sondern seine persönliche Sicht-
wickelt (. Abb. 10.1). weise oder Überzeugung von der Krankheits-
334 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

schwere ist entscheidend. Nicht die objektive tigste Unterscheidungsmerkmal dieser beiden Mo-
Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, delle zum Health-Belief-Modell ist, dass nun die
sondern seine subjektive Überzeugung, dass Intention, d. h. die Entscheidung, ein Verhalten aus-
diese wirkt, ist für die Motivation bedeutsam. zuführen, als Bindeglied zwischen Einstellungen
und Verhalten eingeführt wurde.
Zum Health-Belief-Modell wurden sehr viele Unter-
suchungen durchgeführt, die jedoch zeigten, dass Einflussfaktoren auf die Intention nach
die genannten Einflussfaktoren nicht ausreichen, dem Modell des geplanten Verhaltens
eine Änderung des Gesundheitsverhaltens zu erklä- 5 Einstellung: Wie bewerten Personen ein
ren. Dies liegt daran, dass Einstellungen als solche Verhalten? Welche Verhaltensergebnisse er-
keine gute Vorhersagekraft für Verhalten besitzen. warten sie? (»Wenn ich regelmäßig jogge,
Zwischen Einstellungen und Verhalten gibt es noch schütze ich mich vor Krankheiten.«).
etwas Drittes, das erst den Zusammenhang zwischen 5 Subjektive Norm: Was erwarten andere
beidem herbeiführt: die Intention (Absicht), d. h. Menschen von mir? (»Meine Freundin
der bewusste Entschluss, ein bestimmtes Verhalten findet, dass ich regelmäßig joggen gehen
ausführen zu wollen. sollte.«).
5 Wahrgenommene Verhaltenskontrolle:
Furchtappelle Furchtappelle (z. B. Warnhinweise Wie leicht oder schwer fällt es mir, ein Ver-
auf Zigarettenschachteln) zur Erhöhung der wahr- halten auszuführen? (»Regelmäßig joggen
genommenen Bedrohung sind zwar wirksam und zu gehen, ist für mich sehr gut möglich.«).
sinnvoll, um Risikoverhalten zu ändern, reichen
aber alleine nicht aus. Während man früher an-
10 nahm, dass Furchtappelle schon als solche kontra- Der letzte Punkt, die wahrgenommene Verhal-
produktiv sind, weil sie lediglich Angst erzeugen tenskontrolle, wurde in die Theorie des geplan-
und Verleugnungsprozesse auslösen würden, konn- ten  Verhaltens neu aufgenommen. Sie war in der
te inzwischen nachgewiesen werden, dass Angst vor Theorie der Handlungsveranlassung noch nicht
einer Erkrankung eine wesentliche Bedingung zur enthalten. Wahrgenommene Verhaltenskontrolle,
Veränderung des Risikoverhaltens darstellt. Sie ist also die Einschätzung, ein Verhalten auch ausfüh-
allerdings nur ein wichtiger Faktor: Das betroffene ren  zu können, ist dem Konzept der Selbstwirk-
Individuum muss zusätzlich auch Strategien in die samkeit bzw. Kompetenzerwartung sehr ähnlich
Hand bekommen, die Angst zu bewältigen, indem (s. u.).
es sein Verhalten ändert. In vielen Studien hat sich gezeigt, dass die Vari-
ablen der Theorie des geplanten Verhaltens die In-
Modell des geplanten Verhaltens Die Theorie des tention zu einem Verhalten recht gut vorhersagen,
geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior; das Verhalten selbst jedoch weniger gut. Offensicht-
Ajzen; . Abb. 10.2) ist eine Weiterentwicklung der lich fehlt also immer noch ein Bindeglied, das von
Theorie der Handlungsveranlassung (Theory of der Intention zum tatsächlichen Verhalten führt
Reasoned Action; Fishbein und Ajzen). Das wich- (Intentions-Verhaltens-Lücke; 7 Abschn. 10.2.2).

. Abb. 10.2 Theorie des geplanten Verhaltens


10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
335 10
was zu tun ist, mir aber nicht zutraue, es auch zu
tun?
Die Selbstwirksamkeit hat sich als wichtigste
Einflussgröße auf das Gesundheitsverhalten erwie-
sen. Sie ist in vielen Lebensstilbereichen vorher-
sagekräftig, wie Zigarettenrauchen, gesunde Ernäh-
. Abb. 10.3 Modell der Selbstwirksamkeit rung, körperliche Aktivität und Kondombenut-
zung. Menschen, die eine hohe Selbstwirksamkeit
Modell der Selbstwirksamkeit bzw. der Kompetenz- besitzen, setzen sich höhere Ziele, beginnen schnel-
erwartung Die sozial-kognitive Theorie (Bandura; ler mit dem Gesundheitsverhalten, strengen sich
. Abb. 10.3) enthält 2 Hauptkomponenten. mehr an und geben nicht so schnell auf. Auch von
einem Rückschlag erholen sie sich schneller.
Komponenten der sozial-kognitiven Selbstwirksamkeit wird vor allem dadurch ge-
Theorie fördert, dass man einmal die Erfahrung gemacht
5 Selbstwirksamkeitserwartung (Kompe- hat, eine Handlung erfolgreich ausführen zu kön-
tenzerwartung): Einschätzung der eigenen nen. Deshalb sind Ausprobieren, praktisches Üben
Kompetenz, ein Verhalten auch in schwie- und Verhaltenstraining wichtige Bestandteile von
rigen Situationen ausführen zu können Interventionen zur Änderung des Gesundheitsver-
(»Ich bin mir sicher, dass ich mich gesund haltens. Je stärker eine Präventionsmaßnahme der-
ernähren kann, auch wenn ich mit meinen artige Bestandteile enthält und dadurch die Selbst-
Freunden essen gehe«). wirksamkeit fördert, umso erfolgreicher ist sie auch.
5 Handlungsergebniserwartung: Erwartung, > Ein zentrales Merkmal der meisten Theorien
durch eine Handlung ein bestimmtes ist die individuelle Selbstwirksamkeitser-
Ergebnis erreichen zu können (»Wenn ich wartung (Selbstwirksamkeit). Damit ist die
mich gesund ernähre, senke ich mein Risiko Überzeugung gemeint, das Gesundheits-
für einen Herzinfarkt«). verhalten auch unter widrigen äußeren Um-
ständen durchführen zu können (syn. Kom-
petenzerwartung).
Es reicht also nicht aus, dass man überzeugt ist, mit
einem Verhalten ein bestimmtes Ziel erreichen zu
können (Handlungsergebniserwartung). Man muss Theorie der Schutzmotivation Die Theorie der
darüber hinaus auch davon überzeugt sein, dieses Schutzmotivation (Protection Motivation Theory;
Verhalten ausführen zu können (Selbstwirksam- Rogers; . Abb. 10.4) wurde entwickelt, um die Wir-
keitserwartung). Denn was nützt es, wenn ich weiß, kung von Furchtappellen auf die Ausbildung einer

. Abb. 10.4 Theorie der Schutzmotivation


336 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

Motivation, sich vor Risiken zu schützen, zu unter- allem dann, wenn sie in Bezug auf ihre eigene Per-
suchen. Diese Schutzmotivation wird als Bindeglied son unsicher sind.
zwischen Einstellungen einerseits und dem tatsäch- Bei der Konstruktion eines Selbstbilds und der
lichen Schutzverhalten andererseits aufgefasst. Bewertung des eigenen Verhaltens vergleicht man
Darüber hinaus werden auch die Handlungs- sich gerne mit den Menschen der eigenen Um-
kosten (z. B. Anstrengung, die es kosten würden, gebung. Ziel des Vergleichs ist es, ein positives
mit dem Rauchen aufzuhören) und der Handlungs- Selbstbild zu entwerfen. Eine positive Bewertung
nutzen (z. B. Entspannung beim Rauchen oder des eigenen Gesundheitsverhaltens (z. B. Nicht-
Zusammensein mit Freunden) berücksichtigt (der rauchen) durch die Bezugsgruppe stabilisiert dieses.
Einfachheit halber nicht in der Abbildung aufge- Umgekehrt kann gesundheitsschädliches Verhalten
führt). Auch in diesem Modell kehren viele Variab- (Rauchen, Drogenkonsum) in der Adoleszenz durch
len wieder, die wir schon kennen: Selbstwirksam- die Gruppe der Gleichaltrigen (peer group) gefördert
keit, Ergebniserwartung (Handlungswirksamkeit) werden, weil es das Gefühl der Zusammengehörig-
und Intention (Schutzmotivation). Es zeigte sich, keit und das Selbstwertgefühl steigert.
dass eine hohe Vulnerabilität nur dann einen posi- Auch Vergleiche mit denjenigen Menschen, die
tiven Effekt auf die Schutzmotivation hat, wenn die schlechter dran sind (Abwärtsvergleiche), spielen
Personen auch gleichzeitig über eine hohe Selbst- eine große Rolle. Sie ermöglichen es dem Betrof-
wirksamkeitserwartung verfügten, also zuversicht- fenen, seine eigene Situation positiv zu bewerten. In
lich waren, ein Bewältigungsverhalten ausführen zu manchen Situationen, wie bei der Bewältigung einer
können. schweren Erkrankung, kann dies hilfreich sein.
Doch auch bei dieser Theorie stellte sich heraus, Geht es jedoch darum, das Gesundheitsverhalten zu
dass zwar die Schutzmotivation selbst vorhergesagt ändern, werden Abwärtsvergleiche eher eine sta-
10 werden konnte, weniger jedoch das Verhalten. Der bilisierende Tendenz haben. Wenn ein Bekannter
Übergang von der Intention zum Verhalten ge- noch viel mehr raucht oder Alkohol trinkt als der
schieht durch den Prozess der Volition, in welchem Betroffene, wird ihn das nicht gerade motivieren,
das Handeln geplant wird. Dieser Schritt wird erst sein eigenes Verhalten zu ändern.
in den Stadienmodellen konzeptualisiert, die weiter
unten vorgestellt werden.
10.2.2 Stadienmodelle
der Verhaltensänderung
Einflussfaktoren auf die Schutzmotivation
5 Bedrohungseinschätzung: Diese setzt sich
Intentions-Verhaltens-Lücke Der Zusammenhang
zusammen aus
zwischen der Absicht, ein Verhalten auszuführen,
– dem wahrgenommenen Schweregrad
und dem tatsächlichen Verhalten ist nicht sehr
der Erkrankung und
stark. Dies liegt nicht allein daran, dass die Motiva-
– der wahrgenommenen Vulnerabilität.
tion nicht groß genug ist, sondern eher an Pro-
5 Bewältigungseinschätzung: Diese setzt
blemen bei der Umsetzung der Intention in das
sich zusammen aus
Verhalten. Um ein Verhalten auszuführen, ist es
– der wahrgenommenen Handlungs-
notwendig, die Ausführung genau zu planen. Wann,
wirksamkeit und
wo und wie will ich meine Intention, 3-mal in der
– der Selbstwirksamkeitserwartung.
Woche joggen zu gehen, in die Tat umsetzen? Wel-
che Schwierigkeiten können dabei auftreten? Diese
Fragen stehen im Mittelpunkt der Stufenmodelle
Modell des sozialen Vergleichsprozesses Die Theo- des Gesundheitsverhaltens.
rie sozialer Vergleichsprozesse (Festinger) besagt,
dass Menschen ihre eigenen Einstellungen be-
werten, indem sie sich mit anderen Menschen, die
ihnen ähnlich sind, vergleichen. Dies tun sie vor
10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
337 10

Grundannahmen von Stadienmodellen 5 Handlung: Die Person initiiert das neue


5 Menschen durchlaufen auf dem Weg zu Verhalten und führt es erfolgreich aus, je-
einem günstigen Gesundheitsverhalten doch noch keine 6 Monate lang.
mehrere voneinander abgrenzbare Stufen 5 Aufrechterhaltung: Die Person hat das
(Stadien, Phasen). neue Gesundheitsverhalten inzwischen
5 Sie tun dies in einer bestimmten Reihenfolge, 6 Monate lang erfolgreich ausgeführt.
weil jede Stufe auf der anderen aufbaut.
5 Für den Übergang von einer Stufe in die
nächste sind jeweils andere Wirkfaktoren Manchmal wird noch ein 6. Stadium Termination,
von Bedeutung. hinzugefügt: Die Person hat ihr Verhalten 5 Jahre
lang erfolgreich ausgeübt und verspürt keine Ver-
suchung mehr, in ihr altes Risikoverhalten zurück-
Deshalb sollten in Präventionsprogrammen die In- zufallen. Das neue Verhalten ist zur Gewohnheit
terventionen genau auf die jeweilige Motivations- geworden.
stufe zugeschnitten sein, in der sich eine Person Die Phasen des TTM können durchaus mehr-
befindet. fach durchlaufen werden, Rückfälle sind möglich.
Zwei Stadienmodelle werden vorgestellt: Mit zunehmendem Fortschreiten von einer Stufe
4 das Transtheoretische Modell der Verhaltens- zur nächsten nimmt die Selbstwirksamkeitserwar-
änderung (TTM), tung zu. Vor allem der Schritt von der Vorbereitung
4 das Prozessmodell gesundheitlichen Handelns zur Handlung wird durch eine hohe Selbstwirk-
(HAPA-Modell). samkeitserwartung gefördert. Wer glaubt, seine
Absicht in die Tat umsetzen zu können, tut dies
Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung auch eher.
Das Transtheoretische Modell der Verhaltensände- Mit zunehmender Motivationsstufe werden
rung (TTM; Prochaska und DiClemente) ist das auch immer mehr Vorteile des Gesundheitsverhal-
am meisten verbreitete Stadienmodell. Es wurde im tens und immer weniger Nachteile wahrgenommen
Bereich der Raucherentwöhnung entwickelt, in- (Entscheidungsbalance: Differenz aus den gewich-
zwischen aber auch auf viele andere Gesundheits- teten Vor- und Nachteilen). Die Autoren des TTM
verhaltensweisen übertragen. Seinen Namen hat es beschreiben des Weiteren 10 Veränderungsstra-
daher, dass es Bestandteile aus unterschiedlichen tegien, die in den jeweiligen Phasen von den Per-
Theorien integriert. sonen genutzt werden. Beispielsweise werden in den
ersten 3 Phasen vor allem kognitive und affektive
Prozesse für wichtig gehalten (z. B. Risikowahr-
TTM-Stadien nehmung, Motivationsklärung), ab der Phase der
5 Absichtslosigkeit: Die Person ist sich des Handlung hingegen verhaltensorientierte Prozesse.
problematischen Verhaltens noch gar nicht Für das Rauchen ließ sich diese Zuordnung von
bewusst. Veränderungsprozessen zu den Phasen auch zeigen,
5 Absichtsbildung: Die Person beschäftigt für andere Bereiche des Gesundheitsverhaltens, wie
sich mit ihrem Problemverhalten und z. B. körperliche Aktivität und Ernährung, jedoch
überlegt, dieses innerhalb der nächsten nicht.
6 Monate zu ändern. In vielen Verhaltensbereichen befindet sich die
5 Vorbereitung: Die Person hat sich entschie- Mehrzahl der Menschen noch in den unteren 3 Stu-
den, ihr Verhalten innerhalb des nächsten fen. Beispiel Sport: Absichtslosigkeit 14 %, Absichts-
Monats zu ändern, und plant ihr weiteres bildung 16 %, Vorbereitung 23 %, Handlung 11 %,
Vorgehen. In dieser Stufe wird die Intention Aufrechterhaltung 36 %.
gebildet. Zur empirischen Bewährung des TTM ist zu sa-
gen, dass sich in Querschnittsstudien die genannten
338 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

Stufen meist abgrenzen lassen und auch die Zusam- und dem tatsächlichen Handeln (Intentions-Ver-
menhänge der Stufen mit der Selbstwirksamkeit haltens-Lücke) geschlossen. In einer Studie mit
bzw. Entscheidungsbalance oder den kognitiven Herzinfarktpatienten in der Rehabilitation konnte
Strategien (teilweise) nachweisen ließen. Inzwischen gezeigt werden, dass diejenigen Patienten, die das
wurden auch Längsschnittsstudien durchgeführt, Gesundheitsverhalten (körperliche Aktivität) kon-
die die Abfolge der Stufen und die hierfür notwen- kret planten (»Wann-Wo-Wie-Pläne«), später im
digen Motivationsprozesse belegen sollten, und in Alltag auch eher körperlich aktiv waren.
experimentellen Studien wurde die Effektivität maß- Neben der Handlungsplanung ist die Bewälti-
geschneiderter, stufenbezogener Interventionen gungsplanung wichtig: Die Patienten werden auf-
überprüft. Allerdings waren die Ergebnisse un- gefordert, sich schon im Vorhinein kritische Situa-
einheitlich. tion vorstellen, die sie daran hindern könnten, das
geplante Gesundheitsverhalten in die Tat umzuset-
Prozessmodell gesundheitlichen Handelns Das so- zen (z. B. »Ich will joggen gehen, aber es regnet.«),
zial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen und sich dann konkrete Bewältigungsstrategien
Handelns (Health Action Process Approach, HAPA; vorzunehmen, um diese etwaigen Hindernisse zu
Schwarzer) unterscheidet eine motivationale Pha- überwinden (z. B. »Dann gehe ich statt dessen
se, in der die Intention gebildet wird, eine volitio- schwimmen.«). Dadurch kann verhindert werden,
nale Phase, in der die Handlung geplant wird, und dass das Verhalten gleich wieder aufgegeben wird,
eine aktionale Phase, in der die Handlung aus- wenn einmal etwas dazwischen kommt.
geführt und aufrechterhalten wird (. Abb. 10.5).
Für die Bildung der Intention werden die bekannten Psychosoziale Stressbelastung und gesundheits-
Einflussfaktoren herangezogen: Risikowahrneh- schädigendes Verhalten Risikoverhalten wie Rau-
10 mung (subjektiver Schwergrad der Krankheit, Vul- chen oder Alkoholmissbrauch wird oft durch Stress-
nerabilität), Handlungsergebniserwartung (»Durch situationen ausgelöst. Es bewirkt dann eine kurz-
mein Verhalten kann ich das Risiko vermindern«) fristige Entspannung. In diesen Situationen ist die
und Selbstwirksamkeitserwartung (»Ich bin in der Bewältigungskompetenz einer Person gefordert.
Lage, das Verhalten auszuführen«). Kann sie die Stressbelastung erfolgreich meistern,
Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns wird ihre Selbstwirksamkeit ansteigen und die Wahr-
wird genauer beschrieben, welche Rolle die Hand- scheinlichkeit für einen Rückfall sinkt. Deshalb ver-
lungsplanung spielt. Damit wird die Lücke zwi- mitteln Programme zur Lebensstiländerung sinn-
schen der Intention, also der Handlungsabsicht, vollerweise auch Strategien zur Stressbewältigung.

motivationale volitionale Handlungs-


Phase Phase phase

Selbstwirk-
samkeit

Handlungs-
ergebnis- Intention Planung Handlung
erwartung

Risiko-
wahrnehmung

. Abb. 10.5 Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA-Modell; vereinfacht)


10.3 · Primäre Prävention
339 10
Gelingt die Stressbewältigung nicht, sinkt die leistungen und Wellness-Produkte auszugeben. Ge-
Selbstwirksamkeit und das Suchtverhalten wird ver- sundheit ist ein Wachstumsmarkt. Analog zur wirt-
stärkt. In dieser Situation ist wichtig, wie die Absti- schaftswissenschaftlichen Bezeichnung »Human-
nenzverletzung attribuiert wird. Bei internaler kapital« für Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen
(»Ich bin schuld!«), stabiler (»Das wird mir jedes eines Menschen kann man auch von Gesundheit als
Mal so passieren«) und globaler Attribution (»Ich einem »persönlichen Kapital« sprechen.
bin ein völliger Versager«) kommt es zu weiterem In jüngster Zeit richten sich zunehmend Bestre-
Kontrollverlust: »Jetzt kann ich sowieso nichts mehr bungen nicht nur auf die Vermeidung von Krank-
ändern«. Attribuiert die Person den Ausrutscher heit, sondern auch auf die Förderung von Gesund-
jedoch external und spezifisch (z. B. »Diese Prüfung heit. Die Idee hinter diesen Bestrebungen ist, dass
war wirklich sehr anstrengend und schwierig«), eine unspezifische Stärkung der Gesundheit auf
kann es bei einem einmaligen Ausrutscher bleiben. breiter Linie vor Krankheiten schützen sollte (Pro-
Die betroffene Person sollte den Ausrutscher als tektion). Man ging auf die Suche nach Eigenschaf-
ganz normalen Fehler in einem Bewältigungspro- ten von Menschen, die trotz widriger äußerer Um-
zess ansehen, der die Möglichkeit bietet, daraus für stände gesund bleiben (Resilienz). Man versuchte,
die Zukunft zu lernen. Es geht dann darum, persön- Einstellungen und Lebensbewältigungsstrategien
liche Hochrisikosituationen zu erkennen und alter- zu identifizieren, die Gesundheit erzeugen (Saluto-
native Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln genese, 7 Abschn. 2.4.2).
und einzuüben.
i Vertiefen
10.3.1 Gesundheitsbezogener
Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2013) Einfüh-
Lebensstil
rung in die Gesundheitspsychologie. 3. Aufl.
Reinhardt, München (verständliche Darstellung
Auch im Zeitalter der Genomik gilt: Die häufigsten
der Modelle des Gesundheitsverhaltens)
chronischen Krankheiten sind ganz überwiegend
durch einen ungünstigen Lebensstil bedingt. Ein
prägnantes Beispiel: Raucher sterben im Durch-
10.3 Primäre Prävention schnitt 10 Jahre früher als Nichtraucher.
> Verhaltensabhängige, modifizierbare Risiko-
H. Faller, A. Reusch
faktoren, wie Rauchen, Bewegungsmangel
und ungesunde Ernährung, besitzen den
Lernziele
größten Anteil an der Entstehung häufiger
Der Leser soll
chronischer Krankheiten.
5 Prävalenzen der Komponenten eines gesund-
heitsförderlichen Lebensstils beschreiben kön- 55 % des bevölkerungsbezogenen attributablen
nen, Sterblichkeitsrisikos gehen auf Lebensstilfaktoren
5 die Prinzipen der motivierenden Gesprächsfüh- (Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht) zu-
rung beschreiben können. rück. Deshalb kann man durch einen gesundheits-
förderlichen Lebensstil sein Risiko reduzieren.
Nichtrauchen, gesunde Ernährung, ausreichende
Befragt man die Allgemeinbevölkerung nach ihren Bewegung sowie mäßiger Alkoholkonsum redu-
Wertvorstellungen, wird an 1. Stelle meist Gesund- zieren die Mortalität, das kardiovaskuläre Risiko
heit genannt. Gesundheit hat für das Individuum (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt, Schlagan-
wie auch für die Gesellschaft einen hohen Wert. fall), das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 und das
Diese Wertschätzung zeigt sich zum einen an den Krebsrisiko. Auch wer erst im Alter von 50 Jahren
hohen Ausgaben für das Gesundheitswesen auf aufhört zu rauchen, halbiert sein Lungenkrebsrisiko
gesellschaftlicher Ebene. Sie zeigt sich auch in der und gewinnt viele Lebensjahre. Körperliche Aktivi-
individuellen Bereitschaft, Geld für Gesundheits- tät schützt zudem vor Krankheiten des Bewegungs-
340 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

apparats (chronische Rückenschmerzen, alters- pelt so hoch sind allerdings die Angaben in der
bedingte Stürze) und der Psyche (Depression, De- ebenfalls vom Robert-Koch-Institut durchgeführ-
menz). In den westlichen Ländern haben jedoch ten Studie Gesundheit in Deutschland aktuell 2012
nur wenige Menschen einen gesundheitsförder- (GEDA12). Diese Abweichungen sind vermutlich
lichen Lebensstil. durch Unterschiede in der Methodik bedingt (bei
GEDA wurden auch Angaben zur intensiven Akti-
Rauchen Rauchen ist der Risikofaktor Nummer 1. vität während der Arbeit gezählt). Im Vergleich zu
Jeder 3. Mann und jede 4. Frau raucht. Bei Männern früheren Befragungen hat die körperliche Aktivität
und seit kurzem auch bei Frauen ist die Tendenz in der Bevölkerung zugenommen.
leicht rückläufig. Am häufigsten rauchen junge Er-
wachsene und Personen mit niedrigem sozialen Übergewicht Als Normalgewicht wird ein BMI von
Status, die auch mehr Zigaretten pro Tag rauchen. 18,5–24,9 kg/m2 gewertet. Zwei Drittel der Männer
50–60 % der Raucher erfüllen die Kriterien für Ab- und die Hälfte der Frauen sind übergewichtig
hängigkeit. Mit zunehmendem Alter steigt die Ab- (BMI 25 und mehr). Ein knappes Viertel leidet bei
hängigkeitsquote auf bis zu 75 % der Raucher an. beiden Geschlechtern an Adipositas (BMI 30 und
Auch Passivrauchen erhöht Krankheitsrisiken. Ge- mehr), mit zunehmender Tendenz. Normalgewich-
fährdet sind vor allem Kinder und Jugendliche im tig sind also nur ein Drittel der Männer und die
Haushalt rauchender Eltern. Ärzte sollten jedem Hälfte der Frauen. Übergewicht nimmt mit dem
Raucher immer wieder anraten, mit dem Rauchen Alter zu und ist in den unteren sozialen Schichten
aufzuhören. 3–6 % schaffen es von alleine für min- häufiger. Als Folge des Übergewichts leiden 36 %
destens 1 Jahr rauchfrei zu bleiben. Psychotherapie der Frauen und 31 % der Männer unter einer Hyper-
und Tabakentwöhnungsgruppen, kombiniert mit cholesterinämie. Eine arterielle Hypertonie weisen
10 medikamentöser Unterstützung (Nikotinkaugummi, 40 % der Frauen und 50 % der Männer auf. Sie wird
Vareniclin), erreichen Abstinenzraten von 30 %. jedoch viel seltener auch erkannt und behandelt.
Übergewicht ist ein Risikofaktor für weitere Er-
Bewegung Erwachsene sollten sich gemäß den krankungen wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-
Empfehlungen der WHO täglich ausreichend be- Erkrankungen sowie Gelenk- und Rückenbe-
wegen. Unterschieden wird moderate körperliche schwerden.
Aktivität (Radfahren, Wandern, Gartenarbeit etc.)
und intensive körperliche Aktivität (z. B. Spielsport, Ernährung Als gesundheitsförderlich wird eine
Joggen etc.). Um gesundheitsförderliche Effekte zu mediterrane Kost bzw. ein ausreichender Obst- und
erzielen, sollten moderate Aktivitäten für mindes- Gemüseverzehr (5 Portionen am Tag) empfohlen.
tens 30 min an 5 Tagen der Woche oder intensive Nur 15 % der Frauen und 7 % der Männer nehmen,
körperliche Aktivitäten an mindestens 20 min an wie empfohlen, am Tag 5 Portionen Obst oder Ge-
3 Tagen der Woche durchgeführt werden. Die Be- müse zu sich (DEGS1). Mindestens 3 Portionen
wegung kann aus einer Kombination gemäßigter konsumieren immerhin 39 % der Frauen und 25 %
und intensiver Übungen bestehen und sollte je Ein- der Männer. Der Obst- und Gemüsekonsum ist in
heit mindestens 10 min lang dauern. Übungen zur der letzten Zeit angestiegen, wenn auch auf niedri-
Stärkung der Muskelkraft und Ausdauer sollten zu- gem Niveau. Die Deutsche Gesellschaft für Ernäh-
sätzlich an 2–3 Tagen der Woche erfolgen. Etwa ein rung empfiehlt, täglich 250 g Obst zu konsumieren
Drittel der Erwachsenen gibt an, auf ausreichende (aufgeteilt auf 2 Portionen). Laut GEDA12 essen
körperliche Bewegung zu achten, aber nur ca. 25 % etwa 70 % der Frauen und 48 % der Männer (zu-
der Männer und 15 % der Frauen erreichen das von mindest 1-mal) täglich Obst. Die empfohlenen
der WHO empfohlene Niveau von mindestens 3 Portionen Gemüse pro Tag (insgesamt 400 g) wird
2,5 Stunden pro Woche einer moderaten Aktivität. ebenfalls selten erreicht. Weniger als die Hälfte der
Diese Zahlen entstammen der Studie zur Gesund- Erwachsenen in Deutschland (44 %) geben an, täg-
heit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) des lich Gemüse zu essen. Ein hoher Obst- und Ge-
Robert-Koch-Instituts von 2008–2011. Etwa dop- müsekonsum kann aber helfen, koronare Herz-
10.3 · Primäre Prävention
341 10
krankheiten, Hypertonie und Schlaganfall zu ver- werden. Dabei sollte ein nichtkonfrontativer Be-
meiden bzw. den Verlauf positiv zu beeinflussen. ratungsstil bevorzugt werden. Berater und Patient
sollten gemeinsam Ziele und Entscheidungen er-
Alkohol- und Substanzmissbrauch Andere gesund- arbeiten (Empowerment). Als Methoden können
heitsschädliche Verhaltensweisen, wie übermäßiger Prozesse des operanten Lernens (unmittelbare Ver-
Alkohol- und illegaler Drogenkonsum oder pro- knüpfung des Gesundheitsverhaltens mit positiven
blematischer Medikamentengebrauch, steigen an. Konsequenzen, z. B. sich wohl fühlen nach Sport)
Ein Drittel der befragten Männer und gut ein sowie des Modelllernens (Vorbilder, z. B. bekannte
Fünftel der befragten Frauen sind nach GEDA12 Sportler gegen Drogen) eingesetzt werden. Wichtig
Risikokonsumenten. Deutlich darunter liegen die ist, dass nicht nur die Einstellung zum Risikoverhal-
Schätzungen zu substanzbezogenen Störungen im ten verändert wird (z. B. »Ich will mit dem Rauchen
Jahr 2012. Hier zeigten 14 % einen riskanten Alko- aufhören«), sondern konkrete Handlungsalterna-
holkonsum innerhalb des letzten Monats. Dagegen tiven erarbeitet werden (z. B. »In der Arbeitspause
hatten im Zeitfenster des letzten Jahres nur 4,5 % esse ich einen Apfel, statt zu rauchen.«).
der Befragten Cannabis, 0,8 % Kokain und 0,7 % Die Motivierende Gesprächsführung (motiva-
Amphetamine konsumiert. Schmerzmittel waren tional interviewing) ist eine patientenzentrierte Be-
die am häufigsten eingenommenen Medikamente ratungstechnik, in der der Patient seine erlebten
(62 %). Schätzungen zur Substanzabhängigkeit Vor- und Nachteile der Verhaltensänderung reflek-
nach DSM-IV ergaben Prävalenzwerte von 3,1 % tiert. Sie basiert auf Empathie und aktivem Zuhö-
für Alkohol, 0,5 % für Cannabis, 0,2 % für Kokain, ren. Die Erhöhung der intrinsischen Motivation ist
0,1 % für Amphetamine und 3 % für Schmerzmittel. Ziel der Beratung (d. h. nicht für den Therapeuten
Vor allem in Pubertät und Adoleszenz, in der die oder den Ehepartner, sondern aus eigenem Antrieb
meisten Menschen zum ersten Mal Kontakt mit etwas am Lebensstil zu ändern). Ohne den Patien-
gesundheitsschädlichem Verhalten wie Zigaret- ten durch Beweisführungen und Argumente über-
tenrauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum haben, zeugen zu wollen, werden im Gespräch die wider-
spielen Gruppendruck, soziale Normen innerhalb sprüchlichen Einstellungen des Patienten einfüh-
der Peergroup und Sanktionen (z. B. ausgeschlos- lend erarbeitet (am Beispiel eines Alkoholabhängi-
sen zu werden) eine Rolle (7 Abschn. 4.8.1). gen: »Ich will einerseits weiter trinken. Andererseits
sehe ich mich selbst als sportlichen, gesunden Men-
schen, habe aber durch die Trinkerei bereits ge-
10.3.2 Praktisches Vorgehen sundheitliche Schäden.«).
bei der Motivierung Entscheidend ist, wie der Therapeut mit dieser
Ambivalenz des Patienten umgeht: Wenn er in der
Wie können nun Personen, bei denen bereits ein Richtung der erwünschten Seite des Konflikts (mit
verhaltensbezogener Risikofaktor vorliegt, zu ei- dem Trinken aufhören) argumentiert, wird der Pa-
nem gesundheitsförderlichen Lebensstil motiviert tient die andere Seite des Konflikts (alles beim Alten
werden? Bei der Überprüfung der verschiedenen zu lassen) verteidigen. Um das bisherige Gleichge-
gesundheitspsychologischen Modelle konnte ge- wicht aufrechtzuerhalten, betont er, seinen Lebens-
zeigt werden, dass eine Verhaltensänderung umso stil beizubehalten. Deshalb wird durch therapeu-
wahrscheinlicher ist, je höher die Selbstwirksam- tischen Druck in Richtung einer Veränderung eher
keitserwartung, die Handlungskompetenzen und das Gegenteil bewirkt, und alles bleibt beim Alten.
die individuell wahrgenommenen Vorteile sind Widerstand des Patienten gegen die Vorschläge des
bzw. je weniger bedeutsam die Nachteile der Verhal- Therapeuten kann also als Zeichen einer Dissonanz
tensänderung eingeschätzt werden (7 Abschn. 10.2). in der Therapeut-Patient-Beziehung verstanden
Diese Variablen können z. B. durch Information, werden, die durch Druck oder zu starke Konfronta-
Diskussion, das Anknüpfen an eigene Erfahrungen, tion entstanden ist. Der Therapeut sollte dem Pa-
Üben neuer Verhaltensweisen und den Einsatz von tienten lediglich helfen, die beiden Seiten seines
Selbstmanagementstrategien positiv beeinflusst inneren Konflikts herauszuarbeiten, die Auflösung
342 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

aber dem Patienten überlassen. Wenn der Thera- 10.4 Sekundäre Prävention
peut sich in dieser Situation eher auf die Seite des
Widerstands stellt, also die »guten Gründe« für das H. Faller
bisherige Verhalten herausstellt, wird der Patient
eher wieder den Veränderungswunsch betonen. Lernziele
Der Veränderungswunsch kommt von innen, wenn Der Leser soll
die Diskrepanz zwischen dem Ist-Zustand und den 5 kausale und nicht-kausale Risikofaktoren
Zielen groß genug geworden ist. Der Therapeut fo- unterscheiden können,
kussiert dann die Stärken des Patienten. Frühere 5 Voraussetzungen für den Einsatz von Screening-
Abstinenzversuche und Erfolge werden genutzt, um Tests nennen können,
die Selbstwirksamkeitserwartung zu fördern und 5 Nutzen und Schaden der Früherkennung
konkrete Handlungspläne zu erarbeiten. beschreiben können,
Bei der stufenspezifischen Beratung nach dem 5 die Begriffe Prävalenz und Inzidenz definieren
Transtheoretischen Modell werden Personen je können,
nach ihrer aktuellen Motivationsstufe unterschied- 5 Sensitivität und Spezifität sowie den positiven
lich beraten, um den Wechsel in die nächste Stufe und negativen Vorhersagewert definieren
zu fördern. So wird in der Stufe Absichtslosig- können.
keit durch Informationsvermittlung ein Problem-
bewusstsein geweckt, in der Stufe der Absichtsbil- Unter sekundärer Prävention versteht man die Prä-
dung die ambivalente Motivation geklärt und das vention von Krankheiten, wenn schon Risikofakto-
»Warum?« herausgearbeitet. In der Stufe der Vor- ren vorliegen, sowie die Früherkennung von Erkran-
bereitung wird die Selbstwirksamkeitserwartung kungen, mit dem Ziel, eine Krankheit rechtzeitig zu
10 gefördert und das »Wie?« (Veränderungsplan) he- behandeln, solange sie noch keinen großen Schaden
rausgearbeitet, und in den Stufen Handlung und angerichtet hat. Außerdem wird die Verhinderung
Aufrechterhaltung wird durch positive Verstärkung eines erneuten Krankheitsereignisses (z. B. eines
(Belohnung, Lob) und Rückfallmanagement das Herzinfarktrezidivs) bei schon bestehender Erkran-
neue Verhalten gefestigt. kung als sekundäre Prävention bezeichnet.
Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns
(HAPA-Modell) werden konkrete Handlungspläne
(»Wann-Wo-Wie-Pläne«: »Was werde ich konkret 10.4.1 Risiko- und Schutzfaktoren
tun, wann, wo und wie?«) als therapeutische Tech-
niken eingesetzt, um die Lücke zwischen Intention Risikofaktoren können kausal oder nicht-kausal
und Handlung zu schließen (z. B. »Jeden Dienstag sein. Im 1. Fall spricht man von kausalen Risiko-
und Donnerstag fahre ich mit dem Fahrrad zur Ar- faktoren, im zweiten Fall von Risikoindikatoren.
beit, jeden Freitagabend treffe ich mich mit meinen Kausal heißt, dass das Vorhandensein des Risiko-
Freunden auf dem Sportplatz zum Fußball.«). faktors ursächlich dazu beträgt, dass die Krankheit
Schwierigkeiten, die beim Versuch, die Vorsätze in entsteht. Nichtkausal heißt, dass das Vorhanden-
die Tat umzusetzen, auftreten können, werden sein des Risikofaktors ein erhöhtes Risiko für die
schon im Vorhinein angesprochen, um konkrete Entstehung einer Krankheit anzeigt, dieses Risiko
Lösungen zu finden (Bewältigungspläne). aber nicht selbst herbeiführt. Vielmehr existiert eine
3. Variable, mit der der nichtkausale Risikofaktor
i Vertiefen
assoziiert ist und die selbst wiederum kausal wirkt.
Miller WR, Rollnick S (2009) Motivierende
Gesprächsführung, 3. Aufl. Lambertus, Freiburg
Kausale Risikofaktoren Kausale Risikofaktoren
(ausführliche, anschauliche Darstellung der
sind pathogenetisch wirksame Faktoren, deren Vor-
motivierenden Gesprächsführung)
handensein die Wahrscheinlichkeit für das Auf-
treten einer Erkrankung erhöht. Es ist nur dann
sinnvoll, diese Risikofaktoren zu beseitigen, wenn
10.4 · Sekundäre Prävention
343 10
sie tatsächlich einen kausalen Einfluss auf die indikatoren und der Krankheitsentstehung bzw.
Krankheitsentstehung ausüben. Kausal heißt aber dem Krankheitsverlauf ist durch eine konfundie-
nicht, dass die Krankheit immer und in jedem Fall rende Variable (Confounder) bedingt, die tat-
entsteht, wenn ein Risikofaktor vorliegt. Meist trägt sächlich kausal wirkt und auch mit dem Risikoindi-
ein einzelner Risikofaktor nur einen kleinen Teil zur kator in Zusammenhang steht (7 Abschn. 3.4.1). Der
Krankheitsentstehung bei, wodurch sich aber das Risikoindikator hat seine Vorhersagekraft durch
Krankheitsrisiko erhöht. diese Assoziation mit einem kausalen Risikofaktor
Risikofaktoren sind also nicht deterministische »geborgt«. Beispiel: Die Tumorausbreitung beein-
Ursachen von Krankheiten, die immer und auf flusst sowohl den Tumormarker als auch die Über-
jeden Fall eine Krankheit auslösen, sondern ledig- lebenszeit. Deshalb ist die Konzentration des Tu-
lich Einflussfaktoren in einem komplexen Prozess mormarkers vorhersagekräftig für die Überlebens-
multifaktorieller Verursachung. Wenn ein Risiko- zeit, obwohl er keine kausale Wirkung ausübt.
faktor vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit aber
größer, dass die Krankheit eintritt. Beispiel: Hyper-
WHO-Programm
cholesterinämie fördert die Atherosklerose der
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte
Koronargefäße. Dadurch kann es im Zusammen-
in ihrem Weltgesundheitsbericht von 2002
wirken mit anderen Risikofaktoren im Lauf vieler
»Risiken senken – gesundes Leben fördern« für
Jahre zu einer Verengung (Stenose) der Herzkranz-
die industrialisierten Länder 7 Hauptrisiko-
gefäße (koronare Herzkrankheit) kommen. Erst bei
faktoren definiert, die die meisten vorzeitigen
einem vollständigen Verschluss einer Stenose durch
Todes- und Krankheitsfälle hervorrufen:
einen Thrombus tritt schließlich ein Herzinfarkt
5 Bluthochdruck
ein. Es ist also ein weiter Weg vom Risikofaktor zum
5 Tabakkonsum
Krankheitsereignis.
5 Erhöhter Serumcholesterinspiegel
Wenn alle Menschen, bei denen ein bestimmter
5 Übergewicht
Risikofaktor vorliegt, die entsprechende Krankheit
5 Zu geringer Obst- und Gemüseverzehr
bekommen würden, wäre dieser Zusammenhang
5 Bewegungsarmut
deterministisch. Dies ist extrem selten der Fall.
5 Alkoholkonsum.
Meist ist der Zusammenhang probabilistisch, d. h.
der Risikofaktor erhöht nur die Wahrscheinlichkeit
für das Auftreten der Krankheit: Menschen, die den
Risikofaktor tragen, haben ein erhöhtes Risiko für Schutzfaktoren Schutzfaktoren sind Faktoren, die
diese Krankheit im Vergleich zu Menschen ohne vor Krankheit schützen und Gesundheit erhalten.
diesen Risikofaktor. Für den Einzelfall kann man Dazu gehören gesunde Ernährung, körperliche Ak-
aber nicht vorhersagen, ob ein Mensch, der den tivität, ausreichende Erholung, um Stress vorzubeu-
Risikofaktor trägt, erkranken wird oder nicht. gen, ein Genussverhalten ohne übermäßigen Alko-
hol und andere suchterzeugende Substanzen sowie
Risikoindikatoren Faktoren, deren Vorhandensein ein unterstützendes soziales Netzwerk.
zwar mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, die
im kausalen Mechanismus jedoch keine Rolle spie- Gruppenbezogene vs. individuelle Betrachtung
len, nennt man Risikoindikatoren (marker). Sie ent- Auch wenn das Risiko für eine bestimmte Erkran-
halten zwar Information über den Krankheitspro- kung in der Gruppe derjenigen Menschen, die einen
zess, bringen ihn jedoch nicht ursächlich zustande Risikofaktor tragen, im Durchschnitt erhöht ist, so
(7 Abschn. 1.1.5). Beispiel: Tumormarker wie das lässt sich daraus nicht ableiten, dass jeder einzelne
prostataspezifische Antigen (PSA) bei Prostatakar- Mensch mit einem Risikofaktor auch erkranken
zinom sagen die Überlebenszeit voraus, beeinflus- wird. Ob es den Einzelnen trifft oder nicht, lässt sich
sen sie jedoch nicht ursächlich. Risikoindikatoren daraus nicht mit Sicherheit ableiten. Dasselbe gilt
zu therapieren, würde bedeuten, am Symptom zu auch für genetische Risiken, wie sie in der prädik-
kurieren. Der Zusammenhang zwischen Risiko- tiven Medizin untersucht werden (7 Abschn. 8.5).
344 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

So beträgt beim hereditären Brustkrebs das Risiko, maßnahme durchführen, reduziert, ist dies, wie ge-
im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, sagt, für den Einzelfall keineswegs gewährleistet.
für eine Frau, die ein disponierendes Gen trägt, Der Nutzen für jeden Einzelnen ist also unsicher.
je nach Studie bis zu 85 %. Für die einzelne Frau Hinzu kommt, dass Menschen zu einem unrealis-
ist jedoch derzeit nicht klar auszumachen, ob sie zu tischen Optimismus neigen. Sie gestehen zwar
den 85 % gehören wird, die an Brustkrebs erkran- durchaus zu, dass das Krankheitsrisiko bei Vorlie-
ken werden, oder zu den 15 %, die gesund bleiben. gen eines Risikofaktors im Allgemeinen erhöht ist,
Umgekehrt gilt für die Risikoreduktion, die man nehmen sich selbst jedoch von diesem Risiko aus.
durch eine präventive Maßnahme erreichen kann,
ebenfalls, dass man nicht im Vorhinein sagen kann, Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger) Wenn
ob eine einzelne Person von einer Maßnahme pro- Menschen feststellen, dass ihr Verhalten im Wider-
fitieren wird oder nicht, selbst wenn man auf der spruch zu ihren Einstellungen steht, ändern sie, um
Gruppenebene eine Risikoreduktion erzielt. Es ist diese kognitive Dissonanz zu reduzieren, häufig eher
eine wichtige Aufgabe der Risikokommunikation, ihre Einstellungen als ihr Verhalten. Sie versuchen,
diesen Sachverhalt und die damit verbundene Un- Rechtfertigungen für ihr Verhalten zu finden. Dies ist
sicherheit so zu vermitteln, dass der Patient dies besonders eindrucksvoll, wenn man Lungenkrebs-
versteht und einen Nutzen davon hat. Hierfür sind patienten zu ihrem Rauchverhalten befragt. Bei-
anschauliche Kennziffern wie die Number needed spiele: »Ich habe geraucht. Ob das Rauchen allerdings
to treat (7 Abschn. 3.7.5) oder graphische Darstel- der Grund ist, bezweifle ich. Dazu gibt’s zu viele
lungen wie im ARRIBA-Programm (7 Abschn. widersprüchliche Meinungen.« – »Es gibt Nicht-
8.1.2) hilfreich. raucher, die auch Lungenkrebs haben.« – »Sicher,
Rauchen ist nicht gesund, das ist erwiesen. Aber ich
10 glaube, dass die Umwelt mehr verschmutzt ist und
10.4.2 Diskrepanz zwischen Einstellung mehr Krankheiten erzeugt als eine Zigarette.«
und Verhalten
Gewohnheiten Das Risikoverhalten ist meist eine
Auch wenn ein Mensch eine positive Einstellung Gewohnheit, die sich über viele Jahre verfestigt hat
gegenüber einem bestimmten Gesundheitsverhal- und deshalb nicht einfach aufgegeben werden kann.
ten hat, heißt dies noch lange nicht, dass er das ent- Jede Veränderung einer Routine erfordert Anstren-
sprechende Verhalten auch ausführt. Ganz im Ge- gung. Außerdem ist das Risikoverhalten meist mit
genteil, hier können deutliche Diskrepanzen beste- einem kurzfristigen Genuss verbunden, z. B. Ent-
hen. Umgekehrt wissen viele Raucher über die ge- spannung durch Rauchen, während die negativen
sundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens Konsequenzen (z. B. Lungenkrebs) erst weit in der
sehr gut Bescheid. Trotzdem hören sie nicht mit Zukunft liegen. Verhalten wird jedoch eher von den
dem Rauchen auf. Wie kommt das? kurzfristigen als den langfristigen Konsequenzen
gesteuert. Deshalb ist es wichtig, den Betroffenen
Widerstände gegen Verhaltensänderung Nur weni- auch kurzfristig angenehme Konsequenzen des Ge-
ge Menschen, denen in einer Patientenschulung sundheitsverhaltens zu vermitteln (z. B. besserer
oder einem Gesundheitsförderungsprogramm eine Atem bei Aufgabe des Rauchens).
Lebensstiländerung empfohlen wird, um Krank-
heiten vorzubeugen, setzen diese Empfehlung un- Reaktanz Menschen reagieren auf Einschränkun-
mittelbar in ihr Handeln um. In den meisten Fällen gen ihrer Freiheit mit Widerstand (Reaktanz). Sie
reagieren die Betroffenen hingegen erst einmal mit lassen sich nicht gerne sagen, was sie zu tun haben,
Widerstand. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine zumal nicht von Experten, die alles besser wissen.
Rolle. Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben,
ist paternalistisch und entspricht nicht dem Bild
Risikowahrnehmung Auch wenn sich das Risiko eines autonomen Individuums. In den USA haben
für die Gruppe der Menschen, die eine Präventions- sich sogar schon Bedenken geregt, dass Menschen
10.4 · Sekundäre Prävention
345 10
wegen ihres Risikoverhaltens diskriminiert werden einziger Todesfall an Brustkrebs verhindert werden.
könnten. Diese Tendenz wurde als healthism (in Die Number needed to treat beträgt also 2.000.
Analogie zu sexism oder racism) bezeichnet. Des- Umgekehrt bedeutet dies, dass 1.999 Frauen keinen
halb ist es ganz wichtig, dass die Betroffenen auf der Nutzen vom Mammographie-Screening haben.
Basis aller notwendigen Informationen und Fertig- Das größte Problem der Brustkrebsfrüherken-
keiten letztendlich selbst entscheiden können, ob sie nung ist die Überdiagnose. Darunter versteht man
ihr Verhalten ändern wollen oder nicht (Empower- die Entdeckung von Tumoren, die ohne Früher-
ment; 7 Abschn. 8.1.3). kennung während der Lebenszeit der Frau klinisch
nie manifest geworden wären, weil sie sehr langsam
wachsen. Hat man sie jedoch einmal entdeckt, muss
10.4.3 Einsatz von Screening-Verfahren man sie auch behandeln, weil man ihre Wachstums-
geschwindigkeit nicht sicher einschätzen kann.
Screening-Verfahren (Filtertests) dienen der Früher- 19 % aller durch das Screening entdeckter Tumore
kennung von Krankheiten (sekundäre Prävention). sind überdiagnostiziert. Diese 19 % der Frauen
haben nicht nur keinen Nutzen, sondern nur einen
Schaden durch die Früherkennung. Hinzu kommen
Voraussetzungen für den Einsatz
psychische Nebenwirkungen durch die sehr häufi-
von Screening-Tests
gen falsch-positiven Befunde (7 Abschn. 10.4.4). All
5 Es muss sich um eine häufige Krankheit mit
diese Informationen müssen Frauen auf verständ-
gravierenden Folgen handeln.
liche Weise vermittelt werden (Risikokommunika-
5 Es muss eine wirksame Therapie zur Früh-
tion), damit sie eine informierte Entscheidung da-
behandlung der Krankheit vorhanden sein,
rüber treffen können, ob sie an einem Früherken-
die von den Patienten akzeptiert wird.
nungsprogramm teilnehmen wollen oder nicht.
5 Es muss ein guter Screening-Test vorhanden
Die Effektivität des PSA-Screenings beim Pros-
sein (zu den Gütekriterien, 7 Abschn. 10.4.4).
tatakarzinom ist zurzeit unbewiesen. Die Mortalität
5 Der Nutzen von Screening, Frühdiagnose
lässt sich dadurch nicht reduzieren. Die Rate der
und Frühtherapie muss durch randomi-
Übertherapie (mit entsprechenden Nebenwirkun-
sierte, kontrollierte Studien belegt sein.
gen wie Inkontinenz und erektile Dysfunktion) ist
jedoch hoch. Viele Prostatakarzinome nehmen
Ein Screening ist dann effektiv, wenn durch die einen eher gutartigen, langsamen Verlauf und wür-
Frühdiagnose und Frühbehandlung Überlebenszeit den während der Lebenszeit des Trägers ohne
und/oder Lebensqualität der Patienten verbessert Screening nie manifest werden.
werden. Die Überlebenszeitverlängerung muss über
diejenige Zeit hinausgehen, die allein durch die Psychische Nebenwirkungen Die Lebensqualität
Vorverlegung der Diagnose gewonnen wird (lead von Frauen, die sich einem Brustkrebs-Screening
time). Denn diese Zeit ist keine zusätzliche Über- unterziehen, kann beeinträchtigt sein. Beim Mam-
lebenszeit, sondern lediglich zusätzliche Zeit, in der mographie-Screening treten nämlich viele falsch-
der Patient schon weiß, dass er krank ist. positive Befunde auf (falscher Alarm). 61 % der
Frauen, die 10 Jahre lang gescreent werden, erhalten
Nutzen und Schaden Das am besten untersuchte mindestens 1-mal einen falsch-positiven Befund.
Screening-Verfahren ist die Mammographie (Rönt- Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit posi-
genuntersuchung der Brust) zur Früherkennung von tivem Mammogramm auch Brustkrebs hat, ist sehr
Brustkrebs. Ob sie mehr nutzt als schadet, ist aller- viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie
dings umstritten. Eine Metaanalyse (Cochrane Re- keinen Brustkrebs hat (7 Abschn. 10.4.4). Unklare
view) kommt auf der Basis von 7 Studien zu fol- oder falsch-positive Befunde erregen jedoch Angst.
genden Aussagen: Wenn 2.000 Frauen im Alter zwi- Die psychische Belastung ist noch 3 Jahre nach
schen 50 und 69 Jahren regelmäßig über 10 Jahre am einem falsch-positiven Befund erhöht. Hinzu kom-
Brustkrebs-Screening teilnehmen, kann dadurch ein men die körperlichen Nebenwirkungen durch die
346 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

erforderlichen zusätzlichen diagnostischen Maß- hören Sensitivität und Spezifität. Diese Kriterien
nahmen und Eingriffe. Die psychischen Nebenwir- können anhand eines Vier-Felder-Schemas erläu-
kungen lassen sich reduzieren, wenn Ärzte Frauen tert werden (. Abb. 10.6). In diesem Vier-Felder-
darüber informieren, wie häufig falsch-positive Er- Schema werden das tatsächliche Vorhandensein
gebnisse sind. einer Krankheit, in unserem Beispiel einer De-
pression, die vorhanden oder nicht vorhanden sein
kann, und das Ergebnis eines diagnostischen Tests,
10.4.4 Wichtige epidemiologische der positiv oder negativ ausfallen kann, miteinander
Begriffe zur Beurteilung kombiniert. Ein guter Test fällt positiv aus, wenn die
von Screenings Krankheit tatsächlich vorhanden ist (Feld a: richtig
positiv), hingegen negativ, wenn die Krankheit tat-
Prävalenz Je höher die Prävalenz einer Krankheit, sächlich nicht vorhanden ist (Feld d: richtig nega-
umso größer der Nutzen eines Screenings. Die Prä- tiv). Da Tests aber keine perfekte Validität besitzen,
valenz ist definiert als die Häufigkeit einer Krank- kommen auch falsch-positive (Feld b) und falsch-
heit in einer Population. Man unterscheidet die negative (Feld c) Ergebnisse vor. Das tatsächliche
»wahre« Prävalenz (Häufigkeit in der Allgemein- Vorhandensein der Krankheit, um die es geht, wird
bevölkerung) von der Inanspruchnahmeprävalenz in Validierungsstudien durch das Ergebnis eines
(Häufigkeit in Patientengruppen). Inanspruch- Referenzstandards festgelegt. Referenzstandards
nahmeprävalenz kann sich z. B. beziehen auf Pa- können beispielsweise pathologische Befunde (z. B.
tienten einer Allgemeinpraxis (Primärversorgung), Biopsie bei Brustkrebs) sein. Im Bereich psychi-
eines allgemeinen Krankenhauses (sekundäre Ver- scher Störungen gibt es derartige objektive Kriterien
sorgung) oder eines spezialisierten universitären (noch) nicht. Als Referenzstandard wird bei psychi-
10 Zentrums (tertiäres Zentrum). Punktprävalenz ist schen Störungen meist ein strukturiertes klinisches
die Prävalenz während eines bestimmten Zeit- Interview nach ICD oder DSM verwandt.
punkts (z. B. 1 Tag, 1 Woche oder 1 Monat), Perio- Sensitivität und Spezifität sind Kennwerte, die
denprävalenz die Prävalenz während eines länge- vom »tatsächlichen« Vorhandensein einer Krank-
ren Zeitraums (z. B. 1-Jahresprävalenz, Lebenszeit- heit ausgehen, d. h. von der Klassifikation der Pro-
prävalenz). Man muss also bei der Prävalenz immer banden je nach dem Ergebnis des Referenzstan-
angeben, auf welche Population sie sich bezieht und dards. Die Sensitivität gibt an, wie viele von den-
auf welchen Zeitpunkt bzw. Zeitraum. jenigen Patienten, die eine Krankheit tatsächlich
haben, vom Test auch als positiv identifiziert werden
Inzidenz Inzidenz bezeichnet die Anzahl der Neu- (. Abb. 10.6). Bezugsgruppe der Sensitivität ist also
erkrankungen in einer Population während eines die Gruppe derjenigen Probanden, die die gesuchte
bestimmten Zeitraums. Wenn es sich um einen län- Krankheit aufweisen. Die Sensitivität vermindert
geren Zeitraum, wie z. B. 1 Jahr, handelt und man sich, wenn der Test viele falsch-negative Ergebnisse
alle während dieser Zeit neu aufgetretenen Krank- produziert, also in unserem Beispiel tatsächlich de-
heitsfälle sammelt, spricht man auch von kumula- pressive Patienten nicht entdeckt. . Abb. 10.7 ver-
tiver Inzidenz. anschaulicht dies graphisch: In einer Gruppe von
100 Probanden (durch Kästchen dargestellt) sind
> Prävalenz und Inzidenz sind Häufigkeitsanga-
20 depressiv (ausgefüllte Kreise) und 80 nicht (leere
ben. Sie können sich auf eine Krankheit be-
Kreise; Prävalenz 20 %, . Abb. 10.7a). Das Test-
ziehen, aber auch auf subjektive Beschwerden
ergebnis ist durch die Schattierung der Kästchen
(z. B. Prävalenz von Rückenschmerzen) oder
dargestellt (. Abb. 10.7b). Für die Bestimmung der
auf Risikofaktoren (z. B. Prävalenz von Über-
Sensitivität greifen wir die Untergruppe derjeni-
gewicht).
gen 20 Probanden heraus, die die Krankheit besitzen
(. Abb. 10.7c). Von diesen werden 80 %, d. h. 16 von
Sensitivität und Spezifität Zu den klassischen Kri- 20, richtig positiv klassifiziert, also als depressiv er-
terien für die Bewertung eines Screening-Tests ge- kannt. Die Sensitivität beträgt also 80 %. Bei 4 Pro-
10.4 · Sekundäre Prävention
347 10

. Abb. 10.6 Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert anhand einer Vierfeldertafel

banden fällt der Test hingegen falsch-negativ aus. Sie in unserem graphischen Beispiel die 80 Gesunden
werden als vom Test als unauffällig, d. h. gesund, herausgreifen, so werden von diesen bei einer
klassifiziert, obwohl sie eigentlich krank sind. Spezifität von 80 % 64 korrekt negativ getestet
Die Spezifität gibt an, wie viele Patienten, die (. Abb. 10.7d). Die übrigen 16 werden fälschlicher-
keine Depression haben, vom Test auch als negativ, weise als »krank« gemeldet, obwohl sie in Wirklich-
d. h. unauffällig, klassifiziert werden (. Abb. 10.6). keit gesund sind (falsch-positiv).
Ein Test mit hoher Spezifität erkennt Gesunde
korrekterweise als gesund und fällt negativ aus. Positiver und negativer Vorhersagewert (Prädik-
Die Spezifität vermindert sich, wenn der Test viele tionswert) Sensitivität und Spezifität gehen, wie ge-
falsch-positive Ergebnisse produziert. Für die Be- sagt, vom tatsächlichen Vorhandensein bzw. Nicht-
stimmung der Spezifität ist demnach die Unter- vorhandensein einer Krankheit aus, das in einer
gruppe der Gesunden die Bezugsgröße. Wenn wir Validierungsstudie mittels eines Referenzstandards
348 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

a b c

10 d
e
f

. Abb. 10.7a-f Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert, graphisch illustriert (nach Faller 2005)

bestimmt wurde. Im klinischen Alltag haben wir jenige der Kranken). In der graphischen Darstellung
einen derartigen Referenzstandard aber meist nicht (. Abb. 10.7e) werden jetzt also die schattierten
regelmäßig zur Verfügung. Hier sind wir zunächst Kästchen herausgegriffen, und wir bestimmen, wie
mit dem Testergebnis konfrontiert, das positiv oder viele von ihnen auch in Wirklichkeit erkrankt sind
negativ ausgefallen ist. Im Alltag steht man deshalb (ausgefüllte Kreise): Bei 32 Probanden ist der Test
häufiger vor der umgekehrten Frage, ob denn die- positiv ausgefallen, aber nur 16 davon sind tatsäch-
jenigen Patienten, die positiv getestet wurden, auch lich depressiv. Der positive Vorhersagewert beträgt
tatsächlich die entsprechende Krankheit besitzen, somit 50 %.
nach der der Test sucht (in unserem Beispiel eine Analog gibt der Vorhersagewert eines nega-
Depression). tiven Testergebnisses (syn. negativer Vorhersage-
Hierüber gibt der Vorhersagewert eines posi- wert, negativer Prädiktionswert, negativer prädik-
tiven Testergebnisses (auch positiver Vorhersage- tiver Wert, negative Korrektheit) Auskunft darüber,
wert, positiver Prädiktionswert, positiver prädik- ob Testnegative auch tatsächlich »gesund«, d. h.
tiver Wert oder positive Korrektheit genannt) Aus- nicht depressiv, sind (. Abb. 10.6). Graphisch dar-
kunft (. Abb. 10.6). Der Vorhersagewert eines posi- gestellt, geht es jetzt um die Untergruppe der nicht-
tiven Tests gibt an, wie hoch der Anteil der tatsächlich schattierten Kästchen (. Abb. 10.7f). Von den
depressiven Patienten unter den positiv getesteten 68 Testnegativen haben 64, d. h. 94 %, auch tatsäch-
Patienten ist. Bezugsgruppe ist jetzt die Gruppe der lich keine Depression. Der negative Vorhersagewert
Testpositiven (nicht, wie bei der Sensitivität, die- beträgt also 94 %. Vier Probanden wurden jedoch
10.5 · Tertiäre Prävention
349 10
falsch-negativ getestet, d. h. der Test signalisiert
»gesund«, obwohl de facto die gesuchte Krankheit
vorliegt.
Positiver und negativer Vorhersagewert sind
(im Unterschied zu Sensitivität und Spezifität) in
hohem Maße von der Prävalenz, d. h. der Basisrate
der Störung in der untersuchten Population, ab-
hängig. Bei gleicher Sensitivität und Spezifität, aber
einer niedrigeren Prävalenz von z. B. 10 %, sinkt der
prädiktive Wert eines positiven Tests auf 31 % ab,
wie sich leicht nachrechnen lässt. Hohe Sensitivität
allein ist also kein anzustrebendes Ziel. Es reicht
nicht aus, dass Screening-Tests eine hohe Sensitivi-
tät haben und alle belasteten Patienten auch erken-
nen. Eine hohe Spezifität ist ebenso wichtig. Ist die . Abb. 10.8 Vorhersagewert eines positiven Mammo-
Spezifität nicht ausreichend hoch, resultieren viele graphieergebnisses
falsch-positive Ergebnisse. Der Vorhersagewert
eines positiven Ergebnisses ist dann gering. lenz nur 50 %. Von 2 positiv getesteten Männern ist
also nur 1 tatsächlich HIV-infiziert.
Positiver Vorhersagewert bei häufigen Screenings
i Vertiefen
Bei der Mammographie hatten wir weiter oben
Gigerenzer G (2009) Das Einmaleins der Skepsis.
schon erwähnt, dass nur wenige Frauen, die ein po-
6. Aufl. Berlin Taschenbuch Verlag, Berlin (gut
sitives Testergebnis haben, tatsächlich an Brust-
verständliches Buch über die Vor- und Nachteile
krebs leiden. Dies können wir nun genauer bestim-
von Screenings, mit vielen anschaulichen, leicht
men. In . Abb. 10.8 ist anhand eines Baumdia-
nachvollziehbaren Beispielen)
gramms mit 1.000 Frauen dargestellt, wie die posi-
tiven Befunde zustande kommen, unter realistischen
Annahmen für die (altersgruppenbezogene) Präva-
lenz, Sensitivität und Spezifität. Von den 8 kranken 10.5 Tertiäre Prävention
Frauen werden 7 richtig erkannt (wegen der Sensi-
tivität von 90 %). Von den 992 gesunden werden H. Faller
aber wegen der Spezifität von 93 % nur 922 negativ,
70 hingegen falsch-positiv getestet. Insgesamt ha- Lernziele
ben wir damit 77 positive Testergebnisse, von denen Der Leser soll
aber nur 7 (9 %) richtig-positiv sind. Mit anderen 5 die Dimensionen der ICF (Internationale Klassifi-
Worten: Von 11 Frauen mit positivem Mammo- kation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
graphiebefund hat nur 1 einzige Brustkrebs. Gesundheit) beschreiben können,
Ähnlich ist die Situation bei anderen Screening- 5 unterschiedliche Krankheitsbewältigungsstrate-
Tests. Zur Früherkennung von Darmkrebs wird gien beschreiben können,
ein Test auf verborgenes Blut im Stuhl verwandt 5 Auswirkungen einer Krebserkrankung auf die
(Hämokkulttest). Nur 4,8 % der Personen mit posi- Partnerschaft beschreiben können.
tivem Hämokkulttest haben wirklich Darmkrebs.
Zum Screening auf HIV-Infektion werden Bluttests > Tertiäre Prävention soll der Verschlimmerung
mit sehr hoher Sensitivität und Spezifität durchge- chronischer Krankheiten vorbeugen und Be-
führt. Bei Männern, die keiner der bekannten Risi- hinderungen im Alltag entgegenwirken, da-
kogruppen (Homosexuelle, i.v.-Drogenabhängige) mit die Betroffenen möglichst weitgehend
angehören, beträgt der positive Vorhersagewert am normalen Leben in Familie, Beruf und Ge-
dennoch wegen der insgesamt sehr geringen Präva- sellschaft teilnehmen können.
350 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

10.5.1 Chronische Krankheit Außerdem werden Kontextfaktoren in der Person


und Behinderung des Betroffenen (Beispiel: Bewältigungsstrategien)
und in der Umwelt (Beispiel: barrierefreier Arbeits-
Chronische Krankheiten Chronische Krankheiten platz) betrachtet, die die Integration erleichtern oder
bringen für die Betroffenen eine Reihe von Ein- erschweren können. Erst unter Berücksichtigung
schränkungen mit sich. Dazu gehören andauernde sämtlicher Einflussfaktoren des ICF-Modells bei der
körperliche Beschwerden, Einschränkungen von Analyse der individuellen Situation eines Betroffe-
Alltagsfunktionen und -aktivitäten (z. B. Gehen, nen lässt sich entscheiden, inwieweit eine Krankheit
Treppensteigen, Heben und Tragen) und vermin- zu einer Einschränkung der gesellschaftlichen Teil-
derte berufliche Leistungsfähigkeit. Hieraus kön- habe führt. Umgekehrt können Maßnahmen auf
nen Behinderungen resultieren, die die soziale Inte- allen Ebenen des Modells (nicht nur bei der medizi-
gration bedrohen. Bei chronischen Krankheiten nischen Behandlung der Krankheit) ansetzen, um
kann das Ziel der Behandlung meist nicht die das Ziel der Teilhabe zu fördern (z. B. Training von
Wiederherstellung der Gesundheit sein. Es geht Funktionen, die eingeschränkt sind, oder berufliche
vielmehr um tertiäre Prävention, d. h. darum eine Umschulung nach unfallbedingter Behinderung).
Verschlimmerung zu verhindern und die Folgen
abzumildern. Es geht darum, einer zunehmenden
Chronifizierung mit negativen Auswirkungen auf 10.5.2 Personale Krankheitsbewältigung
alle Lebensbereiche entgegenwirken. Diese Aufgabe
wird insbesondere durch die medizinische Rehabi- Ob ein durch eine Krankheit hervorgerufener Ge-
litation geleistet (7 Abschn. 10.6.1). sundheitsschaden zu einer Störung der Funktions-
fähigkeit im Alltag und der sozialen Integration
> Aus der medizinischen Diagnose lässt sich
10 meist nicht eins zu eins ableiten, welche All-
(Teilhabe) führt, hängt in hohem Maße von der per-
sönlichen Krankheitsbewältigung des Betroffenen
tagsfunktionen beeinträchtigt sind. Ein und
ab. Chronische Krankheiten haben auch psycho-
dieselbe Diagnose kann vielmehr mit unter-
soziale Auswirkungen. Sie können Ängste oder eine
schiedlichen Folgen für das betroffene Indivi-
Depression auslösen, beeinträchtigen das Selbst-
duum einhergehen. Deshalb hat die WHO in
wertgefühl und stellen den bisherigen Lebensent-
Ergänzung zur Internationalen Klassifikation
wurf in Frage. Emotional belastete Betroffene erle-
der Krankheiten (ICD) eine Internationale
ben die Folgen ihrer Krankheit für das Alltagsleben
Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be-
als gravierender, ihre Funktionsfähigkeit im Alltag
hinderung und Gesundheit (ICF) entwickelt.
(Aktivität) und berufliche Leistungsfähigkeit (Parti-
zipation) sind gefährdet. Welche »Krankenkarriere«
ein Mensch einschlägt und in welchem Maße er am
ICF-Dimensionen auf Ebene der Person normalen Leben teilnimmt, hängt von seinen Be-
5 Körperfunktionen und Körperstrukturen: wältigungsstrategien, den persönlichen und sozialen
krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der Ressourcen ab.
anatomischen Struktur und physiologi- Unter Krankheitsbewältigung (Coping) ver-
schen Funktion auf körperlicher und psy- steht man alle Anstrengungen des Betroffenen, die
chischer Ebene (z. B. Herzinfarkt). durch die Krankheit hervorgerufenen Belastungen
5 Aktivität: Fähigkeit, im Alltagsleben be- auszugleichen und zu meistern, um ein neues seeli-
stimmte Leistungen zu vollbringen; Funk- sches Gleichgewicht zu finden. Synonym mit dem
tionsfähigkeit (z. B. schwere Lasten heben). Begriff Krankheitsbewältigung wird auch Krank-
5 Partizipation: Teilhabe an Beruf und Gesell- heitsverarbeitung verwandt. Damit wird zum Aus-
schaft, soziale Integration (z. B. seinen Beruf druck gebracht, dass es nicht von vornherein aus-
als Landwirt oder Sachbearbeiter ausführen gemacht ist, dass die Krankheitsbewältigung auch
können). erfolgreich ist: Krankheitsbewältigung kann auch
misslingen.
10.5 · Tertiäre Prävention
351 10
Stresstheorie von Lazarus Die kognitiv-transaktio- dersetzen und die Abwehr reduzieren. An die Stelle
nale Stressbewältigungstheorie von Lazarus ist die von Abwehrprozessen treten dann Copingstrate-
einflussreichste Theorie der letzten Jahrzehnte. Die gien. Abwehr, kurzfristig und vorübergehend als
Theorie ist kognitiv, weil in ihrem Zentrum sub- Notfallreaktion eingesetzt, kann also mittelfristig
jektive Bewertungen stehen. Transaktional heißt sie, situationsangemessenes Coping ermöglichen. Lang-
weil sie Stress als Ergebnis einer Wechselwirkung fristig führt Verleugnung aber zu mehr emotionaler
zwischen Person und Umwelt betrachtet. Belastung und mangelnder Mitarbeit bei Therapie
Am Anfang des Bewältigungsprozesses steht und Nachsorge.
die primäre Bewertung (primary appraisal): Eine
Person schätzt ein, ob eine Situation für das eigene Aktives Coping Hierunter versteht man die aktive
Wohlbefinden relevant ist oder nicht. Wenn sie Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Die Be-
relevant ist, wird geprüft, ob es sich dabei um eine troffenen konfrontieren sich mit der Bedeutung der
Herausforderung, eine Bedrohung oder einen Scha- Krankheit für ihr Leben. Sie suchen Informationen,
den/Verlust handelt. Wenn das Ergebnis dieser Be- um möglichst vollständig über die Krankheit Be-
wertung Bedrohung oder Schaden/Verlust heißt, scheid zu wissen. Sie beteiligen sich aktiv bei Dia-
kann Stress entstehen. Schon zur selben Zeit findet gnostik und Behandlung. Diese Bewältigungsform
aber die sekundäre Bewertung (secondary apprais- wird allgemein als sehr günstig eingeschätzt. Aller-
al) statt: Die Person schätzt ein, ob ihre Ressourcen dings konnten manche Studien den erwarteten Zu-
ausreichen, die Situationsanforderungen zu bewäl- sammenhang zwischen aktivem Coping und psy-
tigen. Psychischer Stress tritt erst dann auf, wenn chischen Wohlbefinden nicht demonstrieren.
eine als bedeutsam bewertete Situation Anforde-
rungen an das Individuum stellt, die dessen Bewäl- Depressive Verarbeitung Hierunter versteht man
tigungsmöglichkeiten beanspruchen oder überstei- Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Grübeln
gen. Im weiteren Verlauf prüft die Person, ob ihre (Rumination), sich selbst die Schuld geben, Hadern
Bewältigungsanstrengungen erfolgreich waren oder (»Warum gerade ich?«) und sozialer Rückzug. Diese
nicht (Neubewertung; reappraisal). Verarbeitungsform geht meist mit einer depressiven
Obwohl auf dieses Modell sehr häufig Bezug Stimmungslage einher. Es bleibt dabei jedoch un-
genommen wird, gibt es wenige Studien, die es em- klar, ob Depression Folge oder Ursache der depres-
pirisch streng geprüft haben. Dies liegt daran, dass siven Verarbeitung ist.
die einzelnen Bestandteile nur schwer voneinander
zu trennen sind. Die Definition von Stress scheint Sinnfindung (benefit finding) Schwere und chroni-
zirkulär zu sein: Stress erfordert Bewältigung, aber sche Erkrankungen bringen nicht nur Belastungen
Stress entsteht nur dann, wenn etwas nicht bewältigt mit sich, sondern können auch zum Anlass genom-
werden kann. men werden, das eigene Leben zu überdenken und
in der Krankheit einen Sinn zu finden. Diese Form
Coping und Abwehr Bei der Krankheitsverarbei- der kognitiven Umstrukturierung geht oft mit einem
tung spielen auch Abwehrmechanismen eine Rolle positiven Befinden einher. Die Krankheit wird als
(7 Abschn. 2.3.5). Wenn ein Individuum durch die Chance genutzt, neue Lebensziele anzustreben oder
Mitteilung einer lebensbedrohlichen Erkrankung die Beziehungen zu wichtigen Menschen zu vertie-
emotional überfordert ist, können Verleugnungs- fen (benefit finding).
prozesse als eine Art Notfallreaktion einsetzen. Sie
verhindern die Überflutung des Ich mit Ängsten, Ebenen des Coping Krankheitsverarbeitungsfor-
die nicht bewältigt werden können. Auf diese Weise men können danach klassifiziert werden, ob sie
lässt sich erklären, dass die Diagnose »Krebs« von eher der Ebene des Handelns, der Kognition oder
manchen Patienten zunächst einmal verleugnet der Emotion zuzuordnen sind. Beispiel für hand-
wird. Später können sich die Betroffenen, wenn sie lungsbezogenes Coping: etwas Anpacken, um
emotional unterstützt werden, Schritt für Schritt sich abzulenken (»Ich stürze mich in die Arbeit, um
mit der Bedrohung durch die Erkrankung auseinan- die Krankheit zu vergessen.«); aktives Vermeiden
352 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

(»Ich möchte mich nicht schon wieder beim Arzt Situation oder Person? Früher glaubte man, dass
melden.«); konstruktive Aktivität (»Endlich nehme es in 1. Linie von der zu bewältigenden Situation
ich mir Zeit für mich.«); Zupacken (»Was ich un- abhängt, welche Bewältigungsform zum Einsatz
ternehme, wie ich mitmache, davon hängt jetzt kommt. Krankheitsvergleichende Studien haben
vieles ab.«). jedoch gezeigt, dass es im Wesentlichen ähnliche
Beispiele für kognitionsbezogenes Coping: ge- Copingformen waren, die bei unterschiedlichen
dankliches Ablenken (»Andere Dinge sind mir im Erkrankungen häufig vorkamen, so dass Merkmale
Moment wichtiger als die Krankheit.«); Akzeptieren der einzelnen Krankheit wohl eine geringere Rolle
(»Es ist nun halt einmal so, ich versuche mich damit spielen. Heute weiß man, dass Copingstrategien
abzufinden.«); Dissimulieren (»Es ist alles nur halb auch persönlichkeitsabhängig sind. Bewältigungs-
so schlimm. Im Grunde geht es mir gut.«); Haltung stile werden als Persönlichkeitseigenschaften be-
bewahren (»Ich muss mich zusammenreißen, nie- trachtet (z. B. Repression-Sensitization, 7 Abschn.
mand soll mir etwas anmerken.«). 4.6.5). Wegen dieser Persönlichkeitsabhängigkeit
Beispiele für emotionsbezogenes Coping: weisen auch Stressverarbeitungsstrategien einen ge-
emotionale Entlastung (»Ich fühle mich so elend, netischen Einfluss auf.
wenigstens das Weinen hilft noch etwas.«); Opti-
mismus (»Wenn ich nur daran glaube, wird sicher
alles wieder gut.«); Resignation (»Ich glaube, es hat 10.5.3 Interpersonelle Bewältigung
alles keinen Sinn mehr.«).
Chronische Krankheiten haben einerseits Auswir-
Adaptivität von Coping Es ist noch eine eher un- kungen auf Partnerschaft und Familie. Andererseits
geklärte Frage, welche Copingformen günstig sind stellen soziale Unterstützung und das soziale
10 und welche nicht. Zwar gibt es darüber klare theo- Netzwerk eine wichtige Ressource für die Krank-
retische Vorstellungen, diese lassen sich aber in der heitsbewältigung dar (7 Abschn. 2.4.3). Coping fin-
empirischen Wirklichkeit oft nicht nachweisen. det auch auf der Ebene der Partnerbeziehung, der
Deutliche Zusammenhänge finden sich meist nur Paarebene statt (dyadisches Coping).
zwischen denjenigen Copingstrategien, in denen
eine depressive Stimmung zum Ausdruck kommt, Partnerbeziehung Der wichtigste Ansprechpartner
und dem Effektivitätskriterium emotionales Be- für emotionale Unterstützung bei Schwerkranken
finden (z. B. zwischen depressiver Verarbeitung und ist der Partner. Danach folgen Angehörige und
Depression). Diese Zusammenhänge sind jedoch Freunde und erst dann professionelle Helfer wie
trivial, weil beides nur 2 Seiten derselben Medaille Ärzte oder Psychotherapeuten. Kranke erleben es
sind. Als adaptiv gilt heute nicht so sehr eine be- als sehr hilfreich, wenn ihr Partner Zuwendung
stimmte Verarbeitungsstrategie, sondern der fle- ausdrückt und einfühlsam mit ihnen über ihre
xible, situationsangemessene Einsatz unterschied- Sorgen spricht. Umgekehrt wird es als wenig hilf-
licher Copingstrategien. Jede Person sollte selbst reich empfunden, wenn die Partner sich zurückzie-
herausfinden, was für sie in einer bestimmten Situa- hen, die Krankheitsfolgen herunterspielen oder den
tion die beste Bewältigungsstrategie ist. Je mehr Kranken kritisieren. Eher schädlich ist es aber auch,
Bewältigungsstrategien eine Person besitzt, desto wenn die Partner ihre eigenen Sorgen dem Kranken
besser. aufbürden.
Die Frage nach dem Erfolg von Coping hängt Eine Krebserkrankung kann die Partnerbezie-
auch davon ab, was das Kriterium für eine gelun- hung belasten. Frauen nach Brustkrebs fühlen sich
gene Krankheitsbewältigung sein soll. Soll die be- oft weniger attraktiv, ihr Körperbild verändert sich,
lastende Situation selbst verändert werden (pro- und die Sexualität kann beeinträchtigt sein. In einer
blemorientiertes Coping) oder sollen lediglich die Studie mit jüngeren Frauen, die wegen Brustkrebs
inneren Gefühle verändert werden (emotionsbezo- im Frühstadium behandelt worden waren, berich-
genes Coping)? Letzteres ist dann sinnvoll, wenn teten 45 % über ausgeprägte Beziehungsprobleme.
die äußere Situation schwer zu ändern ist. Andererseits kann eine Brustkrebserkrankung die
10.6 · Rehabilitation
353 10
Partnerschaft auch intensivieren. Positiv auf die Beruf und Gesellschaft teilnehmen können. Ziel der
Partnerschaft wirkte sich aus, wenn der Ehepartner Rehabilitation ist es insbesondere, die Bewältigung
die Patientin während der medizinischen Behand- chronischer Krankheiten durch das betroffene Indi-
lung kontinuierlich begleitete und ihr gegenüber viduum zu fördern. Letztlich geht es um die Siche-
Zuneigung und Zärtlichkeit zum Ausdruck brachte. rung der sozialen Integration (gesellschaftlichen
Hierbei ist es nicht nötig, dass der Partner in gro- Teilhabe), insbesondere die Reintegration ins Er-
ßem Maße seine eigenen Gefühle in Bezug auf die werbsleben.
Krebserkrankung zum Ausdruck bringt. Dies kann,
> Das Ziel der medizinischen Rehabilitation
wie erwähnt, sogar eher schädlich sein. Generell
ist die Teilhabe chronisch Kranker und Behin-
scheinen positive Auswirkungen auf die Partner-
derter in Gesellschaft und Berufsleben.
schaft zu überwiegen, zumal wenn die Partnerbe-
ziehung schon vor der Erkrankung gut war. In einer
Studie berichteten drei Viertel der Patienten und Multidimensionalität In Abhebung von der Akut-
Partner über Veränderungen in ihrer Partnerschaft, versorgung wird in der Rehabilitation eine Krank-
die Mehrheit davon über ausschließlich positive heit in umfassenderer Weise, einschließlich ihrer
Veränderungen, einige über sowohl positive als psychosozialen Aspekte, in den Blick genommen
auch negative und nur wenige über ausschließlich (biopsychosoziales Krankheitsmodell). Rehabili-
negative Veränderungen. Diese Befunde können tation setzt sowohl an der Krankheit selbst an (z. B.
Betroffenen helfen, eine Krebsdiagnose zu ent- durch medikamentöse Therapie) als auch an ihren
dramatisieren. Folgen für Aktivität (z. B. durch Funktionstraining)
und Teilhabe (z. B. durch Sozialberatung). Die Be-
i Vertiefen
handlung von psychischen und sozialen Folgen
Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2013) Einfüh-
einer Gesundheitsstörung spielt in der Rehabilita-
rung Gesundheitspsychologie. 3. Aufl. Rein-
tion also eine ebenso große Rolle wie die Therapie
hardt, München (gut lesbare Darstellung des
der Gesundheitsstörung selbst. Der Therapiefokus
Stands der Forschung zur Krankheitsbewältigung)
ist breit, die Dauer der Therapie langfristig, weil
es sich um chronische Krankheiten handelt und
sich der Erfolg erst im Alltag beweist, wo Patienten
10.6 Rehabilitation lernen müssen, mit der chronischen Krankheit
zurechtzukommen. Ebenfalls im Unterschied zur
H. Faller, H. Vogel Akutmedizin trägt der Patient selbst einen großen
Teil zum Rehabilitationserfolg bei: Rehabilitation ist
Lernziele dann erfolgreich, wenn es dem Betroffenen gelingt,
Der Leser soll das Bündel an Maßnahmen zur Bewältigung seiner
5 die Merkmale der medizinischen Rehabilitation Krankheit im Alltag umzusetzen. Die Erfolgskrite-
beschreiben können, rien beziehen sich deshalb nicht allein auf biomedi-
5 die Evidenz zum Zusammenhang zwischen zinische Parameter, sondern auch auf die Verän-
Coping und Krankheitsverlauf beschreiben und derung von Lebensstil, auf emotionales Befinden,
kritisch bewerten können. Lebensqualität und soziale Integration.
Um diesem ganzheitlichen Anspruch gerecht
zu werden, muss Rehabilitation umfassend, mehr-
10.6.1 Medizinische Rehabilitation dimensional und multidisziplinär ausgerichtet sein.
Sie beschränkt sich nicht allein auf körperliches Trai-
Medizinische Rehabilitation dient der tertiären Prä- ning, oft ist dies auch gar nicht im Vordergrund. Ein
vention. Sie soll der Verschlimmerung chronischer zentraler Baustein der medizinischen Rehabilitation
Krankheiten vorbeugen und Behinderungen im ist die Patientenschulung (7 Abschn. 8.1.3). Ziele
Alltag entgegenwirken, damit die Betroffenen mög- sind neben der Krankheitsbewältigung auch die Ver-
lichst weitgehend am normalen Leben in Familie, besserung der Compliance, die Reduktion von Risi-
354 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

kofaktoren und die Änderung des Lebensstils. Da die bilitanden Möglichkeiten zu eröffnen, trotz gesund-
berufliche Reintegration häufig ein zentrales Reha- heitlicher Einschränkungen in das Erwerbsleben
Ziel ist, haben viele Reha-Kliniken berufsbezogene zurückzukehren.
Behandlungsbausteine in ihr Programm integriert.
Diese reichen von der Sozialberatung über berufs- Kontinuität Schon während der Akutbehandlung
bezogene Gruppentherapie, in der Probleme am Ar- ist es wichtig, die Kontinuität der Therapie und Re-
beitsplatz besprochen werden, bis hin zu beruflicher habilitation im Auge zu haben (z. B. Frühmobilisa-
Belastungserprobung in Kooperation mit ortsan- tion, Krankengymnastik). Durch die verkürzten
sässigen Betrieben. Im Rehabilitationsteam arbeiten Akutbehandlungszeiten infolge der Finanzierung
Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Sportthe- durch Fallpauschalen werden Rehabilitationsmaß-
rapeuten, Ernährungsberater, Sozialarbeiter und an- nahmen zunehmend wichtiger (z. B. Anschluss-
dere Berufsgruppen zusammen, um die vielfältigen rehabilitation nach Herzinfarkt): Sie müssen Auf-
Behandlungsbausteine anbieten zu können. gaben übernehmen, die von der Akutbehandlung
Viele Patienten (und auch manche Ärzte) ver- nicht mehr geleistet werden können, weil dafür
wechseln noch immer Rehabilitation mit Kur. Von keine Zeit bleibt.
einer Kur, in der »ortsgebundene Heilmittel« (z. B. Da die Effekte der Rehabilitation andererseits
Heilquellen) weitgehend passiv (z. B. Bäder) ange- oft nur kurzfristig anhalten, sollten ambulante
wandt werden, um das Wohlbefinden (»Wellness«) Nachsorgemaßnahmen durchgeführt werden, um
zu steigern, unterscheidet sich Rehabilitation durch die Reha-Effekte zu verstetigen. In der Herzin-
die Methoden (Einbezug und Aktivierung des Reha- farktrehabilitation haben sich Herzsportgruppen
bilitanden) wie auch die Ziele (Selbstmanagement am Wohnort bewährt.
der Krankheit, berufliche Reintegration). Patienten, Eine Alternative zur (oft wohnortfernen) statio-
10 die ihre medizinische Rehabilitation antreten, er- nären Rehabilitation ist die ambulante Rehabilita-
warten gleichwohl oft passive Maßnahmen wie in tion am Wohnort. Sie bietet den Vorteil einer besse-
einer Kur (Massage, Fango, Erholung). Sie sind dann ren Verzahnung mit dem Alltagsleben, z. B. durch
überrascht, wenn aktive Mitarbeit und körperliches Einbezug der Angehörigen oder Arbeitgeber. Ge-
Training von ihnen gefordert werden. Ihre Reha- eignet ist sie insbesondere für nicht so schwer oder
Motivation muss zuerst noch aufgebaut werden. Der nicht multimorbid Kranke, die auch auseichend
Hausarzt bzw. der ambulant behandelnde Facharzt mobil sind. Der Anteil ambulanter Rehabilitation ist
hat hier die wichtige Aufgabe, die Patienten darauf derzeit zwar noch gering, aber steigend.
vorzubereiten, was in der Reha auf sie zukommt.
Psychische Komorbidität ist bei chronisch Indikationen Die wichtigsten Diagnosegruppen in
Kranken häufig und muss deshalb in der Rehabili- der medizinischen Rehabilitation bilden Erkrankun-
tation erkannt und behandelt werden. Eine komor- gen der Haltungs- und Bewegungsorgane (insbe-
bide Depression liegt bei ca. 20 % der Herzinfarkt- sondere chronische Rückenschmerzen, 7 Abschn.
patienten und der Brustkrebspatientinnen und bei 2.2.2), da sie auch ein wichtiger Anlass für Arbeitsun-
ca. 30 % der Patienten mit chronischen Rücken- fähigkeit und Frühberentungen sind. Danach folgen
schmerzen vor. psychische/psychosomatische Störungen, kardiolo-
Schließlich muss die subjektive Erfolgspro- gische Erkrankungen (z. B. koronare Herzkrankheit),
gnose des Rehabilitanden berücksichtigt werden. onkologische Erkrankungen (z. B. Brustkrebs), Stoff-
Ob er selbst glaubt, seine berufliche Tätigkeit wie- wechselerkrankungen (insbesondere Diabetes melli-
der aufnehmen zu können, ist der beste Prädiktor tus) und neurologische Krankheiten (z. B. Schlagan-
der tatsächlichen beruflichen Wiedereingliederung, fall). In der neurologischen Rehabilitation spielen
unabhängig vom medizinischen Schweregrad der neuropsychologische Trainings kognitiver und
Erkrankung. Manche Patienten wollen in Rente ge- sprachlicher Leistungen eine große Rolle.
hen, weil sie ihre Leistungsfähigkeit unterschätzen.
Hier stellt sich die (nicht immer leichte) Aufgabe, Effektivität Eine große Zahl von randomisierten
den Rentenwunsch zu hinterfragen und den Reha- kontrollierten Studien, die allerdings zum größten
10.6 · Rehabilitation
355 10
Teil aus den USA stammen, hat gezeigt, dass inten- richtung behindertengerechter Arbeitsplätze gut
sive, umfassende, strukturierte, multidisziplinäre möglich.
Rehabilitationsprogramme effektiv (wirksam) und Noch immer werden chronisch Kranke Opfer
effizient (kostensparend) sind. Die kardiovaskuläre von Stigmatisierungen. Beispiele: »Ich traue mich
Rehabilitation bewirkt danach eine Reduktion der gar nicht, am hellen Tag spazieren zu gehen. Da
Sterblichkeit um 34 % und der Reinfarktrate um sagen die Leute: Der sieht ja ganz gesund aus und
29 %. Die kardiovaskulären Risikofaktoren konnten geht trotzdem nicht arbeiten.« (50-jähriger Herzin-
als Mediatorvariablen identifiziert werden: Nur farktrehabilitand). »Als ich nach meiner Operation
dann, wenn ein Programm die Risikofaktoren redu- zu Besuch bei Bekannten war, gab es das Essen von
zierte, wurde auch der weitere Krankheitsverlauf Papptellern, aus Angst, ich könnte die anderen an-
(Reinfarkt, Tod) günstig beeinflusst. Auch für an- stecken.« (55-jährige Krebspatientin).
dere Indikationsbereiche liegen Hinweise für die Als primäre Abweichung werden diejenigen
Wirksamkeit der Rehabilitation vor. Zusätzlich ist Normabweichungen bezeichnet, die aus der Krank-
belegt, dass die Krankheitskosten infolge der Inan- heit selbst resultieren. Beispiel: Ein Mensch mit
spruchnahme medizinischer Leistungen oder von einer abgeklungenen Psychose (Schizophrenie)
Arbeitsunfähigkeit bzw. Frühberentung vermindert empfindet soziale Interaktionen als belastend, weil
werden konnten. es ihm schwer fällt, aus der Fülle der auf ihn ein-
stürzenden Informationen die relevanten auszu-
Träger Für unterschiedliche Leistungen sind nach wählen und angemessen darauf zu reagieren. Er
dem Sozialgesetzbuch unterschiedliche Träger zu- zieht sich deshalb zunehmend aus sozialen Bezie-
ständig. Der größte Träger der medizinischen hungen zurück.
Rehabilitation ist die gesetzliche Rentenversiche- Als sekundäre Abweichung bezeichnet man
rung (Deutsche Rentenversicherung). Hier gilt der diejenigen Normabweichungen, die aus der Stigma-
Grundsatz »Reha vor Rente«: Rehabilitation setzt tisierung und der Zuschreibung der Rolle eines
ein, wenn die Erwerbsfähigkeit bedroht oder ver- chronisch Kranken resultieren. Beispiel: Ein Patient
mindert ist, um diese zu bessern oder wiederherzu- mit einer abgeklungenen Psychose wird von seiner
stellen und eine Frühberentung zu verhindern. Die Umgebung gemieden und zieht sich wegen der be-
Rehabilitation nach einem Arbeitsunfall wird von fürchteten Ablehnung immer stärker zurück. Da-
den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung durch büßt er seine sozialen Kompetenzen ein und
(Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen) getra- schafft es immer weniger, sich im normalen sozia-
gen, während die Rehabilitation von nicht mehr len Kontakt unauffällig zu verhalten. Schließlich
Berufstätigen von den Krankenkassen finanziert wirkt er auf andere genauso »seltsam«, wie sich die-
wird (»Reha vor Pflege«). Die berufliche Rehabili- se einen psychisch gestörten Menschen vorstellen.
tation (z. B. Umschulung) fällt in der Regel in den
Aufgabenbereich der Bundesagentur für Arbeit.
10.6.3 Psychosoziale Einflüsse auf
Krankheitsverlauf und Mortalität
10.6.2 Soziale Folgen
chronischer Krankheit Coping und Überlebenszeit bei Krebs Die Frage, ob
psychologische Faktoren Krankheitsverlauf und
Ziel der Rehabilitation ist die Verhinderung von Mortalität beeinflussen, wurde intensiv am Beispiel
sozialem Ausschluss chronisch kranker und behin- von Krebs untersucht. Ausgangspunkt war eine in
derter Menschen. Dem sozialen Abstieg infolge ei- den 70er-Jahren in England durchgeführte Studie,
ner Krankheit (Abwärtsmobilität, 7 Abschn. 4.10.4) in der Frauen 4 Wochen nach ihrer Brustkrebsope-
soll vorgebeugt werden. Trotz gesetzlicher Regelun- ration zu ihrer Krankheitsbewältigung befragt wur-
gen, die eine bevorzugte Einstellung Behinderter den. Diejenigen, die Kampfgeist (fighting spirit)
fordern, ist die Arbeitslosigkeit bei Behinderten oder Verleugnung zeigten, wiesen eine längere
hoch. Dabei wäre in vielen Bereichen die Ein- Überlebenszeit auf als Frauen, die mit stoischem
356 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

Akzeptieren oder Hilf- und Hoffnungslosigkeit re- gemessen, und zweitens hat man vielleicht
agierten. Dass eine aktive Form der Krankheitsbe- nicht alle relevanten Faktoren einbezogen.
wältigung prognostisch günstig war, konnte zwar
auch in einer anderen Studie bestätigt werden. In Emotionale Belastung und Überlebenszeit Eine an-
7 weiteren Studien mit Mammakarzinompatien- dere Forschungslinie hat sich mit der Fragestellung
tinnen wurde dieser Zusammenhang jedoch nicht beschäftigt, ob das Ausmaß der psychischen Belas-
repliziert. In der ursprünglichen Studie war der tung (z. B. Depression, Angst) das Überleben bei
wichtigste biomedizinische prognostische Faktor, Krebskranken beeinflusst. Eine Reihe von Studien
der axilläre Lymphknotenbefall, nicht einbezogen unterschiedlicher methodischer Qualität hat einen
worden, so dass man nicht ausschließen kann, dass derartigen Zusammenhang gefunden. Es gab aber
der unterschiedliche Überlebenszeitverlauf in Wirk- auch viele Studien, die keinen Zusammenhang fan-
lichkeit durch körperliche Faktoren bedingt war. den, und zum dritten haben manche Studien sogar
einen umgekehrten Zusammenhang festgestellt,
Coping als Folge des körperlichen Zustands Den nämlich eine längere Überlebenszeit bei psychisch
körperlichen Krankheitsverlauf allein aufgrund der stärker belasteten Patientinnen. Eine kürzlich pub-
Art der Krankheitsverarbeitung vorhersagen zu lizierte Metaanalyse fand allerdings ein leicht er-
wollen, wäre naiv: Die Krankheitsbewältigung steht höhtes Mortalitätsrisiko bei Krebspatienten mit
in Zusammenhang mit dem körperlichen Zustand Depression. Wie könnte ein solcher Zusammen-
des Patienten. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass hang zustande kommen?
eine Patientin, die sich in einem guten körperlichen
Zustand befindet und deren Tumor in einem frühen Mögliche Mechanismen Wie schon erwähnt, kann
Stadium diagnostiziert wurde, so dass die Behand- im psychischen Befinden der körperliche Zustand
10 lung mit kurativer Zielsetzung durchgeführt wer- zum Ausdruck kommen, so dass ein daraus resul-
den kann, auch eher in der Lage sein wird, sich aktiv tierender Zusammenhang mit der Überlebenszeit
und kämpferisch mit ihrer Krankheit auseinander- nicht kausaler Natur wäre. Das Krankheitsge-
zusetzen. Dann ist es nicht weiter verwunderlich, schehen kann auch über die Informationen, die die
wenn eine aktive Krankheitsbewältigung vorher- Patienten von ihrem Arzt erhalten, Einfluss auf die
sagekräftig für eine längere Überlebenszeit ist. Der psychische Bewältigung ausüben. Patienten, die von
prognostische Wert der psychologischen Variablen ihrem Arzt erfahren, dass die Behandlung vermut-
speist sich dann jedoch nicht aus dieser Variablen lich zur Heilung führen wird, nehmen auch eher
selbst, sondern ist gewissermaßen nur »geliehen« eine aktive und kämpferische Haltung ein, wodurch
(Konfundierung, 7 Abschn. 3.4.1). Coping ist dann ein prognostischer Zusammenhang mit der Überle-
Folge der körperlichen Situation, die als konfun- benszeit zustande kommen kann, ohne dass hier
dierende Variable den Zusammenhang zwischen eine kausale Wirkung besteht.
Coping und der Überlebenszeit erklärt. Mit ande-
ren Worten, Coping ist ein prognostischer Indika- Psychoneuroimmunologie Psychoneuroimmuno-
tor, kein kausaler prognostischer Faktor. logische Pfade können auf biologischer Ebene zwi-
schen Psyche und körperlicher Krankheit vermit-
> Wenn man biomedizinische Faktoren in teln. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Einflüsse
das Vorhersagemodell einbezieht und die in beiden Richtungen verlaufen können. Tumor-
Krankheitsbewältigung dann nicht mehr vor- assoziierte Faktoren können das Immunsystem be-
hersagekräftig ist, handelte es sich um einen einträchtigen und über den Serotoninstoffwechsel
Fall von Konfundierung. Umgekehrt kann einen depressiven Zustand bewirken. Umgekehrt
man Konfundierung aber nicht völlig aus- könnten Stress und Depression über eine vermin-
schließen, wenn die psychologischen Variab- derte Aktivität immunkompetenter Zellen (z. B.
len weiterhin vorhersagekräftig sind. Denn Natural-Killer-Zellen) die Überlebenszeit beein-
erstens hat man die biomedizinischen Fak- flussen. Die vereinzelten Befunde aus psychoneu-
toren vielleicht nicht zuverlässig (reliabel) roimmunologischen Untersuchungen ergeben
10.6 · Rehabilitation
357 10
gleichwohl noch kein Gesamtbild, und es fehlt an unbenommen ist, dass psychoedukative Interven-
Studien, die alle Bindeglieder – vom psychischen tionen effektiv sind im Hinblick auf eine Verbesse-
Zustand über psychoneuroimmunologische Fakto- rung des emotionalen Befindens und der Lebens-
ren bis hin zur Überlebenszeit – integrieren. Derzeit qualität (7 Abschn. 8.1.3).
müssen die psychoneuroimmunologischen Mecha-
nismen deshalb noch im Wesentlichen als hypothe- Depression und Überlebenszeit bei koronarer Herz-
tisch betrachtet werden. krankheit Bei Herzinfarktpatienten ist beim Vorlie-
gen einer Depression das Mortalitätsrisiko im wei-
Compliance Depressive Patienten zeigen eine einge- teren Verlauf um den Faktor 2 erhöht. Auch wenn
schränkte Compliance mit der medizinischen Be- es mehrere plausible Mechanismen gibt, die einen
handlung. Sie lehnen z. B. eine Chemotherapie häu- kausalen Zusammenhang erklären könnten (7 Ab-
figer ab oder beenden sie vorzeitig. So erhalten sie schn. 2.2.1), ist noch nicht geklärt, ob Depression ein
unter Umständen nicht die optimale Behandlung, kausaler Risikofaktor oder nur ein Risikoindikator
wodurch sich ihre Prognose verschlechtern könnte. ist. Die wenigen Interventionsstudien, die in diesem
Eine Entscheidung, ob psychosoziale Faktoren Feld durchgeführt wurden, erbrachten inkonsis-
lediglich prognostische Indikatoren (marker) sind, die tente Ergebnisse.
zwar Information über den weiteren Verlauf enthal-
ten, diesen aber nicht selbst beeinflussen, oder aber
kausale Risikofaktoren, die den weiteren Krankheits- 10.6.4 Sozialberatung
verlauf mit beeinflussen, kann nur auf der Grundlage
von Interventionsstudien getroffen werden. Während das Gesundheitssystem sich in erster Linie
an Menschen mit definierten Krankheiten richtet
Interventionsstudien In einer frühen randomisier- bzw. auf deren Behandlung, Prävention oder Reha-
ten Interventionsstudie hatten Frauen mit metas- bilitation ausgerichtet ist, gibt es darüber hinaus in
tasiertem Brustkrebs länger überlebt, wenn sie an vielen Fällen Hilfebedarf, in denen keine eigentliche
einer 1-jährigen wöchentlichen Gruppentherapie Krankheit besteht, sondern Lebenskrisen, psychoso-
teilnahmen. Dieses Ergebnis ist aber wahrscheinlich ziale Konfliktkonstellationen oder sozioökonomische
durch die von vornherein unterschiedliche Zusam- Problemstellungen. Entsprechend dem Sozialstaats-
mensetzung von Interventions- und Kontrollgrup- prinzip des Grundgesetzes hat die Gesellschaft auch
pe zustande gekommen. Alle 5 neueren Interven- eine Verpflichtung, in derartigen Fällen Hilfeleis-
tionsstudien bei Frauen mit metastasiertem Brust- tungen anzubieten. Häufig sind die Übergänge zum
krebs konnten keinen Überlebensvorteil für die Gesundheitssystem fließend, wie beispielsweise bei
Behandlungsgruppe demonstrieren. Psychologische Sucht- und Drogenberatungsstellen oder bei Frühför-
Interventionen scheinen also die Überlebenszeit dereinrichtungen und sozialpädiatrischen Zentren.
nicht zu verlängern. Bei Frauen mit Brustkrebs im In vielen Fällen medizinischer Behandlung können
frühen Stadium gibt es 2 entsprechende Studien, diese Beratungsstellen begleitend oder auch in der
deren Ergebnisse einander widersprechen: Eine Nachsorge wichtige ergänzende Hilfen bieten. Vor
fand einen Überlebensvorteil, die andere nicht. Die diesem Hintergrund hat sich in den zurück liegen-
Studie mit positivem Ergebnis ist jedoch wegen den Jahrzehnten ein breites und vielfältiges Netz an
ihrer Methode kritisiert worden. psychosozialen Beratungseinrichtungen etabliert.
Zum aktuellen Zeitpunkt erscheint es insgesamt Psychosoziale Beratungsstellen werden zu-
angebracht, psychische Faktoren als prognostische meist von einem der so genannten Freien Wohl-
Indikatoren anstatt als kausale Risikofaktoren zu be- fahrtsbände (v. a. Caritas, Diakonie, Deutscher
trachten. Eine solche Interpretation des Forschungs- Paritätischer Wohlfahrtsverband/DPWV oder Ar-
feldes befindet sich hinsichtlich der empirischen beiterwohlfahrt/AWO) oder durch die Kommune
Evidenz auf der sicheren Seite und weckt weder bei getragen. Leistungen durch Erziehungsberatungs-
Patienten noch in der Öffentlichkeit Hoffnungen, stellen, die insbesondere bei Erziehungsfragen und
die die Psychotherapie nicht erfüllen kann. Davon familiären Problemen zuständig sind, erfolgen in
358 Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention

der Regel kostenlos und werden durch kommunale nach einer speziellen Vorschrift im SGB V direkt
oder Landeszuwendungen refinanziert. durch Mittel der gesetzlichen Krankenkassen unter-
Weitere Jugendhilfeleistungen (z. B. stationäre stützt (7 Abschn. 11.2.2).
Jugendhilfe bzw. Heimunterbringung) kommen in Schulpsychologische Beratungsstellen sind
Betracht, um eine drohende seelische Behinderung entweder an einzelnen Schulen oder schulunabhän-
des Kindes/Jugendlichen zu verhüten, zu beheben gig in der Region etabliert. Ihre Aufgabe ist zumeist
oder bei bestehender Behinderung eine gesell- neben der individuellen Schullaufbahnberatung
schaftliche Teilhabe zu ermöglichen. und einer entsprechenden Fachdiagnostik auch die
Suchtberatungsstellen haben neben einem Beratung und Unterstützung bei schulischen Kon-
allgemein präventiven Auftrag – bei entsprechender fliktfällen, häufig auch die Unterstützung von Leh-
Qualifikation – auch eine wichtige Funktion bei der rern oder Kollegien bei Problemfällen im schuli-
Einleitung von Entwöhnungsbehandlungen, der am- schen System.
bulanten Entwöhnungsbehandlung oder der Nach- Weitere gesellschaftliche Institutionen, wie die
behandlung nach stationärer Entwöhnungsbehand- Gemeinden (Jugendamt, Sozialamt), die Bundes-
lung. Entsprechende Leistungen erfolgen als Reha- agentur für Arbeit (in ihren regionalen Dienst-
Leistungen zu Lasten von Kranken- oder Rentenver- stellen) oder Studentenwerke der Hochschulen,
sicherung. halten schließlich diverse Beratungsangebote bereit.
Reha-Servicestellen wurden mit Einführung Ihre Aufgabenstellung ist es, für Ratsuchende in
des SGB IX im Jahr 2001 als gemeinsame Einrich- ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld über vorhandene
tungen der Rehabilitationsträger geschaffen. Sie Leistungen zu informieren. Ferner helfen sie bei der
müssen flächendeckend vorgehalten werden und Klärung, ob ein entsprechender Bedarf besteht, und
gemeinsam mit den Ratsuchenden klären, ob Reha- weisen den Weg, um diese Leistung im Bedarfsfall
10 Bedarf (für Behinderte oder von Behinderung be- auch zu erhalten.
drohte chronisch kranke Menschen) besteht. Ferner Einen umfassenden Überblick über Beratungs-
sollen sie mit dem zuständigen Reha-Träger die stellen in Deutschland, ihre Leistungen und An-
in Frage kommenden Leistungen abklären, bei der schriften gibt der nach Themenfeldern und regional
Einleitung eines Reha-Verfahrens mithelfen und gegliederte Beratungsführer-online, der von der
auf eine enge Kooperation der Träger hinwirken Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und
(wenn gleichzeitig oder nacheinander Leistungen Eheberatung (DAJEB) herausgegeben wird (http://
verschiedener Träger in Frage kommen), um einen www.dajeb.de).
zügigen Reha-Verlauf sicherzustellen.
Weitere Beratungsinstitutionen sind beispiels- i Vertiefen
weise Kriseninterventionsdienste (Telefonseel- Belardi N, Akgün L, Gregor B, Neef R, Pütz T,
sorge), Schwangerschaftskonfliktberatungsstel- Sonnen FR (2011) Beratung. 6. Aufl. Weinheim,
len (nach § 218 StGB), psychosoziale Krebsbe- Beltz (Einführung in Aufgaben, Inhalte und Ziele
ratungsstellen (wie sie beispielsweise von der Deut- von psychosozialer Beratung; Darstellung der
schen Krebshilfe gefördert und unterstützt werden), besonderen Aufgaben in unterschiedlichen Bera-
sozialpsychiatrische Dienste oder Drogenberatungs- tungsfeldern)
stellen. Sie sind ebenfalls zumeist flächendeckend Bengel J, Koch U (Hrsg) (2013) Grundlagen der
vorhanden und werden in der Regel durch die Kom- Rehabilitationswissenschaften. Springer, Berlin
munen oder Gebietskörperschaften in ihrer Tätig- (umfassende Einführung in die Rehabilitations-
keit unterstützt, einerseits durch finanzielle Zu- forschung)
schüsse, andererseits durch Vernetzungsangebote Faller H (2009) Erfolg psychologischer Interven-
und die öffentliche Präsentation beispielsweise in tionen – ein Review. In: Koch U, Weis J (Hrsg)
regional herausgegebenen Beratungsführern. Psychoonkologie. Jahrbuch der Medizinischen
Die Arbeit von Selbsthilfegruppen und Selbst- Psychologie 22:189-198 (Übersicht über die
hilfekontaktstellen, d. h. Beratungsstellen zur Un- Forschung zu psychosozialen Einflüssen auf den
terstützung von Selbsthilfegruppen, wird zudem Krankheitsverlauf bei Krebs)
359 11

Förderung und Erhaltung


von Gesundheit: Maßnahmen
H. Faller, H. Vogel, M. Jelitte

11.1 Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung – 360


H. Faller
11.1.1 Gesundheitsförderung – 360
11.1.2 Gesundheitsförderung in Organisationen – 361
11.1.3 Gesundheitsförderung in der Kommune – 362
11.1.4 Unterschiedliche Wirksamkeit struktureller
vs. personaler Gesundheitsförderung – 362
11.1.5 Ethische und ökonomische Probleme der Prävention – 363

11.2 Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege – 364


H. Faller, H. Vogel, M. Jelitte
11.2.1 Rehabilitationseinrichtungen und -konzepte – 364
11.2.2 Selbsthilfegruppen und -organisationen – 365
11.2.3 Pflege – 366

H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,


DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
360 Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen

Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung in Unter Gesundheitsförderung versteht man alle


Schulen, Betrieben und Gemeinden sind gesamt- Aktivitäten zur Verbesserung und Stärkung der
gesellschaftliche Aufgaben, bei denen auch Ärzte Gesundheit. Gesundheit ist positiv definiert und
eine wichtige Rolle übernehmen. Einen großen Bei- betont die individuellen und sozialen Ressourcen,
trag, der komplementär zur medizinischen Versor- nicht nur die Abwesenheit von Krankheit (z. B. die
gung zu sehen ist, leisten auch Selbsthilfegruppen, WHO-Definition der Gesundheit als umfassendes
in denen sich chronisch Kranke zusammenschließen, Wohlbefinden, 7 Abschn. 1.1.2). Zu den Ressourcen
um sich gegenseitig bei der Krankheitsbewältigung gehören auf individueller Ebene die Entwicklung
zu unterstützen. Selbst bei alten, pflegebedürftigen eines gesunden Lebensstils und von Stressbewäl-
Menschen ist es primäres Ziel, die noch vorhandenen tigungskompetenzen, auf gesellschaftlicher Ebene
Ressourcen zu fördern. Eine aktivierende Pflege soll die Herstellung gesundheitsförderlicher Lebens-
den Zeitpunkt, an dem der Betroffene vollständig bedingungen (z. B. Gesunde-Städte-Programm der
von der Hilfe anderer abhängig wird, möglichst weit WHO). Darüber hinaus nennt die WHO als Ziel der
hinausschieben. Gesundheitsförderung die weitgehende Selbstbe-
stimmung des Individuums über seine Gesundheit.
Gesundheitsförderung und Prävention verfolgen
11.1 Gesundheitserziehung letztlich dieselben Ziele und sollten nicht gegenein-
und Gesundheitsförderung ander ausgespielt werden.
> Prävention ist gezielte Verhütung bestimm-
H. Faller ter Krankheiten. Gesundheitsförderung ist
generelle Stärkung der Gesundheitsressour-
Lernziele
cen durch Verbesserung des Gesundheitsver-
Der Leser soll haltens, der Gesundheitskompetenz und der
5 Prävention von Gesundheitsförderung unter- gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen.
11 scheiden können,
Im Kontext der Gesundheitsförderung trifft man
5 Möglichkeiten der Gesundheitsförderung
in Organisationen beschreiben können, auf einige miteinander verwandte Begriffe. Gesund-
5 die Vorteile des Setting-Ansatzes nennen heitsbildung beinhaltet alle Maßnahmen (Aufklä-
können. rung, Beratung, Training, Schulung), die unter Ein-
satz erwachsenenpädagogischer Techniken und/
oder psychologischer Methoden durchgeführt wer-
den, um durch Information, Motivation und Schu-
11.1.1 Gesundheitsförderung lung gesundheits- und krankheitsbezogene Ein-
stellungen und Verhaltensweisen positiv zu beein-
Die primäre Prävention orientiert sich im Wesent- flussen.
lichen am Risikofaktorenmodell. Ihr Ziel ist es, Ri- Gesundheitserziehung betont den pädagogi-
sikofaktoren für Krankheiten abzubauen. Obwohl schen Aspekt. Sie betrifft insbesondere die Vermitt-
die Vermeidung von Risikofaktoren von zentraler lung von Wissen und Kompetenzen an Kinder und
Wichtigkeit ist, hat diese Vorgehensweise Kritik ge- Jugendliche im Rahmen der Schulbildung. Gegen-
funden, weil sie eher negativ orientiert (Verhinde- über Erwachsenen kann sie leicht einen paternalis-
rung von Krankheiten) und nicht breit genug an- tischen Beigeschmack bekommen.
gelegt sei. Man versuchte deshalb, Schutzfaktoren Gesundheitsaufklärung bezieht sich im Wesent-
der Gesundheit zu finden, die nicht nur auf spezi- lichen auf die Informationsvermittlung (z. B. Vor-
fische Risikofaktoren wirken, sondern allgemein träge, Broschüren, neue Medien). Wichtige Infor-
und unspezifisch die Gesundheit fördern. Solche mationsquellen sind die vom Robert-Koch-Institut
Schutzfaktoren, die positiv definiert sind, sind bei- herausgegebene Gesundheitsberichtserstattung des
spielsweise gesunde Ernährung und körperliche Bunds sowie die von der Bundeszentrale für gesund-
Aktivität. heitliche Aufklärung publizierten Berichte.
11.1 · Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
361 11
Gesundheitsberatung findet eher im persön- Auf struktureller Ebene sind Angebote gesun-
lichen Gespräch statt (7 Abschn. 8.1.2). Geht es um der Ernährung in der Schulmensa, Integration
das Einüben neuer Verhaltensweisen, wird auch von sportlicher Aktivität in den Unterricht sowie von
Gesundheitstraining oder Gesundheitsschulung Gesundheitserziehung in den Lehrplan zu nennen.
gesprochen. Lehrer sind wichtige Multiplikatoren, weil sie direk-
ten Kontakt zu den Jugendlichen haben und auf-
grund ihrer Ausbildung in der Lage sind, gesund-
11.1.2 Gesundheitsförderung heitsrelevantes Wissen und Verhalten zu vermitteln.
in Organisationen
Betriebe Betriebliche Gesundheitsförderung hat
Träger und Initiatoren der Gesundheitsförderung den Vorteil, Menschen in ihrer Alltagsumgebung
können unterschiedliche Institutionen sein: Schu- anzusprechen, ohne dass sie selbst eine Einrichtung
len, Erwachsenenbildungseinrichtungen, Kranken- (z. B. eine Arztpraxis) aufsuchen müssen. Die Ein-
versicherungen, Ministerien. Zielgruppen sind Ein- führung von Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz
zelpersonen ebenso wie Gruppen, Gemeinden, zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und die Ver-
Regionen oder die gesamte Bevölkerung. Umfas- ringerung von Schadstoffexposition sind wichtige
sende gemeindeorientierte Interventionen, die z. B. strukturelle präventive Maßnahmen. Ebenfalls auf
junge Menschen in ihrer Lebenswelt ansprechen struktureller Ebene sind Rauchverbote am Arbeits-
(Setting-Ansatz), sind wirksamer als reine Medien- platz und das Angebot gesunder Kost in der Kan-
kampagnen. tine  angesiedelt. Hinzu kommen Verbesserungen
der Arbeitsorganisation, um den Beschäftigten
Kindergarten und Schule Der Vorteil von Gesund- möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen.
heitsförderung in der Schule liegt darin, dass Kinder Hier liegen die Aufgaben der Organisations- und
aller sozialen Schichten über einen Zeitraum von Personalentwicklung.
9–13 Jahren erreicht werden können. Kinder und Zur individuellen Gesundheitsförderung bieten
Eltern sind wichtige Adressaten, weil Einstellungen manche Betriebe Kurse zur Stressbewältigung, Hil-
schon früh verfestigt werden. Beispiel: regelmäßige fen zur Konfliktlösung bei Mobbing, Nichtraucher-
Zahnpflege zur Kariesprophylaxe. Durch ein in- training, Suchtberatung oder Programme zur Förde-
tensives Präventionsprogramm in den Schulen rung körperlicher Aktivität an. Für deren Erfolg ist
rückte Deutschland in Bezug auf die Zahngesund- die Beteiligung des Managements wie auch der Be-
heit von einem mittleren auf einen Spitzenplatz in schäftigten wichtig (Arbeitsgruppen »Gesundheit«
Europa vor. Einer der großen primärpräventiven oder »Gesundheitszirkel«). Die Unternehmen ver-
Erfolge der Medizin, die Bekämpfung der Infek- sprechen sich von Programmen zur Gesundheits-
tionskrankheiten, wäre ohne Schutzimpfungen förderung weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten,
nicht möglich gewesen. Umso wichtiger ist es, in mehr Produktivität und ein besseres Image. Ob diese
Kindergarten und Schule die Impfmotivation zu Effekte generell auch eintreten, lässt sich zur Zeit
stärken und unangemessenen Befürchtungen durch noch nicht sagen, weil entsprechende Daten weitge-
Information zu begegnen. Themen für Schulkinder hend fehlen. Allerdings gibt es erste Hinweise, dass
und Jugendliche sind gesunde Ernährung (Vorbeu- derartige Programme oder auch eine partizipative
gung von Übergewicht und Essstörungen), Sexua- Organisationsentwicklung (Verbesserung der Ar-
lität (Empfängnisverhütung, sexuell übertragbare beitsbedingungen unter Mitwirkung der Betriebs-
Krankheiten) und Verkehrssicherheit (sicherer angehörigen) zu einer Verminderung des Kran-
Schulweg). Programme zur Suchtprävention in der kenstands führen, so dass sich die Investition in be-
Schule sollten interaktiv angelegt sein (Mitwirkung triebliche Gesundheitsförderung für die Betriebe
der Teilnehmer), d. h. nicht nur Information ver- lohnt.
mitteln, sondern auch Verhaltenstrainings zur Stär-
kung der sozialen Kompetenz (Konfliktlösungsfä-
higkeit) und Stressbewältigung enthalten.
362 Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen

Klinik: Bündnis gegen Depression 11.1.3 Gesundheitsförderung


Ein sehr erfolgreiches gemeindebasiertes Programm in der Kommune
zur Gesundheitsförderung und Prävention ist das
»Bündnis gegen Depression« (htpp://www.buendnis- Gemeindeorientierte Programme richten sich an
depression.de). Ziel dieses Bündnisses ist es, die die Bewohner einer Stadt. Damit diese erfolgreich
Versorgungs- und Lebenssituation depressiver Men- sind, müssen viele Institutionen und Organisa-
schen zu verbessern. Eine Depression wird noch tionen mitwirken. Insbesondere solche Personen,
immer tabuisiert. Die Betroffenen halten aus Angst die aufgrund ihrer Position und ihres Aufgaben-
vor Stigmatisierung ihre Erkrankung geheim und bereichs mit vielen Menschen Kontakt haben und
ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Ärzte Autorität genießen (Multiplikatoren), müssen ein-
fragen selten nach den typischen Symptomen, mit bezogen werden. Zudem muss ein hoher organisa-
der Folge, dass die Störung zu selten diagnostiziert torischer Aufwand betrieben werden (7 Abschn.
und adäquat behandelt wird. 11.1.2, »Bündnis gegen Depression«.
Deshalb muss zunächst ein öffentliches Bewusstsein
für die Krankheit geschaffen und das Thema ent-
tabuisiert werden, etwa durch Kinospots, Plakate, 11.1.4 Unterschiedliche Wirksamkeit
Vorträge, Medienberichte und Aktionstage. Zum an- struktureller vs.
deren werden Menschen aus medizinischen und personaler Gesundheitsförderung
sozialen Berufen zum Thema Depression weiterqua-
lifiziert, damit zukünftig die Erkrankung besser er-
> Strukturelle Gesundheitsförderung setzt an
kannt und erfolgreich behandelt werden kann. Es
den gesellschaftlichen Strukturen und der
wird ein Kooperationsnetzwerk von Ärzten, Medien,
ökologischen Umwelt an, personale Gesund-
Lehrern, Altenpflegekräften und anderen an der
heitsförderung am Verhalten des einzelnen
Versorgung depressiver Menschen beteiligter Partner
Menschen.
geknüpft. Hausärzte werden in Seminaren über ver-
11 schiedene Therapien informiert, Pfarrern wird erklärt, Individuelle Verhaltensänderungen sind sehr viel
wie sie mit Suizidgefährdeten umgehen können, schwerer zu bewerkstelligen als strukturelle Maß-
Lehrer erfahren, wie das Thema Depression im Unter- nahmen. Strukturelle Maßnahmen erleichtern das
richt aufgegriffen werden kann. individuelle Handeln, indem sie förderliche äußere
Ziel ist es, dass sowohl die Betroffenen wie auch die Rahmenbedingungen setzen. Beispiele für struktu-
professionellen Berater und Helfer offener mit der relle Maßnahmen: gesunde Trinkwasserversorgung,
Krankheit Depression umgehen. Ärzte sollen ver- angemessene Wohnverhältnisse, gesunde Umwelt,
mehrt darauf achten, ob Patienten an einer Depres- medizinische Versorgung, Werbeverbot für Tabak,
sion leiden, weniger Pseudodiagnosen, wie Burn-out- Tabaksteuer, Verbot von Alkoholverkauf an Ju-
Syndrom oder chronisches Erschöpfungssyndrom, gendliche, Jodierung von Speisesalz zur Prophylaxe
stellen und ihre Kenntnisse zu Diagnostik und Thera- von Schilddrüsenerkrankungen, Fluoridierung von
pie depressiver Erkrankungen verbessern. Ferner Zahncremes oder Speisesalz zur Kariesprophylaxe
erstellt das Bündnis Informationsmaterialien für Pa- usw. Eine der wirksamsten Maßnahmen zur Gesund-
tienten und Angehörige, richtet spezielle Hilfsan- heitsförderung und Prävention war die Einführung
gebote für Menschen nach Suizidversuch ein und der Gurtpflicht beim Autofahren. Erst vor kurzem
leistete Unterstützung bei der Gründung von Selbst- eingeführte strukturelle Maßnahmen sind Rauchver-
hilfe- und Angehörigengruppen. Durch dieses bote in Restaurants, öffentlichen Gebäuden, Schulen
intensive, auf vielen Ebenen ansetzende Programm und Krankenhäusern. Positive Effekte von Rauchver-
konnte in einer Modellregion die Suizidrate um 25 % boten auf die Inzidenz von Herz-Kreislauf-Erkran-
gesenkt werden. kungen zeigen sich schon in den USA.

Setting-Ansatz Reine Aufklärungskampagnen in


den Medien gelten heute als nicht mehr zeitgemäß,
11.1 · Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
363 11
weil ihre Erfolge gering und nicht nachhaltig sind. Verfügung zu stellen. Andererseits gibt es bisher erst
Information muss sich in Verhalten umsetzen. Ver- wenige Präventionsprogramme, deren Wirksamkeit
haltensänderungen werden vor allem dann er- nachgewiesen ist. Entweder fehlt die Evidenz aus
leichtert, wenn Menschen in ihrer jeweiligen Le- methodisch guten Studien, oder entsprechende
benswelt angesprochen werden (Setting-Ansatz). Studien haben widersprüchliche oder negative Er-
Dann können die im jeweiligen Kontext herrschen- gebnisse erbracht. Vor diesem Hintergrund lässt
den Barrieren gegen ein Gesundheitsverhalten sich die politische Forderung nach mehr Prävention
berücksichtigt werden. Beispiele für erfolgreiche nicht immer ausreichend begründen. Es besteht im
Kampagnen mit Setting- und Kontextbezug: Bereich präventiver Maßnahmen im Gesundheits-
Kampagne zum Sicherheitsgurt; HIV-Kampagne wesen vielmehr ein großer Forschungs- und Ent-
»Gib AIDS keine Chance«. wicklungsbedarf.
Ein weiteres Problem im Spannungsfeld von
Soziales Marketing Um Wissen, Einstellungen und Ethik und Ökonomie ist die Entscheidung, in wel-
Verhalten in der Bevölkerung zu beeinflussen, wer- chem Bereich die knappen Mittel eingesetzt werden
den moderne Marketingstrategien genutzt, wie z. B. sollen (Priorisierung der Ressourcenallokation).
Kommunikation in den Massenmedien. Ein er- Will man die Mittel eher der Gesamtbevölkerung
folgreiches Beispiel hierfür ist die Kampagne zugute kommen lassen, mit der Gefahr, viel Auf-
»Gib AIDS keine Chance« der Bundeszentrale wand für wenig Ertrag zu betreiben? Oder will man
für gesundheitliche Aufklärung. Durch eine große die Maßnahmen auf Risikogruppen fokussieren,
Zahl von auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen- z. B. auf Menschen mit erhöhtem Blutdruck oder
den Maßnahmen, die auf die jeweilige Zielgruppe Übergewicht, so dass die Erfolgsaussichten besser
zugeschnitten waren (z. B. Plakate, Fernsehspots, sind, jedoch nur eine Teilgruppe der Bevölkerung in
Broschüren, Telefonberatung für die Allgemein- den Genuss von Präventionsmaßnahmen kommt?
bevölkerung; persönliche Beratung in AIDS-Bera- Zwar würden sich durch den bevölkerungsbe-
tungsstellen und Gesundheitsämtern für Risiko- zogenen Ansatz insgesamt viel größere Effekte er-
gruppen), ließ sich das präventive Verhalten zielen lassen als durch den Risikogruppenansatz.
(Kondombenutzung) und infolgedessen auch die Ersterer ist aber schwerer durchzuführen, letzterer
Rate der HIV-Neuinfektionen günstig beeinflussen. leichter zu vermitteln (7 Abschn. 10.1.1).
Der massenmediale Ansatz wurde mit dem Set- Ein weiteres ethisches Problem kann entstehen,
ting-Ansatz kombiniert: Risikogruppen wie z. B. wenn Menschen diskriminiert werden, weil sie sich
homosexuelle Männer oder i.v.-Drogenabhängige nicht ausreichend um die Erhaltung ihrer Gesund-
wurden in ihrer Lebenswelt angesprochen, um heit bemühen. Zwar ist es richtig, dass ein großer
ihnen Präventionsmöglichkeiten zu vermitteln Teil der Verantwortlichkeit für die eigene Gesund-
(Verfügbarmachen von Kondomen und sterilen heit beim Individuum liegt. Gleichwohl würde eine
Spritzenbestecken), Allerdings konnte man in den Gesundheitspolitik totalitäre Züge annehmen,
letzten Jahren einen Rückgang in der Reichweite wenn sie dem Einzelnen vorschreiben würde, wie
der Informationsmaßnahmen beobachten, der sich er zu leben hat. Alle Maßnahmen zur Gesund-
auch negativ im präventiven Verhalten nieder- heitsförderung und Prävention müssen deshalb das
schlug. Die Kondombenutzung bei sexuellen Kon- Recht des einzelnen Menschen respektieren, sein
takten lässt wieder nach, insbesondere unter homo- Leben selbst zu gestalten.
sexuellen Männern.
i Vertiefen
Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J (Hrsg) (2014)
11.1.5 Ethische und ökonomische Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförde-
Probleme der Prävention rung. 4. Aufl. Huber, Bern (umfassende Darstel-
lung, von den theoretischen Grundlagen über
Da Prävention eine sinnvolle Strategie ist, wird ge- krankheitsbezogene Ansätze und Settings bis zur
fordert, mehr Mittel für präventive Maßnahmen zur Gesundheitspolitik)
364 Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen

11.2 Rehabilitation, Selbsthilfe nicht immer von kurativen Leistungen trennen las-
und Pflege sen und auch zahlreiche präventive Momente be-
inhalten (7 Abschn. 10.5, 7 Abschn. 10.6), erfordern
H. Faller, H. Vogel, M. Jelitte eine hohe Kontinuität in der Versorgung und oft
auch das integrierte Zusammenwirken verschiede-
Lernziele ner Leistungen (z. B. medizinische, soziale und be-
Der Leser soll rufsorientierte Leistungen), um dem umfassenden
5 unterschiedliche Rehabilitationseinrichtungen Anspruch der Teilhabeorientierung gerecht zu wer-
nennen können, den. Das 2001 verabschiedete Sozialgesetzbuch IX
5 Ziele und Arbeitsweise von Selbsthilfegruppen (»Rehabilitation und Teilhabe«) verfolgte in erster
beschreiben können, Linie das Ziel, im Bereich der Rehabilitation die
5 Aktivitäten des täglichen Lebens nennen können. strukturelle Vernetzung der Leistungsträger zu er-
reichen. Man wollte damit eine verbesserte Integra-
tion und kontinuierliche Fortsetzung der Leistungen
11.2.1 Rehabilitationseinrichtungen erreichen. Neben den erwähnten Reha-Service-
und -konzepte stellen (7 Abschn. 10.6.4) gehören zu den Vorschrif-
ten enge Fristen für die Bearbeitung von Reha-An-
Das verhältnismäßig stark ausgebaute Rehabilita- trägen, erweiterte Vorleistungsregelungen, die Ver-
tionswesen in Deutschland leitet sich aus dem im pflichtung der Träger zur engen Zusammenarbeit
§ 10 Sozialgesetzbuch (SGB) I festgelegten Auftrag und zur Abstimmung von Anforderungen an Leis-
ab: »Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert tungserbringer (Reha-Kliniken) und Rehabilita-
ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat tionsabläufe sowie eine Ausweitung zahlreicher
unabhängig von der Ursache ein Recht auf Hilfe, die Rechte der Reha-Antragsteller.
notwendig ist, um
1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen,
11 ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Formen von Rehabilitations-
Folgen zu mildern, einrichtungen
2. ihm einen nach seinen Neigungen und 5 Medizinische Rehabilitationsleistungen,
Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Ge- insbesondere bei Rehabilitanden mit chro-
meinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, nischen Krankheiten, werden in Rehabilita-
zu sichern.« tionskliniken erbracht, die zumeist auf
bestimmte Diagnosegruppen spezialisiert
Wichtig ist dabei einerseits, dass von Behinderung sind (z. B. für orthopädische Erkrankungen,
bedrohte Menschen (insbesondere chronisch Kran- Suchttherapie).
ke) den Behinderten gleichgestellt sind (und damit 5 Berufliche Rehabilitationsleistungen
zur Gruppe der Reha-Anspruchsberechtigten werden in Berufsförderungswerken (v. a.
zählen) und andererseits der finale Charakter, d. h., Umschulung, Förderkurse) und Berufs-
dass alle Leistungen auf die weitgehende Integration bildungswerken (v. a. Erstausbildung bei
bzw. gesellschaftliche Partizipation/Teilhabe der körperlich oder seelisch behinderten
Rehabilitanden gerichtet sein müssen. Jugendlichen) erbracht, traditionell v.a.
stationär bei internatsmäßiger Unter-
Versorgungskontinuität Die Umsetzung dieses bringung.
weitgehenden Anspruchs im Rahmen des geglie- 5 Schulisch-pädagogische Leistungen wer-
derten Systems des deutschen sozialen Sicherungs- den in Frühfördereinrichtungen, Schulen
systems, das unterschiedlichen Trägern (Kranken- für körperlich, geistig oder seelisch Behin-
kassen, Rentenversicherung) unterschiedliche Auf- derte, Sonderkindergärten oder speziellen
gaben zuweist (7 Abschn. 9.3.2), gestaltet sich nicht Berufsschulen erbracht.
ganz problemlos. Rehabilitationsleistungen, die sich
11.2 · Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
365 11
sern oder kleine psychiatrische Abteilungen an regio-
5 Soziale Rehabilitationsleistungen werden nalen Allgemeinkrankenhäusern) sollen es erlauben,
in Wohnheimen, Übergangsheimen oder als unvermeidbare stationäre Aufenthalte sehr knapp zu
Hilfen zur Wiedereingliederung/Übergangs- bemessen, damit soziale Bindungen an die Lebens-
gelder o. Ä. erbracht. welt des Patienten nicht unterbrochen werden. In
5 Daneben gibt es noch zahlreiche ergän- gleicher Weise wird auch in anderen Rehabilitations-
zende Leistungen zur Rehabilitation, wie sektoren das Prinzip der gemeindenahen Versorgung
Rehabilitationssport, Arbeitsassistenz, als immer vordringlicher angesehen, weil es eine
Hilfen zur Arbeitsplatz(um)gestaltung, tech- wichtige Voraussetzung darstellt, um Integration und
nische Hilfen und Verständigungshilfen. Partizipation zu erreichen (z. B. ambulante Rehabi-
litation).
Um die Behandlungs- und Reha-Einrichtungen
Übersichten über die verschiedenen Rehabilitations- regional bedarfsgerecht aufeinander abzustimmen,
angebote und -einrichtungen bieten die von der Bun- werden immer häufiger regionale Gesundheits-
desarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation herausge- und Pflegekonferenzen ausgerichtet. Sie werden
gebenen Wegweiser (http://www.bar-frankfurt.de). gelegentlich vom regionalen öffentlichen Gesund-
heitsdienst organisiert, sind letztlich aber als frei-
Rehabilitationskonzepte Die Rehabilitationskon- willige Möglichkeiten zur Kooperation und Koordi-
zepte sehen zunächst eine sorgfältige Erhebung nation anzusehen.
der Ausgangssituation vor, unter dem Blickwinkel
von Funktions- und Integrationsproblemen und Re- Beratungsangebote Der Beratung chronisch Kran-
habilitationszielen. Vor diesem Hintergrund wird ker kommt eine immer stärkere Bedeutung zu. Eine
gemeinsam mit dem Rehabilitanden ein umfassen- wichtige Rolle spielen dabei die beteiligten Ärzte
der Rehabilitationsplan erstellt, der im Rahmen der (7  Abschn. 8.1.1), ggf. unterstützt durch weitere
Einrichtung zu bearbeiten ist. Dabei steht – am Bei- Institutionen, wie Reha-Servicestellen oder den
spiel der medizinischen Rehabilitation – häufig öffentlichen Gesundheitsdienst, aber auch Bera-
die Patientenschulung als Hilfe zum angemessenen tungsangebote von Krankenkassen.
Umgang mit der Erkrankung und zur Bewältigung
der Krankheitsfolgen sowie zur optimalen gesell-
schaftlichen Teilhabe im Mittelpunkt (7 Abschn. 11.2.2 Selbsthilfegruppen
8.1.3). Je nach Grunderkrankung und individueller und -organisationen
Rehabilitationsdiagnostik und -zielsetzung kom-
men weitere Behandlungsbausteine hinzu, wie Be- Zwischen dem natürlichen sozialen Netz (z. B. der
wegungstherapie, Physiotherapie, berufsorientierte Familie) einerseits und professionellen Helfern an-
Maßnahmen, Ergotherapie oder Neuropsychologie dererseits sind Selbsthilfegruppen angesiedelt. Dies
(7 Abschn. 10.6.1). sind Zusammenschlüsse von Betroffenen, die sich
freiwillig regelmäßig, meist 1-mal pro Woche, zum
Gemeindenahe Versorgung Speziell im psychiatri- gemeinsamen Gespräch treffen (z. B. Anonyme
schen Bereich hat sich in den vergangenen 30 Jahren Alkoholiker). Die Gesprächsgruppe wird von einem
das Konzept der gemeindenahen Versorgung mit Betroffenen geleitet. Alle Gesprächsteilnehmer sind
dem Ziel etabliert, Bezüge des Rehabilitanden zum aber gleichberechtigt. Ziel der Selbsthilfegruppe ist
gewohnten Lebensumfeld möglichst wenig zu unter- vor allem die Bewältigung der Krankheit und ihrer
brechen und die Wiedereingliederung dadurch psychischen und sozialen Folgen. Dieses Ziel wird
optimal vorzubereiten. Teilstationäre und komple- dadurch erreicht, dass die Mitglieder ihren Infor-
mentäre Dienste (sozialpsychiatrische Dienste mit mationsstand erhöhen und sich gegenseitig emo-
Tagesstätten, Wohngruppen für psychisch Kranke tional unterstützen.
u. a.) sowie regionale Bezüge von psychiatrischen Viele informelle Selbsthilfegruppen und erst
Kliniken (»Sektorisierung« von Großkrankenhäu- recht die stärker formalisierten Selbsthilfeorgani-
366 Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen

sationen übernehmen Aufgaben der Öffentlich- kommt den psychischen Erkrankungen, ins-
keitsarbeit und Interessenvertretung gegenüber besondere Demenz und Depression, eine
professionellen Institutionen des Gesundheitssys- besondere Bedeutung in der pflegerischen Ver-
tems und der Politik. In der jüngsten Zeit werden sorgung zu.
zunehmend Vertreter der Interessen der Betroffe-
nen in Entscheidungsprozesse des Gesundheits- Grund- und Behandlungspflege Pflegeleistungen
wesens einbezogen. Diese Patientenvertreter re- lassen sich unabhängig von den genannten Berufs-
krutieren sich aus den Selbsthilfeorganisationen. feldern in 2 Gruppen einteilen:
Auch wenn Selbsthilfegruppen meist ohne pro- 4 Grundpflege umfasst alle Versorgungs-
fessionelle Experten arbeiten, ziehen sie doch bei und Unterstützungsleistungen, die sich auf
Bedarf auch Ärzte, Psychologen oder Sozialarbeiter die Bewältigung von alltäglichen Aktivitäten
als Berater hinzu. Selbsthilfegruppen können als (s. u.) der betroffenen Personen beziehen.
Partner der Ärzte verstanden werden. Sie fördern 4 Behandlungspflege beinhaltet alle pflege-
den Kompetenzerwerb ihrer Mitglieder und machen rischen Leistungen, die sich auf die konkrete
den Betroffenen zu einem Experten in eigener Sa- medizinische Versorgung beziehen (Medika-
che, der in der Arzt-Patient-Beziehung ein gleich- menteneinnahme, Wundversorgung etc.).
berechtigter Partner sein kann und das Gesund-
heitssystem gezielter und sachgerechter in Anspruch Soziale Pflegeversicherung Aufgrund der Verän-
nimmt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszu- derungen in der Bevölkerungsstruktur in Deutsch-
gehen, dass durch Selbsthilfegruppen auch eine Kos- land mit einem steigenden Anteil älterer Menschen
tenersparnis für das Gesundheitssystem erreicht an der Gesamtbevölkerung ist mit einem zuneh-
wird. menden Anteil pflegebedürftiger älterer Menschen
zu rechnen. Im Jahre 1994 wurde deshalb die ge-
setzliche Pflegeversicherung als 5. Säule des so-
11.2.3 Pflege zialen Sicherungssystems verabschiedet (SGB XI).
11 Drei Zielsetzungen wurden besonders hervorge-
Pflegetätigkeiten Als berufliche Tätigkeit lässt sich hoben:
Pflege allgemein in 3 Berufsfelder untergliedern: 4 Etablierung einer bundeseinheitlichen
4 Kinderkrankenpflege umfasst die Versorgung Pflegeinfrastruktur, um eine ambulante und
von gesunden Neugeborenen bis hin zu stationäre Versorgung auf hohem Qualitäts-
schwerkranken Kindern und Jugendlichen. Die niveau zu gewährleisten,
Tätigkeit berücksichtigt in besonderem Maße 4 Förderung der häuslichen Pflege und der
die psychische, körperliche und soziale Ent- Pflegebereitschaft der Angehörigen und
wicklung von der Geburt bis ins Jugendalter. 4 finanzielle Entlastung der bis dato zuständigen
4 Krankenpflege bezieht sich auf die Begleitung Sozialhilfeträger.
bzw. Pflege von (zumeist) erwachsenen Patien-
ten. Dazu zählt zum einen die Unterstützung Pflegebedürfte ältere Menschen wollen meist so
der medizinischen Behandlung im Krankheits- lang wie möglich in ihrem häuslichen Umfeld ver-
fall. Zum anderen fördert sie die Bewältigung bleiben. Deshalb ist ein starker Ausbau der ambu-
von wichtigen Alltagsaktivitäten, zu denen die lanten Pflege dringend notwendig.
Betroffenen vorübergehend oder längerfristig
nicht in der Lage sind. Pflegebedarf Ob ein Anspruch auf Pflegeleis-
4 Altenpflege richtet sich auf die Versorgung tungen besteht, prüft der Medizinische Dienst der
pflegebedürftiger älterer Menschen, die zu- Krankenkassen (MDK) bzw. der privaten Pflege-
meist an mehreren chronischen Krankheiten kassen (Medicproof) durch eine Begutachtung mit
gleichzeitig leiden (Multimorbidität). Neben einer anschließenden Einstufung nach dem Grad
verschiedenen körperlichen Erkrankungen der Pflegebedürftigkeit. Nach SGB XI ist Pflegebe-
(z. B. Herzinsuffizienz, Arthrose, Hypertonie) dürftigkeit gegeben, wenn eine Person wegen einer
11.2 · Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
367 11
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit lität sind Entwicklung und Einführung moderner
oder Behinderung für Verrichtungen und Alltags- Pflege- und Betreuungskonzepte, Aus-, Fort- und
aktivitäten auf Dauer, voraussichtlich aber für min- Weiterbildungen von Pflege(fach)kräften sowie
destens 6 Monate, in erheblichem Maße Hilfe benö- optimale alters- und behindertengerechte Wohn-
tigt. Der Grad der Pflegebedürftigkeit wird durch bedingungen. Wichtig für die angemessene Versor-
sog. Pflegestufen beschrieben (derzeit, Stand 2015, gung Betroffener ist zudem die Vernetzung aller im
3 Stufen, zukünftig wohl 5 Stufen). Bei Vorliegen Einzelfall beteiligten Gesundheits- und Versor-
von Pflegebedürftigkeit hat der Betroffene die Wahl gungseinrichtungen im Rahmen von Pflegeüber-
zwischen einer Sachleistung, womit eine häusliche leitungen (vom Krankenhaus organisierte pflege-
Pflegehilfe durch eine geeignete Pflegekraft gemeint rische Nachsorge) und Disease-Management-Pro-
ist, dem Pflegegeld, womit der Betroffene selbst für grammen. Schnittstellenprobleme im Übergang
die Sicherstellung seines Pflege- und Versorgungs- von einer Institution zur nächsten (z. B. vom Kran-
bedarfs aufkommen muss, oder einer Kombination kenhaus in ein Pflegeheim) werden durch eine in-
aus beiden. tensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit aller
Beteiligten (Patienten, Ärzte, Angehörige, Soziale
Pflegeziel Die Förderung der Selbstständigkeit und Dienste, Pflegekräfte etc.) vermieden (Pflegekon-
Unabhängigkeit ist das übergeordnete Ziel der ferenzen).
Pflege eines kranken bzw. pflegebedürftigen Men-
schen, wobei dieser angeleitet und unterstützt wer- Belastungsaspekte Pflegetätigkeiten können für
den soll, seine eigenen Ressourcen zu aktivieren. professionelle Pflegekräfte ebenso wie für pflegende
Angehörige zu psychischen und körperlichen Be-
Aktivitäten des täglichen Lebens Von zentraler Be- lastungen führen. Ursachen im professionellen
deutung für die Einschätzung der Einschränkungen Pflegebereich werden insbesondere im hohen Zeit-
im Alltag sind verschiedene Aktivitäten des täg- druck sowie einer als unzureichend erlebten Per-
lichen Lebens (ATL; activities of daily living, ADL), sonalausstattung gesehen. Pflegende Angehörige,
die sich auf 4 Lebensbereiche beziehen. meist Frauen, sind vor allem durch die ständige
Hilfeleistung sowie eine mögliche Doppelbelastung
durch die zusätzliche Versorgung der eigenen Fami-
Aktivitäten des täglichen Lebens
lie und Kinder beeinträchtigt. Eine mögliche Folge
5 Körperpflege: z. B. Waschen, Duschen,
dauerhafter Überlastung bei Pflegepersonen ist das
Baden, Zahnpflege
sog. Burn-out-Syndrom (7 Abschn. 5.2.5).
5 Ernährung: z. B. mundgerechtes Zubereiten
oder Aufnahme der Nahrung i Vertiefen
5 Mobilität: z. B. selbstständiges Aufstehen Haller F, Gräser H (2012) Selbsthilfegruppen.
und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden Beltz Juventa, Weinheim (Einführung in den ak-
5 Hauswirtschaftliche Versorgung: z. B. tuellen Stand des Wissens zu Selbsthilfegruppen)
Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung,
Spülen.

Pflegequalität Ca. 2/3 aller Pflegebedürftigen wer-


den zu Hause versorgt, meist durch Angehörige,
teilweise unterstützt durch ambulante Pflegedienste
und Sozialstationen, nur 1/3 in Pflegeeinrichtungen
(Pflegeheim, Hospiz; 7 Abschn. 8.7.1). Ein zentrales
Ziel aller ambulanten und stationären Pflegeein-
richtungen ist die Entwicklung und Sicherung einer
hohen Pflegequalität. Kernelemente der Pflegequa-
369

Serviceteil
Literaturverzeichnis – 370

Stichwortverzeichnis – 377

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Stichwortverzeichnis

A Anorexia nervosa 177


Anschlussmotiv 151
Beobachtung 79
– systematische 80
ABC-Schema 265 Antistigma-Programm 13 – teilnehmende 80
Abhängigkeit 152 Antworttendenz 65 Beobachtungsstudien 72
Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt Aphasie 125 Beratung, ärztliche 254
147 – amnestische 126 Bereitschaftspotenzial 82
Abstieg, sozialer 46 – Broca-Aphasie 126 Beschäftigung, prekäre 197
Abstinenzregel 261 – globale 126 Bestrafung 19
Abwehr 37 – Wernicke-Aphasie 126 β-Fehlerrisiko 57
Abweichung Äquivalenzprinzip 319 Beurteilerübereinstimmung 244
– primäre 355 Äquivalenz, strukturelle 69 Beurteilungsfehler 225, 236
– sekundäre 355 Arbeitslosigkeit 41 – Effekt der zentralen Tendenz 237
Abweichungs-IQ 129 Armut 48, 197 – Halo-Effekt 236
Acetylcholin 107 Ärztekammer 203 – Kontrasteffekt 236
Adaptationssyndrom, allgemeines 25 Arzt-Patient-Beziehung 214 – Milde-Effekt 237
Adaptivität der Krankheitsverarbeitung – informatives Modell 215 – Projektion 237
282 – Konsumentenmodell 215 Bewältigungsplanung 338
Adhärenz 221 – partnerschaftliches Modell 215 Bewertung
Adoleszenz 35, 176 – paternalistisches Modell 214 – primäre 351
Affektregulation 33 Arztrolle 207 – sekundäre 351
Aggravation 211 Assimilation 193 Bewusstseinsgrad 109
Aggregatdaten 77 Assoziation, freie 260 Beziehungserfahrung, neue 262, 263
Aggression 141 Attributionsfehler, fundamentaler Beziehungsmuster, implizite 33
Agoraphobie 19 150 Beziehungsschemata 262
Akkulturation 193 Attributionstheorie 150 bias 71
Akquieszenz 66 Aufklärungsgespräch 223, 224 Big-Five-Persönlichkeitsmodell 158
Aktivierung (Aktivation) 109 Aufmerksamkeit 120 Bildungsniveau 131
Aktivitäten des täglichen Lebens 367 – gleichschwebende 261 Bindung, soziale 138, 145, 168
Albert, der kleine 17 – selektive 120 Bindungsstile 168, 291
Algesimetrie, subjektive 28 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivi- Biofeedback 31
Alkohol 152 täts-Störung (ADHS) 120 Brustkrebs, hereditärer 285
Allostase 25 Autismus 172 Bulimia nervosa 177
α-Fehlerrisiko 56 Autogenes Training 269 Bündnis gegen Depression 362
Altenquotient 185 Burn-out-Syndrom 209, 276
Alternativhypothese 54
Altersabhängigkeitsquotient 185
B
Altersaufbau 188
Altruismus 146 Balintgruppe 219
C
Amnesie 128 Basalganglien 102 Cannabis 154
– anterograde 128 Basisemotionen 132 Cannon-Bard-Theorie 133
– retrograde 128 Basismerkmale hilfreicher Gesprächs- Chaining 117
Amygdala 103 führung 218 Charakter
Analogskala, visuelle 29 Bedarf 314 – analer (zwanghafter) 158
Anamnese 234 Bedürfnis 314 – oraler (depressiver) 158
– Familienanamnese 234 Behandlungspfad 321 – phallischer (hysterischer) 158
– Fremdanamnese 234 Behaviorismus 16 – schizoider 158
– Sozialanamnese 234 Belastungen bei Krebskranken 280 Chemotherapie 18
Änderungssensitivität 64 Belastungen des Arztberufes 208 Chi2-Test 86
Anforderungs-Kontroll-Modell 180 Belastungsquotient 185 Chronobiologie 110
Angstregulation 104 Belastungsreaktion, akute 272 Code, elaborierter 173
Angststörung 140 Belastungsstörung Cohens d 88
Angst-Vermeidungs-Strategie 31 – posttraumatische 28, 36, 272 Cohens Kappa 245
Anomie 50 – somatische 11 Compliance 221
378 Serviceteil

Confounder 66 Einwilligung, informierte 217 Fixierung, iatrogene 11, 232


Coping 210, 350 Einzelfallstudie 75 Fokusgruppe 92
– aktives 351 Elektrodermale Aktivität (EDA) 81 Forschungshypothese 54
– dyadisches 352 Elektroenzephalogramm (EEG) 81 Frageformat 236
Elektromyogramm (EMG) 81 – Alternativfrage 236
Emotion, primäre 132 – geschlossene Frage 236
D Emotionskomponenten 132
Emotionstheorien 133
– Katalogfrage 236
– offene Frage 236
Debriefing 275 Emotionsverarbeitung 136 – Suggestivfrage 236
delay 310, 311 Empathie 29, 167, 218, 267 – zirkuläre Frage 268
Demenz 128 Empowerment 214, 258 Fremde-Situationstest 168
Depression 19, 107 Enkodierung 126 Fruchtbarkeitsziffer, allgemeine 186
Deprivation 170 Entprofessionalisierung 203 Frustrations-Aggressions-Hypothese
– strukturelle 47 Entscheidungsfindung, partizipative 141
Desensibilisierung, systematische 264 214 Führungsstil 246
Deutung 261 Entscheidungshilfen 216 – direktiver 246
Devianz 12 Entscheidungskonflikt 245 – partizipativer 246
Diagnosis Related Groups (DRG) 324 Entwicklung, psychosexuelle 34 Fünf-Faktoren-Modell 158
Diagnostik Epigenetik 107, 169 Funktionsstörung, sexuelle 297
– operationale, kriterienorientierte Erblichkeit 130 Furchtsystem 138
10 Erektionsstörungen 297
– operationalisierte psycho- Erinnerung, falsche 127
dynamische 40
– prädiktive 285
error 71
Erstkontakt 230
G
– pränatale 287 Erwartungs-mal-Wert-Theorie GABA 107
Dialog, sokratischer 20, 265 148 Gate-Control-Modell 29
Disease-Management-Programme Erwerbsquote 196 Geburtenziffer
205 Erwerbssektoren 196 – allgemeine 186
Dishabituation 115 Erwünschtheit, soziale 65 – altersspezifische 186
Diskriminierung 13 Erziehungsstil 173 – geschlechtsspezifische 186
Dissimulation 211 Es 36 – zusammengefasste 186
Dokumentenanalyse 93 Ethologie 147 Gedächtnis 126, 127
Dopamin 24, 102, 108 Evaluation 97 – Arbeitsgedächtnis 126
Doppelblindstudie 71 – formative 97 – deklaratives 127
Drogenkonsum bei Jugendlichen 179 – summative 97 – episodisches 127
DSM-5 (Diagnostisches und Statisti- Exklusion, soziale 197 – explizites 127
sches Manual Psychischer Störungen, Expositionsbehandlung 264 – Habit-Gedächtnis 128
5. Version 9 Extinktion 17 – implizites 127
Durchhaltestrategie 31 – Kurzzeitgedächtnis 126
Dysfunktion, erektile 297 – Langzeitgedächtnis 126
F – Priming-Gedächtnis 128
– prozedurales 127, 128
E Faktor, protektiver 6
Fall-Kontroll-Studie 72
– semantisches 127
– sensorisches 126
Echtheit 267 Familientherapie 268 – Ultrakurzgedächtnis 126
Ecstasy 154 Familienzyklus 190 Gedanken, katastrophisierende 31
EEG 109 Fatigue 281 Gegenübertragung 219, 262
Effectiveness 75 Fehler Gen-Umwelt-Interaktion 23
Effektstärke 87, 88 – 1. Art 56 Gen-Umwelt-Korrelation 24
Efficacy 75 – 2. Art 57 – aktiv 24
Effizienz 96 – systematischer (bias) 71 – evokativ 24
Eigensteuerung 118 – zufälliger (error) 71 – passiv 24
Eindruck Fehlerkultur 226 – reaktiv 24
– erster 232 Fehlversorgung 315 Genwirkung 109
– letzter 232 Feldabhängigkeit 161 Geschlechtsstereotyp 232, 291
Ein-Gruppen-Prä-Post-Studie 72 Feldstudien 66 Gesprächsführung, motivierende
Einkommensungleichheit 49 Fertilität 186 341
Einstellung 42 Finanzierungsmodell 320 Gesprächspsychotherapie 266, 267
379 C–K
Stichwortverzeichnis

Gesprächsstil Hypothalamus-Sympathikus-Neben- Interviewformen 78


– direktiver 235 nierenmark-System 26 – offenes (qualitatives) Interview
– nondirektiver 235 Hypothese 53 78
Gesundheit 4 – deterministische 54 – strukturiertes (standardisiertes)
– WHO-Definition 4 – probabilistische 54 Interview 79
Gesundheitsförderung 360 Hypothesenprüfung, statistische 55 – teilstrukturiertes (halbstandardi-
– betriebliche 361 Hypothese von Fourastié 196 siertes) Interview 79
– personale 362 Interviewstile 79
– strukturelle 362 – direktiver Stil 79
Gesundheitskompetenz 213
Gesundheitskosten 318
I – nondirektiver Stil 79
Intragenerationenmobilität 198
Gesundheitsverhalten 16, 333 ICD-10 (Internationale Klassifikation Intrarollenkonflikt 41, 209
Globalisierung 49 der Krankheiten, 10. Version) 9 Inzidenz 346
Gradient, sozialer 46 Ich 36 Iowa Gambling Task 137
Gratifikationskrisenmodell 180 Ich-Funktionen 40 Irrtumswahrscheinlichkeit 56
Großhirnrinde 103 Identifikation 39 Isolierung 39
Imitationslernen 118 Itemanalyse 62
Immunkonditionierung 18
H Inanspruchnahme

Habituation 110, 115


– alternativer Medizin 313
– des Arztes 312
J
Halluzinogene 154 – verzögerte 310 James-Lange-Theorie 133
Halo-Effekt 225 Indikationsdiagnostik 243 Ja-sage-Tendenz 66
Handlungsplanung 338 – adaptive, prozessuale Indikation
Haupteffektmodell 45 244
Hausarzt 316
Hausarztmodelle 206
– selektive, differenzielle Indikation
244
K
Hawthorne-Effekt 71 Industrialisierung 47 Kapital, soziales 49
Health Action Process Approach, HAPA Informationsbedürfnis 213 Kassenärztliche Vereinigungen 205
338 Informationsverarbeitung 119 Kausalattribution 8, 150, 231
Health-Belief-Modell 333 informed choice 214 Kinder- und Jugendlichenpsycho-
Health literacy 213 informed consent 217 therapeut 205
Healthy-migrant-Hypothese 193 Inhaltsanalyse 92 Kinderwunschberatung 290
Helfersyndrom 209 Inhalts- und Beziehungsebene 212 Kindesmissbrauch, sexueller 174
Hemineglekt 122 Instanzenmodell 36 Klassifikationssysteme 9
Hemisphärendominanz 105 Integration 193 Kleinhirn 103
Hemmung – soziale 44 Kognition 119
– latente 116 Intelligenz 129, 130 Kohärenzgefühl 43
– proaktive 128 – fluide 130 Kohärenzsinn 43
– retroaktive 128 – kristalline 130 Kohäsion, soziale 49
Heritabilität 130 Intelligenzquotient (IQ) 129 Kohortenstudie, prospektive 73
Herzfrequenzvariabilität 82 Intensive-Care-Unit-Syndrom 273 Kokain 153
Heuristiken 247 Intentions-Verhaltens-Lücke 336 Komorbidität 243
– Ankerheuristik 247 Intention-to-treat-Auswertung 70 Kompetenzmodell des Alterns 182
– Anpassungsheuristik 247 Interferenz 122, 128 Kompressionshypothese der Morbidität
– Verfügbarkeitsheuristik 247 Interferenzneigung 161 185
Hilfesuchen Intergenerationenmobilität 198 Konditionierung
– Stadien 308 Internationale Klassifikation der Funk- – höherer Ordnung 116
– verzögertes 310 tionsfähigkeit, Behinderung und – instrumentelle 116
Homöostase 25 Gesundheit (ICF) 350 – klassische 17, 115
Homöostase-Allostase-Modell 25 Interozeption 7 – operante 18, 116
Hospitalismus 166 Interrollenkonflikt 41, 209 – Verstärkerpläne 117
Hospiz 301 Intervallskala 61 – semantische 116
Hypnose 269 Intervention Konfabulation 106
Hypnotherapie 270 – paradoxe 268 Konfidenzintervall 88
Hypothalamus 103 – psychoedukative 257 Konflikt
Hypothalamus-Hypophysen-Neben- Interventionsformen, psycho- – ödipaler 147
nierenrinden-Achse 27 onkologische 284 – intrapsychischer 33
380 Serviceteil

Konflikttypen 149 Lebensjahre – selbst-psychologisches 37


– Ambivalenzkonflikt 149 – qualitätsadjustierte 96 – topographisches 36
– Appetenz-Appetenz-Konflikt 149 – qualitätsangepasste 324 – transtheoretisches der Verhaltens-
– Appetenz-Aversions-Konflikt 149 Lebensqualität, gesundheitsbezogene änderung 337
– Aversions-Aversions-Konflikt 149 8 – trieb-psychologisches 37
Kongruenz 267 Lebensstil 339 Modelllernen 118
Konsistenz, interne 63 Leistungsmotivation 149 Moderatorvariable 67
Konsolidierung 127 Leitlinie 95 Monoaminoxidase-A-Gen 23
Konstrukt 53 Lernen 114 Moralentwicklung 173
Kontexteffekt 248 – am Erfolg 116 Mortalität 186
kontingente negative Variation, – am Modell 118 Motive 144
Erwartungswelle 82 – assoziatives 114 – primäre 144
Kontingenz 21 – durch Beobachtung 118 – sekundäre 146
Kontrollgruppe 69 – nichtassoziatives 114 Muskelrelaxation, progressive 269
Kontrollüberzeugungen 231 Lerntheorie 16, 115
Konversion 40 Letalität 186
Korrelationskoeffizient 85
Kortex
Likert-Skala 59
Löschung 17
N
– anteriorer zingulärer 104 Lügenskala 66 Nachfrage, angebotsinduzierte 315
– präfrontaler 102, 104 Nahinfrarot-Magnetspektroskopie
Kortisol 27, 82 (NIRS) 83
Kosten 95
– direkte 96
M Natalität 186
negative Korrektheit 348
– indirekte 96 Machtmotiv 151 negativer Prädiktionswert 348
– intangible 96 Magnetenzephalographie (MEG) 82 negativer prädiktiver Wert 348
Kosten-Effektivitäts-Analysen 96 Magnetresonanztomographie, negativer Vorhersagewert 348
Kostenerstattungsprinzip 319 funktionelle (fMRT) 83 Nettoreproduktionsziffer 186
Kosten-Nutzen-Analyse 96 Mammographie 349 Neuromodulatoren 107
Kosten-Nutzwert-Analyse 96 Managed Care 325 Neurotransmitter 107
Krankenrolle 210 Marginalisation 193 Neutralitätsregel 261
Krankenversicherung, gesetzliche 319 Marketing, soziales 363 Nikotin 153
Krankheitsbewältigung 210, 350 Median 84 Nominalskala 60
Krankheitsgewinn Mediatorvariable 67 Non-Compliance 221
– primärer 40 Medikalisierung 192, 316 Normbegriff 5
– sekundärer 40 Medizin Normierung 64
Krankheitsmodell, biopsychosoziales – alternative 312 Norm, soziale 42
5 – evidenzbasierte 95 Novelty-Seeking 161
Krankheitstheorie, subjektive 8, 235, – komplementäre 312 Nozeboeffekt 238
282, 309 Medizinisches Versorgungszentrum Nozizeption 28
Krankheitsverarbeitung 210, 350 206 Nullhypothese 54
Krankheitsverhalten 16 Mentalisierung 34 Number needed to treat (NNT) 90
Kränkung, narzisstische 142 Metaanalyse 94 Nuptialität 186
Krebsfrüherkennung 311 Metakommunikation 212 Nutzen-Risiko-Abwägung 245
Kreuzvalidierung 93 Methodentriangulation 77
middle knowledge 224, 303
Mittelwert 85
O
L Mixed-method-Studie 77
Mobilität Objektivität 62
Laborexperiment 66 – soziale 197 Objektpermanenz 170
Laienätiologie 8, 309 – vertikale 197 Odds Ratio 72
Laiensystem 211 Modell Operationalisierung 59
Landesärztekammern 203 – der Selbstwirksamkeit 335 Opiat 145, 153
Längsschnittuntersuchung 73 – des geplanten Verhaltens 334 Opportunitätsstruktur 46
Langzeitpotenzierung 30, 115 – des sozialen Vergleichsprozesses Optimierung, selektive 182
Latenzphase 34 336 Ordinalskala 61
Lateralisation 105 – ich-psychologisches 37 Orientierung, sexuelle 292
Lazarus-Schachter-Theorie 134 – objekt-psychologisches 37 Orientierungsreaktion 110
Lebendnierenspende 277, 279 – respondentes 17 Oxytozin 44, 139, 145
381 K–S
Stichwortverzeichnis

P Primärarztfunktion 316
Primärdaten 78
Reframing 268
Regressionsanalyse, multiple 86
Palliativmedizin 300 Primärfaktorenmodell 129 Reha-Servicestellen 358
Panikattacke 21 Primärversorgung 204, 316 Reiz
Panikstörung 21 Priorisierung 318 – konditionierter 17
Paraphilien 298 Profession, ärztliche 203 – unkonditionierter 17
Parkinson-Syndrom 102 Projektion 39, 225 Reizdiskrimination 116
Patientenkarriere 211, 316, 317 Prompting 117 Reizgeneralisierung 116
Patientenschulung 257 Propriozeption 7 Reizüberflutung, flooding 264
Patientensicherheitskultur 226 Prosopagnosie 124 Rektangularisierung der Überlebens-
Patientenzufriedenheit 323 Prozess, diagnostischer 242 kurve 185
Peergroup 173 Prozessmodell gesundheitlichen Reliabilität 62
Peer-Review 322 Handelns 338 Replizierbarkeit 93
Perseveration 122, 126 psychische Störung, genetischer Ein- Reproduktion, assistierte 288
Persönlichkeit 156 fluss 23 Resilienz 6
Persönlichkeitsmodell von Eysenck Psychoanalyse 32, 260 response shift 281
157 Psychologische Psychotherapeut 205 Retest-Reliabilität 63
Persönlichkeitsstörung 163 Psychoneuroimmunologie 27, 356 Revolution
– antisoziale (dissoziale) 163 Psychotherapie – neosexuelle 295
Persönlichkeitsstörung, narzisstische – klientenzentrierte 266 – sexuelle 295
161 – psychodynamische 260 Rhythmen, zirkadiane 110
Pfadanalyse 87 – störungsspezifische 271 Risikofaktor 6, 342
Phantomschmerz 30 – tiefenpsychologisch fundierte 260 – kausaler 6
Phase Psychotraumatologie 35 Risikoindikator 6, 343
– anal-muskuläre 34 Pubertät 35, 176, 177 Risikokennwerte 89
– oral-sensorische 34 Publication bias 94 – absolute Risikoreduktion 89
– phallisch-ödipale 34 p-Wert 55 – absolutes Risiko 89
Phasen des Sterbeprozesses nach – attributable Fraktion 91
Kübler-Ross 303 – attributables Risiko 91
Phobie 17, 141
Piagets Phasen der kognitiven Entwick-
Q – bevölkerungsbezogenes attribu-
tables Risiko 91
lung 171 Qualitätsmanagement 320 – Odds Ratio 91
Plastizität 270 Qualitätssicherung 321 – relative Risikoreduktion 89
– neuronale 106 – Ergebnisqualität 321 – relatives Risiko 89
Plazeboeffekt 30, 237 – Prozessqualität 321 Risiko, relatives 74
Polygraph 109 – Strukturqualität 321 Risikostrukturausgleich 319
positive Korrektheit 348 Qualitätszirkel 322 Rollenkonflikt 209
positiver Prädiktionswert 348 Querschnittsstudie 72 Rolle, soziale 41
positiver prädiktiver Wert 348 Rosenthal-Effekt 71, 237
positiver Vorhersagewert 348 Rückenschmerzen, chronische 20, 31
Positronenemissionstomographie (PET)
83
R Rückhalt, sozialer 44

Potenzial Randomisierung 70
– ereigniskorreliertes 81
Potenziale, evozierte 81
Rangskala 61
Ratingskala 59
S
– endogene 81 Rationalisierung 39 Sachleistungsprinzip 319
– exogene (frühe) 81 Rationalskala 61 Salutogenese 43
Power 57 Rationierung 318 Säuglingssterblichkeit 188
Prädiktionswert 347 Reaktanz 226, 344 Schichtindizes 60
Präimplantationsdiagnostik (PID) 287 Reaktion Schicht, soziale 46, 196
Prävalenz 346 – individualspezifische 156 Schizophrenie 108, 198
Prävention 331, 339 – konditionierte 17 Schlaf 111
– primäre 331, 339 – sexuelle 292, 297 – Non-REM-Schlaf 111
– sekundäre 331, 342 – stimulusspezifische 25 – paradoxer 112
– tertiäre 331, 349 – unkonditionierte 17 – REM-Schlaf 111
Premack-Prinzip 117 Reaktionsbildung 39 – Schlafentzug 112
Preparedness 18, 118 recency-Effekt 232 – Schlafstadien 111
primacy-Effekt 232 Re-Enkodierung 127 – Schlafstörungen 112
382 Serviceteil

Schlussfolgern Stichprobe – der Schutzmotivation 335


– additives 243 – Ad hoc- 77 – sozial-kognitive 335
– lineares 243 – geschichtete 76 Theory of Mind 167, 168
Schmerz 28 – Klumpenstichprobe 76 Therapie
– akuter 28 – konsekutive 76 – neuropsychologische 270
– chronischer 28, 30 – mehrstufige 76 – systemische 268
Schmerzgedächtnis 30 – Quotenstichprobe 76 Therapieempfehlungen 95
Schnittstellenproblematik 318 Stichprobenfehler 55 Time-out 116
Schutzfaktoren 43, 343 Stigmatisierung 12 Token 116
Schwierigkeit 62 Stimuluskontrolle 263 Trait-Angst 140
Screening-Tests 345 Störung Transfer, negativer 119
Sektoren der Versorgung 317 – der Geschlechtsidentität 299 Transformation, demographische 188
Sekundärdaten 78 – der Sexualpräferenz 298 Transkranielle Magnetstimulation (TMS)
Sekundärtraumatisierung 275 – leichte kognitive 128 82
Selbsthilfegruppen 365 – somatoforme 11 Transsexualismus 299
Selbstkonzept 160 Störvariable 66 Trauer 304
Selbstmanagement 214, 257 Stress 25 Trauerprozess 143
Selbstwertgefühl 160 Stressbewältigungstheorie von Lazarus, Traumatisierung, stellvertretende 275
Selbstwirksamkeitserwartung kognitiv-transaktionale 351 Traumdeutung 261
335 Stress-Diathese-Modell 25 Trennschärfe 62
Sensation-Seeking 161 Stressmanagement 22 Trennungsdistress 138, 145
Sensitivierung 115 Stressmodell von Henry 25 Triade, meritokratische 46, 196
Sensitivität 346 Stressor 25 t-Test 87
Sensitization-Repression 161 Stress-Puffer-Modell 45 Typ-A-Verhalten 162
Separation 193 Stress-Vulnerabilitäts-Modell 25
Serotonintransporter-Gen 23 Streuung 85
Setting-Ansatz 362
Sexualität 145, 178
Strukturgleichungsmodelle 87
Strukturmodell, psychoanalytisches
U
Sexualzyklus 292 36 Übelkeit, antizipatorische 18
Shaping 117 Strukturwandel der Familie 174 Überdiagnose 345
shared decision-making 214 Studie Über-Ich 36
Sicherstellungsauftrag 205 – multizentrische 75 Überlebenszeit bei koronarer
Signifikanz, statistische 56 – ökologische 76, 78 Herzkrankheit 357
Simulation 211 – quasiexperimentelle 71 Überlebenszeit bei Krebs 355
Sinnfindung (benefit finding) 351 – randomisierte kontrollierte 68 Übertragung 219, 262
Skalenniveaus 60 Sublimierung 39 Übertragungsdeutung 262
Solidarprinzip 319 Suizid, assistierter 305 Überversorgung 315
Somatisierung 10, 232 Supervision 322 Umstrukturierung, kognitive 22
Somatisierungsstörung 10, 11 Symptomaufmerksamkeit 308 Umwelteinfluss 22
SORKC-Modell 20 System, limbisches 102, 103 Unbewusste 36
Sozialberatung 357 Ungeschehenmachen 39
Sozialisation, primäre 172 Unterstützung, soziale 44
Soziometrie 93
Spaltung 39
T – Bewertungsunterstützung 44
– emotionale 44
Spezialisierung 204 Talk-down 274 – informationelle 44
Spezifität 346, 347 Teilhabe 353, 364 – instrumentelle 44
Split brain 105 Telehealthcare 196 Untersuchung, körperliche 238
Sprachcode, restringierter 173 Telemedizin 196 Unterversorgung 314
Sprachstörungen 125 Tendenz, zentrale 84 Urbanisierung 48
Standardabweichung 85 Tertiarisierung 196 Urvertrauen 34
Standardisierung 64 Testgütekriterien 62
Standardmessfehler 65 Testosteron 138, 142
State-Angst 140
Statistik, deskriptive 84
Teststärke 57
Test, statistischer 55
V
Statusinkonsistenz 197 Teufelskreis 21 Validität 62, 63
Status, sozioökonomischer 196 Thalamus 103 – Änderungssensitivität 63
Sterbehilfe 305 Theorie – diskriminante bzw. divergente 64
Stereotypien 232 – der kognitiven Dissonanz 344 – diskriminative 63
383 S–Z
Stichwortverzeichnis

– externe 75
– interne 74 W
– Konstruktvalidität 63 Wahrnehmung, subliminale 122
– konvergente 64 Wertschätzung, positive 267
– kriteriumsbezogene 63 Widerstand 261
Variable Wohlbefinden 161
– abhängige 66 Wutsystem 138
– unabhängige 66
Varianz 85
Varianzanalyse 87
Veränderungsmessung 244 Y
Verdrängung 37 Yerkes-Dodson-Regel 109
Verfahren
– imaginative 269
– operante 263
Verhalten, antisoziales 23 Z
Verhaltensanalyse 20, 234 Zeigarnik-Effekt 128
– horizontale 20, 234 Zertifizierung 325
– vertikale 20, 234 Zufallsstichprobe 76
Verhaltensgenetik 22, 108 Zuhören, aktives 235
Verhaltensmedizin 21, 31 Zwei-Faktoren-Modell 129
Verhaltensprävention 332
Verhaltenstherapie 263
Verhaltenstherapie, kognitive 263
– bei Depression 20
– bei Panikstörung 22
Verhältnisprävention 332
Verhältnisskala 61
Verleugnung 38
Vermeidungsverhalten 19, 116
Verschiebung 38
Versorgung
– bedarfsgerechte 314
– integrierte 206
– Ungleichheiten 315
Verstärkung 18
– negative 19, 116
– positive 19
– stellvertretende 118
Verursachung, soziale 46
Vigilanz 120
Viktimisierung 283
Viszerozeption 7
Vorhersagewert
– eines negativen Testergebnisses
348
– eines positiven Testergebnisses
348
– negativer 347
– positiver 347

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