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Stefan Bienenstein
Mathias Rother
Fehler in der
Psychotherapie
SpringerWienNewYork
Mag. Dr. Stefan Bienenstein
Wien, Österreich
Mag. Dr. Mathias Rother
Wien, Österreich
© 2009 Springer-Verlag/Wien
Printed in Germany
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich beim Zustan-
dekommen dieses Buches unterstützt haben. In erster Linie gilt mein Dank
meiner Familie, meiner Frau Martina und meinen Kindern, für ihre Geduld
und für ihre direkte und indirekte Unterstützung während der Erstellung
dieser Arbeit. Judith Amtmann-Katz hat in sorgfältiger und sehr beeindru-
ckender Weise für die korrekte orthografische Form gesorgt. Sie hatte wirk-
lich viel zu tun. Danke. Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen, hätten
sich nicht 15 Kollegen bereit erklärt, mir Einblick in ihre therapeutische Ar-
beit zu gewähren. Ich möchte jenen Kollegen, die sich von mir interviewen
haben lassen, meinen ganzen Respekt und Dank ausdrücken. Sie haben mir
das Vertrauen erwiesen, über ihre Fehler offen zu sprechen. Ihre Geschich-
ten machen diese Arbeit lebendig.
Dieses Buch basiert auf der Dissertation „Fehler in der Psychotherapie“,
die ich 2009 an der Sigmund Freud Universität erstellt habe. Herzlichen
Dank an Prof. Rieken und sein Team für die freundliche, kompetente und
motivierende Unterstützung in allen Belangen.
Ganz besonderer Dank gilt auch meinem Freund und Kollegen
Dr. Mathias Rother. Sein Fachwissen und seine Beiträge „Technik als Aus-
gangspunkt der modernen Fehlerkultur“ sowie „Die Fehlerperspektive in
der systemischen Psychotherapie“ sind eine wesentliche Bereicherung für
dieses Buch. Zudem hat er mit geduldiger Motivationsarbeit und differen-
zierten Diskussionen das Entstehen dieses Buches von Anfang an begleitet.
Danke!
Stefan Bienenstein
Anmerkung:
Nach einem langen Prozess der Überzeugungsbildung und Abwägung haben wir
uns entschieden, auf die Verwendung des Binnen-I zu verzichten. Wir hoffen, so die
Lesbarkeit zu fördern, ohne zu diskriminieren. Die in diesem Text häufig vorkom-
menden Begriffe wie Therapeut, Patient oder Klient bezeichnen demnach sowohl
Frauen wie Männer.
Vorwort
„Sie können mit einem Fehler ihren besten Fall haben oder einen sofortigen
Therapieabbruch.“ 1
Auch Wolfgang Schmidbauer nimmt sich in seinen Büchern der Person des
Therapeuten an. Sowohl Jaeggis als auch Schmidbauers Buch „Hilflose Hel-
fer“ wurden in kürzester Zeit zu Bestsellern. Obwohl „Hilflose Helfer“ schon
1977 erschienen ist und Schmidbauer in der Folge noch weitere Bücher mit
ähnlicher Thematik verfasste, hat sich in diesem Bereich der Psychotherapie
wenig verändert. Im Gegenteil, die voranschreitende Professionalisierung
des Berufsstandes hat auch den Druck auf die Therapeutenschaft erhöht.
Was auf der einen Seite die Professionalität und die Qualitätsstandards er-
höht, führt auf der anderen Seite zu Verunsicherung und Druck. Der mün-
dige Patient fordert zu Recht eine gute Behandlung ein. Was aber ist eine
gute Behandlung? Das Bild des klassischen, orthodoxen Psychoanalytikers,
der zögert, seinen Patienten bei der Begrüßung die Hand zu schütteln, hat
einen Standard geprägt. Dieser heute längst als realitätsfern erkannte Stan-
dard lässt aber dennoch die Therapeuten zumindest in einer fantasierten
Grauzone von gut und schlecht, richtig und falsch arbeiten. Ist es legitim,
während einer Sitzung das Telefon abzunehmen, ist es rechtens, Details aus
1 Kollege L, S. 55
2 Jaeggi 2001, S. 114
xii Vorwort
„Therapiemachen lernt man nur durch die Erfahrung. Am Ende der Aus-
bildung steht der Beginn der Fehlerphase.“ 5
5 Kollegin I, S. 54
Inhalt
1. Teil
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Fallgeschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische
Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.1 Das Verhältnis der Praxis zur Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.2 Die Beweisführung zur Wirksamkeit von Psychotherapie . . . 7
1.2.3 „Context of discovery“ und „context of proof“ . . . . . . . . . . . . . 8
1.2.4 Der schulenübersteigende Ansatz von Grawe und der Blick
auf das Praktische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.3 Wirkfaktoren – das Zentrum der psychotherapeutischen
Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.4 Welchen Wert haben Fallgeschichten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.1 Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.1.1 Was ist ein Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.2 Technik als Ausgangspunkt der modernen Fehlerkultur. . . . . 22
2.3 Fehlerkultur im schulisch-pädagogischen Kontext . . . . . . . . . . 25
2.4 Fehlerkultur im wirtschaftlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.4.1 Six Sigma oder 99,99966 % Fehlerfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.4.2 Die japanische Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.5 Der Faktor Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.5.1 Fehler und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.5.2 Die Kunst, Fehler zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3. Fehler in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.1 Der Alltagsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.2 Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung? . . . . . 41
3.3 Schwierigkeit der Begriffsdefinition von Erfolg oder
Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.4 Welche Faktoren sind für Erfolg oder Misserfolg
verantwortlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
xvi Inhalt
2. Teil
6. Fallgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6.1 Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6.2 Vorgangsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
6.2.1 Leitfaden des Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
6.3 Auswirkungen der unterschiedlichen therapeutischen
Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Inhalt xvii
1.1 Fallgeschichten
„Ein Alkoholiker kam zu mir und sagte: ‚Meine Eltern und Großeltern wa-
ren Alkoholiker. Die Eltern meiner Frau waren Alkoholiker. Meine Frau
ist Alkoholikerin und ich war schon elfmal im Delirium Tremens. Ich habe
es satt, Alkoholiker zu sein. Mein Bruder ist auch Alkoholiker. Hier haben
Sie also einen verdammt schwierigen Job. Was, glauben Sie, können Sie
tun?‘ Ich fragte nach seinem Beruf: ‚Wenn ich nüchtern bin, arbeite ich für
eine Zeitung. Dort gehört Alkoholismus zum Berufsrisiko.‘ Ich sagte: ‚Sie
wollen also, dass ich etwas dagegen unternehme, bei dieser Vorgeschichte?
Das, was ich Ihnen vorschlagen werde, wird ihnen vermutlich nicht als das
Richtige erscheinen. Gehen Sie in den botanischen Garten. Sie sehen sich
alle Kakteen dort an, und bestaunen Sie die Kakteen, die drei Jahre ohne
Wasser und ohne Regen überleben können. Und denken Sie mal gut nach.‘
Viele Jahre später kam eine junge Frau zu mir und sagte: ‚Ich möchte mir
den Menschen ansehen, der einen Alkoholiker in den botanischen Garten
schickt, damit er sich dort umsieht und lernt, wie man ohne Alkohol aus-
kommt, und bei dem das auch funktioniert. Meine Mutter und mein Vater
sind seit damals trocken.‘ “ 1
1 Rosen 2006, S. 96
2 Rosen 2006
4 1. Einleitung
3 Zeig 2006, S. 37
4 Vgl. Rieken 2008, S. 27
5 Vgl. Rieken 2008, S. 28
6 Stigler 1997, S. 6
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie 5
Campbell7 wies 1982 nach, dass Kliniker, die über eine weitgehend gleich-
artige theoretische Basis verfügen, in ihrer praktischen Arbeit oft völlig un-
terschiedlich mit theoretischen Konzepten umgehen, wie beispielsweise mit
der technischen Neutralität. Zwei Therapeuten der gleichen Schule haben
beispielsweise eine ganz unterschiedliche Art, ihre eigenen Gedanken und
Emotionen zur Sprache zu bringen. Genauso verblüffend und im Gegensatz
dazu steht das Ergebnis, dass Kliniker mit sehr unterschiedlicher theore-
tischer Orientierung zu sehr ähnlichen Behandlungsmethoden tendieren.
Otto Kernbergs Arbeit mit Borderlinepatienten hat zum Beispiel vieles mit
dem Vorgehen von Analytikern gemeinsam, die im kleinianischen Bezugs-
rahmen arbeiten.8 Beide Beobachtungen bedeuten, dass die Praxis und die
Theorie mitunter unterschiedliche Wege gehen.
Fonagy und Target widmen sich in ihrem 2006 erschienen Buch „Psy-
choanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung“ ausführlich dem
Verhältnis der Praxis zu der psychoanalytischen Theorie. Sie bezeichnen
sogar das Verhältnis der psychodynamischen Theoriebildung zur Praxis als
Hauptproblem der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Praxis, so Fonagy,
lasse sich aus der Theorie nicht logisch herleiten und sie habe sich seit Freud
im Gegensatz zur Theorie kaum verändert. Die empirische Forschung ist für
den psychoanalytischen Betrieb weitgehend ein Stiefkind, führt auch Wil-
helm Burian sinngemäß in seinem Aufsatz über aktuelle Veränderungen
der Psychoanalyse durch die empirische psychoanalytische Forschung an.9
Erst in den letzten Jahren haben sich Publikationen wie die von Langen-
mayr und Werner diesem Themenbereich angenommen.10 Dennoch ergibt
sich daraus die Frage, ob denn die Psychoanalyse Probleme im Umgang mit
der Praxis hat?11
Psychoanalytiker tendieren dazu, in erster Linie Beispiele zu finden, die
ihre eigenen Vorannahmen bestätigen. Das ist auch einer der Gründe, wa-
„Die Illusion, dass die Praxis an die Theorie angebunden ist, führt dazu,
dass neue Techniken nur zaghaft Verwendung finden, da der Praktiker ja
nicht weiß, was die Theorie denn zulässt und was nicht. Wenn die Theorie
von der Praxis überzeugend abgekoppelt wäre, dann könnte sich die Praxis
rein auf der Basis der Empirie weiterentwickeln, nämlich in Richtung the-
rapeutische Wirksamkeit.“ 14
Die Kritik bezieht sich demnach darauf, dass Fallbeispiele nur zur Unter-
stützung einer zuvor schon theoretisch entwickelten These herangezogen
werden, die auf einer Schulenzugehörigkeit basiert. Nicht die Praxis gibt die
Inhalte vor, sondern die Theorie und deren ideologische Fundierung. Ähn-
liches formuliert auch der deutsche Psychoanalytiker Cremerius:
„Solange man den Glauben hatte, es sei die Technik, und zwar eine be-
stimmte Technik, die wirkte, stellten die Therapeuten ihre Fälle als Beweis
für die Richtigkeit dieser These vor.“ 15
Grundlage aber, um die Wirksamkeit zu erfassen, ist es, die praktische Ar-
beit zu untersuchen, und da wären Videoaufzeichnungen oder Tonbänder
wichtig, um so das Verhältnis der Praxis zur Theorie durch äußere Beob-
achtung überhaupt erst zugänglich zu machen und zu untersuchen. In ver-
schiedenen psychotherapeutischen Methoden sind Aufzeichnungen längst
Grawe hat Effizienz und Wirksamkeit ins Zentrum seines Schaffens gerückt.
Er hat Untersuchungsmethoden entwickelt und Metastudien angestellt, um
Therapieerfolge vergleichbar zu machen. 1994 veröffentlichte er gemein-
sam mit seinem Team „Psychotherapie im Wandel“, eine Metaanalyse von
über 800 Wirksamkeitsstudien.18 Insgesamt lässt sich sein Ansinnen auf
den Untertitel seines Hauptwerkes zuspitzen: „Von der Konfession hin zur
Profession“.19 Grawe hat die ideologische Fundierung und vor allem die Fi-
xierung der einzelnen Therapierichtungen thematisiert. Ähnlich wie schon
Jerome Frank 1961 bemerkt hat, dass Psychotherapeuten an ihrer Methode
ein verbrieftes Interesse hätten und kaum unparteiisch in der Forschung sein
könnten,20 kritisiert Grawe, dass Therapiemethoden – immerhin 30 Jahre
nach Frank – nach wie vor als Ordnungskategorien gälten, wobei deren
Wirksamkeit keine oder nur geringe Bedeutung zukomme.
22 Grawe 2005, S. 7
23 Bundesgesetz vom 7. Juni 1990 über die Ausübung der Psychotherapie; Psychotherapie-
gesetz §14/5, „Der Psychotherapeut hat sich bei der Ausübung seines Berufes auf jene
psychotherapeutischen Arbeitsgebiete und Behandlungsmethoden zu beschränken, auf
denen er nachweislich ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen erworben hat.“
24 Vgl. Quekelberghe 1979
25 Vgl. Linden, Hautzinger 1981
26 Vgl. Sponsel 1997; vgl. Csontos 2000
27 Vgl. Csontos 2000, S. 1528
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie 11
Zwischen 1960 und 1980 war die Phase der groß angelegten Vergleichsstu-
dien, die sogenannte „Rechtfertigungsforschung“. 30 Ab 1980 aber, bis in die
1990er-Jahre, war das Bedürfnis vorherrschend, die unüberschaubare Menge
an Studien zu erfassen und zu subsumieren. Aus diesem Bestreben heraus
entstanden die Metastudien.31 Auch der Ulmer Psychotherapieforscher
Horst Kächele erwähnt in seinem Vorstellungsvortrag 1989, dass die kon-
trollierten Studien dem Legitimationsdruck entsprachen und es zunächst
wichtig war, generell die Effizienz von Psychotherapie nachzuweisen. 32 Der
nächste Forschungsschritt ist aber für Kächele der Nachweis von einzelnen
Wirkfaktoren, und jene könne man laut Kächele nur durch die Einführung
von Tonband und Videoaufnahmen erforschen. Kächele unterstreicht da-
mit in diesem Vortrag die Wichtigkeit der Erforschung der unmittelbaren
Praxis für die Ausbildung und trifft sich inhaltlich bezüglich der medialen
Aufzeichnung der praktischen Arbeit mit Fonagy. Nach einer Phase also
der groß angelegten Vergleichs- und Feldstudien und einer darauf folgen-
den Phase der Metastudien ergibt sich für Kächele, Grawe und mit gewissen
„Die erste ist eine bestimmte Art der Beziehung zwischen dem Patienten
und dem Helfer. Das wesentliche Bestandselement dieser Beziehung ist,
dass der Patient auf die Kompetenz des Therapeuten vertraut.
Eine zweite gemeinsame Eigenschaft aller Psychotherapien ist die gesell-
schaftliche Auszeichnung ihrer Behandlungsorte als Stätten der Heilung.
Schon die Rahmensituation selbst weckt so im Patienten Hilfserwartung.
Drittens beruhen alle Psychotherapien auf einer Behandlungstheorie oder
einem Mythos, der eine Erklärung von Krankheit und Gesundheit, Abwei-
chung und Normalität einschließt.
Ein viertes Element aller Formen von Psychotherapie ist die Aktivität oder
das Verfahren, das die Theorie verordnet.“ 34
Obwohl sich Frank hier auf die Psychotherapien bezieht, umfasst sein Buch
auch nichtmedizinische Heilverfahren wie schamanistische Rituale, religi-
öse Heilungen und heilpraktische Verfahren. In allen Formen des Heilens
lassen sich ähnliche wie die oben genannten Eigenschaften finden. Grawe
hat seine Wirkfaktoren spezifisch auf die psychotherapeutische Situation
hin betrachtet und entwickelt. Er fragt danach, was alle untersuchten psy-
chotherapeutischen Verfahren gemeinsam hätten, und fügt damit seiner
Metastudie einen weiteren Blickwinkel hinzu.35 Wirksame Therapien haben
demnach folgende Merkmale gemeinsam:
t v4JFOVU[FOEJF&JHFOBSUFOEFS1BUJFOUFOBMT3FTTPVSDF
t TJFNBDIFO1SPCMFNFVONJUUFMCBSFSGBISCBS
t TJFVOUFSTUàU[FOCFJQPTJUJWFO#FXÊMUJHVOHTWFSGBISFO
t TJFIFMGFOEBTQSPCMFNBUJTDIF&SMFCFO[VFSLFOOFOVOE
t TJFCJFUFOFJOFUIFSBQFVUJTDIF#F[JFIVOHWPOIPIFS2VBMJUÊUBOi 36
Diese Faktoren decken laut Grawe weitgehend den Therapieerfolg ab, und
zwar unabhängig von Therapiemethoden oder psychotherapeutisch ideo-
logischen Orientierungen. Grawe unterstreicht, dass diese Faktoren eben
gut oder schlecht realisiert werden können und dadurch das Ergebnis maß-
geblich beeinflussen. „Wirkungsoptimierte Psychotherapie im Sinne einer
möglichst guten Verwirklichung der genannten Wirkfaktoren muss also in
jeder einzelnen Therapie eine patientenspezifische Ausformung erhalten.“ 37
Der Bielfelder Psychotherapieforscher Klaus Peter Seidler formuliert sogar:
„Wie erfolgreich Therapeuten sind, hängt vor allem von ihren interper-
sonalen Fähigkeiten ab und steht erstaunlicherweise kaum in einem Zu-
sammenhang damit, wie viel therapeutische Berufserfahrung sie haben.
Die Therapietechnik ist im Vergleich zu allgemeinen Wirkfaktoren, wie
EFS 2VBMJUÊU EFT UIFSBQFVUJTDIFO "SCFJUTCàOEOJTTFT VOE EFS JOUFSQFSTP-
nellen Fähigkeit der Therapeuten, nur von geringer Bedeutung für den
Behandlungserfolg.“ 38
Wirkfaktoren zu erfüllen, ist aber nicht alleine der Garant für eine er-
folgreiche Therapie. Der Therapeut braucht auch empirische Leitlinien,
um sein Vorgehen zu entwerfen. Dazu empfiehlt Grawe, unterschiedliche
Perspektiven zu beobachten: Störungsperspektive, interpersonale Perspek-
tive, motivationale Perspektive, Entwicklungsperspektive und die Ressour-
cenperspektive. Die Vermittlung empirisch validierten Wissens zu diesen
Perspektiven würde nach Grawe den Hauptteil der Ausbildung ausmachen.
Jeder Therapeut würde die Besonderheiten der einzelnen Störungen lernen
und welche Vorgehensweise sich empirisch als effektiv herauskristallisiert
hat. Die Grawe’sche Wende besteht in einem neuen Blick auf das psychothe-
rapeutische Geschehen. Er macht die Praxis selbst zum Thema. Nicht ein
ideologisch, traditionell entwickeltes Modell steht im Fokus der Forschung,
sondern die Wirkung der praktischen Arbeit. Die Empirie sei dabei der
Lehrmeister, und die Beziehung zwischen Patient und Therapeut könnte im
Zentrum stehen.
Einen anderen Zugang, um die Empirie in den Mittelpunkt zu stellen,
liefert Gottfried Fischer:
36 Grawe 2005, S. 7
37 Grawe 2005, S. 8
38 Seidler 2006, S. 148
14 1. Einleitung
Verwendet man Fallbeispiele nur zur Stützung der eigenen Theorie, ist ihr
wissenschaftlicher Wert relativ, da ja unter anderem verdeckt bleibt, wie
die Auswahl des Falles zustande gekommen ist. Im Sinne Karl Poppers41
sind positive Beispiele, also das Verifizieren einer theoretischen Annahme
durch empirische Fakten, nur von eingeschränktem Wert für die Validität
einer theoretischen Annahme. Natürlich lassen sich die wissenschaftsthe-
oretischen Erkenntnisse, die Popper verwendet, um eine Abgrenzung der
Empirie von der Metaphysik zu vollziehen, nur bedingt auf die Psychothe-
rapie umlegen, es wird aber dennoch deutlich, dass eine Fallgeschichte nicht
ausreicht, um Theorien zu beweisen. Was kann eine Fallgeschichte demnach
vermitteln? Versucht ein Fallbeispiel das Gelingen einer Intervention zu zei-
gen, dann ist die Relevanz dieser Ausführungen durch zweierlei Gründe be-
schränkt:
Einerseits ist der Verdacht des therapeutischen Zufallstreffers immer
im Raum, da die Fallschilderungen keineswegs alle Variablen einbeziehen
können, die zu dem positiven Ergebnis geführt haben könnten. Die direkte
Wirksamkeit einer Intervention ist schwer zu beweisen. Wer hat noch nicht
erlebt, dass sich während einer laufenden Therapie mit schleppendem Ver-
lauf plötzlich mit dem Auftreten einer von außen kommenden Veränderung
im Leben der Patienten auch die Therapie entwickelt und große Fortschritte
macht? Gerne werden diese Fortschritte dann als Produkt der Therapie ge-
sehen, jedoch müsste man sich eingestehen, dass das nur Spekulation ist.
Die zweite Einschränkung ist die Wiederverwendbarkeit der Interventio-
nen. Kein Fall gleicht dem anderen, sodass das schablonenhafte Übertragen
von Interventionen kaum möglich ist.
Dennoch wirken Fallgeschichten, indem sie Erfahrungen transportabel
machen. Jede Fallgeschichte gibt uns einen einzigartigen Einblick in eine
einzigartige Situation. Eine Fallgeschichte ist novellenhaft und orientiert
sich nicht am Regelkanon der empirischen Sozialwissenschaft.42 Sie ist im-
mer aus einer rückschauenden Perspektive formuliert, das heißt, sie entsteht
immer aus einer Ex-post-Betrachtung. Insofern ist jede Fallgeschichte eine
Kompromissbildung zwischen dem damals Erlebten und dem heute Beur-
teilten. Bernd Nietzschke verfasste 2005 ein Plädoyer für die Fallgeschichten
und nimmt in Kauf, dass der wissenschaftliche Wert einer novellenhaften
Fallschilderung den Rang eines Gerüchtes hat.43 Die Beziehung zwischen
dem Patienten und dem Therapeuten bestimmt das Material, führt Nietz-
schke an, und die ist sicherlich kein Gerücht. Die Ähnlichkeit der Fallstu-
dien zu der literarischen Form der Kurzgeschichte sind auch bei From-
mer und Langenbach Thema. Sie beziehen sich auf Freud und resümieren:
„… dass genau jener Charakter, der Fallgeschichten spannend macht, ihnen
auch die Kritik an ihrem wissenschaftlichen Wert beschert hat.“44 Natürlich
weist das quantitativ Gemessene einen höheren Grad an Validität auf als
das Empfundene. Dennoch ist die Fallgeschichte in der Lage, die verinner-
lichten Interaktionserfahrungen abzubilden. Ob Gefühle, Wünsche, Bezie-
hungsfantasien oder Fehler, die der Therapeut zu machen glaubt – alle diese
Elemente spiegeln sich in der Beziehung der Therapeuten zu seinen Patien-
ten wider. Egal mit welcher Theorie diese Elemente nun interpretiert wer-
den oder ob sie Übertragung oder Compliance genannt werden, lassen sie
sich dennoch kaum quantitativ fassen. Insofern sind in der Dokumentation
dieser Beziehung novellenhafte Fallgeschichten vermutlich unverzichtbar.
„Ohne Dichtung geht es nicht“45, formuliert Nietschke und unterstreicht so-
mit die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit des novellenhaften Charak-
ters der Fallgeschichten. Gelingt es, Fälle so abzubilden, dass die Emotio-
nen und dadurch die Beziehung plastisch werden, dann kann eine Fallge-
schichte auch ohne aktuellen quantitativen Bezug wissenschaftlichen Wert
haben, ohne an Spannung zu verlieren.
Wissenschaftlichkeit ist aber nicht nur dann gegeben, wenn es sich um
quantitative Studien handelt. Wie wir gesehen haben, war das die vorherr-
schende wissenschaftliche Grundhaltung in der Psychotherapieforschung
der vergangenen Jahrzehnte. Fallforschung fällt, wenn wir Verfahren wie
jenes der elektronischen Textanalysen beiseite lassen, eher in den Bereich
der qualitativen Forschung. Die Ähnlichkeit und Übereinstimmungen der
Psychoanalyse selbst bzw. der psychoanalytischen Fallforschung mit der
modernen qualitativen Forschung beschreiben Frommer und Langenbach
in ihrem Aufsatz über die psychoanalytischen Fallstudien. Freud hat durch
seine Fallstudien hermeneutische und qualitative Methoden verwendet.46
Der norwegische Psychologe Steiner Kvale sieht die Psychoanalyse selbst so-
gar als Meilenstein der qualitativen Forschung. Demnach gewinne die Fall-
forschung als qualitative Forschung zunehmend an wissenschaftlicher Be-
deutung.47 Die Vermittlung der Psychotherapie in Form von Fallgeschichten
scheint also wissenschaftlich und nutzbringend zu sein.
1.5 Zusammenfassung
Der wesentliche Aspekt dabei ist die Loslösung von ideologischer Fixierun-
gen, um sich auf das eigentliche psychotherapeutische Geschehen zu kon-
zentrieren. Mit der Loslösung von schulenspezifischen Fixierungen und mit
dem Blick auf das eigentlich Wirkende in der psychotherapeutischen Praxis
gewinnt die Fallgeschichte wieder neue Bedeutung.
Die praktische Arbeit ist wieder im Blickfeld und daher auch Elemente
des täglichen Tuns. Diese Erweiterung des wissenschaftlichen Zugangs zur
Psychotherapie lässt das Phänomen Fehler als Element der psychothera-
peutischen Forschung zu. Diese Orientierung gibt uns die Möglichkeit, den
Fehler auf seinen Wert als nutzbringende Quelle für die therapeutische Ar-
beit hin zu untersuchen. Neben der theoretischen Verankerung des Phäno-
mens Fehler lässt sich so auch die praktische Seite des Phänomens in Form
von Fallgeschichten untersuchen.
2. Grundlagen
2.1 Fehlerkultur
Hier können Fehler schon innerhalb des Kontextes als Abweichungen oder
Differenzwert vorkommen. Im Wesentlichen kennen die Naturwissen-
schaft und die Statistik, abgesehen von den sogenannten groben Fehlern
(unpräziser Zollstock, Maßband für Mikromessungen), zwei Fehlertypen:
der statistische und der systematische Fehler. Statistische Fehler bestimmen
die Präzision der Reproduzierbarkeit eines Verfahrens. Sie sind meist nicht
vollständig vermeidbar und häufig nicht charakterisierbar. Als statistischen
Fehler bezeichnet man die Abweichung des Mittelwerts einer Stichprobe
von dem Erwartungswert. Systematische Fehler hingegen beeinflussen die
Richtigkeit („accuracy“, „trueness“) eines Analyseverfahrens. Sie sind die
Abweichungen der Ergebnisse vom wahren Wert und werden durch stö-
rende Einflüsse (Unerwartetes) oder fehlerhafte Messtechnik (falsche Me-
thode, fehlerhaftes Gerät) verursacht. In der Physik, ähnlich wie in der
Chemie, sind es Messfehler, die im Zentrum des Interesses stehen, in der
Technik sind es technische Defekte oder Fehlfunktionen, die primär durch
ein Gerät oder eine Maschine hervorgerufen werden. In güterproduzieren-
den Bereichen ist die Abwesenheit von Fehlern ein Qualitätsmerkmal und
das Vorliegen oder Auftreten von Fehlern stellt einen Mangel dar. Im EDV-
Bereich sind Softwarefehler häufig und entstehen nicht nur durch falsche
Bedienung, sondern können auch auf Programmierfehler zurückgehen. Die
Rechtswissenschaft hat ihre Verfahrensfehler, der Spieler seine Spielfehler.
Berühmt ist der russische Schachspieler Xavier Tartakower und dessen
sprichwörtlicher Umgang mit Fehlern: „Die Fehler sind alle da, sie müssen
nur noch gemacht werden.“ Egal welche Disziplin oder welcher Bereich des
menschlichen Lebens, Fehler sind überall mit eigenen Charakteristika ver-
treten. Eine umfassende Definition des Phänomens Fehler versucht Martin
Weingardt. Er definiert:
„Als Fehler bezeichnet ein Subjekt angesichts einer Alternative jene Vari-
ante, die von ihm – bezogen auf einen damit korrelierenden Kontext und
ein spezifisches Interesse – als so ungünstig beurteilt wird, dass sie uner-
wünscht erscheint.“ 8
7 Deplanque 2008
8 Vgl. Weingardt 2004
22 2. Grundlagen
Hier erscheint ein Blick auf zwei Bereiche lohnend, in denen sich jeweils
eine eigene Fehlerkultur herausgebildet hat: Das Eisenbahnwesen und der
Flugzeugbau. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat das Eisenbahnwesen eine
stürmische Entwicklung genommen. Ein Vorraussetzung dafür war das
große Interesse breiter Bevölkerungskreise an dem neuen Mobilitätsange-
bot der Eisenbahn, in dem sich – bis heute – Distanzüberwindung, neueste
Technik und vormals unbekannte Geschwindigkeit vereinen. Das Fahren
mit der Eisenbahn entwickelt sich in den 1880er und -90er Jahren zu einer
massenhaften Form der Fortbewegung.9 Die Entwicklung der Eisenbahn als
Massenverkehrsmittel baute auf die Erfindung der Dampfmaschine auf, de-
ren Technik anfangs nur schwer beherrschbar war. So mussten für den Bau
von zuverlässigen Dampfkesseln hochfeste Werkstoffe und entsprechende
Verarbeitungsmethoden gefunden werden. Ziel war es, Dampfkessel zu
17 Kahl 2008, S. 13
18 Vgl. Schuhmacher 2007, S. 2 f.
26 2. Grundlagen
Wesentlich für den konstruktiven und lernfördernden Umgang ist die diffe-
renzierte Fehleranalyse als Teil eines Rückmeldesystems. Fehler im schuli-
schen Kontext sind aber nicht nur für den Schüler wesentlich, sondern hel-
fen auch dem Lehrer, sich über den Wissenstand der Schüler zu orientieren.
Diese Orientierung ist die Basis für weiterführende Förderung. Die so ver-
standene Fehlerkultur, die vertiefendes Verstehen fördert, begünstigt damit
auch die Lernmotivation. Dadurch, dass Schüler ihre Fehler diskutieren,
selbst erkennen und der Lehrer das auch unterstützt, gelingt es, das Erleben
der Kompetenz zu stärken. Wichtige Voraussetzung zum Lernen aus Feh-
lern ist daher, dass Lernende ihre Fehler selber suchen und selbst korrigie-
ren.22 Sich kompetent fühlende Schüler sind motivierter, sich weiteres Wis-
sen anzueignen. Auch Schuhmacher unterstreicht in seinem Ansatz, dass
das Fehlerrückmeldesystem ein höchst wichtiger Bestandteil der Lernkultur
ist. Die Fehleranalyse und Rückmeldung basiert auf der Grundhaltung:
„Wer herausgefunden hat, worin der eigene Fehler bestand, der hat eigene
Denkmuster identifiziert und damit die Chance, diese zu verändern.“ 23
„Eine offene Fehlerkultur ist für die Beherrschung von Risiken im lang-
fristigen, strategischen Umfeld von großer Bedeutung“, schreibt der Risi-
komanager Holger Seibold.27 Die Tätigkeit von Risikomanagern besteht
hauptsächlich aus dem systematischen Erfassen, der Bewertung und letzt-
lich der Steuerung der unterschiedlichster Risiken betrieblicher Abläufe.
Durch die Identifizierung von Risiken und das Erarbeiten von Gegenmaß-
nahmen werden Prozesse beeinflusst und verändert. Ein Ziel dabei ist es,
mögliche Folgen von Fehlern abzuschätzen und durch Maßnahmen eine
Verbesserung der Prozesse durch sinkende Fehlerquoten zu erzielen. Of-
fene Fehlerkultur, wie sie Seibold vertritt, betrifft zum Beispiel regelmäßiges
und selbstkritisches Hinterfragen von Entscheidungen. So soll das Risiko
von Fehlern oder Fehlentscheidungen minimiert werden. Für die Fehler-
forscherin Maria Spychiger28 ist der ehemalige Vorsitzende der Firma Ciba
Geigy, Heini Lippuner, der Pionier der Fehlerkultur. Er hat nach dem Che-
mieunfall Schweizerhalle-Basel29 die Firma Ciba Geigy neu organisiert und
einer aktiven Fehlerkultur den Weg geebnet. Fehlerkultur im betriebswirt-
schaftlichen Kontext soll also Risiken minimieren, Produktivität steigern
und insgesamt die Erfolgsquote erhöhen. Innovative Unternehmenskultur
steht aber nicht nur für fehlerfreundliche Strategien, sondern auch für die
parallel dazu entstandene Null-Fehler-Philosophie. Null-Fehler-Strategien
„Die Art und Weise, wie Fehler betrachtet und bewertet werden und wie
mit Fehlern im Alltag umgegangen wird, wirkt zentral auf die Leistungsfä-
higkeit des Unternehmens.“ 30
Jack Welch wurde 1999 zum Manager des Jahrhunderts gewählt und ist eine
schillernde Persönlichkeiten des amerikanischen Geschäftslebens. Ihm wird
zugeschrieben, die Umsätze und Gewinne von General Electrics durch die
Einführung der Qualitätsmethode Six Sigma Ende der 90er-Jahre im Laufe
von Jahren vervielfacht zu haben. Neben seinen Erfolgen ist er auch für eine
konsequente Personalpolitik und für den Dreischritt Belohnen – Herausfor-
dern – Kündigen im Verhältnis 20 –70 –10 bekannt. Six Sigma ist ein genau
geordnetes Verfahren zur Erhebung, Überprüfung und Verbesserung von
Abläufen beliebiger Art. In Form eines Phasenmodells werden anhand von
klar definierten Schritten mit ebenso klar definierten Werkzeugen Prozesse
optimiert. Der Six-Sigma-Prozess ist strikt geregelt, genauso wie die zur An-
wendung kommenden Werkzeuge und Instrumente. Auch die Einführung,
Begleitung und Kontrolle des Prozesses ist exakt definiert. Die durch den
hohen Kontroll- und Beobachtungsaufwand entstehenden engmaschigen
Strukturen schließen Fehler während des neu geordneten, optimierten Pro-
zesses weitgehend aus. Die Messbarkeit der Abläufe ist hier natürlich von
Vorteil und wird auch angestrebt. Six Sigma wird von speziell geschulten
Mitarbeitern durchgeführt, die einer klaren Rollendefinition entsprechen.
Die Rollendefinition wird durch Gürtelfarben, angelehnt an die japanischen
Kampfsportarten, gekennzeichnet. Nachdem der Konzern Motorola 1987
den Anfang gemacht hatte, folgten andere Konzerne wie IBM, Texas Instru-
ments, Dow Chemical, Nokia und 2001 auch die Deutsche Bahn und 2003
Thyssen Krupp mit der Einführung der Six-Sigma-Methode.31 Six Sigma hat
sich in den letzten Jahren weltweit bewährt und ist eine höchst ertragbrin-
gende Methode. Six Sigma ist in Vereinen und Kooperationen organisiert,
bietet Trainings an, zertifiziert Betriebe und Mitarbeiter. Auf der Homepage
des österreichischen Zweigvereines kann man sogar von einer Six-Sigma-
Mission lesen.32 Das Ideal der Fehlerfreiheit scheint eine große Anziehungs-
kraft zu haben und offensichtlich von missionarischer Qualität zu sein.
80er-Jahre als Pionierzeit der Fehlerkultur an, sondern werten das Toyota-
Prinzip als Wegbereiter der Fehlerkultur. Verantwortlich dafür war eine
Kooperation von Amerikanern und Japanern, die in den 1960er-Jahren
des letzten Jahrhunderts für den Toyota-Konzern tätig waren und so zu
den Urvätern der angewandten Fehlerkultur wurden. Unter den Forschern
hat sich Horst Wildemann mit Konzepten der Logistik und des modernen
Produktionsmanagement in Japan beschäftigt und versucht, diese Manage-
mentprinzipien auf europäische Verhältnisse zu übertragen. 33 Wildemanns
Ruf als Logistikpapst stammt aus den frühen 1980er-Jahren, als er als einer
der westlichen Experten bekannt wurde, der die japanischen Produktions-
geheimnisse untersuchte. Er begleitete die damaligen Daimler Benz- und
Volkswagen-Chefs Edzard Reuter und Carl Hahn nach Japan.34 In Europa
und den USA wird mittlerweile mit den von dort kopierten Prinzipien wie
dem japanischen „Kaizen“ und „Kanban“ gearbeitet. Aus „Kaizen“ wurde
„Quality Management“ und „Total Quality Management“, und aus Kanban
wurde „Just-in-Time“.35 Diese beiden betriebswirtschaftlichen Prinzipien
gehen ursprünglich auf Taiichi Ohno, den Produktionsleiter der Toyota Mo-
tor Cooperation während der Jahre 1950 bis 1982, zurück.
33 Kaluza 2003, S. 2
34 Vgl. Henry 2001
35 Bosch, Steinbrinck 2008, S. 136 f.
36 Kostka 2006, S.10
37 Ebenda, S. 11
2.5 Der Faktor Mensch 31
Traditionell lösen Fehler Schuldgefühle und letztlich Angst aus. Bosch und
Steinbrinck führen in ihrem Aufsatz den Organisationspsychologen Marc
Solga an, der hinsichtlich der Reaktion von Fehlerverursachern zwei Typen
charakterisiert hat. Diese Typen sind zum einen der Typus der Entschul-
digungsstrategie: „Ich bin nicht alleine dafür verantwortlich!“ und zum
anderen der Typus der Rechtfertigungsstrategie: „So schlimm war es doch
nicht.“42 Diese Strategien erinnern an Kinder, die aus Angst vor Sanktionen
ihre Fehltritte zu verschleiern versuchen. Diese Angst ist es, die den offenen
Umgang mit Fehlern verunmöglicht. Kottler und Blau formulieren das in
ähnlichem Zusammenhang so:
„Wer sich bei einer Beurteilung irrt oder einen taktischen Fehler gemacht
hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine schmutzige Wä-
sche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 43
vertritt und demnach der Einzelne für seine Fehler verantwortlich gemacht
wird, herrscht in Japan anstatt des Schuldverständnisses ein Schamver-
ständnis vor, das sich aber auf das Kollektiv bezieht. Schuld ist nicht wie bei
uns ein schon durch den christlichen Glauben tief verankerter Aspekt unse-
res Empfindens, sondern Schuld ist im japanischen Verständnis ein Element
eines ungeschriebenen sozialen Vertrages. Die Verletzung dieses Vertrages
ruft Scham hervor und dieser ist behebbar. „Es wird nicht nach dem Schul-
digen gesucht, sondern nach der Möglichkeit, den Schaden zu beheben.“ 45
Vermutlich war diese pragmatische Fehlerkultur mitverantwortlich für den
ökonomischen Aufstieg Japans Ende des letzten Jahrhunderts. Ähnliches
berichtet auch Maria Spychiger. Sie beschreibt eine indonesische Dorfge-
meinschaft, in der die Gruppe sich für die Normverletzung eines Mitgliedes
schämt. Die Wiedergutmachung besteht im starken Sich-Schämen.46
Der Faktor Mensch braucht also ein Umfeld, das ihm ermöglicht, neue
Taktiken im Umgang mit Fehlern langsam zu entwickeln. Unter Rücksicht-
nahme auf alte, traditionell verankerte Muster und mit der Bereitschaft,
nicht nur Fehlertoleranz zu propagieren, sondern sie auch tatsächlich zu be-
treiben, das heißt auch Rückmeldesysteme und Sanktionsfreiheit zu ermög-
lichen, kann sich eine neue, innovative Unternehmenskultur etablieren.
Das fragt Osten und skizziert damit die Diskrepanz zwischen dem fehleran-
fälligen Menschen und einem auf Perfektion ausgerichteten Zeitgeist. Das
Wesentliche an der Kunst, Fehler zu machen, ist für Osten die produktive,
erzieherische Seite der Fehler. Die größte Lehrmeisterin dabei sei die Natur
selbst. Die biologische, aber auch die kulturelle Evolution, lässt sich als eine
Erfolgsgeschichte hoch produktiver Fehler und Irrtümer lesen.51 Goethe
empfiehlt als Heilmittel für die ungeduldige, fehleranfällige Ratio die Liebe.
Osten formuliert:
Von der Entwicklung her lernt der Mensch vorwiegend durch Versuch und
Irrtum. Unser Gehirn gibt dem unmittelbaren Überleben Vorrang gegen-
über dem objektiven – vielleicht fehlerfreien – Erfassen der Welt. Wie wir
in einem späteren Kapitel genauer sehen werden, ist das Bilden von The-
orien und Konstrukten über das Phänomen Fehler nur mit Auslassungen
möglich und daher selbst von Fehlerrisiken begleitet. Je komplexer demnach
das Phänomen, desto höher das Fehlerrisiko. Entscheidend aber wird sein,
dass sich die Fehlerkultur mit einer Vertrauenskultur verbindet, denn die
Kunst, Fehler zu machen, ist letztlich die Kunst des Dialogs. Fehler müssen
kommuniziert werden, um fruchtbar gemacht zu werden – oder einfach nur
akzeptiert zu werden.53
50 Osten 2007, S. 26
51 Vgl. Killert 2006
52 Ebenda, S. 91
53 Vgl. Seibel 2008
2.6 Zusammenfassung 35
2.6 Zusammenfassung
„Wenn die Mitarbeiter keine Angst mehr davor haben, dass man ihnen
wegen ihrer Fehler und Missgeschicke die Hölle heiß macht, dann können
Kreativität, Experimentierfreude und Innovation gedeihen.“ 54
„Die Katastrophen und Pannen, die Teil jeder Praxis sind, tauchen wäh-
rend der Ausbildung nur selten auf. Den künftigen Therapeuten werden
brillante Ideen für dramatische Handlungen geliefert, in Büchern und Fil-
men Fälle außergewöhnlicher Besserung demonstriert.“ 2
1 Freud 1982, Hysterie und Angst. S. 97–186; Dora, 1882 in Wien geboren, ist von Ok-
tober bis Dezember des Jahres 1900 bei Freud in psychoanalytischer Behandlung. Am
31. Dezember 1900 bricht sie ihre Analyse ab. Der Fall gilt als umstritten und der The-
rapieerfolg als fraglich.
2 Kottler, Blau 1991, S. 24
3 Ebenda, S. 150
4 Vgl. Hutterer-Krisch 2007, S. 72
38 3. Fehler in der Psychotherapie
Wie kann aber eine Therapie schiefgehen, ein Fehler entstehen, wenn
doch alles scheinbar richtig läuft? Ob eine Therapie letztlich scheitert, ist
bloß eine mögliche Folge eines Alltagsfehlers, nicht aber eine notwendige.
Die Vorstellung in der therapeutischen Arbeit, alles richtig zu machen, lässt
sich vielleicht nach einer erfolgreichen Therapie vermuten, nicht aber fest-
stellen. Die Festsetzung dessen, was richtig und falsch ist, scheint wegen der
Vielschichtigkeit menschlicher Begegnung unmöglich. Die Formulierung
„alles richtig“ scheint daher mehr ein Wunsch zu sein als Realität. Weder ist
„alles“ in der therapeutischen Arbeit restlos untersuchbar, noch lassen sich
Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ in diesem Zusammenhang einwand-
frei anwenden. Es lässt sich lediglich festlegen, dass immer wieder – trotz
Berücksichtigung aller Faktoren, das heißt einer umfassenden Ausbildung,
sorgfältiger Therapieplanung und Einhaltung aller Richtlinien – Momente
entstehen, die als Fehler wahrgenommen werden. Die Auswirkungen dieser
Fehler sind völlig offen und die Einschätzung dieser Elemente als Fehler ist
völlig subjektiv. Andere Kollegen können die subjektive Einschätzung teilen
oder auch nicht. Richtig und falsch bestimmt eben letztlich der Beobachter-
standpunkt. Auch aus diesem Grund ist es nicht Ziel dieser Untersuchung,
Anleitungen zur Vermeidung oder zur Korrektur von Alltagsfehlern zu ge-
ben, sondern eine Metareflexion zum Thema anzubieten. Unterschiedliche
Aspekte des Phänomens Alltagsfehler sind daher von Interesse.
t 8JFLPNNFO"MMUBHTGFIMFS[VTUBOEF
t 8JFXFSEFOTJFWFSBSCFJUFUPEFSWFSXFSUFUVOESFĘFLUJFSUVOEFSLMÊSU
t 8FSEFOTJFJOOFSIBMCEFSćFSBQJFCFBSCFJUFU
Demnach bietet sich für das hier untersuchte Phänomen Alltagsfehler fol-
gende Definition als Ausgangspunkt an:
In weiterer Folge dieser Untersuchung ist die Verwendung des Begriffes Feh-
ler an diese Definition angelehnt.
3.2 Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung? 41
In kaum einer Sache sind sich die Autoren, die sich mit Fehlern in der Psy-
chotherapie beschäftigen, so einig, wie in der Feststellung, dass psychothe-
rapeutische Fehler und daraus resultierende Misserfolge oder Schädigungen
durch Psychotherapie viel zu wenig Gegenstand der Psychotherapiefor-
schung seien. Wie kommt es zu dieser Feststellung? Welche Gründe sind
dafür verantwortlich, dass die Misserfolgsforschung noch nicht den ihr
zustehenden Platz einnimmt? Jeffrey Kottler und Diane Blau schreiben in
ihrem in der Erstauflage schon 1986 erschienen Buch „Wenn Therapeuten
irren“:
„Wer sich bei einer Beurteilung eines Falles irrt oder einen taktischen Feh-
ler gemacht hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine
schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 10
Forscher neigen aus verschiedenen Motiven dazu, die Effektivität und Wirk-
samkeit ihrer Therapierichtung und ihres Handelns herauszustellen. Es sind
nicht nur Eitelkeit und Konkurrenzdruck die hier möglichen Motive, son-
dern der schlichte wissenschaftliche Kampf um Anerkennung, um Planstel-
len oder um Forschungsgelder. All das sind nachvollziehbare Gründe. Wer
streicht schon gerne seine Fehler hervor, wenn es darum geht, Karriere zu
machen? Auch Forschungsdesigns selbst nehmen wenig Bedacht auf Fehler.
Gruppenuntersuchungen zum Beispiel beziehen sich rein formal meist auf
jene Patienten, die Studien auch beenden, und Personen, die das Programm
oder die Untersuchung nicht beenden, sind „Abbrecher“ und daher nur ein
Zahlenfaktor am Rande von Untersuchungen.
Fehler gehören nicht zu den willkommensten Elementen eines Thera-
peuten oder Psychotherapieforschers. Dem Fehler in der praktischen Ar-
beit wird mit unterschiedlichsten Strategien begegnet. In dem Aufsatz von
Reinhard Tausch wird die Überzeugung deutlich, dass bei tadelloser An-
wendung der therapeutischen Methode Schädigung oder Fehler gar keine
Themen seien.11 Auch Fischer-Klepsch vermutet ähnliche Überlegungen bei
ihren Kollegen der Verhaltenstherapie. Sie meint kritisch:
„Eine Theorie darf nicht alles erklären, was vorstellbar ist, weil sie dann
nicht überprüfbar ist. Als Beispiel nehme ich die Freud’sche Theorie, in
der alles, was ein Individuum tun kann, in Freud’schen Termini erklärt
wird: Ein Mensch tritt ins Kloster ein oder er erweist sich im Gegenteil als
großer Verführer; das wird entweder wegen seiner sexuellen Misserfolge
oder, weil er Angst vor Sex hat, geschehen. Auf diese Weise werden sowohl
das Fehlen wie auch ein Übermaß von Sexualität immer in Freud’schen
Termini erklärbar sein. Auf diese Weise kann keine menschliche Hand-
lung der Freud’schen Theorie widersprechen und deshalb ist sie nicht
überprüfbar.“ 17
Auch Diane Blau verweist auf ihr gut entwickeltes Repertoire an Erklärun-
gen, die Widerstand, fehlende Motivation oder Abwehr des Klienten oder
die Einmischung der Familie als Entschuldigungsgründe für das Scheitern
der Therapie zulassen.18 Sie spricht sich frei, entlastet sich von Schuld und
lenkt sich schließlich ab, indem sie an andere Klienten denkt, die sie schät-
zen und tatsächliche Fortschritte machen.19
Es ist somit schon eine Leistung, überhaupt von „Fehlern in der Therapie“
zu sprechen. Naheliegenderweise ist zunächst der Therapeut als Schuldiger
im Brennpunkt. Da diese Überlegungen unter Therapeuten nicht populär
sind, ist es eine Erweiterung der Überlegungen, die Fehler nicht nur den
Therapeuten zuzuschreiben, sondern auch den Patienten die Möglichkeit zu
geben, für das Scheitern einer Therapie verantwortlich zu sein. Klarerweise
lässt sich so leichter über misslingende Therapien sprechen. Noch weiter-
führender ist aber, die Methodik selbst für das Scheitern verantwortlich zu
machen. Dies hieße aber, das eigene Werkzeug für das Nichtgelingen ver-
antwortlich zu machen. Leichter ist es da zum Beispiel, die Rahmenbedin-
gungen anzuführen. Vermutlich ist so auch Rhode-Dachsers Forderung zu
verstehen:
Es ist die Schwierigkeit, mit Fehlern umzugehen, die für die mangelnde Prä-
senz dieses Elementes in der Forschung und Literatur verantwortlich ist.
Diese Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Fehler vielleicht vorschnell mit
Scheitern einer therapeutischen Arbeit gleichgesetzt werden.
Die genannten Überlegungen verknüpfen Fehler mit Scheitern einer The-
rapie, und das ist dem arbeitenden Therapeuten als Vertreter einer Methode
und dem Selbstverständnis einer verhältnismäßig jungen Disziplin wie der
Psychotherapie vermutlich zu heikel.
Die Vorstellung, dass Fehler zu einem anderen Ergebnis führen oder sogar
ein wertvolles Element der therapeutischen Arbeit sein könnten, ist meist nur
eine Randnotiz, obwohl es von verschiedenen Seiten Überlegungen gibt, die
Fehler als lohnenswert darstellen. Grawe beschreibt es als ein Zeichen von
Selbstbewusstsein und Reife, sich mit den Erfahrungen des Scheiterns und
Es hat sich gezeigt, dass die Schwierigkeit, über Fehler zu sprechen und zu
forschen, darauf zurückzuführen ist, dass Fehler vielleicht vorschnell mit
dem Scheitern einer Therapie verknüpft werden und so zu einem seltenen
und unbeliebten Gegenstand der Forschung werden. Verfolgt man diesen
Ansatz, so tauchen bei dieser Verknüpfung weitere Fragen auf.
t 8BTJTUEBT4DIFJUFSOFJOFSćFSBQJF
t 8BOO TQSJDIU NBO WPO &SGPMH PEFS .JTTFSGPMH FJOFS QTZDIPUIFSBQFVUJ-
schen Verbindung?
t -BTTFOTJDIUIFSBQFVUJTDIFS&SGPMHPEFS.JTTFSGPMHàCFSIBVQUCFHSJĒJDI
fassen?
In der praktischen Arbeit kommt es häufig vor, dass Patienten erst nach der
Beendigung oder nach dem Abbruch der Therapie ihre Ziele, zum Beispiel
Alkoholabstinenz, erreichen können. Zum Zeitpunkt der Beendigung der
Therapie war das gesetzte Ziel der Abstinenz nicht erreicht. Naheliegend
wäre es demnach, von einem Scheitern zu sprechen. Dass die Patienten aber
nach Beendigung vielleicht aus Ehrgeiz oder aus Trotz dem Therapeuten ge-
genüber dennoch „trocken“ wurden, ist vielleicht als Spätfolge der Therapie
zu werten. Diese Ansicht lässt jedoch in jedem Fall großen Interpretations-
spielraum zu.
vielschichtig und daher in einer Definition nur schwer fassbar. Ein thera-
peutischer Misserfolg kann gleichzeitig für die Angehörigen eine große Er-
leichterung bringen, eine erfolglose Paartherapie kann Beziehungen been-
den oder erhalten, und ob das jeweils ein Erfolg oder Misserfolg ist, liegt im
Auge des Betrachters. „Wenn man von einem therapeutischen Misserfolg
spricht, ist ein Therapieverlauf gemeint, bei dem die gewünschten Effekte
aus Sicht der Patienten und/oder der Therapeuten ausbleiben“ 28, definiert
Fischer-Klepsch.
Andere Ansätze setzten Kriterien wie die persönliche Zufriedenheit des
Patienten mit dem Therapieergebnis, die Einschätzung der sozialen Um-
gebung und die Beurteilung durch Experten sowie die Nutzung von Tests
zur Symptomverbesserung an. Fischer, Scharrelmann und Bering, genauso
wie auch schon Kuhr, beziehen sich auf die Untersuchung der Amerikaner
Strupp, Hadley und Gomes-Schwarz von 1977, wonach folgende Indikato-
ren für negative Effekte formuliert werden: die Verschärfung der bestehen-
den Symptome, das Auftreten neuer Symptome, der Missbrauch der The-
rapie durch den Klienten im Sinne der anhaltenden Abhängigkeit von der
Therapie und/oder von den Therapeuten, außerdem die Überforderung der
Patienten aufgrund der Therapie, die versucht, vorschnell Lebensfragen zu
lösen, und abschließend die Enttäuschung über die Therapie oder den The-
rapeuten, die zu einer generellen Frustration führen kann.29 Die genannten
Autoren definieren den therapeutischen Misserfolg folgendermaßen:
Aufbauend auf der versuchten Definition, wie sich Erfolg oder Misserfolg
einer Psychotherapie fassen lassen, folgt die Frage nach den für die zwei ge-
nannten Kategorien verantwortlichen Faktoren, ähnlich wie wir schon vor-
her bei Mash und Hunsley gesehen haben. Die Psychotherapieforschung hat
über Jahre Wirkfaktoren im Sinne von Erfolgsfaktoren formuliert, wie sie
schon im ersten Teil der Arbeit von Jerome Frank 31 und bei Grawe32 erwähnt
wurden. Diese Wirkfaktoren, kombiniert mit Fachwissen und Erfahrungen,
können den Erfolg einer Therapie ausmachen. Eine ähnliche Diskussionen,
immer mit dem Hinweis auf die Schwierigkeit, diese Phänomene zu fassen,
finden wir bei allen Forschern, die sich im Zusammenhang mit Fehlern in
der Psychotherapie mit Faktoren auseinandersetzen, die zum Scheitern ei-
ner Therapie führen. Demnach ist nicht nur die Definition von Erfolg und
Misserfolg schwierig, sondern auch die Formulierung der zu diesem Ergeb-
nis führenden Faktoren.
Emmelkamp zum Beispiel nennt Aspekte, die zum Scheitern führen kön-
nen, und unterteilt sie in Therapeuten- und Technikvariablen. So können
eine falsche Diagnose und unkorrekte Verhaltensanalyse sowie die Wahl
der falschen Technik für den Misserfolg verantwortlich sein und auch eine
besondere Konstellation von Patienten und Therapeuteneigenschaften kann
zum Scheitern der Therapie führen.33 So ist es zum Beispiel möglich, dass
zwischen Patient und Therapeut einfach keine tragfähige Beziehung ent-
steht. Nicht nur Emmelkamp nimmt, bevor er die Faktoren benennt, eine
Teilung des Gegenstandes nach Entstehungsbereichen vor. Auch Reinhard
Tausch teilt das Geschehen in unterschiedliche Bereiche: Fehler der Thera-
peuten, Fehler vor Beginn der Psychotherapie, etwa durch schlechte Infor-
mation über die angebotene Therapie, und Fehler durch Unterlassung von
ergänzenden Angeboten.34 Kuhr unterteilt Technikvariablen, Patientenva-
riablen und Therapeutenvariablen, die als mangelnde Ausbildung, fehlende
Empathie oder Wärme näher gefasst werden. Der Therapeut brauche per-
sönliche Reife, Selbsterfahrung oder wie es Tausch formuliert:
Mays und Franks von 1985, wonach bei den Diagnosen wie Borderline, schi-
zotypische Persönlichkeit und Bulimie der Behandlungserfolg zweifelhaft
ist.38 Auch Rhode-Dachser sieht auf der Seite der Patienten Variablen, die für
das Gelingen der therapeutischen Arbeit mitverantwortlich sind. Sie setzt
eine grundlegende Motivation und Bereitschaft des Patienten voraus, und
es muss ein Minimum an Beziehungs- und Introspektionsfähigkeit für das
Gelingen einer psychoanalytischen Therapie gegeben sein.
38 Ebenda, S. 14
39 Rhode-Dachser 1988, S. 64
40 Kuhr 1988, S. 13
3.5 Zusammenfassung 49
3.5 Zusammenfassung
das Scheitern selbst, aber doch zumindest der Gedanke daran vermieden
werden kann. Ähnlich wie politische Selbstdarsteller es vermögen, das ei-
gene Tun immer im guten Licht darzustellen, kann es mittels diverser Kon-
struktionen gelingen, dass der Therapeut letztlich keinen Fehler begangen
hat:
2003, also einige Jahre später, haben Kottler und Carlson in dem Buch „Bad
Therapy“ ähnliche Überlegungen angestellt: Anstatt Fehlgriffe zuzugeben,
würden Therapeuten die Schuld den Klienten zuschieben: Die Klienten
seien unmotiviert oder würden sich nicht genug Mühe geben. Therapeuten
würden negative Ereignisse in der Therapie Umständen außerhalb ihrer
Kontrolle zuschreiben, wie beispielsweise interferierende Familienmitglie-
der, ungünstige Umweltfaktoren oder Zeitbeschränkungen. Therapeuten
würden ihren Klienten vorschnell Eigenschaften zuordnen, wie beispiels-
weise „Borderline“, „im Widerstand“ oder „zerstörerisch“.2
Nachdem Fehler stattgefunden haben, würden Therapeuten häufig vor-
geben, dass Fehler gar nicht passiert sind. Leugnung und Selbstabsiche-
rung sind gängige Hilfsmittel, um Fehler zu vertuschen. Diese Vertuschung
würde manchen Therapeuten sogar dabei helfen, sich selber weismachen zu
können, dass ein Fehler überhaupt nie stattgefunden hätte.
Wenn sich die Schwierigkeiten in der Therapie aber nicht mehr leugnen
lassen, kommen Rechtfertigungs- und Zuschreibungsstrategien zum Ein-
satz:
t v%JFćFSBQJFLBOOOJDIUXJSLFO
XFJM4JFTJDIWPOEFO"VTXJSLVOHFO
der Veränderung bedroht fühlen.“
t v4JFNÚDIUFO
EBTTÊVFSF'BLUPSFOJISF4JUVBUJPOWFSCFTTFSOi
t v4JFTUSFOHFOTJDIKBHBSOJDIUBOi
t v0CFSĘÊDIMJDICFUSBDIUFU
BSCFJUFO4JFTFISLPPQFSBUJWCFJEFS#FIBOE-
lung mit, aber in Wirklichkeit sabotieren Sie den Prozess.“ 3
t v8FOO XJS VOT XàOTDIFO
EBT (FHFOUFJM EFTTFO
XBT FJO 1BUJFOU VOT
sagt, als wahr zu erachten, können wir an Verkehrung denken.
t 8FOOXJSVOTXàOTDIFO
FJO1SPCMFNFIFSvIJFSiBMTvEPSUESàCFOiBO-
zusprechen, können wir dies interpretieren, als verwende der Patient
eine Projektion oder Verlagerung.
t 8FOOXJSFJOCFTUJNNUFT1SPCMFNJO"OHSJČOFINFONÚDIUFO
EFS1B-
tient aber nicht davon spricht, können wir an Vermeidung denken.
t 8FOOVOTFSF1BUJFOUFOVOTGàSFUXBTBOHSFJGFO
EBTVOTVOBOHFOFIN
berührt, speziell wenn es dabei um eine überaus ungenießbare Wahrheit
über uns selber geht, dann können wir das Übertragung oder projektive
Identifikation nennen.
t 8FOOXJSEBOBDITUSFCFO
FJOFCFTUJNNUF[FJUMJDIF7FSCJOEVOHWPO&S-
eignissen herzustellen, diese aber den Details der einzelnen Fakten zuwi-
derläuft, können wir von der Zeitlosigkeit des Unbewussten sprechen.“ 5
Dieser Ansatz (Kuhr 1988, Emmelkamp 1988, Mash und Hunsley 1993 und
Fischer-Klepsch 2003) versucht, ausgehend von der Definition von Miss-
erfolg und Erfolg in der Psychotherapie, unterschiedliche Verfahren anzu-
wenden, um Faktoren zu erarbeiten, welche Erfolg und Misserfolg jeweils
bedingen. Die Beschäftigung mit Misserfolgsverläufen ist dabei höchst un-
konventionell und aufwendig, da diese bei gängigen Studien vernachlässigt
werden. So werden von den genannten Autoren eigene Misserfolgskatego-
rien (siehe voriges Kapitel) gebildet, um Prädiktoren für das Misslingen ei-
ner Therapie zu skizzieren. Das Unterfangen mündet in Empfehlungen für
die therapeutische Praxis. Sie trachten danach, Misserfolge zum Beispiel
durch gründliche Vorgespräche, sorgfältige Therapieführung und verant-
wortliche Nachbetreuung zu minimieren, um eben jene schädlichen Fakto-
ren auszuschließen.
Einige weiterreichende Ansätze sind jene von Mash und Hunsley oder jener
von Tausch. Diese Autoren wollen mittels unterschiedlicher Erhebungs- und
Einschätzungsverfahren das Risiko für Fehlschläge in der Therapie elimi-
nieren. Mash und Hunsley schlagen insgesamt umfassende Werkzeuge zur
Beobachtung von Therapieverläufen und zur Einschätzung von Therapiefeh-
lern im Speziellen vor. Zu diesem Zweck schlägt Mash vor, dass eine zentra-
lisierte Infrastruktur geschaffen wird, ähnlich wie jene der medizinischen
Labore. Diese Einrichtungen sollen in Kooperation mit den Kliniken jenen
vor allem die Bürde der Eingangstestverfahren und der therapiebegleiten-
den Testungen abnehmen. Die Autoren hoffen, dass diese so konzipierten
1982 stellte Emmelkamp eine Studie an, um Prädiktoren für den Behand-
lungsausgang bei Agoraphobikern herauszuarbeiten. Trotz breiter Unter-
suchungsanordnung und gründlicher Follow-up-Studien konnten nur we-
nige Variablen gefunden werden, die das Behandlungsergebnis vorhersagen
konnten.9 Diese und viele der in seinem Text erwähnten Studien dienen
insgesamt dem Versuch, therapeutische Erfolge und die dazu führenden
Faktoren zu messen und gleichzeitig als Nebenprodukt auch Variablen
zu entwickeln, die dem Therapieerfolg abträglich sein könnten. Bei aller
Gründlichkeit, mit der vermutlich die Gruppen-, Feld- und Vergleichsstu-
dien betrieben wurden, ließen sich weder bei den Agoraphobikern noch bei
anderen Diagnosegruppen eindeutige Erfolgs- oder Misserfolgsprädiktoren
feststellen.
Aufgrund der unterschiedlichsten Untersuchungsdesigns und der un-
terschiedlichsten Herangehensweisen lassen sich mit den Instrumenten
von Emmelkamp zwar Korrelationen herausfiltern und statistisch Einflüsse
einzelner Faktoren auf ein Therapieergebnis andeuten, jedoch räumte Em-
melkamp selber ein, dass weiter geprüft werden müsse, ob die Resultate sol-
cher Studien auf echt klinische Populationen zu generalisieren seien.10 Auch
Kleiber und Kuhr kommen zu dem Ergebnis, dass, bezogen auf die Studien
von Emmelkamp, „die wenigen statistisch signifikanten Korrelationen teil-
weise als Zufallsergebnis interpretiert werden können und wenig klinischen
Nutzen haben.“ 11
16 Ebenda, S. 200
17 Das Abstimmen der Vorgangsweise auf die besonderen Erfordernisse der Patienten
unter Berücksichtigung der Beziehungsqualität.
18 Fischer-Klepsch 2003, S. 200 ff.
58 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Die folgenden Überlegungen gehen auf Autoren zurück, die sich nicht aus-
schließlich mit dem Scheitern der therapeutischen Arbeit befasst haben,
sondern besonderes Augenmerk auf die Verstrickungen gelegt haben, die
in der komplexen Interaktion zwischen Patient und Therapeut zu Fehlern
und Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit geführt haben. Sabine
Wittmann, Christa Rhode-Dachser und auch Wolfgang Schmidbauer lassen
sich mit ihren Arbeiten in diese Kategorie einordnen. Nicht zufällig sind
die genannten Autoren in ihrer theoretischen Orientierung tiefenpsycho-
logischen, analytischen Ursprungs. Einen besonderen Beitrag liefert Bernd
Rieken, der nicht von Fehlern spricht, sondern typische Schwierigkeiten in
der therapeutischen Arbeit skizziert, die er dem sich in seiner Bedeutung
wandelnden Phänomen der Gegenübertragung zuschreibt. Ein besonderer
Aspekt der Verstrickungen ist jener, der sich durch Selbstoffenbarung der
Therapeuten ergibt. Er ist ein Element, welches von vielen Psychotherapeu-
ten als Fehler wahrgenommen wird, für Rieken aber zunehmend an thera-
peutischer Bedeutung gewinnt.
Sabine Wittmann betont im Vorfeld ihres Aufsatzes „Der unangenehme
Patient“ 19, dass es ihr nicht um Fehler geht im Sinne von äußeren Bedin-
gungen, institutionellen Verhängnissen, therapeutischem Versagen wie
mangelnde klinische oder Selbsterfahrung oder schlicht fehlender Kompe-
tenz. Sie beschreibt die Schwierigkeiten mit einem Fall und begreift Fehler
als „ständige und notwendige Ereignisse“ 20 der therapeutischen Interaktion.
In ihrem Aufsatz schildert sie einen Fall und greift Markantes heraus:
4.3.1 Widerstand
19 Wittmann 1988
20 Wittmann 1988, S. 54
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung 59
t 0NOJQPUFO[[VTDISFJCVOHFO
Der Therapeut wird zum Magier, zur allmächtigen Elternfigur, der den
Patienten vom Leid befreit. Gelingt das nicht, dann wird die Kränkung
der „Allmacht“ zu Ärger, welche sich auf den Patienten bezieht. Gelingt
22 Ebenda, S. 65
23 Vgl. Greenson 1973, S. 357
24 Rhode-Dachser 1988, S. 67 ff.
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung 61
Nur wenn der Therapeut Fehler macht, können obige Muster entstehen.
Fehler lassen sich aber beheben, und dieser Vorgang kann für alle Beteilig-
ten neue Erfahrungen bedeuten. Wesentliche Voraussetzung dafür ist aber,
diese Fehler ohne neurotischen Rechtfertigungsdruck und Schuldzuwei-
sungen zu erörtern und dem Patienten somit die Möglichkeit zu eröffnen,
genauso wenig fehlerfrei wie sein Therapeut sein zu dürfen.
25 Rhode-Dachser 1988, S. 71 f.
62 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
26 Schmidbauer 1999
27 Vgl. Schmidbauer 1999, S. 23
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung 63
zumindest nach Abschluss der Therapie ein intimes Verhältnis mit der Ana-
lysandin einzugehen. Die supervisorische Aufarbeitung des Geschehens ist
aber sicherlich in jedem Fall notwendiges Fundament einer derartigen Ver-
bindung.
Schmidbauer ist sicher kein Befürworter einer intimen Beziehung zwi-
schen Patientin und Therapeut, jedoch nimmt er sich die Freiheit, dieses
Thema jenseits moralischer Vorverurteilungen zu betrachten. Die Absti-
nenz ist eine Regel, deren Anwendung Therapeuten schützt, die den Schutz
brauchen und deren Lockerung für manche eine Erweiterung der Möglich-
keiten darstellt. Dennoch ist Abstinenz keine moralische Haltung, sondern
ein störbares Geschehen. Therapie braucht wechselseitige Bestätigung.
Und an anderer Stelle: „Der Therapeut soll einen emotionalen Dialog auf-
rechterhalten und gleichzeitig diesen kontrollieren.“ 29 Schmidbauer will
den therapeutischen Umgang mit Abstinenzverletzungen ausschließlich
am Einzelfall orientiert wissen und nicht an juristischen Kategorien. Der
stattgefundene Fehler, zum Beispiel der Missbrauch in der Therapie, sei ein
Indiz dafür, dass die therapeutische Arbeit schon längst entglitten sei. Der
Akt selbst dient mehr dazu „den kritischen Blick auf eine unbefriedigende
Therapie durch erotische Illusionen zu trüben“. Schmidbauer skizziert zwei
Motivationsbereiche, die für missbräuchliches Verhalten in der Therapie
verantwortlich zu machen seien. Er beschreibt den hedonistischen und den
narzisstischen Tätertyp. Der narzisstische Typ wertet den Missbrauch als
wertvoll für das Opfer und sieht sich weiterhin als Therapeut und Heilsbrin-
ger. Der hedonistische Typ beendet die Therapie umgehend und verzichtet
auf die weitere Idealisierung als Therapeut. Das wirksame Mittel gegen Ab-
stinenzverletzung ist die Psychohygiene des Helfers.
„Fehler zu machen, ist für jeden Helfer, der sich im Bereich emotional mit-
bestimmter Interaktionen bewegt, unvermeidlich. Nichts aus diesen Feh-
lern zu lernen und sie zu wiederholen, sollte vermeidbar sein.“ 30
28 Schmidbauer 1999, S. 70
29 Ebenda, S. 106 ff.
30 Ebenda, S. 311
64 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
„Da es für einen Analytiker nicht möglich ist, keinen Fehler zu machen, ist
es wichtig, dass der Patient immer genug Raum dafür hat, den Analytiker
zu korrigieren. Ebenso wichtig ist es, dass es der Analytiker nicht nur aus-
hält, korrigiert zu werden, sondern auch die korrigierenden Anstrengun-
gen des Patienten positiv nutzbar macht.“ 31
Hier sehen wir, dass der therapeutische Fehler nicht mehr ausschließlich
zum Scheitern einer Therapie führt, sondern die Nutzbarmachung zu einem
festen Faktor wird. Um Fehler aufzuspüren, erhalten wir oft hilfreiche Hin-
weise, wenn wir willens sind, diese zu bemerken. Casement meint, dass wir
nicht völlig alleine mit unserem Bemühen sind, den Patienten zu verstehen,
sondern dass auch der Patient in unserem Behandlungszimmer ist, obwohl
noch immer einige Therapeuten so arbeiten, als ob die einzige Quelle von
wertvoller Einsicht ausschließlich in ihnen selber läge. Casement entwirft
vier Formen der unbewussten Kritik durch den Patienten, die gleichsam als
Indizien für Fehler verstanden werden können:32
t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI 7FSMBHFSVOH %BCFJ TQJFMU EJF ,SJUJL BO FJOFS
anderen Person auf etwas an, das in der Analyse schiefgegangen ist.
t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI ,POUSBTUJFSVOH %BCFJ XFSEFO BOEFSF 1FSTP-
nen dafür gelobt, dass sie beispielsweise verstehen oder präzise arbeiten.
Dies kann als unbewusster Hinweis der Patienten verstanden werden,
was vielleicht dem Analytiker in der Analyse nicht so gut gelingt.
t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI JOUSPKFLUJWF 3FGFSFO[ %BCFJ àCFSOJNNU EFS
Patient die Schuld für etwas, das von jemand anderem verursacht wurde,
in einer Art und Weise, die vielleicht einen Kommentar über die Analyse
beinhaltet.
t 6OCFXVTTUF,SJUJLEVSDI4QJFHFMVOH%BCFJIÊMUEFS1BUJFOUEFN"OBMZ-
tiker einen Spiegel vor und zeigt damit dem Therapeuten genau das, was
dieser gerade ausgeführt hat, er imitiert ihn sozusagen.
Das Verstehen dieser möglichen Indizien als konstruktiven Beitrag für die
therapeutische Arbeit genauso wie der innere Dialog sind schon Strategien
zur Fehlervermeidung, die letztlich in die therapeutische Arbeit eingebaut
werden können, wenn sie der Therapeut als konstruktive Kritik annimmt.
Casement ist sich der Tendenz bewusst, die eigenen Werkzeuge vorschnell
zu verwenden und den Patienten letztlich mit dem eigenen Wissen, den ei-
genen Interpretationen und Deutungen zu entmündigen. Er empfiehlt da-
her, sich von seinem eigenen Konzept des Wissens zu distanzieren und eine
Art von Nichtwissen gegenüber dem Patienten zu etablieren. Es sei nichts
dadurch gewonnen, dass der Therapeut bereits zu früh den Anspruch er-
hebt, etwas zu verstehen. Er zitiert in diesem Zusammenhang Winnicott:
33 Winnicott 1971, S. 87
66 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
ausgelöste Diskussion zeigt. Auch in der Diskussion zeichnen sich die schon
von Rieken skizzierten Grundpositionen ab:
Der eine Ansatz ist, die Gegenübertragung zu deuten, während der The-
rapeut dabei in seiner Abstinenz bleibt. Demgegenüber steht der Ansatz, die
emotionale Reaktion des Therapeuten aktiv zu verwenden. Der Patient hat
dann die Möglichkeit, die emotionale Erfahrung des Therapeuten für sich
zu nützen. Die Abstinenz zu verlassen, um sich emotional einzubringen, ist
für das psychoanalytische Verständnis eine große Hürde. Es ist dabei aber
nicht nur die emotionale Reaktion des Therapeuten auf den Patienten ein
neuer Aspekt, sondern auch die Selbstoffenbarung des Therapeuten im All-
gemeinen. Besonders bei Problemen in der therapeutischen Arbeit ist eine
partielle Mitteilung der eigenen Gefühlsbefindlichkeit angebracht, schreibt
Rieken, und nennt Autoren, die für eine moderate Selbstoffenbarung seitens
der Therapeuten plädieren. Der bekannteste unter ihnen ist zweifellos Irvin
Yalom.38
In seinem Buch „Der Panama-Hut“ führt Yalom drei Varianten der
Selbstoffenbarung aus. Er plädiert für die vollständige Offenheit, was den
Mechanismus der Therapie betrifft, und hält es für den Aufbau einer ech-
ten Beziehung zum Patienten für wesentlich, die Gefühle dem Patienten ge-
genüber in der unmittelbaren Gegenwart zu offenbaren. Yalom rät aber zur
Vorsicht, was die Enthüllung des Privatlebens des Therapeuten betrifft. Die
Vorsicht bezieht sich auf den richtigen Zeitpunkt. Grundsätzlich befürwor-
tet Yalom, die Fragen der Patienten zu beantworten. „Warum nicht“, fragt
er, „wie kann man eine echte Begegnung mit einem anderen Menschen erle-
ben, wenn man für ihn undurchschaubar bleibt?“ 39
Typische Gegenübertragungsprobleme können mithilfe der moderaten
Selbstoffenbarung zu neuen Entwicklungen im therapeutischen Geschehen
führen. Rieken nennt vier unterschiedliche Problembereiche, die er jeweils
mit Fallgeschichten untermauert:
t %BTHFNFJOTBNF"CTDIXFJGFOWPNćFNB
VNVOBOHFOFINF'SBHFTUFM-
lungen zu vermeiden,
t EJF.àEJHLFJUTSFBLUJPOEFTćFSBQFVUFO
t FSPUJTDIF(FGàIMFHFHFOàCFS1BUJFOUFO
t (FGàIMFEFS"OHTUVOE"HHSFTTJPOJIOFOHFHFOàCFS
Seine Beispiele zeigen, dass zu viel Abstinenz problematisch sein kann, dass
offenes Thematisieren der Beziehung mitunter Therapien vor dem Scheitern
bewahrt. In einer weiteren Fallgeschichte beschreibt er, welche Folgen ein
„Wer sie zu flexibel handhabt, gerät unter Umständen ins Agieren, aber
wer sie zu buchstabengemäß zu befolgen versucht, wird möglicherweise
rigide.“ 40
v.JTTFSGPMHFLÚOOFOWPO2VFMMFOEFT6OCFIBHFOT[V2VFMMFOVOTDIÊU[CB-
rer Informationen werden. Sie können ein Licht auf Mechanismen unserer
Interventionen werfen, es ermöglichen, bestehende Verfahren zu verbes-
sern und neue zu entwickeln.“ 43
„Die therapeutische Begegnung ist mit all ihren Nuancen und Verwicklun-
gen wohl viel zu komplex, als dass man je einen einzelnen Grund für das
Versagen identifizieren könnte.“ 53
Die Komplexität ist immer begleitet von Intransparenz, das heißt, es fehlen
immer Informationen, oder sie sind gerade nicht verfügbar. Elemente sind
vernetzt, und deren jeweilige Wirkungen und Sekundärwirkungen lassen
sich nicht auf einfache Ursache-Wirkung-Kategorien reduzieren. Das kom-
plexe System ist immer im Prozess und hat eine gewisse Eigendynamik.
Wolfgang Siegel schreibt dazu:
„Ein Therapeut kann den Prozess einer Therapie nicht vollständig überbli-
cken oder gar unter Kontrolle haben“ 54
Basierend auf der Idee von Kleiber, wonach die Unvermeidbarkeit von Feh-
lern aufgrund der Komplexität des Feldes zu akzeptieren sei, ergibt sich
beim Überblicken der unterschiedlichen Fehlerstrategien eine Schwierig-
keit. Lässt sich das Phänomen Fehler überhaupt fassen?
Jeder Fehler hat einen Referenzrahmen, der ihm seine Existenz ermög-
licht. Fehler ist immer Fehler im Hinblick auf etwas Bestimmtes. In der
vorliegenden Untersuchung steht der Fehler als Alltagsfehler im Hinblick
auf die subjektive Einschätzung des Therapeuten im Blickpunkt. Allgemein
lässt sich hier aber Folgendes über Fehler formulieren: Jeder Fehler kann
zum Gewinn werden, wenn man ihn von einem anderen Blickwinkel aus
betrachtet.
Im Zuge der vorliegenden Untersuchung haben wir den Bezugsrahmen
eingegrenzt, und zwar:
t BVGEJF1TZDIPUIFSBQJFVOEEPSU
t BVGEFO#FSFJDIJOOFSIBMCEFSHFTFU[MJDIFO3FHFMO
XFJUFST
t KFOTFJUTHSPCCFIBOEMVOHTUFDIOJTDIFS'FIMFSVOE
t BVGEJFTVCKFLUJWF&JOTDIÊU[VOHEFTćFSBQFVUFO
aber angesichts der Relativität schwer, und die Diskussion, ob das jetzt tat-
sächlich ein Fehler war oder nicht, wird sinnlos. Fehler, so könnte man poin-
tiert formulieren, gibt es demnach nur dort, wo zur Zeit der Feststellung des
Fehlers die positiven Sichtweisen noch fehlen oder die therapieförderliche
Interpretation des Geschehens oder der jeweiligen Intervention noch nicht
ersichtlich sind.
Es wird hier deutlich, wie relativ der Umgang mit Fehlern sein kann.
Unsere Fähigkeit zu interpretieren lässt sich eben auch immer zu unseren
Gunsten nutzen. Jeder Fehler versteckt demnach auch immer eine positive
Wahrheit. Im günstigen Fall ist es der Patient, der die positive Sichtweise
hat. Im weniger günstigen Fall hat sie der Therapeut, und der Patient hat
einen Fehler wahrgenommen.
Um weiterhin von Fehlern sprechen zu können, muss daher mit der Re-
flexion des Therapeuten immer das An-den-Moment-gebunden-Sein dieser
Erkenntnis mitgedacht werden. Nur so kann sich der Betrachter dem Phä-
nomen nähern, ohne in die Irre der Relativität zu gelangen. Darüber hinaus
kann man versuchen, diesen Moment zu erfassen und die Entstehungsge-
schichte des Fehlers zu verstehen. Jene Ansätze, die in psychoanalytischer
Tradition Übertragung und Widerstand als Ursachen für das Entstehen
von Fehlern beschrieben haben, sind hier die Vorreiter. Sie bauen auf ei-
nem Geschehen auf, das jenseits der bewussten Wahrnehmung passiert und
Einfluss auf die Akteure hat. Den Fehler zunächst auf Möglichkeiten seiner
Entstehung hin zu verfolgen, hilft dem Verständnis des Phänomens, und
wie wir sehen werden, ist das Verständnis der Entstehungsgeschichte das
Fundament der Fehlernutzung.
psychische System des Bewusstseins und das soziale System der Kommuni-
kation. Alle drei bilden nun „Umwelten“ füreinander.59
Diese so zusammengesetzten Akteure werden in der systemischen Be-
trachtungsweise Systeme genannt. Sie beobachten sich selber und die Welt
um sie herum. Beobachtungen schließen an andere Beobachtungen an und
formen daraus Vorstellungen im Sinne von Ketten von Beobachtungen.
Über Beobachtungen und Vorstellungen können Beobachter ihrerseits in
Interaktion miteinander treten und sich wiederum untereinander beobach-
ten sowie diese Beobachtungen miteinander austauschen. Sie bilden in die-
sem Austausch das soziale System der Kommunikation.
In dieser Kommunikation nehmen interagierende Systeme Auswahl-
akte vor, in denen sie Unterscheidungen treffen, die sich auf die Elemente
der Kommunikation beziehen. Diese Unterscheidungen können von einer
Vorstellung oder einem Paradigma im Sinne einer Kette von vorhergehen-
den Beobachtungen geleitet sein. In der systemischen Psychotherapie wird
im Unterschied zu anderen psychotherapeutischen Schulen nicht nach der
Vorstellung „richtig oder falsch“ gefragt. Vielmehr steht im Umgang mit
dem Klienten die Unterscheidung „nützlich oder nicht nützlich“ im Vorder-
grund. Sie wird vom systemischen Psychotherapeuten als handlungsleitend
betrachtet. Systemische Psychotherapeuten sprechen bei einer solch zentra-
len Unterscheidung von einer Leitdifferenz.
Auf den ersten Blick erscheint die Nutzung dieser Leitdifferenz als durch-
aus trivial. Ihre Kraft entfaltet sie in ihrer konsequenten Anwendung: So
ist zum Beispiel denkbar, daß ein systemischer Psychotherapeut in einem
seiner Fälle einen Alltagsfehler entdeckt. Wie wir weiter oben beschrieben
haben, ist das ein Fehler, der nur dadurch ins Leben gerufen wird, dass er
durch die subjektive Einschätzung, also durch die Beobachtung des The-
rapeuten entsteht. Der Therapeut hat also eine Beobachtung gemacht, die
er nach der Leitdifferenz „nützlich oder nicht nützlich“ beobachtet und als
„nicht nützlich“ (und damit als unerwünscht) bezeichnet hat. Dabei fällt die
Notwendigkeit eines externen Maßstabs oder Bewertungskategorie weg, die
außerhalb des therapeutischen Geschehens zwischen Klient und Therapeut
liegen könnte.
Es geht in der systemischen Sichtweise also nicht um objektive oder ob-
jektivierbare Fehler, im Sinne von Verstößen gegen bestehende Regeln oder
Vorgehensweisen. Der systemische Blick auf den Fehler deckt sich mit jenem
Fehlerkonzept, das wir dieser Untersuchung zugrunde gelegt haben. Wir
erinnern uns: Fehler sind Elemente der therapeutischen Arbeit, die in der
59 Vgl. http://www.systemagazin.de/buecher/klassiker/luhmann_soziale_systeme.php am
11. März 2009
76 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
ersten Reaktion des Therapeuten von ihm selbst als unerwünscht wahrge-
nommen werden.
Auf die Wahrnehmung des Fehlers folgt konsequenterweise die Frage,
auf welche Art und Weise der systemische Therapeut mit diesem Fehler
umgehen möge. Da er – aus systemischer Sicht – keinen externen Maßstab
zur Verfügung hat, steht der Therapeut nun vor verschiednen Kommunika-
tions- oder Handlungsalternativen. Sie sollen zunächst das Kriterium der
Anschlußfähigkeit erfüllen.
60 Bökmann 2000, S. 42
61 Luhmann 1977, S. 16 f.
4.6 Zusammenfassung 77
die Lage versetzt zu werden, die Realität in seine subjektive Welt hereinzu-
lassen. Dieses Ziel gilt in der systemischen Sichtweise konsequenterweise
auch für den Therapeuten, was wiederum einen interessanten Blick auf die
systemische Fehlerverarbeitung eröffnet. Der Therapeut kann dabei seine
Sichtweise mit Hilfe der Hinweise des Klienten erweitern.
Heinz von Förster, ein Wegbereiter der soziologischen Systemik hat diesbe-
züglich treffend in seinem ethischen Imperativ formuliert: „Handle stets so,
daß die Anzahl Wahlmöglichkeiten steigt.“ 63 Das Unerwartete eines Fehlers
bedeutet für sich genommen bereits ein Ansteigen der Handlungsvarian-
ten.
In diesem prozesshaften Geschehen, das sich zwischen Therapeut und
Klient entfaltet, sollen bei beiden vormals statische Beobachtungen dyna-
misch werden, Grenzen hinausgeschoben, verändert oder verflüssigt wer-
den. Dies zugunsten einer Beziehung, die sich der Vorstellung der mensch-
lichen Lebendigkeit annähert.
4.6 Zusammenfassung
Wenn wir das bisher Gesagte zusammenfassen, haben wir in den letzten
beiden Kapiteln folgende Fehlerbereiche näher betrachtet: Fehler in der
Schule, in betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen und in der psycho-
therapiewissenschaftlichen Literatur.
Fehler entstehen in der Schule als Nebenprodukt der Wissensaneignung
durch die Spirale von Versuch und Irrtum. Der Fehler ist zum einen ein not-
wendiges Nebenprodukt eines Prozesses und zum anderen ein wertvolles
Element zur Rückmeldung des Fortschrittes des Verstehensprozesses.
Fehler sind in betriebswirtschaftlichen Bereichen Thema als Verkettung
von Umständen von noch nicht optimierten Abläufen, durch Nachlässig-
keiten oder Leichtfertigkeiten von Mitarbeitern, durch Fehlplanungen oder
durch Verschleiß bei Maschinen, durch Materialfehler oder Ähnliches. In
62 Luhmann 1977, S. 17
63 Foerster 1993, S. 49
78 4. Strategien im Umgang mit Fehlern
diesem Kontext sind der Fehler und seine Entstehung nur im Hinblick auf
seine Behebung interessant, nämlich gemäß dem Ziel der Optimierung der
Produktionsabläufe bzw. des Ertrages. Fehler werden erforscht, um ein Wie-
derauftreten zu verhindern. Auch hier gibt es unterschiedliche Vorgangs-
weisen. Einmal die Fehlerkultur als Organisationsphilosophie unter Ein-
beziehung der Mitarbeiter und deren Zufriedenheit (Kaizen, Kaiban), was
letztlich die Motivation und den Teamgeist heben soll, und demgegenüber
die Variante, welche eher die Blickrichtung der optimierten, annähernd
perfekten Abläufe verfolgt und dementsprechend den „fehlerfreien“ Mitar-
beiter anstrebt (Six Sigma). Die Art und Weise der Entstehung des Fehlers
und der Fehler selbst werden hier nur im Hinblick darauf thematisiert, sie
zu verhindern.
In der psychotherapiewissenschaftlichen Literatur konnten wir unter-
schiedliche Zugänge zum Phänomen Fehler ausmachen: Die Tabelle zeigt
überblickshaft die Strategien der Fehlerhandhabung. Neben jenen Fehlern,
die gar nicht erst wahrgenommen, verschleiert und verleugnet werden, gibt
es Fehler, die automatisch das Scheitern der therapeutischen Arbeit bedeu-
ten und die als Folge von Selbstüberschätzung oder mangelnder Eignung
des Therapeuten oder seiner fehlenden Supervision und Selbstreflexion gel-
ten. Auch auf der Seite der Patienten gibt es Kriterien, die das Scheitern einer
Therapie bewirken können. Diese Faktoren berücksichtigend, können Feh-
ler und entsprechende Misserfolge verhindert werden.
In der zweiten genannten Strategie im Umgang mit Fehlern wird dieser
als Hinweis auf ein problematisches Geschehen verstanden. Fehler werden
zunächst differenziert, und das Verstehen überwiegt vor dem Anspruch,
den Fehler zu eliminieren. Das Geschehen verschließt sich zunächst dem
Therapeuten und taucht nur in verschlüsselter Form als Widerstand oder
Übertragungsreaktion auf. Das Konzept der Gegenübertragung hat dabei
seine Bedeutung und Gewicht für den therapeutischen Prozess im Laufe der
Zeit verändert. Therapeuten werden sichtbarer, was auch die Diskussion um
ein Mehr oder Weniger an Selbstoffenbarung der Therapeuten beweist.
In den fehlerbefürwortenden Überlegungen verweisen Fehler darauf,
dass die Psychotherapie eben nicht wie ein perfektes Uhrwerk abläuft, son-
dern fehleranfällig ist. Das ist die Basis des dritten skizzierten Zugangs zu
dem Phänomen. Fehler lassen sich eben nicht verhindern, und wir müssen
sie wohl akzeptieren. Der fehlerfreundliche Zugang wertet ihn als mögliche
Bereicherung für das therapeutische Geschehen und als ein nicht zu leug-
nendes, alltäglich-realistisches Element. Dieses Element ist dabei eng an die
jeweilige, einzigartige Situation, an den Moment gebunden und lässt sich
nur aus diesem heraus verstehen und nutzen.
Tabelle: Strategien zur Fehlerhandhabung und Interpretation
Was Rhode-Dachser hier auf Beziehungen bezieht, scheint eben auch auf
der Verhaltensebene Gültigkeit zu haben. Es ist eine faszinierende Idee, dass
es zu Fehlern komme, weil das fehlerfreie Handeln zu aufwendig sei. Der
korrekte Handlungsablauf ist zu umständlich. Es ist naheliegend, dass Han-
delnde dann, so wie sich abrinnendes Wasser den einfachsten Weg sucht,
auch Handlungsabläufe wählen, die darauf ausgerichtet sind, Aufwand zu
minimieren. Wir sehen hier, dass auf der Ebene des Verhaltens aus schein-
bar banalen Gründen Fehler entstehen. Das Ideal der Fehlerfreiheit kann
möglicherweise durch die menschliche Neigung zu Bequemlichkeit, durch
eine Trivialität relativiert werden. Dörner zeigt anhand der Geschehnisse
rund um den Reaktorunfall von Tschernobyl, wie es gemäß dieser Theorie
zu Fehlerverkettungen gekommen ist.3 Bei dem folgenschweren Unfall von
1986 war das Beachten aller Sicherheitsvorkehrungen zu umständlich und
daher wurde unter Inkaufnahme von Risiko ein bequemerer Weg gewählt.
„Sie haben hierbei aber nichts übersehen und nichts aus Versehen getan,
sondern sie waren offenbar der Meinung, dass die Sicherheitsvorkehrungen
für ein eingespieltes und erfahrenes Team viel zu eng ausgelegt waren.“ 4
Die nun folgenden Überlegungen zeigen, dass, wie eben auf der Verhal-
tensebene gezeigt, auch auf der Wahrnehmungsebene und insgesamt beim
Prozess der Informationsverarbeitung und Erkenntnisgewinnung Mecha-
nismen am Werk sind, die eine gewisse Fehleranfälligkeit in Kauf nehmen
oder sogar voraussetzen, um überhaupt funktionieren zu können. Wir kön-
nen demnach das Phänomen Fehler hier auf ganz anderen Ebenen verfolgen
und mögliche Entstehungsfaktoren von Fehlern skizzieren. Das mensch-
liche Wahrnehmen und Denken ist seit jeher ein Faszinosum, und um so
bemerkenswerter ist es, dass unsere Denk- und Wahrnehmungsleistungen
im biologischen Sinn auch deswegen so herausragend sind, weil wir fehler-
anfällig sind und diese Fehleranfälligkeit besondere Qualitäten ermöglicht.
Die folgenden Ausführungen zeigen zunächst auf der Wahrnehmungsebene
einige Vorgänge, die exemplarisch dem Anspruch der Fehlerfreiheit entge-
genstehen. Später beleuchten wir Prozesse des Denkens und werden aufzei-
gen, dass die fehlerfreie Rationalität nicht mehr als eine Idee sein kann.
Die Betrachtungen im vorigen Abschnitt haben wir mit den Gedanken von
Kleiber5 geschlossen, wonach eine soziale Interaktion wie die der Psycho-
therapie überhaupt nicht hinreichend nachvollziehbar ist und daher Feh-
ler auch nicht verhinderbar seien. Die Komplexität psychotherapeutischer
Interaktion selbst impliziert schon Intransparenz, und die Wirkungen und
Sekundärwirkungen sind nicht nur simple Kausalwirkungen, sondern bil-
den ein Netz an Primär- und Sekundäreffekten. Niemals lassen sich alle
Eventualitäten einer psychotherapeutischen Interaktion hinreichend erfas-
sen oder vorhersehen und daher sind Fehler unvermeidlich. Diesen Ansatz
verfolgt auf einer anderen Ebene auch Dietrich Dörner.
4 Ebenda, S. 56 f.
5 Kleiber 1988, S. 73
5.2 Fehler auf der Wahrnehmungsebene 83
„Hier vergessen wir ein Ziel zu konkretisieren, dort haben wir auf die Ab-
laufcharakteristika eines Prozesses nicht geachtet, da haben wir übergene-
ralisiert, dort den Schutz des eigenen Selbstgefühls über die Kenntnisnahme
des Misserfolges gestellt, hier haben wir zu viel geplant, dort zu wenig.“ 10
Dörner führt noch andere Faktoren für die Fehleranfälligkeit unseres Um-
ganges mit komplexen Systemen an. Es geht uns darum, die Vorstellung
von der Kompetenz unseres Handelns zu wahren. Wir erhalten uns hand-
lungsfähig und bewahren das Gefühl der Kompetenz. Wir können viel
wahrnehmen, unmittelbar aber nur wenig speichern, wir sind zeitlich auf
den Moment bezogen, und Umstände oder Probleme, die uns im Moment
nicht betreffen, werden auch nicht bedacht. All das sind einfache Ursachen
für unsere Fehleranfälligkeit, was aber dennoch nicht heißt, dass wir dieser
Anfälligkeit völlig ausgeliefert sind. „Alles zu seiner Zeit unter Beachtung
der Umstände“ könnte das Prinzip sein, das den richtigen Weg weist. Die
Allgemeinheit dieses Wegweisers unterstreicht die Individualität der jewei-
ligen Situation. Die vermeintlich guten Versuchspersonen haben besonnen
und bedacht, auf den jeweiligen Einzelfall bezogen, ihre Entscheidungen
getroffen und im richtigen Moment gehandelt. In Gesetze lässt sich das
nicht gießen. Die gewünschte Besonnenheit ist im Rahmen von Experimen-
ten wie jene von Dörner sicherlich anzuraten, jedoch ist der Mensch in der
Frühzeit seiner Entwicklung kaum der Besonnenheit verpflichtet gewesen,
sondern sein Überleben hing vermutlich eher von der Optimierung seiner
Entschlusskraft ab, die dann eben mit hohem Fehlerrisiko eher Überleben
sichern konnte, als eine langwierige Faktorenanalyse dies vielleicht ver-
mochte.
Der Ansicht, dass wir für Komplexität nicht hinreichend gerüstet und da-
her fehleranfällig seien, steht scheinbar die evolutionäre Erkenntnistheorie
gegenüber. Nach dieser Theorie ist unser Erkenntnisapparat das Ergebnis
der Evolution. Unsere Erkenntnismöglichkeiten passen auf die Welt, weil sie
sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet
haben.12 Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil
nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Die Über-
einstimmungen reichen dabei so weit, dass die wesentlichen Bedürfnisse
des Menschen befriedigt werden, er muss überleben können, und das tut
er (noch). Es gibt demnach eine Lösung zwischen unseren Schwierigkeiten,
fehlerfrei zu erkennen und zu entscheiden, und der Tatsache, dass wir trotz
dieses fehlerproduzierenden Erkenntnisapparates immer noch hier sind.
Tatsächlich handelt es sich hier um keinen Widerspruch.
Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion ist es eben darauf an-
gekommen, aus der Fülle der verfügbaren Informationen nur jene aufzuneh-
men und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus
bedeutsam sind.13 Die fehleranfälligen Elemente unseres Erkenntnisappa-
rates sind sogar notwendig, um zu überleben. Es ist notwendig, schnelle
Hypothesen über die Wirklichkeit und deren Bedrohungspotenzial zu ent-
werfen, gerade um schnelle Entscheidungen zu treffen, die unser Überleben
betreffen könnten. Wir ergänzen Fehlendes und sehen über Ungereimtheiten
hinweg, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten. Unsere Sinnessysteme
sind zwar hervorragend angepasst, um aus wenigen Daten sehr schnell die
verhaltensrelevanten Bedingungen zu erfassen, aber sie legen dabei keinen
Wert auf Vollständigkeit und Objektivität. Sie bilden nicht getreu ab, son-
dern rekonstruieren und bedienen sich dabei des im Gehirn gespeicherten
Vorwissens.14
Unsere kognitiven Leistungen sind an eine Welt angepasst, die in unserer
Wahrnehmung linear organisiert ist. Mit linearen Modellen können wir alle
für unser Überleben wichtigen Prozesse verstehen. Die Gesetzmäßigkeiten
nichtlinearer Dynamiken zu verstehen, bereitet uns Schwierigkeiten, und da
wir diese Fähigkeiten evolutionär nicht besonders ausgebildet haben, schei-
nen wir sie zum Überleben auch nicht sehr gebraucht zu haben.
Der Direktor der Abteilung für Hirnforschung der Max-Planck-Gesell-
schaft, Wolf Singer, führt in dem Aufsatz „Das Gehirn – ein Orchester ohne
Dirigent“ aus, dass es vermutlich keinen Selektionsdruck für die Ausbildung
Hier trifft sich Singer mit Dörner und Kleiber. Wir sind auch von hochkom-
plexen, nichtlinearen Systemen umgeben, seien das nun soziale Interaktio-
nen, Wirtschaftsgefüge, biologische oder politische Systeme.
In unseren Handlungen orientieren wir uns aber an linearen Abläufen
und unterschätzen so deren Eigendynamik. Gleichzeitig überschätzen wir
deren Lenkbarkeit. In linearen Systemen mögen hierarchische Strukturen
und dirigistische Lenkungsstrategien passen, aber in hochkomplexen Syste-
men empfiehlt Singer, eher auf die Kreativität und die Selbstorganisations-
kräfte zu achten.
In der evolutionären Entwicklung haben sich Denk- und Wahrneh-
mungsstrukturen entwickelt, die dem Überlebensprozess dienen. Das
menschliche Gehirn ist also primär auf die Bewältigung von Bedrohungen
ausgerichtet. Das Gehirn ist gleichsam darauf spezialisiert, in kürzester Zeit
Bedrohungen zu erkennen und auszuschalten. Dieses Geschehen sichert das
Überleben, befähigt aber nur bedingt zur Bewältigung komplexer, dynami-
scher und nichtlinearer Systeme. Wir müssen daher, um Entscheidungen
zu treffen und letztlich Interventionen in dynamischen, nichtlinearen Sys-
temen zu setzen, immer eine gewisse Wahrnehmungsfehlerquote in Kauf
nehmen. Wir sind einerseits nicht für die Erfassung komplizierter Systeme
hinreichend gerüstet, und andererseits erfordert es das Überleben, dass wir
doch schnell und effizient wahrnehmen. Unser Vorwissen hilft der man-
gelnden Wahrnehmung, indem es durch Rekonstruktionen Lücken auffüllt
und durch logische Schlüsse Ungereimtheiten aufdeckt. Gehirne nutzen das
Vorwissen, um Sinnessignale zu interpretieren und in größere Zusammen-
hänge einzuordnen. „Unsere als objektiv empfundenen Wahrnehmungen
sind das Ergebnis solcher konstruktiver Vorgänge“ 17 unterstreicht Singer.
18 Wir möchten hier weitere Erörterungen über die evolutionären Mechanismen der Mu-
tation und Selektion bewusst ausklammern, um den Rahmen nicht zu sprengen.
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit 89
Logische, korrekte und fehlerfreie Schlüsse sind möglich, sofern nicht an-
dere Instanzen, die unserem bewussten, rationalen Apparat nicht direkt
zugänglich sind, dazwischenfunken. Ähnlich ließe sich auch der Schwei-
zer Psychiater und emeritierte Professor Luc Ciompi interpretieren. Er hat
mit seiner Affektlogik neue Wege im Verständnis von Denken und Fühlen
und deren Zusammenspiel eröffnet. Ein Aspekt seiner Theorie, die er selbst
als psycho-sozio-biologisches Modell versteht, besagt, dass Fühlen, Denken
und Umwelt untrennbar miteinander verknüpft seien. Emotionale Einflüsse
sind an allen logischen und wissenschaftlich-mathematischen Denkakten
beteiligt. Kognition und Affekt beeinflussen einander dauernd. Die Tren-
nung von Fühlen und Denken ist damit aufgehoben. Bestimmte kognitive
Reize induzieren oder verstärken bestimmte Affekte und Stimmungen, diese
Stimmungen wiederum kanalisieren und organisieren die Wahrnehmung
und das Denken.19 Wenn jemand traurig ist, so denkt er auch traurig und
nimmt seine Umwelt auch als traurig wahr. Die Stimmung eines Menschen
bestimmt seine Wahrnehmung und umgekehrt.
„Was uns in den Sinn kommt und was wir erinnern, somit auch die meisten
unserer Wahrnehmungsinhalte und unsere Aufmerksamkeit, werden von
einem unbewusst arbeitenden Gedächtnis gesteuert.“ 26
„Hinzu kommt die Erkenntnis, dass dem Individuum die Antriebe des ei-
genen Verhaltens weitgehend verschlossen sind und sich sein bewusstes Ich
fälschlich für den ‚Herrn im Haus‘ hält. In diesem Sinne ist das Gefühl der
bewussten Verhaltenssteuerung eine Illusion.“ 27
Die Hirnforschung zeigt, dass das Ich keinen direkten Zugriff auf die ver-
haltenssteuernden Zentren des Gehirns hat.
„Das Ich ist vielmehr ein Konstrukt, welches das Gehirn entwirft, um kom-
plexe kognitive, exekutive und kommunikative Aufgaben besser bewältigen
zu können.“ 28
Wenn man plötzlich einen Fehler bei seinen Aktionen oder Interventio-
nen bemerkt, dann stimmt zum Zeitpunkt dieser Wahrnehmung die ur-
sprüngliche Intention nicht mit der Intervention zusammen. Die Intention
ist zwar auch von Emotion geleitet und mitbeeinflusst, aber grundsätzlich
eine weitgehend bewusst, rational geplante Vorgangsweise. Driften die tat-
sächlichen Interventionen, wie das unten beschriebene Beispiel zeigt, von
diesen Intentionen ab, empfindet man also einen Fehler, dann haben andere
Instanzen mitbestimmt, die sich der bewussten Planung entziehen oder so-
gar widersetzen. Diese Instanzen geben dann mitunter an dem bewussten
Teil meines Denkens vorbei einen motorischen Impuls oder sogar mithilfe
des bewussten Teils einen sprachlichen Impuls, der einer zuvor gedachten
Intention zuwiderläuft. In der ersten Reaktion wird dann dieser Akt als Feh-
ler wahrgenommen. Denkbar ist nun, da wir, um rasch handeln zu können,
Hypothesen über die Wirklichkeit konstruieren. So könnte der Fehler ei-
gentlich eine Art Korrektur unserer Hypothese bedeuten.
Der Therapeut begeht einen Alltagsfehler und äußert in der Therapie mit
Patient A anlässlich der Eröffnung eines Geschäftes Folgendes, wie zum Bei-
spiel: „Ich hätte da jemanden für Sie“, da ihm gerade die Arbeitslosigkeit
von Patient B eingefallen ist. Das hätte der Therapeut nicht sagen sollen, er
bringt den Patienten in Bedrängnis, indem er ihn um einen Gefallen ersucht
etc. Was verrät uns dieser Fehler? Die ursprüngliche Intention ist doch, pro-
fessionelle Psychotherapie anzubieten und zum Beispiel neutral und absti-
nent zu bleiben, aber auf keinen Fall Patient A Arbeitskräfte zu vermitteln.
Die Vorstellung, einem anderen Patienten, Patient B, eine Lösung für dessen
27 Roth 2004, S. 59
28 Roth 2001, S. 551
92 5. Wie entstehen Fehler?
„Es kann aber passieren, dass die auf bewusster Verhandlung von Argu-
menten aufbauenden und in sich konsistenten Lösungen mit den unbe-
wusst ablaufenden Abwägungsprozessen in Konflikt geraten und unterlie-
gen. Dann heißt es: ‚Ich habe es getan, obgleich ich es nicht wirklich wollte
oder obgleich ich ein ungutes Gefühl dabei hatte.‘ Das bewusste Ich gesteht
ein, anderen Kräften unterlegen zu sein.“ 29
Die Überlegungen des Durchbruchs eines Impulses oder einer Absicht er-
innern an den Freud’schen Versprecher. Freud hat aber als Grund für den
Versprecher das Hervortreten des Verdrängten postuliert. Ob jetzt der The-
rapeut verdrängte Elemente zum Ausdruck gebracht oder sein Impuls die
Intention überlagert hat, wäre Gegenstand genauerer Untersuchungen un-
seres Beispiels. Die hier fokussierte Überzeugung reicht weiter als Freud und
lässt nicht nur Verdrängtes hervortreten, sondern es treten Elemente hervor,
die das Produkt eines Prozesses jenseits der bewussten Wahrnehmung sind.
Dieser Prozess beschränkt sich nicht auf einen verdrängten Konflikt. Das
Geschehen, welches den Impuls hervorgebracht hat, bleibt im Verborgenen.
Eingangs hatten wir formuliert, dass wir Hypothesen konstruieren und
zwangsläufig Wahrgenommenes nicht ins Bewusstsein lassen. Es existieren
verschieden Mechanismen, die für das „Nicht-ins-Bewusstsein-Gelangen“
von Wahrnehmungsinhalten verantwortlich sind. So zeigt Roth, dass nicht
jeder Reiz ins Bewusstsein gelangt. Er kann zu schwach sein oder zu kurz
dargeboten werden.30 Faszinierenderweise wirken diese Reize aber dennoch
auf das Verhalten. Diese Qualität an wahrgenommenen Reizen wird subli-
minale Wahrnehmung genannt. Der Reiz kann darüber hinaus einfach au-
ßerhalb der Aufmerksamkeit liegen oder schlicht von einem nachfolgenden
Reiz überlagert werden.31
29 Singer 2004, S. 27
30 Reize, die weniger als 50 Millisekunden wirken, werden nicht bewusst wahrgenom-
men.
31 Vgl. Roth 2001, S. 229 ff.
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit 93
„Die unbewussten Vorgänge in unserem Gehirn wirken stärker auf die be-
wussten Vorgänge ein als umgekehrt.“ 33
32 Roth 2004, S. 63
33 Roth 2001, S. 551
34 Roth 2001, S. 154 und vgl. Roth 2004, S. 63
35 Vgl. Singer 2004, S. 28 f.
36 Ebenda, S. 27
94 5. Wie entstehen Fehler?
„Es kann eben geschehen, dass bewusste und unbewusste Anteile in Kon-
flikt geraten und das Ich dann eingestehen muss, anderen Kräften unter-
legen zu sein.“ 40
37 Singer 2004, S. 26
38 Freud 1982, Band I., S. 65 f.
39 Ebenda, S. 80
40 Singer 2004, S. 27
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit 95
Gerhard Roth nimmt immer wieder Bezug auf Sigmund Freud. Er bestätigt
mit seiner Forschung weitgehend die Freud’schen Annahmen, zum Beispiel
jene, wonach das Bewusstsein tief in unbewusste Prozesse eingebettet sei
und dass das Unbewusste sehr früh gebildet werde und so Grundstrukturen
der Persönlichkeit festlege. An anderer Stelle43 führt er wieder unter Bezug-
nahme auf Freud aus, dass das Ich wenig Kenntnis von den unbewussten
Geschehnissen habe und sich mitunter gezwungen sehe, Dinge zu erklären,
die es aus bewusster Erfahrung gar nicht kenne. Treten die unbewussten
Teile als Motor für Handlungen in Erscheinung, so werden sie mit Intuition
gleichgesetzt. Jemand handelt dann nach einem nicht näher zu bestimmen-
den Gefühl, nach seiner Intuition.
Die Intuition bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Be-
deutung. Da das Wahrnehmen und das bewusste Denken, wie wir eben
beleuchtet haben, so eingeschränkt sind, scheint dem Therapeuten die In-
tuition als Stimme der unbewussten Geschehnisse zur Seite zu stehen, um
ihm vielleicht bei Bedarf auszuhelfen. Diese Überlegung hat eine gewisse
Faszination und es scheint hier angezeigt, diese Gedanken zu vertiefen. Hat
die Intuition tatsächlich die Funktion, seinem fehleranfälligen, bewussten
Denken und Wahrnehmen als heimlicher Helfer zur Seite zu stehen? Unter-
stützt den Therapeuten die Intuition, indem sie ihn, im Sinne der Überlage-
rung bewusster und unbewusster Motive einen Fehler empfinden lässt? Ein
Fehler, der ihm dann aus einer Sackgasse hilft?
In der Philosophie der Antike war die Intuition das Wahrnehmen eines
göttlichen Prinzips, die rein geistige Schau, die Wahrnehmung, die das
Menschliche übersteigt und transzendiert.44 Der wesentliche Unterschied
zu unserem gegenwärtigen Verständnis von Intuition ist, dass in der Antike
die Intuition nicht jenseits der Wissenschaft angesiedelt wurde, sondern in
ihrem Kern. Die folgenden Definitionen beschreiben das Wesen der Intui-
tion recht umfassend:
Oder:
Die Psychologie sieht die Intuition als Teil des alltäglichen Denkens und
Handelns. Die Forscher Kenneth Bowers47 und Amy Baylor48 haben Intui-
tion von der Seite der kognitiven Psychologie untersucht. Sie sei, so Baylor,
das Produkt einer Informationsverarbeitung ohne kognitive Planung oder
Schlussfolgerung. Die durch den Informationsprozess entstandenen Ver-
knüpfungen seien durch die individuellen Erfahrungen und den jeweiligen
Wissensstand beeinflusst.49 Der Prozess der Intuition entzieht sich der Kon-
trolle und vermag Ausnahmen zu bestehenden festen Mustern kreativ zu
44 Hänsel 2002, S. 30
45 Schmidt 1982, S. 322
46 http://de.wikipedia.org/wiki/Intuition, Stand 25. April 2008
47 Vgl. Bowers et al. 1990
48 Vgl. Baylor 1997
49 Hänsel 2002, S. 36
5.4 Die Intuition als heimlicher Helfer? 97
gestalten. Der intuitive Prozess selbst wird als ständig mitlaufendes Gesche-
hen beschrieben, das an bestimmten Stellen die Schwelle des Bewusstseins
überschreitet. Begleitet werden diese Durchbrüche von einem Gefühl des
„feeling of warmth“ 50.
Der deutsche Psychologe Markus Hänsel hat eine umfassende Arbeit dem
Thema Intuition gewidmet.51 Er unterstreicht die Schwierigkeit, den Begriff
Intuition zu fassen, und betont ihre Wichtigkeit bei kreativen Prozessen
und als Ergänzung unseres rationalen Apparates. Im weiteren Sinn ist das
kreative Potenzial der Intuition eine Lösungskompetenz. Mit dieser Ansicht
steht Hänsel nicht alleine. Eine Untersuchung von Marton52 beispielsweise
hat ergeben, dass von 93 befragten Nobelpreisträgern 72 Intuitionen als we-
sentlichen Bestandteil ihrer erfolgreichen Forschertätigkeit betrachten. Zwei
Aspekte der Marton’schen Untersuchung sind hier relevant: Zum einen un-
terstreicht Marton das kreative Potenzial der Intuition, und zum anderen
betont er, dass im Forschungsprozess die Intuition als Lösungskompetenz
besonders bei der „Sackgasse“ zu tragen kommt.
Es gibt also eine Instanz, die vielleicht auch einen Therapeuten aus etwa-
igen Sackgassen während einer psychotherapeutischen Sitzung zu befreien
vermag. Verfolgen wir dieses Konzept und nennen wir diese intuitive Ins-
tanz den inneren Therapeuten. Der innere Therapeut könnte, folgt man die-
ser Ansicht, demnach ein Helfer in der Not sein. Steckt die Therapie in einer
Sackgasse, löst der innere Therapeut die Situation mit Hilfe der Intuition.
Verfolgen wir die Idee eines inneren Therapeuten weiter. Der innere Thera-
peut könnte mithilfe der Intuition die therapeutische, rationale Arbeit er-
gänzen. Korrekterweise aber müsste man formulieren, dass dem realen The-
rapeuten der innere Therapeut zu Hilfe käme. Es wäre ein unwillkürlicher
Prozess und nicht ein vorsätzlich nutzbares Geschehen. Weitergedacht wäre
es ein immer schon vorhandenes Geschehen, und der Therapeut bekäme
nicht nur Hilfe von seinem inneren „Cotherapeuten“, sondern er könne gar
nicht ohne diesen arbeiten.
Für unseren Bereich, also in Hinblick auf einen subjektiv empfundenen
Fehler, ist aber erst das überraschende Durchbrechen der intuitiven Ele-
mente von Bedeutung. Es scheint, als würde für einen Moment ein anderer,
eben der innere Therapeut, steuern. Wie bei unseren bewussten Entschei-
50 Bowers 1990
51 Hänsel 2002
52 Vgl. Marton 1994, S. 547–473
98 5. Wie entstehen Fehler?
dungen können wir aber auch bei der Intuition nicht pauschal feststellen,
dass die Intuition immer fehlerfrei interveniert. „Die Intuition ist weder ein
Gütesiegel noch eine Disqualifikation“, wie Bernd Schmid feststellt.53 Der
innere Therapeut wäre das personifizierte Agens der Intuition des Thera-
peuten, das gemischt mit Erfahrungswerten und natürlich geprägt von der
jeweiligen individuellen Geschichte aktiv ist. Der innere Therapeut wirkt
kompetent, da er intuitiv vor jeder rationalen Erwägung wie ein Impuls
agiert und auftaucht. Dieses spontane Durchbrechen könnte dann von den
Therapeuten zunächst sowohl als Fehler, weil eben jenseits der üblichen, be-
wussten Entscheidungsprozesse stattfindend, als auch als Retter in der oben
schon erwähnten Sackgasse betrachtet werden. Fehler können so ungeliebte
Begleiter sein oder zu Rettern werden. Der Wiener Psychiater Mathias Bösch
schreibt in einem Artikel über die Liebe in der Psychotherapie:
„Wir nicken alle wissend, wenn wir hören, dass bei einem Kollegen die
Therapie erst durch einen (Abstinenz-)Fehler so richtig in Gang gekommen
ist.“ 54
Es mag jetzt der Eindruck entstehen, dass, sobald sich das Unbewusste oder
die Intuition aktiv einschalten, auch unmittelbar das Fehlerrisiko steigt. Das
Gegenteil ist wahr: Das Ideal der Fehlerfreiheit stellt den Anspruch, Systeme
zu erfassen, Eventualitäten im Vorfeld zu erkennen und Geschehendes bes-
ser zu kontrollieren. Die auftretenden Probleme bei der Verwirklichung die-
ser Absichten haben wir deutlich klargelegt. Die Elemente Unbewusstes und
Intuition können als Hilfseinrichtungen verstanden werden. Sie sind Teile
eines gesamten Apparates, die den eingeschränkten bewussten Teil unter-
stützen oder ergänzen, zum Beispiel dort, wo man eben nicht hinreichend
wahrnehmen oder bewusst steuern oder kontrollieren kann.
Die Intuition senkt das Fehlerrisiko. Wenn das zu bewältigende Feld die
bewussten Möglichkeiten einer Person übersteigt oder mit den unbewusst
subliminalen Wahrnehmungen in Widerspruch steht, dann kommt es zu
bewusst wahrnehmbaren Kooperationen aller Instanzen. Wir sind ja davon
ausgegangen, dass die anderen Instanzen ohnehin permanent aktiv sind,
dies aber nur unmerkbar. Ob aus dieser Kooperation dann etwas entsteht,
was als Fehler wahrgenommen wird, ist völlig offen. Die Chance aber, dass
das Durchbrechen der anderen Instanzen stattfindet, weil es Ungereimthei-
ten zwischen dem Bewusstsein und den anderen Instanzen gibt, ist groß,
und daher ist es auch naheliegend, dass unser Bewusstsein die unaufgefor-
derte Kooperation in der ersten Reaktion als unerwünscht wahrnimmt.
Der Fehler in unserer Bedeutung als Alltagsfehler in der Psychotherapie
fußt auf dieser überraschenden Kooperation, die zunächst als unerwünscht
wahrgenommen wird. Ein wesentlicher Punkt daran ist, dass eine Person
kaum Einfluss auf dieses Geschehen hat. Vermutlich ist es situationsab-
hängig, inwiefern die Intuition und unbewusste Inhalte als zunächst stö-
rend wahrgenommen werden. In einem supervisorischen Setting kann der
Therapeut sich durchaus bemühen, seine unbewussten Inhalte zu einem
verzwickten Fall hervorzubringen oder, ganz von intuitiven Ideen geleitet
weitere Schritte zu überlegen. Das „Durchbrechen“ selbst oder das „Passie-
ren“ von Fehlern, also das plötzliche und unerwartete Auftreten der anderen
Instanzen, wird ein Aspekt sein, der bei Alltagsfehlern häufig zu beobachten
sein wird. Um diese Überlegung zu untermauern, sind Fallgeschichten und
die Analyse einzelner Alltagssituationen in der Psychotherapie hilfreich.
5.5 Zusammenfassung
63 Dörner 2003
64 Osten 2006, S. 16
102 5. Wie entstehen Fehler?
Der nun folgende zweite und praktische Teil der Arbeit schließt indirekt
an das vorige Kapitel an. Gegenstand der Untersuchung ist in diesem Teil
die praktische Arbeit der Psychotherapeuten. Es gilt, Aspekte des Umgangs
mit Fehlern in der Psychotherapie herauszuarbeiten und im Speziellen zu
erforschen, wie diese verarbeitet werden. Es ist hier nicht zentral, ob für das
Entstehen von Fehlern tatsächlich die Komplexität und Unüberschaubar-
keit des Intersubjektiven ausschlaggebend war oder ob das Durchbrechen
der Emotion, des Verdrängten oder der Intuition Ursache des beobachteten
Fehlers war. Nicht die spekulativen, von außen kommenden Einschätzun-
gen der möglichen Fehlerursachen stehen im Mittelpunkt, wie im theore-
tischen Teil dieser Arbeit, sondern die gleichsam von innen beobachteten
Fehler und deren retrospektive Analysen. Die Ursachen der Fehler interes-
sieren uns, besonders aber die Weise, in der die befragten Kollegen darüber
selbst mutmaßen und spekulieren. Die Möglichkeiten der Nutzbarmachung
des Fehlers für die Psychotherapie sind der wesentliche Gedanke dieser Ar-
beit. Die Analysen und Interpretationen der Fallgeschichten werden daher
diesem Aspekt besonderes Augenmerk widmen.
6.1 Besonderheiten
nismen wir nicht zur Gänze kennen. Auch sind der uns unbekannte theore-
tische Hintergrund und der zeitliche Horizont Faktoren, die ein Urteil eher
erschweren. Manche Fallgeschichten stammen aus einer Zeit völlig anderer
ethischer und legislativer Grundlagen und dementsprechend auch psycho-
therapeutischer Freiräume. Alle arbeitenden Psychotherapeuten kennen
vermutlich die folgenden und ähnliche Situationen, und jene Personen, die
keine Fehler zu machen glauben, mögen hier Einblick in das alltägliche Feh-
lermachen bekommen.
6.2 Vorgangsweise
Im einleitenden Teil dieser Arbeit waren Fallbeispiele in ihrer Rolle als Stief-
kind der Psychotherapieforschung schon Thema. Auch die Notwendigkeit,
sich stärker dem tatsächlichen Geschehen in der Praxis anzunehmen und
dabei die Effizienz der Psychotherapie höher als die methodische Fixierung
zu werten, wurde diskutiert. Um diesen beiden Aspekten gerecht zu werden,
eignen sich Fallschilderungen. Unabhängig von therapeutischen Methoden
gilt das Interesse dem tatsächlichen Geschehen in der Praxis und den jewei-
ligen, von den Kollegen beschriebenen Einschätzungen und Analysen. Bei
den Überlegungen zur Wahl der Untersuchungsmethode schienen quanti-
tative Verfahren weniger zielführend. So lässt sich der Erfahrungsschatz der
Kollegen durch standardisierte Faktoren kaum als Quelle nutzen.
Auch sind festgeschriebene Faktoren kaum geeignet, die Analysen und
Interpretationen für die vorliegende Arbeit zugänglich zu machen. Die Un-
tersuchung versucht ja gerade, nicht offensichtliche Elemente zu erforschen
und latente Sinnstrukturen1 zu erfassen und das innerhalb des Alltäglichen
zu beschreiben. „Um den Regeln des typischen, sozialen bzw. kulturellen
Handelns auf die Spur zu kommen, braucht es qualitative Methoden“, zitiert
Siegfried Lamneck den Soziologen Roland Girtler und unterstreicht damit,
dass das naturwissenschaftlich-positivistische Forschungsvorgehen wohl
nicht in der Lage ist, menschliches Handeln konsequent zu erfassen.2
Das Ziel ist es, das zuvor theoretisch diskutierte Phänomen des Fehlers
in der Psychotherapie durch Fallgeschichten aus der Praxis zu vervollstän-
digen. Dabei wird nicht die Herstellung einer Objektivität im naturwissen-
schaftlichen Sinne angestrebt. Die Absicht ist es, das Phänomen interpre-
tativ zu erfassen, um die eigentliche Frage zu klären, ob die Beschäftigung
mit Fehlern in der Psychotherapie einen Beitrag für die Qualität der the-
Folgende Fragen wurden vorab an die Kollegen geschickt und bilden gleich-
zeitig den Leitfaden des Interviews:
5 Roth 2007, Im Zuge dieser Arbeit richteten wir folgende Anfrage per E-Mail an Ger-
hard Roth: Warum werden unangenehme und peinliche Ereignisse oft über Jahrzehnte
gespeichert? Roth antwortete: „Unangenehme, peinliche und schmerzhafte Ereignisse
sind für unser biologisches, psychisches und soziales Leben wichtiger als positive Er-
eignisse und werden deshalb stärker bzw. längerfristiger gespeichert. Emotionale Er-
fahrungen werden grundsätzlich hartnäckiger gespeichert als kognitive Erfahrungen,
einfach weil sie viel verhaltensrelevanter sind.“ (E-Mail, 17. September 2007)
6.3 Auswirkungen der unterschiedlichen therapeutischen Schulen 109
t 8BT XBS *ISF FSTUF 3FBLUJPO
OBDIEFN 4JF WPO EFN ćFNB HFIÚSUIB-
ben?
t 8FOO 4JF BO 'FIMFS JO EFS QTZDIPUIFSBQFVUJTDIFO "SCFJU EFOLFO
XBT
fällt Ihnen dazu ein?
t ,ÚOOFO4JFFJOJHFEFS'FIMFSVOEEFSFO(FTDIJDIUFCFSJDIUFO 6NXFMDIF
psychotherapeutische Situation handelte es sich, was ist geschehen, wie
kam es dazu, wie haben die Beteiligten reagiert?
t )BCFO4JFEFO'FIMFSJOOFSIBMCEFSUIFSBQFVUJTDIFO"SCFJUWFSXFSUFU
t 8BT
HMBVCFO4JFIFVUF
JTUEBNBMTFJHFOUMJDIWPSHFGBMMFO 8JFCFXFSUFO
Sie das Geschehen jetzt mit Abstand?
t 8JFJTUFTGàS4JF
XFOO4JFEJFTFO'FIMFSIFVUFCFTQSFDIFOVOEFSOFVU
durchleben? Wie sehen Sie Ihre eigene Reaktion? Bedauern Sie etwas oder
würden Sie heute etwas anders machen?
t 8BTIBCFO4JFBVTEJFTFS&SGBISVOHHFMFSOU
t %FOLFO4JF
LÚOOUFOBOEFSFBVTEJFTFO&QJTPEFOMFSOFO
Fast alle Kollegen fanden das Thema höchst interessant und waren positiv
überrascht, dass sich jemand dieses Bereichs der therapeutischen Arbeit an-
nimmt. Bis auf einige wenige waren auch alle bereit, ein Interview zu geben.
Neben den Fallgeschichten ergaben sich im Zuge der Gespräche wertvolle
Anmerkungen der einzelnen Kollegen. Diese Anmerkungen sowie die Fall-
geschichten selbst sind durch Kursivdruck erkennbar.
es demnach als Ergebnis der geführten Interviews nicht. Auch das Interesse
an dem Thema war unabhängig von der jeweiligen Schulenzugehörigkeit.
Alle befragten Therapeuten erlebten in ihrem bisherigen Berufsleben ein-
ander ähnelnde Geschichten, und auch deren Reaktionen auf Fehler zeigten
zunächst keine schulspezifischen Qualitäten.
Zwar sind die in den Interviews skizzierten Fehlerursachen wie Überei-
fer, Überforderung oder Verwechslungen schulenunabhängig, doch die wei-
terführenden Interpretationen und Analysen der Fallgeschichten und diffe-
renziertere Fehlerursachen waren vom jeweiligen Theoriehorizont geprägt.
Annähernd alle befragten Therapeuten bezeichneten Elemente der Therapie
dann als Fehler, wenn die Intervention von dem individuell Erlernten dif-
ferierte. Insofern ist das subjektive Fehlerwahrnehmen vom Theoriehinter-
grund bestimmt. Besonders in Fragen des Settings, in Fragen der Abstinenz
oder therapeutischen Beziehung lässt sich dieses Phänomen bemerken. In
den Bereichen, in denen die eigene Lebensgeschichte das therapeutische
Handeln beeinflusst oder in denen Impulse durchbrechen, wurden Fehler
eher schulenunabhängig geortet. In einer der berichteten Geschichten kam
es explizit zu einer ideologischen Fragestellung. Die Therapeutin hat Ausbil-
dungen in einer tiefenpsychologischen und einer systemischen Schule absol-
viert. Exemplarisch zeigt dieser Fall eine Ideologiediskussion:
„Da kam eine Frau zu mir, da bin ich mir sicher, Fehler gemacht zu haben.
Sie war zuvor schon bei drei Therapeuten und hatte früher schon einmal
eine Therapie gemacht. Sie war unschlüssig und ist dann bei mir geblieben.
Das Therapieziel war, beziehungsfähig zu werden. Sie war so maßlos am-
bivalent und immer unzufrieden, aber ohne zu leiden. Wir haben dieses
Beziehungsthema von links nach rechts, von oben nach unten besprochen.
Wir haben die Kindheit besprochen, und da wurde manches erklärbar.
Letztlich wollte sie aber nichts tun, nichts verändern, und sie kam dann
auch nur noch in Dreiwochenabständen. Ich sprach in jeder Sitzung mit
ihr, ob sie glaubt, dass das so Sinn macht. Im Zuge der Zeit hat sie viele Ter-
mine verschoben und ich habe mit ihr darüber gesprochen: ‚Was machen
Sie da eigentlich hier mit mir?‘ Sie hat mich dann angeschaut und gemeint:
‚Sie glauben, ich leide nicht‘. Sie hat mich in die Position gebracht, ich bin
die Böse, die nicht akzeptiert, was sie will. Letztens hat sie ein E-Mail ge-
schrieben, dass sie die Therapie aussetzen will. Einer der letzten Thera-
peuten scheint ihr gesagt zu haben, er macht nicht mehr mit. Vermutlich
könnte sie das Gleiche über mich sagen. Was war der Fehler?
6.4 Die Interviews 111
Durchgängig lässt sich, wie schon eben erwähnt, feststellen, dass zunächst
alle Kollegen zögerlich und positiv überrascht auf die Interviewanfrage re-
agiert haben. Nach kurzem Überlegen war bis auf zwei Fälle die Bereitschaft
dann unmittelbar gegeben, bei diesem Projekt mitzuwirken. Die Interviews
dauerten zwischen 25 und 65 Minuten. Manche Kollegen hatten sich sorg-
fältig vorbereitet und schriftliche Notizen erstellt. An annähernd die Hälfte
6 Kollegin B, S. 7
112 6. Fallgeschichten
„Sie haben ein wichtiges Thema, Fehler regt ein bisschen auf“,7
war der Kommentar einer Kollegin. Manche der Befragten versuchten das
Thema Fehler weiter zu differenzieren und zu theoretisieren. Andere erklär-
ten ihren persönlichen Zugang zu diesem Phänomen. Ähnlich wie in der
im ersten Teil behandelten Theorie finden sich unterschiedliche Zugänge
zu dem Phänomen Fehler. Manche Kollegen akzeptierten Fehler als völlig
selbstverständlich, und andere Kollegen nahmen Fehler als ein gelegentli-
ches, eher problematisches Geschehen in der Therapie wahr.
„Ich bin ein Anhänger von der Ansicht, man macht sich ein Bild vonei-
nander, und jedes Bild ist immer falsch. Wir müssen eher herausfinden,
wann eckt’s, so dass ich mein Bild verfeinern oder verbessern oder wegwer-
fen kann. Dieser Prozess des Wegwerfens der Bilder schärft vielleicht die
Möglichkeiten, ein Bild für sich zu finden, und das ist der therapeutische
Prozess. Für mich ist der Fehler ein Teil der Dynamik im therapeutischen
Prozess. Das würde ich nie als negativ sehen, sondern als systematische
7 Kollegin H, S. 39
8 Ebenda, S. 33
6.4 Die Interviews 113
Fehler zum Nutzen. Es geht nicht um wahr oder falsch, sondern finden wir
etwas, womit wir leben können.“ 9
„Fehler sind die wichtigste Lernquelle für mich in diesem Sinn, dass ich
immer sage: ‚Ich bin nicht so intelligent, weil ich so viel studiert habe, son-
dern weil ich viele Fehler gemacht habe. Daraus resultierend entwickle ich
mein Wissen.‘ “ 10
„Wenn ich mich nicht schlecht fühle und wenn ich nicht ausagiere, dann
mache ich keinen Fehler.“ 11
Oder jener Kommentar einer Kollegin, aus dem hervorgeht, dass Fehlerma-
chen kein Gewinn sei, sondern ein beschämendes Geschehen:
„Prinzipiell ist es schon unangenehm Fehler zu machen. Weil wenn ich von
mir ausgehe, stelle ich natürlich den Anspruch, keine Fehler zu machen,
was natürlich nicht geht. Und deswegen ist es unangenehm, sich diese ein-
zugestehen, weil ich mir denke, ich habe versagt. Es ist auch kein Problem,
wenn ich mit Leuten spreche, wo ich das Gefühl habe, die verurteilen mich
nicht, wenn ich diesen Fehler gemacht habe. In der Supervision kann ich
auch darüber sprechen, nur habe ich gelernt, im Laufe der Jahre vorsichtig
zu sein mit dem: Wem darf ich etwas sagen und wem nicht? Ich finde das
schade, weil ich ein Mensch bin, der gerne erzählt. Ich habe mich damit
arrangiert in der Art: ‚So bin ich halt, es kommt einfach vor, dass ich nicht
entspreche.‘ Das ist eine Beschämung. Ich habe mir selbst nicht entspro-
chen, ich habe auch den anderen nicht entsprochen.“ 12
9 Ebenda
10 Kollegin I, S. 40
11 Kollege L, S. 56
12 Kollegin M, S. 57
114 6. Fallgeschichten
als entweder zu dem Prozess gehörig oder ausschließlich als Folge einer
schlechten Verfassung gesehen werden. In diesem Fall könnten die Stand-
punkte nicht konträrer sein. Das Zitat der Kollegin M265 hingegen bezieht
sich auf die eigene und fremde Fehlertoleranz. Um sich und anderen Feh-
ler eingestehen zu können, bedarf es eines fehlerbefürwortenden Umfeldes.
Diese Feststellung erinnert uns an das schon erwähnte Zitat im Kapitel 4:
„Wer sich bei einer Beurteilung irrt oder einen taktischen Fehler gemacht
hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine schmutzige Wä-
sche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 13
6.5 Überforderung
Überforderung stellt die erste der entworfenen Kategorien dar. Fehler dieser
Kategorie sind den Kollegen besonders unangenehm. Überforderung ist die
negative Seite der Leistungsfähigkeit. Die Grenze zwischen der gesellschaft-
lich anerkannten Leistungsfähigkeit und Überforderung ist sehr schmal.
Wie in den meisten anderen Berufsfeldern sind natürlich auch Psychothe-
rapeuten nicht vor Überforderung gefeit. Verschärft wird das Problem der
Überforderung dadurch, dass an diesen Berufsstand verschiedene, vielleicht
klischeehafte Erwartungen gestellt werden. Unter den Erwartungen, die an
Psychotherapeuten gestellt werden, ist jene zentral, wonach Therapeuten
ihre eigenen Grenzen, also auch die Grenzen ihrer Belastbarkeit, erkennen
sollten.
„Ich bin draufgekommen, warum mir diese Fehler passiert sind. Ich war
überfordert. In der Institution habe ich schon nicht mehr gewusst, wie viele
Kinder ich eigentlich habe. Ich glaube, ich habe teilweise über 70 Kinder be-
treut. Ich war überfordert. Ich kenne die Familiengeschichten immer sehr
gut und weiß auch, wie die Kinder heißen. Zum Schluss habe ich schon al-
les vermischt. Habe einem Kind erzählt: Gell, dein Vater bekommt mit der
neuen Frau jetzt ein Baby. Und das war aber die falsche Familiengeschichte.
Das war das falsche Kind. Ich bin erstarrt. Der Bub schaut mich an und
sagt: ‚Was, mein Papa, das gibt’s ja gar nicht, der ist ja unterbunden.‘ Es ist
nämlich eine ähnliche Geschichte gewesen, wo die Kinder gleich alt waren.
Das war mir sehr unangenehm. Ich konnte das noch in der Stunde klären.
Ich hatte den Vorteil, dass ich erfahren habe, dass der Vater unterbunden
ist. Ich habe mit dem Buben dann gut reden können. Das hat unser Ver-
hältnis verändert.“ 14
6.5.2 Verwechslung
„Einmal hatte ich eine Gruppe von Justizpatienten. Ich arbeite im forensi-
schen Bereich. Da kommen Leute zu mir, die richterliche Auflagen haben
oder die sich von den Therapiegesprächen Erleichterungen erwarten. Ich
arbeite da mit der Justizvollzugsanstalt x zusammen. Da hatte ich zwei
junge Männer in Behandlung, die sich sehr ähnlich waren, beide stammten
aus dem Ausland, hatten beide ähnliche Silben im Nachnamen und auch
noch die gleichen Initialen. Ich habe einem der beiden eine Bestätigung
schreiben müssen und habe den falschen Namen daraufgeschrieben. Er hat
gesagt: ‚Danke, aber das bin nicht ich. Ich heiße nicht so.‘ Das war mir
sehr unangenehm und ich war natürlich peinlich berührt und erschrocken.
Ich habe ihm dann gleich eine neue Bestätigung geschrieben, aber mir war
bewusst, wie problematisch das ist. Mehr um mich zu erleichtern, habe
ich ihn dann gefragt, ob ihm das öfters passiert, und da hat er dann sehr
ärgerlich erzählt, dass ihm das dauernd passiert, und gerade hier in der
Anstalt wird er dauernd mit dem besagten anderen Kollegen verwechselt.
Er begann frei und offen zu erzählen. Da war ich dann wiederum über-
rascht, wie offen und emotional der junge Mann plötzlich geworden ist.
Das wäre ohne den Fehler nicht möglich gewesen. Hier hat der Fehler etwas
möglich gemacht, was ich vorher nicht gedacht hätte. Es war ja auch nicht
in meiner Absicht das jetzt therapeutisch zu nützten, aber es war dann
ganz beeindruckend.“ 15
14 Kollegin M, S. 57
15 Kollege A, S. 2
116 6. Fallgeschichten
werden. Der wesentliche Lerneffekt für die Therapeuten aber besteht darin,
die eigene Überforderung zu erkennen und darauf zu reagieren. Nicht im-
mer lassen sich Fehler aufgrund von Überforderung so nutzbringend und
unkompliziert verwerten. Die folgende Fallgeschichte von einer schon eben
zitierten Kollegin zeigt, dass Fehler oft nur die sichtbare Spitze eines Eisber-
ges sind:
6.5.3 So dahingesagt
„Ein Fehler tut mir sehr leid, er hat mich sehr betroffen gemacht. Es han-
delte sich um einen Burschen mit 15 Jahren, dessen Mutter verstorben war,
den ich aber nicht wirklich in Therapie hatte. Manche Schüler kommen oft
nur in der Pause. Er hatte vielleicht eine Stunde bei mir. Er war irgendwie
lästig, er war fast schon übergriffig. Ich hatte fast das Gefühl, er will mit
mir ins Bett gehen mit seinen 15 Jahren. Und irgendwann sage ich zu ihm:
‚Bitte, bist du bei deiner Mutter auch so lästig?‘ Und in diesem Moment
fällt mir ein: Oh, da ist ja die Mama gestorben! Ich hab dann sofort gesagt,
es tut mir so leid. Dadurch, dass er nie öfters bei mir war, habe ich das nie
so wirklich mitgekriegt. Ich glaube, ich habe ihn einmal nur eine Stunde
gehabt. Er hat gesagt, das macht nichts, und ich sagte, das macht schon
was, ich muss mich wirklich entschuldigen, verzeih mir meinen Fehler, und
das tut mir selber so weh.
Meine Überlegung war dann: Wieso ist mir das passiert? Vielleicht, weil er
sehr übergriffig war in seinem Verhalten? Er hat Sexualität und Mütterli-
ches vermischt, irgendwie bin ich auch das Mütterliche für die Burschen.
Vielleicht war das mein Versuch, ihn wegzuschieben. Es ist passiert. Indem
ich das gesagt habe, war er nicht mehr lästig. Vielleicht habe ich mich ge-
wehrt, aber in einer Art und Weise, die mir nicht taugt, ich kann mich an-
ders wehren. Wir haben leider nicht mehr viel Zeit gehabt, da er die Schule
verlassen hat. Wir haben uns noch einige Male gesehen und gegrüßt, und
als ich in die Klasse gegangen bin, um mich zu verabschieden, haben wir
uns noch mal in die Augen geschaut. Ich glaube schon, ich habe ihn ver-
letzt, aber durch meine Entschuldigung habe ich es hoffentlich weitgehend
wiedergutgemacht. So ein Fehler ist mir noch nie passiert, dabei sehe ich
nicht, was mein Nutzen sein könnte. Vielleicht doch, mein Nutzen könnte
sein, ich muss achtsam umgehen mit mir selber. Ich hatte zu viele Kinder.
Ich habe einfach zu viele Kinder, jeder mit seiner wahnsinnigen Belastungs-
situation. Die haben alle diese Geschichten laufen, das war zu viel, ich bin
in die Falle des Systems gegangen. Das System Institution sagt: ‚Bitte nimm
das Kind.‘ Die Anforderungen an mich waren zu groß. Vielleicht hatte ich
auch Allmachtsfantasien, aber es war zu viel. Ich kann nicht unendlich
6.5 Überforderung 117
viele Kinder in eine Woche packen. Ich hatte mit dem Jungen auch eine
andere Geschichte. Der Junge hatte immer ganz kleine Augen und hat aus-
geschaut, wie wenn er Drogen genommen hätte. Ich habe ihm gesagt: ‚Du
kannst mir viel erzählen, ich bin nicht blöd, du bist total zu.‘ Er hat immer
gesagt:, Nein, nein‘, aber er war auch total geschmeichelt. Angeblich nimmt
er keine Drogen, obwohl ich sehr skeptisch bin und gleichzeitig hat er ge-
sagt: ‚Ich trinke immer.‘ Mir hatte der Junge so leid getan, er war aus dem
Ruder gelaufen, er hatte keinen Halt. Vielleicht war meine Äußerung auch
ein Abschiednehmen, weil er von der Schule weggegangen ist, vielleicht war
da mehr Beziehung, als ich gedacht habe, und obwohl es so eine lose Bezie-
hung am Gang war. Das, was mich mulmig macht, ist, dass der Fünfzehn-
jährige etwas Gewisses gehabt hat. Ich habe kein Interesse an Fünfzehnjäh-
rigen, aber dennoch ist da etwas geschehen, er hat Grenzen überschritten
und er hat auch mich an die Grenze gebracht. Ich muss ihm sicher auch
einmal eine Stunde gegeben haben, obwohl ich keine Zeit gehabt habe. Da
hat er doch was erreicht, er hat immer meine Grenzen überschritten und
er war hartnäckig.“ 16
In diesem Beispiel ist die Überforderung nur ein Faktor unter anderen. Die
besondere Beziehung zwischen der Therapeutin und dem Jugendlichen war
sicherlich ausschlaggebend für diese Begebenheit. Die Überforderung hat
hier nur wie ein Katalysator ermöglicht, dass ein Fehler geschieht. Eine of-
fensichtlich deutlich verstrickte Problematik war schon vorher da. Wie es
die Analyse zeigt, ist der Fehler eine Reaktion auf die Verstrickung und so
gesehen gleichsam ein Symptom. Die unglückliche Aussage der Kollegin hat
in der rückschauenden Analyse die seltsame Verbindung der beiden ans Ta-
geslicht gebracht.
Über diese Beziehung ließe sich jetzt einiges sagen, welches in einer
Fallanalyse auch angebracht wäre. Für die vorliegende Arbeit aber ist der
Fehler hier in seiner Wirkung als Warnsignal wichtig. Während in der
Fallgeschichte von dem Buben, dessen Vater verwechselt wurde, die Über-
forderung selbst als Fehlerproduzent auftritt, ist in dieser Geschichte die
Überforderung nur der ausschlaggebende Faktor, um eine andere Spannung
als Fehler sichtbar werden zu lassen. Ganz ähnliche Wirkungen haben die
Fehler in den nun folgenden Fällen. Der Unterschied besteht darin, dass
nicht die Überforderung zum Geburtshelfer des Fehlers wird, sondern das
Unbehagen der Therapeuten.
16 Kollegin M, S. 58 f.
118 6. Fallgeschichten
Die folgenden Geschichten handeln davon, dass die Kollegen, ähnlich wie
in der eben besprochenen Geschichte, über einen längeren Zeitraum eine
Dynamik oder eigene Befindlichkeiten nicht bemerken. Im Speziellen han-
delt es sich hier um Unbehagen in Bezug auf Patienten. In allen Geschich-
ten führt das dann in ein impulshaftes Durchbrechen der zurückgehaltenen
und unbemerkten Elemente. Diese Kategorie erinnert an die klassische freu-
dianische Vorstellung von Fehlern: Das Unbemerkte (das Verdrängte) bahnt
sich seinen Weg an die Oberfläche. Einer der interviewten Kollegen hat dazu
eine besondere Theorie. Er erklärt die Wut der Therapeuten mit folgenden
Worten.
„Die Patienten glauben immer, sie zeigen uns alles und wir wissen alles
von ihnen und sie wissen nichts von uns. Die Patienten erleben das als
asymmetrische Beziehung. Das ist falsch, das ist in Wirklichkeit nicht so.
Die Patienten haben ihren Wunsch nach Begegnung und wir unseren und
insofern ist der wesentliche Bestandteil gleich. Wenn wir sie in diesem Be-
gegnungswunsch zu sehr frustrieren, dann werden sie uns in der Wut be-
gegnen, dann werden sie dafür sorgen, dass wir wütend werden, weil sie
uns dann spüren. Wenn wir plötzlich alles vergessen und einen Wutanfall
kriegen, dann wissen die Patienten, dass wir da sind. Dann spürt der Pa-
tient, dass wir mit allen emotionalen Reaktionen da sind, dann erleben sie
uns. Ich glaube, dass sehr viele heftige therapeutische Reaktionen auf so
einer Vorgeschichte beruhen.“ 17
Folgen wir dieser Überlegung, dann ist die Wut des Therapeuten eine Folge
des frustrierten Beziehungswunsches des Patienten. Was der Therapeut als
Fehler erlebt, nämlich das Durchbrechen seiner eigenen Wut, wird hier als
Beweis für die emotionale Präsenz des Therapeuten gewertet. Der Patient
provoziert beim Therapeuten das Verlassen der therapeutischen Haltung,
um sich seiner zu versichern. Die oben erwähnte „über einen Zeitraum un-
bemerkt gebliebene Dynamik“ ist aus diesem Blickwinkel betrachtet eine
Vereinsamung des Patienten in der Therapie.
17 Kollege C, S. 9
6.6 Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse 119
6.6.1 Konkurrenz
„Ich war mit meinem damaligen Partner und seinem Sohn laufen. Da ich
viel laufe, war ich wohl deutlich weiter vorne. Plötzlich höre ich hinter mir
eine Frau rufen. Ich sehe nur, dass da eine Frau am Boden liegt und meine
Partner ihr aufhilft. Ich sehe sie gestikulieren und ein großes Trara. Im
Zurücklaufen erkenne ich dann meine Patientin, die da am Boden liegt.
Im Näherkommen fällt mir gleich auf, wie unglaublich die Patientin mit
meinem Freund flirtet und kokettiert. Sie hatte wohl einen schmerzhaf-
ten Krampf oder so etwas. Nächste Stunde war dann zunächst ganz ok.
Wir haben über die Situation geredet. Sie hat herumfantasiert, weil mein
Freund ihr offensichtlich gut gefallen hat. Sie hat laut überlegt, wie sie ihn
verführen könnte. Irgendwann dann sagt sie: ‚Na ja, Sie haben ja keine Ah-
nung, wenn ich Ihren Freund verführen will, dann haben Sie keine Chance
mehr.‘ Ich habe mich so geärgert und es war zwar schon viel Ärger von frü-
her dabei und ich habe ihr auf jeden Fall in sehr bestimmtem Ton gesagt:
‚Sie verführen meinen Freund garantiert nie!‘
Vielleicht gehört das auch in die Kategorie Fehler. Das ist auch nicht gut
ausgegangen. Die Therapie war dann bald darauf vorbei, weil sie abgebro-
chen hat. Sie hat nie aufgehört, mit mir so heftig zu konkurrieren. Mein
Fehler war, dass ich nicht durchschaut habe, was da läuft. Ich bin auf dieses
Machtspiel voll eingestiegen. Ich habe mich so geärgert, und sie hat mich so
persönlich erwischt. Ich habe das so aggressiv gesagt, dass in diesem Mo-
ment die Patientin dann aber ganz still war und mich nur mehr mit großen
Augen angeschaut hat. Wir haben uns eigentlich ständig nur gerieben. Sie
hat immer irgendwelche Worte gehabt, aber da war sie direkt baff.“ 18
6.6.2 Kleinlaut
„Wenn ich nachdenke, dann fällt mir eine magersüchtige Klientin aus
meinen Anfangszeiten ein. Sie hat in den Stunden immer ziemlich rum-
gejammert, in dem Stil: ‚Ich armes Opfer, böse Welt.‘ Da ist mir der Kra-
gen geplatzt, ich bin dann einmal richtig böse geworden. Da bin ich richtig
drübergefahren und habe geschimpft und gesagt: ‚Es reicht‘, und so. Das
war dann richtig gut. Da habe ich jegliche therapeutische Distanz oder Re-
flexion verloren. Es hatte allerdings einen guten Effekt. Die Patientin war
kleinlaut und erschrocken. Das hat mich an Kinder erinnert, die sich in
etwas hineinsteigern, und wenn man die Kinder nicht stoppt, dann steigert
es sich ins Unendliche. Es war wie ein Einschnitt auch in der Dynamik. Es
18 Kollegin D, S. 16
120 6. Fallgeschichten
hat auch so gewirkt, als wenn sie diese Grenze provoziert und gebraucht
hätte. Danach konnten wir in einer anderen Art sprechen, und es hatte un-
erwartet einen positiven Aspekt gehabt, weil sie dadurch aus dem Kreislauf
der Jammerei raus ist. Das war in keiner Weise eine therapeutisch geplante
Sache. Aber das war sicher in diesem Moment jenseits des Herkömmlichen,
Therapeutischen. Wenn ich mit meinem therapeutischen Hirn darüber
nachgedacht hätte, dann hätte ich mir das nie erlaubt, mit meiner Emoti-
onalität da so reinzugehen.“ 19
19 Kollegin K, S. 53
20 Rieken 2003
6.6 Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse 121
sie nicht mehr aushielt, weil ich fortwährend attackiert wurde. Ich sage:
‚Nennen wir die Dinge beim Namen: Ich fühle mich von Ihnen unter Druck
gesetzt, ich muss schon bei der Begrüßung aufpassen, dass ich nichts falsch
mache, etwa in der Tonlage oder Mimik. Und ich habe keine Lust mehr,
an Ihren Fäden zu hängen.‘ Da war die Luft raus bei mir und die Therapie
wäre fast abgebrochen worden.“ 21
Mit dem Beispiel zeigt Rieken, wie er in einem Falle so lange mit Interven-
tionen gewartet hat, bis ihm auf völlig unanalytische Art irgendwann ein-
mal der Kragen geplatzt ist. Die Spannungen nach dem Urlaub waren nur
der Gipfel einer Entwicklung, die bereits anderthalb Jahre angedauert hatte.
Genau diese Explosion aber war eine Wende in der Therapie. Rieken resü-
miert:
„Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich lange Zeit Angst vor dem Patien-
ten hatte und aus Scheu vor Konflikten oder aufgrund geheimer masochis-
tischer Wünsche den Dingen ihren Lauf ließ, solange bis der Dampfkessel
explodiert ist.“ 22
Rieken schränkt ein, dass er diese Art der Intervention nicht empfehlen
kann. Es ist zwar aus seiner Sicht erlaubt, massive Gefühle zu haben, doch
solle man sie zunächst für sich analysieren, bevor man auf sie reagiert. Für
den Patienten aber ergaben sich völlig neue Einsichten. Der Umstand, dass
sein Therapeut gesagt hat, er halte ihn nicht mehr aus, sei für ihn überra-
schend gewesen, da er bis dahin dachte, man könne ihn problemlos aus-
halten, und daraus habe er sehr viel gelernt. Unter anderem sei ihm klar
geworden, dass ihn seine geschiedene Frau einfach nicht mehr ausgehalten
habe. Das Sichtbarwerden der Schwäche des Therapeuten motivierte den
Patienten außerdem, perfektionistische Ansprüche, an denen er lange fest-
gehalten hatte, zu überdenken. Beispiele dieser Art finden sich öfters in der
Literatur. Irvin Yalom beschreibt in seinem Roman „Die Reise mit Paula“
die Therapie mit einer Frau namens Irene. Yalom beschreibt, wie er schon
vor der ersten Stunde eigene Alarmglocken nur zu bereitwillig überhört.
Irene ist die Freundin einer Bekannten und so eigentlich viel zu nah, um sie
therapeutisch zu behandeln. Aus verschiedenen Motiven und nicht zuletzt
aus Eitelkeit heraus nimmt er jedoch trotz Vorbehalten Irene in Therapie.
Die Therapie verläuft schwierig über Jahre hinweg und gerät immer wieder
ins Stocken. Nachdem in einer schwierigen Phase der Therapie die Vorwürfe
21 Rieken 2003, S. 44
22 Ebenda, S. 44 ff.
122 6. Fallgeschichten
von Irene unerträglich für Yalom wurden, reagierte er zornig mit folgenden
Worten:
„Ich habe Ihre Minenfelder einfach satt, ich habe es einfach satt, dass Sie
mich Tests unterziehen, bei denen ich öfters versage als gut abschneide.“ 23
Yalom beschreibt diese Stunde mit Irene als eine der besten, obwohl er an-
merkt, dass er weder in seinen Lehrbüchern noch als Vorgesetzter oder Do-
zent auch nur im Traum seinen Studenten den Rat geben würde, sich im
Zorn auf eine Auseinandersetzung mit einem Patienten einzulassen. Diese
Sitzung jedoch brachte Irene „unfehlbar weiter“. 24
Eva Presslich-Titscher schreibt in einem Aufsatz,25 dass man als Analy-
tiker unter Umständen die in der Literatur manchmal unter dem Begriff
„Enactment“ beschriebene Erfahrung machen kann, dass ein ungeplanter
Gefühlsausbruch unsere Patienten eventuell auch zum Nachdenken anregt.
Sie bezieht sich auf Jessica Benjamin 26, die davor warnt, die Selbstenthüllung
an sich als Allheilmittel anzusehen. Ihre Definition von Selbstenthüllung
schließt ein, dass dem Analytiker auch einmal der Kragen platzen kann,
aber dass er dann die Verantwortung zu übernehmen hat für Qual und Pein,
die er in Form von eigenen unreflektierten Gefühlen dem Patienten antut.
Es ist diese Haltung, die nach Benjamin unreflektierte verletzende Emotio-
nen in hilfreiche Interventionen verwandeln kann. Im theoretischen Teil
der Arbeit haben wir schon auf die Möglichkeiten für den therapeutischen
Prozess hingewiesen, die durch moderate Selbstoffenbarung entstehen. Den
eigenen Ärger zu formulieren, ist natürlich eine Art der Selbstoffenbarung,
aber der wesentliche Unterschied liegt in Folgendem: Während eine mode-
rate Selbstoffenbarung überlegt und wohl dosiert den therapeutischen Pro-
zess fördern kann, ist die durch aufgestauten Ärger entstehende impulshafte
Offenbarung eher ein Risikospiel und wird dadurch auch zumindest von der
therapeutischen Seite als Fehler wahrgenommen.
In dem Beispiel mit dem Titel „Konkurrenz“, das von der joggenden Kol-
legin, ihrem Feund und ihrer Patienten handelte, war die Situation offen-
sichtlich schon zu verfahren und die Kollegin zu tief verstrickt. Hier gelang
es nicht mehr, die Konkurrenzsituation zu thematisieren und nutzbar auf-
zulösen. Der durchbrechende Impuls war der Beginn des Endes der Thera-
pie. In dem zweiten Fallbeispiel „Kleinlaut“, das von der jammernden Pati-
entin handelt die wie ein Kind nach Grenzen verlangte, scheint neben dem
Inhalt der Intervention auch die Heftigkeit einen positiven Effekt erzielt zu
haben. Die Grenzsetzung seitens der Therapeutin veränderte das Verhält-
nis. Nicht nur, dass die Therapeutin selber Erleichterung empfand, auch die
Klientin scheint diese Grenze, diese Sicherheit gebraucht zu haben. Es bleibt
Spekulation, ob diese Grenzziehungen ohne die impulshafte Intervention
der Kollegin möglich gewesen wäre.
Der hier folgende Themenbereich ist vor allem in der Anfangszeit des thera-
peutischen Schaffens von großer Relevanz. Da die Psychotherapieausbildung
auch große Teile an Selbsterfahrung beinhaltet, kann man davon ausgehen,
dass die jeweils eigene biografische Geschichte der Therapeuten selbsterfah-
rerisch erfasst ist. Es ist daher naheliegend, dass die aus der eigenen Ge-
schichte bekannten Mechanismen den jeweiligen Therapeuten vertraut sind.
So kann es geschehen, dass diese bekannten Mechanismen den Patienten
zugeschrieben werden. Wie wir an anderer Stelle27 gesehen haben, ist das
schablonenhafte Übertragen von Elementen in der Psychotherapie kaum
möglich. Die Wirksamkeit solcher aus der eigenen Geschichte übertragenen
Mechanismen ist daher höchst fragwürdig, auch wenn die Therapeuten von
der Wirksamkeit dieser Muster und Mechanismen überzeugt sind. Ganz
deutlich bringt das eine Kollegin mit folgenden Worten zum Ausdruck:
„Ich war zum Beispiel am Anfang ganz versessen darauf, meine Klienten
dahin zu führen, sich mit ihren Eltern zu versöhnen. Ohne Überprüfung
der möglichen Risiken für den Patienten. Ich habe sie auch sehr autori-
tär angeleitet, ihre Gefühle authentisch auszudrücken, koste es, was es
wolle.“ 28
„Da sind Fehler passiert, wo ich einen Patienten, der ein ganz klares Ziel
formuliert hat, übergangen habe und, verliebt in meine Hypothesen, mein
Ziel verfolgt habe. Ich habe das dann in der Reflexion der Stunde erkannt
und bemerkt, dass ich ihm meine eigene Geschichte übergestülpt habe. Völ-
lig verliebt in meine Hypothese bin ich meinem Ziel gefolgt, nicht seinem.
Ich habe da die Führung durch den Klienten verlassen und habe fast au-
toritär durch das Thema geführt. Das ist heute für mich ein klarer Fehler.
Am Anfang habe ich mit meinen Klienten wie ein Mediziner gearbeitet und
immer eine klare Idee gehabt, was der Patient tun muss, damit er wieder
gesund wird. Ich meine da auch chronische Krankheiten, nicht nur psychi-
sche. Ich habe meinen Klienten meine Lösungswege übergestülpt, und das
kann’s nicht sein.“ 29
Die Kollegin, die übrigens aus einem medizinischen Umfeld stammt, hat
dann ihren Umgang mit ihrer eigenen Geschichte in zwei Fällen sehr an-
schaulich darstellen können.
„Ich kann mich an eine Frau erinnern, die eine schwere chronische Krank-
heit gehabt hat. Chemotherapie, Glatze etc. Plötzlich war es klar für mich,
ich komme mit dieser Frau nicht weiter, weil die eine völlig andere Ge-
schichte und anderes Thema gehabt hat. Ich war mit meiner Arbeit nicht
neugierig, das zu erforschen, sondern hatte ein klares Bild, was hier zu tun
ist: Schritt A. Schritt B. Schritt C. Und das würde ich als wirklichen Fehler
in der psychotherapeutischen Arbeit sehen. Diese Frau habe ich dann ein-
geladen und sie kostenlos behandelt und habe extrem aufgepasst. Es war
für mich ein schönes Lernfeld zu sehen, wo führt sie mich mit ihren Themen
hin. Ich habe mich dann von ihr leiten lassen und habe ihr nicht mehr in
meiner Weise dogmatisch die Lösung vorgeschrieben. Diese Frau hat tolle
Erfolge gehabt. Sie hat das dann auch geschafft und ist von der Chemo-
therapie weggekommen, hatte keine Entzündungsprozesse mehr. Die The-
men, die ich geglaubt habe, dass sie ihre Themen waren, waren alles meine
Themen. Es entfiele die Einzigartigkeit der Patienten, nicht zu betrachten,
sondern zu glauben, es gibt für ein Problem wie zum Beispiel chronische
Krankheit eine Lösung. Das würde ich heute als wirklich gravierenden Feh-
ler bezeichnen.“ 30
„Ich habe eine Klientin gehabt, die war in einer wirklichen Depression. Ich
habe mit ihr zwei Stunden gearbeitet, ich würde mal sagen, sehr gut und
intensiv, und in der dritten Stunde ist sie auch gekommen. Sie war eine
29 Ebenda
30 Kollegin I, S. 41
6.7 Eigene Geschichte 125
halbe Stunde zu spät. Sie war gut drauf – wie noch nie, nicht manisch,
aber die Depression war verschwunden. Ich habe sie gefragt, wie das zu-
stande gekommen ist, und sie hat mir fünf Hefte auf den Tisch gelegt und
mich darauf hingewiesen, dass es nur einen gibt, der Depressionen heilen
kann. Und das ist nicht der Psychotherapeut, sondern das ist Gott. Sie hat
mir missionarische Hefte hingelegt und mich so wütend gemacht, dass ich
dann gesagt habe: ‚Ich halte das für einen totalen Blödsinn.‘ Ich glaube,
dass das zwar eine Phase sei, wo es ihr besser ginge und dass es gut sei, aber
ich glaube nicht, dass wir es damit lassen sollten. Das hat sie dann so wü-
tend gemacht, und dann haben wir uns verfangen in einem Machtkonflikt,
wo ich auch von der Idee, das ist ein völliger Blödsinn und die gefährdet
sich, nicht heruntergestiegen bin. Sie ist dann während der Sitzung aufge-
standen und gegangen. Wieso ist das so eskaliert? Ich habe ihre spontane
Heilung, ihr Konstrukt als totalen Schwachsinn erachtet. Und ich habe
mich mit ihr auf einen Machtkonflikt eingelassen und habe mich total in-
haltlich positioniert. Ich habe es gar nicht mehr therapeutisch zum Thema
gemacht, was könnte das heißen oder was könnte das für eine Ressource
sein, sondern ich bin auf meinem Verteidigungstrip geblieben. Auch ich
bin missionarisch geworden, weil ich sie von meiner Ansicht überzeugen
wollte. So gesehen war es eine richtige Übertragung. Es war ein wirklicher
Machtkampf und die Frau hat das einzig Gescheite gemacht: Sie ist aufge-
standen und gegangen und hat dann noch gesagt, dass sie für mich beten
wird, weil sie das Gefühl hat, ich sei eines der verlorenen Schafe, und sie
wird für mich beten. Ich habe das alles nicht mehr hören können und habe
gedacht: ‚Ich kann das nicht aushalten.‘ Zwei Tage später fand ich einen
Geschenksack vor meiner Tür. In diesem Sack war ein halbes Kilo Literatur
über die Kirche und über Gott und über die Idee, dass Gott heilt. Sie hatte
einen Psalm aufgeschrieben und eine Karte, dass sie für meine arme Seele
beten wird und dass nicht sie krank sei, sondern ich. Ich aber habe den Feh-
ler gemacht, weil ich mich auf einen Machtkampf eingelassen habe. Mein
Fehler war, dass ich das nicht therapeutisch genutzt habe, weil es mich so
wütend gemacht hat. Das hat wahrscheinlich was mit meiner Ideologie zu
tun. Die Gottbesessenheit, die ich auch aus meiner Familie kenne, ist eine
Seite und auf der anderen Seite die Abwertung der Therapeuten und ihrer
Arbeit war meine Kränkung. Ich war in der Eitelkeit getroffen, und ich habe
sie als Projektionsfläche benutzt, um die Themen, die in meiner Familie
nicht zum Thema gemacht werden, zu erörtern. Diese Patientin habe ich
echt vertrieben.“ 31
31 Kollegin I, S. 43
126 6. Fallgeschichten
Die Entstehung dieser Art Fehler ist gut nachvollziehbar. Es bedarf eini-
ges an Erfahrung, um bei gleicher oder ähnlicher Ausgangsposition oder
Diagnose nicht an schon selbst erprobten Lösungswegen hängen zu blei-
ben. Wie wir in der Geschichte „Einzigartigkeit der Patientin“ sehen, war
es das „Nichtweiterkommen“, das die Therapeutin verstehen hat lassen. Die
Kollegin hatte aus eigener Erfahrung eine klare und bewährte Vorstellung
vom Überwinden einer chronischen Krankheit. Die Problematik besteht
hier nicht darin, dass die Kollegin ursprünglich annahm, dass die Heilung
ähnlich wie in der Medizin einem klaren Phasenverlauf folgt. Der zunächst
eingeschlagene Weg war von der eigenen Erfahrung dominiert und hat
sich nicht aus der therapeutischen Arbeit selbst entwickelt. Die eigene Ge-
schichte hätte hier fast die Therapie behindert. Die Kollegin hat ihren Fehler
erkannt und, wie sie sagt, auch Nutzen daraus ziehen können. Die Therapie,
die eben noch zu stocken schien, wurde zu einem „schönen Lernfeld“ für
die Therapeutin.
In ganz anderer Art schlägt in der Fallschilderung „Blinde Flecken“ die
eigene Geschichte durch. Ein Teil der eigenen Familiengeschichte taucht
ausgelöst durch eine Patientin auf. Die Therapeutin verrät uns, dass nicht
nur diese Themen in ihrer Familie nicht besprochen werden, sondern auch,
dass im Zusammenhang mit diesen Themen eine innerfamiliäre Abwer-
tung der Kollegin und ihres Berufsstandes einhergeht. Derartige Fehler sind
schwer zu vermeiden, und es ist das Wesen von blinden Flecken, dass sie sich
unserer Aufmerksamkeit und mitunter auch unserer gründlichen Selbst-
erfahrung entziehen. Die Vermischung eines aus der eigenen Familienge-
schichte bekannten Themas mit der Abwertung des Berufsstandes („… es
gibt nur einen, der Depressionen heilen kann. Und das ist nicht der Psycho-
therapeut, sondern das ist Gott.“) hat die Kollegin an ihre Grenzen gebracht.
Überraschend ist hier der Umstand, dass schon in der dritten Stunde so eine
Eskalation geschehen konnte. Hat die Patientin zufällig zeitgleich mit dem
Beginn ihrer Psychotherapie eine religiöse Heilungserfahrung gemacht?
In der ersten Geschichte ist der Fehler kontinuierlich während der Arbeit
entstanden und in der Reflexion entdeckt worden. Hier war es auch mög-
lich, den Kurs zu korrigieren und so den Fehler wieder auszugleichen. In der
Geschichte „Blinder Fleck“ war das Fehlergeschehen unmittelbar, und es
gab keine Zeit für sorgfältige Reflexion. Insofern gab es auch keine Möglich-
keit, den Fehler wieder auszugleichen, und die therapeutische Arbeit fand
ein abruptes Ende.
Von ganz anderem Charakter ist die folgende Geschichte „Männer ma-
chen Probleme“. Es bleibt offen, ob die hier geschilderten Begebenheiten auf
die Therapeutin zurückzuführen sind, oder ob hier eine geschlechtsspezifi-
sche Situation beschrieben wird, die häufiger anzutreffen ist. Die Therapeu-
tin selbst versucht diese Situation zu bewältigen, indem sie sie als allgemeine
6.7 Eigene Geschichte 127
„Einmal ist mir etwas in der Gruppe passiert. Männer sind anders als
Frauen und tendieren dazu, Cotherapeuten zu werden. Die passen dann
auf die Zeitstruktur auf, und das erlebe ich sehr mühsam, aber schon ver-
traut. Das ist so ein typisches männliches Muster, und da habe ich immer
viel zu tun, dass die sich dann auch tatsächlich auf den Prozess einlassen.
Da haben wir eine Feedbackrunde gemacht, und ich achte da immer dar-
auf, dass die Leute über sich sprechen und erzählen, was bei ihnen so los ist.
Und einer war dabei, der es ganz schwer hatte, etwas von sich zu erzählen,
ein Sozialarbeiter, der immer ganz stark auf der cotherapeutischen Meta-
ebene blieb. Da bin ich meinen männlichen Kollegen richtig neidisch, wie
leicht die es haben und wie schnell die Anerkennung bekommen und wie
viel ich da arbeiten muss, um meine Stellung zu bewahren, aber egal. An
diesem einen Tag hat die Vorrednerin etwas gesagt, irgendetwas mit Schule
oder so, und er hat dann gefragt: ‚Was meinst du mit Schule, ich hab das
nicht richtig verstanden?‘, und da habe ich das dann sofort abgedreht und
gesagt: ‚Die Fragen stelle hier ich!‘ Da war er zutiefst beleidigt, da habe ich
gemerkt, wie sein Mund gezittert hat, und der war dann sehr böse, und ich
bin da dann auch nicht herangekommen. Das war so eine Kränkung seiner
Person, seiner Männlichkeit und seiner Cotherapeutenschaft.
Das passiert mir aber nicht oft. Und dass hat mit mir zu tun, da ich das so
schwierig erlebe, mich als Frau in der Gruppe zu behaupten. Mein Kollege
hat das alles nicht. Der hat keine Konkurrenz mit den anderen Frauen,
der wird immer geliebt, und er hatte zwar schon mal auch Probleme mit
Männern, aber lang nicht so wie ich. Zwei- bis dreimal sind ihn Teilnehmer
ziemlich angegangen und haben ihn entwertet. Jeder Mann bei mir in der
Gruppe wird zunächst einmal mein Co. Damit ich damit umgehen kann,
muss ich sehr bei mir sein, und das gelingt nicht immer. Ich muss mir dann
sagen, das hat mit mir nix zu tun, aber das geht manchmal besser, manch-
mal nicht.“ 32
32 Kollegin E, S. 19 f.
128 6. Fallgeschichten
zung findet hier mehrfach Ausdruck. Die Kollegin muss nicht nur in dieser
Gruppe um ihre Stellung kämpfen, sondern denkt auch, dass es für sie im
Vergleich zu männlichen Kollegen schwieriger sei, Anerkennung zu bekom-
men. Der weibliche Kampf um berufliche Anerkennung ist in unseren ge-
sellschaftlichen Verhältnissen leider immer noch eine Realität, obwohl die
Kollegin einräumt: „Ich muss mir dann sagen, das hat mit mir nix zu tun,
aber das geht manchmal besser, manchmal nicht.“ Es ist nach dieser Äuße-
rung eben auch durchaus denkbar, dass die Kollegin die Auseinanderset-
zung mit dem anderen Geschlecht als eigenes Thema betrachtet. Der Fehler
wäre dann das Produkt eines eigenen Konfliktes, der schon „vertraut“ ist,
aber noch nicht gelöst.
33 Berufskodex 2002, S. 5
34 Kollegin H, S. 37
6.8 Das strenge Setting 129
„Ich hatte eine depressive Patientin, und ich habe mich mit ihr in einem
Park neben der Praxis auf eine Bank gesetzt und die Luft und den Wind
gespürt. Sie hat eigentlich überhaupt keine Bewegung mehr gemacht. Plötz-
lich ist sie wieder in die Wahrnehmung gekommen. Sie war jahrelang su-
izidal und gar nicht mehr erreichbar. Das war ganz wichtig, sie ist wieder
in die Wahrnehmung gekommen und hat sich wieder langsam spüren kön-
nen. Die Verhaltenstherapie macht das dauernd, warum darf ich das nicht
machen? Aber es ist eine sehr gefährliche Geschichte, wenn man das Setting
verlässt. Ich habe da mit dem Setting gespielt.“ 35
In dieser Geschichte ist nur schwerlich ein Fehler zu erkennen. Erwähnt hat
die Kollegin diesen Fall aber aufgrund des Risikos, welches sie eingegangen
ist. Es hätte ein Fehler sein können, mit der Patientin in den Park zu gehen.
Hier hat das Verlassen der Praxis und somit das Verlassen des konventionel-
len Settings eine Veränderung in der Wahrnehmung der Patientin bewirkt.
Hätte sich die Kollegin streng an die Regeln gehalten, wäre der günstige Ver-
lauf in dieser Art nicht zustande gekommen.
6.8.2 Streng I
„Ein Fehler in der Therapie ist mir eingefallen. Ich bin sehr streng von mei-
ner Ausbildungsrichtung her bei dem Thema, Freundinnen in Therapie
zu nehmen. Eine Patientin hat mir ihre Freundin geschickt, und es war
mir nicht gleich klar, dass das Freundinnen sind, sie hatten den gleichen
Arbeitsplatz. Ich war sehr unsicher, habe mir gedacht, wie wird das wer-
den. Ich habe dann beim Einstieg mit der Freundin gesagt, dass das sehr
schwierig werden kann, und habe diese Freundin dann ziemlich überfor-
dert. Mein Zuviel, meine Angst vor diesen Freundinnen hat bewirkt, dass
diese Freundin dann sehr bald weggeblieben ist, ich glaube ich habe sie
überfordert. Meine Überstrenge hat dafür gesorgt, sogar verhindert, dass
ich diese Patientin nehme. Mein Supervisor hat dann gesagt, ich sei da
überstreng.“ 36
35 Kollegin H, S. 37
36 Kollegin M, S. 59
130 6. Fallgeschichten
chend schnell zum Therapieabbruch führen. Hingegen hat ein Fehler bei
einer schon tragfähigen therapeutischen Beziehung mehr Chancen auf Wie-
dergutmachung. Die Therapeutin hat hier versucht, ihre Unsicherheit durch
Regelstrenge zu kompensieren. Sie hat dadurch vermutlich ihre Authenti-
zität verloren und stand der Entstehung einer therapeutischen Beziehung
selbst im Weg. Es ist naheliegend, dass neben der Unsicherheit aufgrund der
Verstrickungen auch die „Angst vor den Freundinnen“ einen großen Anteil
am Geschehen trägt. Wenn zwei Freundinnen die gleiche Therapeutin ha-
ben, dann ist anzunehmen, dass sie sich auch über diese austauschen. Dass
diese Fantasie eine vorhandene Unsicherheit verstärkt, ist klar.
Der Beginn einer Therapie ist ähnlich wie die Beendigung besonders sen-
sibel. Natürlich lässt sich ein Fehler bei einer tragfähigen, gelungenen the-
rapeutischen Beziehung leichter verarbeiten, aber wie das folgende Beispiel
zeigt, ist auch eine fortgeschrittene Therapie nicht gegen Settingprobleme
immun. Auch hier ist es die Regelstrenge, die den entsprechenden Verlauf
dann bestimmt. Der Therapeut selbst zweifelt ob es sich überhaupt um ei-
nen Fehler gehandelt hat. Er bezeichnet diese Geschichte als Grenzfall. Der
Umstand aber, dass er dennoch von diesem Fall berichtete zeigt seine Unsi-
cherheit: Fehler oder korrekte Technik?
6.8.3 Streng II
aber in diesem Fall war die Einhaltung des Settings wichtiger, und irgend-
wie ist das doch ein Grenzfall. Ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass
das ein Fehler war.“ 37
6.8.4 Tempo
„Es handelte sich um einen Patienten, der schwer krank war und unter
einem Karzinom litt. Er war eigentlich auf der Suche nach einer existen-
ziell orientierten Therapierichtung. Wir hatten erst 2 – 3 Stunden, die ganz
37 Kollege C, S. 10
38 Bösch 2007
39 Bösch 2007, S. 45
132 6. Fallgeschichten
gut liefen, in denen wir sein Umfeld besprachen und so. Am Ende der, ich
glaube, 3. Stunde sagte er dann so nebenbei, dass er zusätzlich einen Termin
in Deutschland, bei einem existenziell orientierten Kollegen ausgemacht
hätte und er sich dort weitere Unterstützung holen würde. Meine erste Re-
aktion war. ‚Das ist nicht ok!‘ Ich habe das gleich als Agieren wahrgenom-
men. Mit einem weiteren Therapeuten kommen da Variablen herein, die
nur schwer nachzuvollziehen und zu erklären sind. Es hat mich einfach
genervt, dass er noch jemanden anderen aufsuchen will und ja, es hat mich
einfach auch gekränkt. Er kam dann nach seiner Sitzung in Deutschland
und ich habe das gleich zum Thema gemacht und ihn damit konfrontiert.
Meine Einwände halte ich doch für berechtigt und gerechtfertigt, weil meh-
rere Therapeuten zu haben nicht passt. Er aber hat bei mir abgebrochen,
weil er dachte wohl, dass jetzt, wo es ihm so schlecht geht, hätte er das Recht
gehabt sich jede Hilfe zu holen, die er kriegen kann. Er dachte, er hätte das
Recht zu tun, was er will. Ich habe daraus gelernt, geduldiger zu sein. Ich
hätte mich bemühen können, seine Settingerweiterung zu verstehen und
sie zu integrieren. Natürlich macht das was mit der therapeutischen Be-
ziehung, wenn er noch einen Kollegen zuzieht, aber ich hätte ihm einfach
etwas mehr Zeit geben können, das zu erarbeiten. Mein Fehler war nicht
meine Intervention oder Konfrontation, sondern mein Tempo. Ich war zor-
nig und dadurch ungeduldig.“ 40
In der Fallgeschichte „Tempo“ ist die Flexibilität im Umgang mit dem Set-
ting Thema. Der Therapeut lässt sich, durch seinen Zorn motiviert, auf
keine Veränderung des Settings ein. Nicht aus Überlegung und aus thera-
peutischen, kurativen Momenten heraus, sondern aufgrund von Kränkung
kommt es zu diesem Bestehen auf dem klassischen Setting. Die eigene Be-
troffenheit und Ungeduld verhindern das Eingehen und das therapeutische
Bearbeiten des Wunsches des Klienten, sie verhindern Empathie.
Die hier angeführten Fallgeschichten haben nicht Probleme mit dem Set-
ting selbst gemeinsam, sondern die Rigidität im Umgang mit dem Setting ist
hier Thema. Die erste Geschichte, jene von der Patientin, die durch den ge-
meinsamen Aufenthalt im Park wieder Gefühlsqualitäten entdecken kann,
hat gezeigt, welche Chancen eine flexible Handhabung des Settings birgt.
Die anderen Geschichten in diesem Abschnitt haben gezeigt, wie das Po-
chen auf der Einhaltung des Settings dazu verwendet werden kann, ein an-
deres Geschehen zu verschleiern oder zu verleugnen. In diesen Fällen kam
es zu keiner Fortsetzung der Therapie. Es ist von geringerer Bedeutung, ob
jetzt die Angst vor Freundinnen, Machtkämpfe oder das Verhindern eines
vielleicht schweren Abschiedes, wie in „Streng II“, Ursachen für den Rück-
40 Kollege O, S. 63
6.8 Das strenge Setting 133
griff auf die Regeln sind. Auch der Zorn und die Ungeduld in der Geschichte
„Tempo“ können Ursache für unmotivierte Strenge sein. Wesentlicher Punkt
ist jedoch, dass der Rückgriff auf Settingregeln jeweils stattfindet, um ande-
ren Elementen auszuweichen. Diese Fehler zeigen hier, dass das Setting zum
stellvertretenden Austragungsort werden kann. Offensichtlich ist ein Streit
rund um das Setting mitunter immer noch angenehmer als der eigentliche,
zugrunde liegende Konflikt.
Der Fähigkeit, das Setting flexibel zu handhaben, steht die Notwendigkeit
der festen Settingregeln gegenüber. Die folgenden Fallschilderungen han-
deln von Unklarheiten im Umgang mit den Therapierahmenbedingungen.
Diese Unklarheiten haben ihre Konsequenzen.
6.8.5 Zigarette
„Da hatte ich eine Therapie zweimal die Woche, also analytisches Setting.
Ich hab den Fehler gemacht, dass ich die Patientin das Setting definieren
habe lassen. Ich habe ihr gestattet, während der Sitzungen zu rauchen. Das
hat sich nachträglich als nicht förderlich erwiesen. Sobald irgendeine Art
von Spannung aufgetreten ist, sobald ein Prozess ins Laufen gekommen
ist, war der Moment, wo sie sich eine Zigarette angezündet hat, abgesehen
davon, dass in meinem Praxisraum eigentlich nicht geraucht wird. Es war
eine Nebensprache neben unserer Sprache, die wir nicht mehr ansprechen
konnten. Ich habe sie nicht mehr vom Rauchen weggebracht. Das Rauchen
war ein Symbol für meine fehlende Klarheit, dabei hätte es doch ein Sym-
bol der Toleranz sein sollen. Es hat sich in der Therapie nichts verändert,
sie hat nur gejammert, und die Zigaretten waren ein Teil ihres Programms,
sich nicht zu verändern. Ich habe dann mit der Therapie aufgehört und sie
war mir schon böse. Ich war während der Therapie zu wenig präzise.“ 41
41 Kollegin B, S. 5
134 6. Fallgeschichten
„Judith ist eine sehr attraktive, essgestörte Patientin. Sie ist immer perfekt
gekleidet und stark geschminkt. Ihr selbstbewusstes und kontrolliertes Auf-
treten beeindruckt vermutlich alle, mit denen sie zu tun hat, natürlich auch
mich. Ich war damals eine noch ziemlich unerfahrene Therapeutin und be-
mühte mich, gemeinsam mit Judith ihre Bulimie in den Griff zu bekom-
men. Es gab gute therapeutische Phasen und auch gewisse instabile Episo-
den. Die Instabilität äußerte sich immer dadurch, dass Judith den Stunden
fernblieb und dabei aber immer zeitgerecht absagte. Judith ist eben eine
ganz brave Patientin. Einmal, während einer der instabilen Phasen, rief sie
in der Früh an, um die Stunde am gleichen Tag abzusagen. Sie gab Bauch-
schmerzen an, und ich muss gestehen, ich glaubte ihr nicht. Ich war sogar
ärgerlich, dass neuerlich eine Stunde ausfiel. Noch am Telefon wies ich sie
darauf hin, dass die Stunde zu bezahlen sei und merkte gleich, dass Judith
offensichtlich unsere Absageregelung nicht kannte. Nach dem Gespräch
wurde ich etwas unsicher, was sich dann in der nächsten Stunde verstärkte.
Sie kam zur nächsten Stunde und begann die Stunde gleich mit eben die-
sem Thema. Meine Vermutung stimmte: Sie war sauer. Schon beim Rein-
gehen merkte ich eigentlich, dass etwas in der Luft lag. Ich versuchte ihr die
Regelung mit dem Hinweis ‚Wir haben das doch besprochen‘ zu erläutern,
was sie nicht gelten ließ. Die sonst so höflich- kontrollierte Patientin war so
ärgerlich, dass ich ihr Geld abverlangte, obwohl sie solche Schmerzen hatte.
Es sei ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert, dass jemand sie so
behandelte, obwohl gerade ich mich ja so auf sie verlassen könne. Ihr Ent-
setzen war so massiv, dass sogar ihre Schönheit zu einer verzerrten Maske
wurde und eine völlig neue Seite dieser Frau hervortrat. Ich war natürlich
total erschrocken und meine Unsicherheit steigerte sich in die Gewissheit,
dass ich die Absageregelung nicht deutlich – oder vielleicht gar nicht – ge-
äußert hatte. Mittlerweile glaube ich zu wissen, dass ich die Regelung sehr
wohl formuliert habe, nur nicht klar genug. Das war sicher mein Fehler,
nämlich einmal nicht klar genug die Regelung geäußert zu haben, und zum
anderen nicht zu wissen, ob ich überhaupt etwas gesagt habe. Ich habe
mich völlig verunsichern lassen. Vermutlich, weil ich mich noch für uner-
fahren gehalten habe. Ich denke, ich habe durch meine eigene Unsicherheit
schon am Telefon und dann zu Beginn der Sitzung die Eskalation sicher
gefördert, was einerseits ein Fehler war, anderseits aber hat gerade das erst
6.9 Settingveränderung 135
In dieser Geschichte ist eine Unsicherheit als Ursache für die Entstehung
des Fehlers anzusehen. Die Kollegin weiß nicht sicher, welche Absagerege-
lung getroffen wurde oder ob überhaupt eine besprochen wurde, obwohl
die Therapie schon vor Monaten begonnen hatte und die Therapiestunde
schon mehrmals ausgefallen war. Es lässt sich in der Erzählung auch ein
Unbehagen mit den häufigen Absagen erkennen. Die Absageregelung und
die diesbezüglichen Unsicherheiten waren vielleicht nur der Austragungs-
ort eines länger schwelenden Unbehagens. Das Bestehen auf der Bezahlung
könnte der Versuch sein, gleichsam ein Machtwort zu sprechen. Die Pati-
entin hatte zuvor immer rechtzeitig abgesagt und ist so allen „Sanktionen“
zuvorgekommen. Dennoch wird hier durch den Fehler eine neue Ebene der
therapeutischen Arbeit eröffnet. Die Unklarheit ermöglichte die Eskalation,
und diese wiederum ergab neue Einblicke. Es konnte gelingen, die sichtbar
gewordene Aggression zu bearbeiten und für den therapeutischen Prozess
zu nutzen. Offen bleibt, ob das Unbehagen der Therapeutin schon vorher
als verdrängte Aggression der Patientin erkennbar gewesen wäre. Erkannt
wurde diese vielleicht „nur“ verlagerte Aggression oder tiefenpsychologisch
bezeichnet, der Widerstand erst durch die Setting-Problematik und den da-
durch entstandenen Fehler.
6.9 Settingveränderung
42 Kollegin N, S. 61
136 6. Fallgeschichten
„Dieser Fall war sehr lehrreich für mich. Es handelte sich um eine Klientin,
die schon lange bei mir war. Sie hat sich, glaube ich, sehr wohl gefühlt. Ge-
gen Ende der Behandlung wurden aber ihre Partnerschaftsprobleme drän-
gender, und sie entwickelte den Wunsch, den Partner auch einmal in die
Therapie zu bringen, um vielleicht hier mit ihm einiges zu besprechen. Ihr
Wunsch war verständlich, da sie oft davon erzählte, wie verschlossen er sei
und ‚dass er nix hergibt‘. Ich war ziemlich zaudernd und dachte mir, wer
weiß, ob das gut geht und ob das g’scheit ist, das Setting zu verändern. Sie
hat aber so insistiert, dass ich letztlich zugestimmt habe. Es kam, wie es
kommen musste, es ging nicht gut. Ich habe während der Sitzung versucht
wie ein Dolmetscher zu agieren und das, was er sagte, ihr zu übersetzen
und umgekehrt. Ich habe versucht die Inhalte von A B näherzubringen und
die Inhalte von B A zu erklären. Das hat dann dazu geführt, dass sie zu-
nehmend unruhiger und unzufriedener wurde, weil es vermutlich nicht so
lief, wie sie sich das gewünscht hätte. Sie hätte sich erwartet, dass ich ihre
Sichtweise weiter vertrete, so wie sie das auch im Einzelsetting empfunden
hat. Meine neutrale Position aber hat sie erstaunt. Ich habe das Paarsetting
dann nicht weitergeführt, aber das war eben mein Lerneffekt. Durch die
Settingerweiterung hat sich meine Rolle verändert, und das war ursprüng-
lich nicht geplant und damit hat sie, und eigentlich auch ich, nicht gerech-
net. Die Einzeltherapie war ja schon an ihrem Ende aber ich denke, diese
Sequenz hat das Ende vielleicht beschleunigt. Der Wunsch der Patientin
mit den Worten ‚Es wäre so wertvoll, wenn …‘ und mein Impuls, sie hier
nicht zu enttäuschen, haben mich in diese Situation gebracht und in diese
eigentlich unbewältigbare Spannung, die dann letztlich mehr Frustration
für alle bedeutete.“ 43
In der Erzählung „Ich erfülle ihren Wunsch“ kommt der Therapeut in ein
Dilemma. Einerseits will er die gute Beziehung zu der Klientin nicht ge-
fährden und sie auch nicht enttäuschen, anderseits zögert er. Die getrof-
fene Entscheidung stellte sich letztlich als falsch heraus und verweist auf
einen bemerkenswerten Aspekt. Verändert man das Setting, verändert man
gleichzeitig auch die Rolle des Therapeuten. Auch wenn der Therapeut darin
zunächst keine Problematik sieht und nur mit dem Entschluss etwas zögert,
merkt er anhand der Reaktion der Klientin dann unmittelbar, dass etwas
schiefläuft. Um der Patientin einen Gefallen zu tun, hat er nicht auf sein
Zögern geachtet. Er hätte sein Zögern anders verwerten können und in die
therapeutische Arbeit einfließen lassen können. Aufgrund der fast schon
43 Kollege O, S. 63
6.9 Settingveränderung 137
6.9.2 Schweigepflicht
„Diese Geschichte ist schon viele Jahre her. Ein Klient, der bei mir in der
Einzeltherapie war, hatte ein großes Problem in der Partnerschaft gehabt.
Ich habe mich darauf eingelassen, eine Paarsitzung zu machen. Es ist sehr
emotional gewesen und gut gelaufen, und es ist zu einer Stelle gekommen,
wo diese Frau eine ganze konkrete Frage gestellt hat, und ich habe eine
Antwort gegeben, die aber eigentlich ein Therapiegeheimnis war. Drei Wo-
chen später habe ich mit dem Klienten einen Termin gehabt, und er hat mir
gesagt, dass die Beziehung auseinandergegangen ist. Er hat gesagt, es ist eh
gut, aber er möchte mir noch etwas sagen. Er fühlt sich bei mir sehr wohl,
aber in dieser Paarsitzung, da hat es etwas gegeben, was ihm überhaupt
nicht gepasst hat. Er hat das als Grenzüberschreitung erlebt. Ich habe etwas
gesagt, was er mir im Vertrauen gesagt hat. In diesem Moment ist es bei
mir zack, zack gedämmert und es stimmte. Ich habe etwas ausgeplaudert,
was eigentlich im Vertrauen gesagt worden ist. Ich habe ihn dann gefragt,
ob er denkt, dass das einen Beitrag dazu geleistet hätte, dass die Beziehung
auseinandergegangen sei. Er hat gesagt, das glaubt er schon. Ich fürchte,
ich habe da tatsächlich einen Beitrag geleistet. Er hätte in dieser Aufrich-
tigkeit das seiner Frau so nie gesagt. Er hätte ihr nie gesagt, dass sie ihm
eigentlich zu klein ist. Ich habe mich dann bei diesem Klienten entschuldigt
und ihm gesagt, es ist wirklich ein Fehler, und es tut mir ganz leid, und
das weist mich darauf hin, dass ich viel achtsamer sein muss, wenn man
ein therapeutisches Setting in ein Paarsetting verwandelt. Man muss mit
den Inhalten sehr aufpassen. Er hat mich aufmerksam gemacht, dass man
da vorsichtiger sein muss, und das hat ihn sehr gefreut, dass ich mich da
nicht rausgeredet habe, sondern dass ich zu diesem Fehler stehen konnte.
Ich habe ihm gezeigt, es tut mir wirklich leid, das war ein Fehler. Ich kann
mich nur dafür entschuldigen – was immer sonst geschehen wäre mit der
Beziehung. Faktum ist, das hat einen Beitrag für die Beziehung geleistet in
einer Form, wie er es nicht gemacht hätte und wie er das eigentlich auch
nicht haben wollte.
138 6. Fallgeschichten
Was bei mir abgelaufen ist, glaube ich, ist, dass ich mich ein Stück mit
dieser Frau identifiziert habe. Die Frau hat gespürt, da gibt es ein Thema
in der Beziehung, und das hat sie angesprochen. Es hat irgendetwas damit
zu tun, dass sie sich immer ein Stück von ihm abgelehnt fühlt. Und das hat
immer etwas mit ihrem Äußeren zu tun. Und ich habe ihr mitgeteilt, sie
darf sich auf die Gefühle verlassen, da ist etwas dran. Eigentlich bin ich
ungeduldig geworden, weil er das nicht zum Thema gemacht hat. Und in
diesem Moment habe ich parteiisch gehandelt und habe mir gedacht auf
die Frau bezogen: ‚Du spürst es richtig, und ich sag’s jetzt.‘ Das war natür-
lich nicht o. k., das war erstens mein Tempo und zweitens meine Idee. Das
muss klar ausgesprochen sein. Es war nicht deren Idee. Das war gar nicht
so ein harmloser Fehler. Das hat das Vertrauen zum Klienten erschüttert,
ich konnte es zwar wieder bereinigen, aber es hat das Beziehungsende be-
schleunigt. Ich bin mir sicher im Nachhinein, dass diese Beziehung unter
diesen Umständen auf lange Sicht auch keine Chance gehabt hätte, aber
das Ende und dass es so gekommen ist, habe sicher ich ein Stück beeinflusst
und beschleunigt. Das Schöne daran ist, dass er mit meinem Eingeständ-
nis, dass es falsch war, zu mir wieder das totale Vertrauen gefunden hat.
Für ihn zu Hause war Fehlermachen ganz etwas Schlimmes, und es war
für ihn schön zu sehen, wie ich mit diesem Fehler umgehe: Dass ich es nicht
schönrede, dass ich mich nicht rechtfertige, sondern dass ich dazu stehen
kann.“ 44
44 Kollegin I, S. 42
6.10 Empathie 139
6.10 Empathie
Schon in der Geschichte „Tempo“, in der ein Patient einen zusätzlichen The-
rapeuten hinzuziehen will und der behandelnde Therapeut das nicht zu-
lassen kann, ist davon die Rede gewesen, dass die eigene Betroffenheit und
Ungeduld des Kollegen das Eingehen und das therapeutische Bearbeiten
des Wunsches des Klienten verhindert. Die Betroffenheit verhindert Empa-
thie. In der folgenden Geschichte ist es die besonders vielschichtige, eigene
Betroffenheit des Therapeuten, die den Blick auf die Patientin verstellt und
Empathie verhindert. Ohne Empathie entstehen Fehler.
„Es war eine sympathische, etwas mollige und attraktive Frau, die schon
sicher seit über zwei Jahren bei mir in Behandlung war. Sie war in irgendei-
ner Bank angestellt, aber sehr sozial engagiert und so ein freundlich offener
Typ Frau. Sie hatte recht mühsame und turbulente Scheidungsjahre hinter
sich und war immer wieder auf der Suche nach einem neuen Partner. Sie
bemühte sich total, einen Mann zu finden, doch der richtige Typ stellte sich
nicht ein. Ihre Suche war immer wieder von depressiven Elementen beglei-
tet und von dem Grundgefühl, sich eigentlich nicht öffnen zu können und
von der Männerwelt nicht akzeptiert zu sein. In dieser chronischen Unzu-
friedenheit wuchs nicht nur ihre Resignation, sondern sie nahm auch stetig
an Gewicht zu. Sie wurde von Monat zu Monat dicker. Natürlich hat sie
gewusst, dass das ihre Chancen und ihr Selbstvertrauen weiter verschlech-
tert, sie fand jedoch überhaupt nicht die Kraft, um abzunehmen oder ihr
Essverhalten irgendwie zu verändern. Sport war sowieso nicht drinnen.
Einmal eröffnet sie die Stunde mit dem Ersuchen nach Verständnis, dass
Sie eben zurzeit keine Kraft für Fitness, Diät oder andere Schlankheits-
maßnahmen hätte. Sie könne nicht mehr und fragte mich geradezu nach
meinem Verständnis. Ich war schon sehr genervt von dem
‚Das kann ich nicht‘ oder dem ‚Das schaffe ich nicht‘ und hörte mich sagen:
‚Nein, es ist so leicht, Sie müssen nur mit kleinen Schritten beginnen, – et-
was Sport, etwas bewusste Ernährung, und alles wird gut. Sie müssen es
nur wollen und nicht aufgeben.‘ In ihrem Gesicht sah ich schon, dass das
das Verkehrte war. Sie wirkte echt bedrückt, und ich habe gewusst, jetzt
ist sie sauer. Sie kam noch einmal in der Woche darauf, um sich zu verab-
schieden und beendete die Therapie. Ich könnte mir immer noch auf die
Zunge beißen, aber mittlerweile weiß ich oder ich glaube zu wissen, was
passiert ist.
140 6. Fallgeschichten
Wie ein Sanitäter habe ich versucht, die Patientin vor der Resignation zu
retten, jedoch habe ich mir nie die Frage gestellt, wessen Resignation. Ob
nicht ich mich vor meiner eigenen Resignation zu retten versucht habe. Ich
habe es nicht ausgehalten, versagt zu haben, und habe mein Ziel, meine
klaren Vorstellung des Wohles der Patientin vor ihre Wünsche gesetzt. Ich
habe es offensichtlich nicht ausgehalten, dass die Patientin meinen Moti-
vierungsversuchen gegenüber immun ist. Ich war selber in der Zeit sehr
motiviert beim Abnehmen und begeistert, dass das bei mir funktioniert
hat. Natürlich kann ich sagen, dass das mich auch gekränkt hat, nein nicht
gekränkt, das ist vielleicht zu viel, aber doch hat sie den therapeutischen
Stolz angekratzt. Ich hätte das rechtzeitig erkennen sollen und natürlich
auch in der Therapie oder in der Supervision thematisieren sollen. Da habe
ich einfach einen Fehler gemacht und vielleicht war mein gekränkter Stolz
als Therapeut, also letztlich meine Eitelkeit, hier der Kern des Problems.
Thema ist, dass ich die sogar klar formulierten Wünsche der Patientin
überhört habe. Sie hat sogar gesagt, was sie braucht, und ich wollte es nicht
hören, weil ich meine Misserfolgsverhinderung betrieben habe.“ 45
45 Kollege J, S. 46
6.10 Empathie 141
mit seiner Lebensgefährtin schon hier war, das weiß ich nicht. Mich hat das
sicher beeinflusst, dass es da eine andere Wirklichkeit auch gibt, die für sie
keine Wirklichkeit ist. Viele Menschen blenden alles Mögliche aus, was ich
nicht sehe, existiert nicht. Wieso hat sie nicht auch das Recht, so zu leben?
Ich habe etwas vorausgesetzt, was nicht vorauszusetzen war. Diese prakti-
schen Fehler ergeben sich sehr oft aus solchen Situationen. Wir glauben an
einen Konsens, aber die Bilder, was der Konsens ist, sind so weit voneinan-
der entfernt. Wenn sichtbar wird, dass die Bilder miteinander krachen wie
die San-Andreas-Falte in San Francisco und ein Erdbeben machen, dann
ist das das, was oft in der Psychotherapie passiert. Leider gibt es da sehr
wenig Unterstützung die sich um diese Gräben kümmert. Das artet meist
in Streit aus. Es ist sehr schade.“ 46
Auch wenn es gut nachvollziehbar ist, dass die Kollegin in der Scheidungs-
beratung das Thema Trennung erörtert, ist es doch wesentlich, zu Beginn
der Sitzung und im Besonderen zu Beginn einer neuen Konstellation die
Ziele und Bedürfnisse des Paares zu erfragen. Offensichtlich war das der
eigentliche Fehler. Das ist ein kleines, aber wesentliches Detail. Es ist aber
auch gut verständlich, dass aufgrund des zweiten Besuches des Mannes in
der Einrichtung die Kollegin zumindest über seine Absichten informiert
war und daher nicht neuerlich nachfragte. Das Voraussetzen eines Themas
oder einer Absicht kann zu erheblichen Komplikationen führen. Ähnlich
wie nicht alle Klienten einer Drogeneinrichtung Abstinenzorientierung ver-
folgen, so haben nicht alle Klienten einer Scheidungsberatung Scheidung im
Sinn. Der Fehler verweist hier auf fälschlich vorausgesetzte Grundannah-
men, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Alles Bemühen und auch der
Versuch zu maximaler Empathie seitens der Therapeuten ist keine Garantie
dafür, die Ebene der Patienten auch wirklich zu erreichen. Was hier auf-
grund einer ausgelassenen Pflichtfrage entstanden ist, begleitet die Psycho-
therapeuten bei ihrer täglichen Arbeit. Stimmen die Annahmen und Ziele
des Patienten mit denen des Therapeuten überein? Kann er den Blickwinkel
des Patienten nachvollziehen? Wie viel Information und wie viel Empathie
ist dabei notwendig, um den Patienten gut begleiten zu können? Der Patient
ist uns immer zumindest um sein Leid voraus. Dass diese Differenz, welche
die Kollegin mit der krachenden San-Andreas-Falte beschrieben hat, nur zu
leicht Fehler produzieren kann, haben die beiden vorigen Fallgeschichten
zeigen können. Noch deutlicher wird dieses Thema in der folgenden Fall-
schilderung.
46 Kollegin H, S. 34
6.10 Empathie 143
„Aus der Sicht des Klienten ist oft etwas ganz anderes ein Fehler. Da kam
ein Paar zu mir und über sieben Stunden lang, also fast zwei Monate lang,
hat er immer von Trennung gesprochen. Sie hat es aber nicht registriert,
erst in der siebenten Stunde ist bei ihr der Groschen gefallen, und sie hat re-
alisiert, er will sich trennen. Das hat sie einfach nicht gehört, ich selbst habe
es gehört, er hat es aus seiner Sicht gesagt. Sie hat es anders verstanden.
Plötzlich ist der Groschen gefallen. Ich habe in dieser Stunde dann eine
halbe Stunde lang nur mit ihr gesprochen. Wir haben darüber gesprochen
in der Art: ‚Sie sind zu zweit da, er will sich trennen, wie geht das, können
Sie zu zweit nach Hause gehen?‘, all diese Dinge. Nach zwei Wochen hat
sie mir einen bösen Brief geschrieben: ‚Sie haben doch gesehen, in welcher
schrecklichen Lage ich war, wie konnten Sie mich alleine gehen lassen?‘ Wir
hatten eine halbe Stunde Gespräch darüber gehabt, wie könnte man ihre
Selbstständigkeit aktivieren, mit der Krise umgehen et cetera. Sie hatte mir
etwas vorgeworfen, obwohl ich das Gefühl gehabt habe, besser könnte man
es nicht machen. Aber was hilft es, wenn sie das nicht so gesehen hat. Sie
hat das anders erlebt. Sie hat mit mir darüber geredet, aber das Herz hat
es nicht verstanden. Das war ein Fehler. Aus der Sicht der Klientin war das
ein Fehler. Klienten sehen oft etwas als Fehler, und wir laufen dann Gefahr,
das methodisch total abzustreiten oder zu argumentieren. Die Situation
hat sich dann aufgeweicht, es gab später noch einmal Kontakt. Vielleicht
hätte ich sie zur Straßenbahn begleiten sollen. Ich glaube, das hätte sie ge-
braucht. Ich geh ein Stück des Weges mit dir. Das war ein ganz schwieriger
Schritt für sie. In ihrer Situation war sie so verletzt und hat mir so viel ver-
traut – das habe ich eigentlich falsch eingeschätzt. Aber darüber zu reden,
das ist schwer. Sie ist in der Klientenrolle. Wir können das jetzt hier theore-
tisch erörtern, in einem professionellen Gespräch, aber da müssen wir uns
Unterstützung holen, um in die Klientenebene hineingehen zu können und
um sie zu verstehen.“ 47
Vielleicht einer der größten Fehler in der Psychotherapie ist die Überzeu-
gung, dass mit einer oder zwei Stunden pro Woche, mit Aufrichtigkeit,
Technik, mit Bemühen und sogar mit echter Zuneigung und Empathie jedes
Leiden verstehbar oder linderbar wäre. Diese Überzeugung hieße, den Res-
pekt vor der Vielgestalt und Kraft des Leidens zu verlieren. Die Vorstellung,
in dem Glauben zu arbeiten, Leiden zu lindern, aber eigentlich keine Ah-
nung von den Dimensionen des tatsächlichen Leidens der Patienten zu ha-
ben, ist beängstigend und macht bescheiden. Dennoch müssen wir, ähnlich
47 Kollegin H, S. 33
144 6. Fallgeschichten
wie es dieser Fall zeigt, immer wieder akzeptieren, dass andere Menschen
andere Eigengeschwindigkeiten, andere Wahrnehmungen haben, an denen
sie uns auch nur bedingt teilhaben lassen. Die Patientin hat sieben Stunden
gebraucht, bis sie überhaupt erst verstanden hat, worum es eigentlich ging.
Die Kollegin hat sicherlich ihr Bestes gegeben in der Unterstützung, jedoch
sind ihre Möglichkeiten schon allein durch den Zeitrahmen beschränkt. Im
Nachhinein sind Ratschläge einfach: Das Angebot eines Telefonkontaktes
am Abend oder eine zusätzliche Sitzung am nächsten Tag hätten der Pati-
entin sicherlich geholfen. Der eben geschilderte Fall macht die Diskrepanz
zwischen maximalem Bemühen und dennoch nicht hinreichender Unter-
stützung deutlich. Wir erinnern uns an das Zitat:
„Ein Therapeut kann den Prozess einer Therapie nicht vollständig überbli-
cken oder gar unter Kontrolle haben.“ 48
6.11 Unkonventionelles
Die folgenden Geschichten haben, wie schon der Titel sagt, unkonventio-
nelle Interventionen gemeinsam. Obgleich Therapeuten an klare Richtli-
nien gebunden sind, ergeben sich häufig spontane Interventionen, welche
vermutlich in keinem Lehrbuch zu finden sind. Diese Elemente bergen
Chancen, aber natürlich auch Risiken. Mitunter werden sie als Fehler wahr-
genommen, mitunter als kreative Idee. Das Verlassen des vorgegebenen
Rahmens ist eine Grauzone der therapeutischen Arbeit und es wäre sicher-
lich lohnend, die diesbezüglichen Angewohnheiten der Therapeuten weiter-
führend näher zu erforschen. Die folgende Geschichte ist vermutlich eine
der ältesten Fallgeschichten in dieser Sammlung und entstand in einer Zeit
anderen Konventionen. Aus heutiger Sicht, mit heutigen ethischen und le-
gislativen Rahmen, ergeben sich auch entsprechend andere Maßstäbe für
Konventionelles oder Unkonventionelles und für Interventionen außerhalb
dieses Begriffpaares. Kennzeichen der folgenden Geschichten ist aber die
weitgehende Spontaneität der Interventionen.
6.11.1 Hypnose
„Das ist ein klassisches Beispiel eines Fehlers, eines Kunstfehlers sogar.
Eine Patientin mit schwerer Migräne macht bei mir Hypnose. Die Hyp-
nose gelang gut und war von Beginn an tief. Schon beim ersten Mal hatte
sie bei der tiefen Hypnose einen Ansatz zu einer sexuellen Erregung und
dann bei jeder weiteren Sitzung hatte sie regelmäßig unter Hypnose sexu-
elle Erregungen. Ich habe sie ein bisschen hypnotisiert und schon begann
die sexuelle Erregung für mich deutlich merkbar. Sie wachte dann auf und
meinte jedes Mal: ‚Ich habe nicht geschlafen, ich kann mich an alles erin-
nern, was war.‘ Sie kam alle 14 Tage und ich war noch relativ jung, und es
ist mir am Wecker gegangen, dass sie jedes Mal gesagt hat, sie hat nicht
geschlafen, sie sei ganz wach gewesen und weiß alles, was war. Ich habe
dann einmal meine Frau reingeholt, die hat ihr die Bluse aufgemacht und
ihr mit Lippenstift drauf geschrieben. ‚Ich schlafe tief‘. Sie hat ihr die Bluse
wieder zugeknöpfelt und die Sitzung ist dann normal verlaufen. Das war
ein richtiger Fehler. Ich habe die Patientin nie wieder gesehen und von ih-
rer Bekannten habe ich dann erfahren, dass die Migräne an diesem Tag
wieder begonnen hat. Was da passiert, ist relativ klar. Die Patientin durfte
nicht zur Kenntnis nehmen, dass etwas gewesen ist, schon gar nicht eine
sexuelle Erregung. Die Abwehr war für sie einwandfrei, dass sie von nix
was weiß. Vorbewusst hat sie es vermutlich gewusst. Wie dann meine Frau
ihr das draufgeschrieben hat, konnte sie es nicht mehr leugnen. Das hätte
ich sicher nicht tun sollen, da gibt es keinen Zweifel. Es ließe sich darüber
schreiben, ob ich Sexualität in dieser Form während der Sitzung hätte zu-
lassen sollen, ob ich da gesetzlich nicht schon strafbar bin. Ich weiß nicht,
was da die Rechtssituation ist. Es ist nicht klar, ob ich diese Verdrängung
hätte auflösen müssen. Ob sie je soweit gekommen wäre, weiß ich nicht.
So streng orthodox analytisch bin ich nicht. Es hat mich einfach geärgert.
Meine Eitelkeit hat mich dazu getrieben. Sie hat meine Eitelkeit getroffen,
indem sie meine Hypnose nicht anerkannt hat.“ 49
Der Kollege bezichtigt sich der gekränkten Eitelkeit. Die Patientin hätte
seine Leistung als Therapeut und Hypnotiseur nicht nur nicht gesehen, sie
hat diese ja sogar geleugnet. Wie hart ist es für den Therapeuten, der gute
Arbeit leistet, wenn diese nicht gesehen wird? In diesem Beispiel reicht dem
Kollegen das Verschwinden des Symptoms Migräne nicht, um sich seiner
guten Arbeit gewiss zu sein. Selbstverständlich braucht jeder Therapeut An-
erkennung, das Lob der Patienten aber ist immer eine zweischneidige Sache.
Einerseits braucht jeder Mensch Lob und Anerkennung, andererseits ist es
49 Kollege L, S. 55
146 6. Fallgeschichten
sicher nicht die Aufgabe der Patienten, den Therapeuten durch Anerken-
nung zu stärken. In der Wahrnehmung des Kollegen lag der Fehler in seiner
Unerfahrenheit und in seinem Bedürfnis nach Wertschätzung: „… und ich
war noch relativ jung, und es ist mir am Wecker gegangen, dass sie jedes Mal
gesagt hat, sie hat nicht geschlafen.“ In diesem Beispiel hat sich der Thera-
peut seine Anerkennung erzwungen und, wie er selber feststellt, die Patien-
tin überfordert. Das brisante Detail dabei ist aber, dass der Therapeut für die
Hypnose Anerkennung wollte und vermutlich gleichzeitig auch für die se-
xuelle Erregung, die er der Patientin verschafft hat. Hier wird verständlich,
dass die Frustration des jungen Kollegen schwer auszuhalten war.
6.11.2 Fahrrad
„Ich weiß ein Beispiel eines Jugendlichen mit 14 Jahren, der schon seit drei
Jahren nicht in die Schule gegangen ist. Er hat eine große Sehnsucht, einmal
mit einem Rad auf der Donauinsel zu fahren, und ich habe mir gedacht,
er würde so vielleicht wieder langsam in den Leistungsmodus kommen,
und da habe ich ihm mein eigenes Rad geborgt. Er hat das, glaube ich, eine
halbe Stunde gehabt. So lernt man auch: Manches passt, manches ist total
daneben. Das mit dem Rad war total daneben. Er hat das Rad verkauft. Er
war in einem anderen Setting als ich. So lernt man.“ 50
6.11.3 Provokation
„Eine Klientin, die ist lange bei mir gewesen, und ich habe gemerkt, sie
kommt nicht weiter. Hinter ihrer Verbocktheit und hinter ihrem Trotz hielt
sie so viel Ärger, Entwertung und Wut zurück und da habe ich sie dann
einmal provoziert und bin richtig auf das hingegangen, und das hat sie so
beleidigt, und ich hatte aber gedacht, dass sie das schon aushält, dass sich
50 Kollegin H, S. 37
6.11 Unkonventionelles 147
das schon ausgeht, sie war schon lange, sicher zwei Jahre, bei mir. So viel
Boden müssten wir schon haben. Das war von ihr aus nicht notwendig,
das war meine Ungeduld. Ich habe mir gedacht: Nein, nicht schon wieder,
und immer ihre Ladung, die im direkten Kontakt nie rauskam. Wo ich mir
heute denke, das ist ja ihre Sache, hätte ich sie lassen, wann sie sich etwas
anschauen will, ich muss sie da ja nicht puschen. Diese Patientin hat dann
abgebrochen und war sauer auf mich, das habe ich dann auch von ande-
rer Seite erfahren und habe auch erfahren, dass das der Grund war. Ich
konnte das zwar dann noch mit ihr kurz besprechen, aber wenn jemand so
eine Struktur hat und ganz gekränkt und beleidigt ist, dann geht da nichts
mehr. Außerdem, da gab es natürlich noch ein altes Muster, eine Mutter
im Hintergrund, die auch fordernd war und immer etwas anders wollte
als sie selber. Das wusste ich natürlich zu diesem Zeitpunkt. Ich hatte auch
das Gefühl, ihr viel Zeit für das gegeben zu haben, aber da hat es mich mit
der Gegenübertragung erwischt. Heute denke ich mir, warum habe ich sie
nicht lassen.“ 51
Mit Provokationen zu arbeiten ist ein schmaler Grad. Wie das Beispiel zeigt,
kann eine Provokation leicht als beleidigend wahrgenommen werden. Die
Kollegin hat sich verschätzt, indem sie die Tragfähigkeit der therapeutischen
Beziehung überschätzt hat. Der Versuch, das Nicht-weiter-Kommen durch
eine Provokation zum Zerbrechen zu bringen, hat – anstatt neuen therapeu-
tischen Boden zu gewinnen – eher ein altes Muttermuster wiederholt. Die
Kollegin meint: „… da hat es mich mit der Gegenübertragung erwischt“ und
vermittelt so, in eine Falle getappt zu sein und die Mutterrolle übernommen
zu haben. Dass nach zwei Jahren Therapie dieser Fehler nicht gutzumachen
war, vermittelt ein Bild von der Starre der Problematik. Es wirkt fast so, als
hätte die Patientin unbewusst nur darauf gewartet, die Therapeutin in die
Mutterrolle zu drängen, um sie dann verlassen zu können. Diese Überle-
gung ist Spekulation und könnte Gegenstand einer Supervision sein. Hier
ist der Fehler vermutlich darin zu sehen, dass die Provokation nicht eine
reine therapeutisch motivierte Intervention war, sondern vom eigenen Un-
behagen und von der eigenen Ungeduld der Therapeutin getragen war. So
hat sich hier vielleicht Unbehagliches als Unkonventionelles getarnt, und
eigener Ärger ist vielleicht zu therapeutischer Provokation geworden.
51 Kollegin E, S. 18
148 6. Fallgeschichten
6.11.4 Spaziergang
„Eine Patientin, die ich schon ewig betreue, die hatte ich vorher in der Be-
ratungsstelle und dann in der Praxis – sicher schon seit fünf Jahren. Sie
ist junge Mutter und hat sowieso Phasen mit schweren Schlafstörungen
und sie kommt, setzt sich und sagt: ‚Ich glaube, ich schlaf heut ein und sie
schaut auch wirklich total müde aus. Sie schaut beim Fenster raus, und es
ist strahlend blauer Himmel und meint, es wäre klass heute spazieren zu
gehen. Ich sage ganz spontan darauf: ‚O. k, gehen wir spazieren.‘ In diesem
Moment denke ich mir, ups, was habe ich da gemacht. Und denke weiter,
na ja, jetzt kann ich auch keinen Rückzieher mehr machen und so wie
sie ausschaut – also probieren wir es einmal. Ich habe mich dann gleich
innerlich gerechtfertigt, da ich bei einem Kinder- und Jugendkongress war
und einer der Workshopleiter erwähnt hat, dass er ständig mit den Jugend-
lichen spazieren geht. Da habe ich mir gedacht, dann kann man das mit
Erwachsenen auch machen. Das war dann eine ganz seltsame Erfahrung.
Während des Spazierens zu therapieren, war sehr seltsam. Wie gesagt, ich
habe es nicht supervidieren lassen und weiß bis heute eigentlich nicht, was
es war. Es war eine gute Stunde, weil bei ihr ein Punkt aufgegangen ist.
Das Thema war ihre Mutter und im Gehen plötzlich fängt sie zu weinen
an und kann dieses Thema emotional total spüren. Es war dennoch für
mich ganz seltsam, ein total komisches Gefühl, weil jahrelang sitze ich ihr
schräg gegenüber, und diesmal gehe ich neben ihr. Eigentlich ist das sehr
nahe. Ich hatte das nicht gedacht, dass das so nahe ist, wenn man mit
jemandem spazieren geht. Es war so komisch sich zu bemühen, nicht bei
ihr anzustoßen. Es ist vage zu behaupten, dass etwas emotional möglich
wurde, weil wir spazieren waren. Ich dachte, das Spaziergehen war mehr
ein Dahinassoziieren. Meine Art war auch ganz anders – ich war irritiert,
wir haben es auch gleich besprochen, was an dieser Situation komisch war.
Ich hatte aber ganz deutlich das Gefühl, dass es ein Begleiten bei freiem
Assoziieren war. Wobei ganz stimmt das ja nicht, weil auch durch das Ge-
hen waren wir beide mehr bei uns, man schaut ja nach vor und sich nicht
gegenseitig an wie bei der herkömmlichen Therapie, und gleichzeitig war es
ein Gemeinsames, ein wunderschöner Tag, wohl einer der ersten schönen
Frühlingstage dieses Jahres. Wir haben dann auch gemeinsam die Vögel
entdeckt, dass die Vögel zwitschern, dass die Wiese schon grün wird, es
war gleichzeitig ein gemeinsames Erleben, was sonst nicht stattfindet. Man
muss annehmen, dass das veränderte Setting sich ausgewirkt hat. Es hat
EJF2VBMJUÊUWFSÊOEFSU
Der Fehler war, dass ich, völlig ohne nachzudenken mich auf eine Idee ein-
gelassen habe. Man geht halt nicht spazieren. Ich habe mir ja gleich wie sie
gedacht, dass es ein schöner Tag war, und es hat auch meinem Bedürfnis
6.11 Unkonventionelles 149
Diese Fallgeschichte ist ein Beispiel für Möglichkeiten, die sich durch ei-
nen Fehler ergeben können. Zunächst ist die Therapeutin von ihrer eigenen
Spontaneität überrascht. Sie rechtfertigt sich innerlich und erlebt dann ge-
meinsam mit der Patientin neue Dimensionen der Zusammenarbeit. Das
frühlingshafte Erwachen der Natur hat stimmungsmäßig sicher dazu beige-
tragen, dass die Patientin so aus sich herausgehen konnte. Bemerkenswert
jedoch ist die Erfahrungen, die die Kollegin fast von Scham begleitet ma-
chen konnte: „In diesem Fall habe ich eine Hemmung gehabt, das in die
Supervision zu bringen.“ Sie schreibt den Mut zu der unkonventionellen
Intervention der Gleichaltrigkeit zu. Was auch immer die Kollegin dazu be-
wogen hat, mit der Patientin hinauszugehen, es scheint zu diesem Zeitpunkt
das Richtige gewesen zu sein. Das eigene Bedürfnis nach Frischluft und ihre
Spontaneität und so gesehen ihre Intuition haben die orthodoxen Settingre-
geln für diese Stunde aufgehoben. Der Fehler ist passiert, und nach einer
inneren Phase der Rechtfertigung besteht die größte Überraschung darin,
dass das therapeutische Neuland für beide eine Bereicherung wurde.
52 Kollegin D, S. 12 f.
150 6. Fallgeschichten
„Ich hatte eine junge Patientin, die sehr unter dem Getrenntsein von ihrem
Freund litt. Jedes Mal, wenn er wegfuhr, kam sie in eine heftige Krise, die
kaum zu bewältigen war. Die junge sympathische Frau bestritt ihr restli-
ches Leben gut und hielt auch die Trennung selbst gut aus, nur jedes Mal,
bevor er sich auf eine seiner Geschäftsreisen macht, also einige Tage vor
seiner Abreise, trat die heftige Reaktion auf. Im Zuge der Therapie versucht
die Patientin diese Problematik zu bewältigen, und während jeder Sitzung
herrscht ein freundliches, lockeres Klima. Es wurde zwar nicht die thera-
peutische Distanz verletzt, jedoch war der Ton sehr freundschaftlich. Eines
Tages, im Vertrauen auf die gute Beziehung, habe ich mich zu einem Witz
hinreißen lassen: ‚Also bezüglich ihrer Krisen, die Sie regelmäßig und nach
wie vor bekommen, gibt es nur zwei Wege: Entweder wir müssen Sie stark
medikamentieren, dann spüren Sie gar nichts mehr, oder wir machen wei-
ter mit der Therapie und halten durch. Psychopharmaka sind ja nicht das,
was wir wollen.‘
Für mich war es klar, dass Psychopharmaka keineswegs angezeigt sind, und
eigentlich wollte ich humorvoll verpacken, dass die Therapie am richtigen
Weg ist und dass gröbere Interventionen nicht notwendig seien. Ein Witz
in dem Stil: ‚Ah hier ist eine Hautunreinheit – na ja, amputieren müssen
wir wahrscheinlich nicht.‘
Über den Gehalt dieser Art Witze brauchen wir hier nicht weiter sprechen,
die Wirkung war in diesem Fall verheerend. Ich bekam noch am selben Tag
in der Nacht ein E-Mail von der Patientin, die offensichtlich nicht schlafen
konnte und ihre Wut formulierte: Es sei unglaublich, schrieb sie, dass ich
53 Jaeggi 2001
6.12 Therapeuten sind auch nur Menschen 151
Was ist in der Geschichte „Ein kleiner Witz“ geschehen? Der Therapeut
zeigt sich überrascht davon, dass die Patientin ihn als Therapeuten ernst
genommen hat. Das freundschaftliche Klima während der Therapiestunde
hat den Therapeuten vielleicht seine Rolle vergessen lassen und uns die Idee
gegeben, dass er lieber mit der Patientin geplaudert hätte oder sich Witze
erzählend unterhalten hätte. Offensichtlich lieber, als mit ihr im psychothe-
rapeutischen Setting zu arbeiten. Obwohl es plausibel scheint, dass in dieser
therapeutischen Arbeit vonseiten des Therapeuten etwas vermieden wurde,
ist doch das markanteste Element, dass er, wie er selber sagt, auf seine Rolle
als Therapeut vergessen hat. Der Therapeut will witzig sein und verlässt seine
Rolle. Er macht einen Witz und signalisiert der Patientin dadurch Sympa-
thie und Gemeinsamkeit jenseits der therapeutischen Arbeit. Er setzt ein
Verständnis voraus, bei dem Patientin und Therapeut Schulter an Schulter
die Problematik betrachten und trotz der Schwere der Krise eben auch ein-
mal einen Witz (darüber) machen können. Was er dabei vergisst, ist, dass
die Patientin, mit der er sich zu verbinden trachtet, ihre eigene Person und
ihre Krise natürlich nicht trennt. Der Therapeut appelliert mit seinem Witz
an die Person jenseits der Krise. Humor in der Therapie kann sehr erfreulich
sein. Der mittlerweile verstorbener Wiener Arzt und Psychotherapeut Gün-
ter Pernhaupt ist für den Ausspruch bekannt: „Eine Therapiestunde, in der
nicht gelacht wird, ist nichts wert.“ Wie schon in der Kategorie Unkonven-
tionelles oder auch in der Kategorie Setting deutlich geworden ist, können
Abweichungen vom Konventionellen, so auch Humor in der Therapie, etwas
Wertvolles und Therapieförderliches sein, aber genauso gut kann Humor
54 Kollege J, S. 48 f.
152 6. Fallgeschichten
auch schädlich und risikovoll wirken. In diesem Fall ist das Vergessen der
therapeutischen Rolle vielleicht die Folge eines Wunsches, den der Thera-
peut der Patientin gegenüber hegt, oder einer momentanen Verfassung des
Therapeuten, der vielleicht ein Bedürfnis nach fröhlicher Unterhaltung jen-
seits der schweren Problematik hat. Sein Versuch, sich mit der Patientin auf
einer humorvollen Ebene zu verbinden, scheitert vollkommen. Die Patientin
will keinen Witzerzähler, sondern einen professionellen Therapeuten. Hu-
mor wäre auch in dieser therapeutischen Situation möglich gewesen, aber
vermutlich sind die Witze über die Behandlung selbst, über die Symptome,
die Indikation oder eine etwaige Medikation besser zu unterlassen. Es ist
wahrscheinlich der lange andauernden therapeutischen Zusammenarbeit
und der eindeutigen Entschuldigung des Therapeuten zu verdanken, dass es
gelang, diese Therapie fortzusetzen.
„Ich denke an eine depressive, essgestörte Dame, welche eine fast unter-
würfige Art hatte, die verstehend und akzeptierend wirkte. Die Therapie
verlief auffallend konfliktfrei. Sie hatte eine dominierende Mutter, und
sie und ihre Geschwister waren nicht nur nicht gut genug, sondern nicht
richtig. Auch der Vater hat nicht aufgemuckt. Er hat sich auch der Mutter
unterworfen. Da, denke ich, ist mir passiert, dass ich es eine Zeit lang nicht
gemerkt habe, dass wir da etwas wiederholen. Bei ihr zum Beispiel habe
ich auf einem Frühstück bestanden und es auch verlangt, ganz ähnlich
dominant wie ihre Mutter. Ich hätte es rückblickend partnerschaftlicher
einbringen sollen, in der gleichen Hierarchie. Wir hätten besser gemein-
sam geschaut, was für sie am besten ist. Nicht in der Art: ‚Das ist jetzt gut
für Sie, das sollen Sie bitte machen.‘ Das stellt die Weichen anders für die
Beziehung. Dennoch wurde es gut deutlich, dass sich etwas wiederholt, und
letztlich konnte das gut bearbeitet werden. Die Patientin hat mir eben An-
gebote gemacht, und ich bin zunächst unbewusst darauf eingestiegen. Der
Aufwand besteht darin, das oberflächlich angenehme und sympathische
Zusammensitzen zu hinterfragen und damit die angenehme Atmosphäre
zu gefährden.“ 55
Ähnlich wie es vielleicht angenehm ist, einen Witz zu machen, wie wir in
der Geschichte „Ein kleiner Witz“ gesehen haben, kann es auch durchaus
entspannend sein, mit Patienten zu plaudern. Das oberflächlich angenehme
Zusammensitzen, wie es in der obigen Fallgeschichte beschrieben wird, war
55 Kollegin F, S. 25
6.12 Therapeuten sind auch nur Menschen 153
6.12.3 Blumen
„Einmal war zum Erstgespräch eine Kollegin angesagt, und ich war recht-
zeitig in der Praxis. Ich war sicher 15 Minuten vor der Zeit. Fünf Minuten
vor Stundenbeginn fiel mir damals ein, dass ich im Auto einen Wiesen-
blumenstrauß habe, den ich zuvor gepflückt hatte, und den ich mir in die
Praxis stellen wollte. Danach, so wusste ich, habe ich keine Zeit mehr, um
ihn zu holen. Bei dieser Hitze war klar, würde er wohl den Nachmittag im
Auto nicht überleben, er würde vertrocknen. Es war gerade eine Zeit, wo
es so heiß war. Schon in der Hoffnung, dass eine Kollegin mich versteht,
was aber natürlich keine Sicherheit ist, Kollegen sind oft genauso wie alle
Menschen, lief ich hinunter, um die Blumen zu holen. Im Haustor traf ich
dann die Kollegin, bat sie einzutreten und einen Moment zu warten. Ich
lief zum Auto, holte Blumen, wässerte sie, und ich musste dann doch mit
fünf Minuten Verspätung beginnen. Das ist nicht meine Art und ist mir
irgendwie unangenehm, aber ich dachte, sie wird das schon tolerieren. Ich
habe die Blumen dann hierher gestellt und mit dem Gespräch begonnen.
Gegen Ende des Gespräches, im Gehen, sagte die Dame dann: ‚Wissen Sie,
154 6. Fallgeschichten
was mich dazu bewegt zu denken, hier bin ich gut aufgehoben? Wie Sie mit
den Blumen umgegangen sind. Weil wenn Sie wegen der paar Wiesenblu-
men extra zum Auto laufen, dann sind Sie achtsam.‘ Nicht ausgesprochen
war, dann werden sie mich auch gut behandeln. Das war recht berührend.
Bei dieser Dame war es vielleicht kein Fehler, ich dachte mir, eine Kollegin
würde es vielleicht nicht so übel nehmen, wenn ich sie kurz warten lasse,
aber es hätte einer sein können. Sie hätte das auch so wahrnehmen können,
dass die Blumen wesentlicher sind als sie. Was ich daraus gelernt habe, ist,
dass man nichts im Auto lässt und natürlich möglichst oft zu fragen: ‚Wie
war das jetzt für Sie?‘, was natürlich bei einem Erstgespräch schwer ist.
Aber es hat sehr viel Vorschussvertrauen gebracht, und ich habe halt gepo-
kert. Es war auch für mich sehr berührend, dass das so ausgegangen ist.“ 56
Das Erstgespräch mit einem Patienten ist ein besonderer Moment in der
Therapie. Hier wird über die etwaige Zusammenarbeit entschieden. Die
Kollegin war sich sehr wohl bewusst, dass ihre Blumenaktion den Beginn
der Therapie um einige Minuten verzögert. Die Patientin hätte das als Zu-
rückweisung oder gar als Beleidigung wahrnehmen können. So wie die Kol-
legin selber ausführt, hat sie gepokert: „Schon in der Hoffnung, dass eine
Kollegin mich versteht, was aber natürlich keine Sicherheit ist.“
Die positive Wahrnehmung der angehenden Patientin, die die Fürsorg-
lichkeit der Therapeutin hoffnungsvoll auch auf die Art des therapeutischen
Arbeitens umgelegt hat, war eine unerwartete und sicherlich erfreuliche
Reaktion. Bei dieser Dame meint die Kollegin, wertet sie ihr Tun nicht als
Fehler. Hätte die Patientin anders reagiert, wie wäre dann ihre Einschät-
zung? Auch hier hat der Impuls, die Blumen zu retten, Regie geführt. Kur-
zes Zögern wurde nicht weiter berücksichtigt, und die Sorgfalt der Kolle-
gin im Umgang mit Blumen hat die Regeln relativiert. Die Therapeutin hat
Menschliches gezeigt, es wurde gesehen und wertgeschätzt.
Die obigen Geschichten handeln davon, dass Elemente des normalen
sozialen Zusammenlebens im therapeutischen Kontext eine Besonderheit
darstellen können. Witze erzählen, angenehm zusammensitzen, Blumen
pflegen sind Dinge des normalen Alltags. Im therapeutischen Kontext be-
dürfen diese Dinge besonderer Aufmerksamkeit und entsprechen nicht dem
gängigen therapeutischen Verhalten. Die psychotherapeutische Situation
ist eine Ausnahmesituation, in der Alltäglichkeiten normalerweise keinen
Platz haben.57 Finden diese dennoch statt, dann werden sie als zumindest
ungewöhnlich betrachtet und vom Therapeuten oder Patienten als Fehler
56 Kollegin F, S. 26
57 Natürlich sind hier Dinge wie der läutende Postbote oder unbeeinflussbare Ereignisse
ausgenommen.
6.13 Übereifer 155
erlebt. Der Therapeut verlässt seine Rolle und zeigt Ungewöhnliches. Auch
das ist eine Form des unkonventionellen Ausbrechens. Die professionelle
therapeutische Haltung ist anstrengend und wie wir schon mehrmals gese-
hen haben, birgt das Ausbrechen Risiken in sich. Das Risiko hierbei ist, dass
das Verlassen des Rahmens hin zu alltäglichen Elementen den Verdacht er-
weckt, dieser Anstrengung entgehen zu wollen. Dem Alltäglichen den Vor-
zug vor der therapeutischen Pflicht zu geben, widerspricht dem Grundsatz
der Wertschätzung. Passiert es dennoch, dann ist es ungewiss, ob Patienten
diese Seite des Therapeuten als Bereicherung oder als Schaden für die thera-
peutische Beziehung wahrnehmen. Alltäglichkeiten in der Psychotherapie
können dann als Schaden verstanden werden, wenn sie auf Kosten der the-
rapeutischen Professionalität gehen. Im Gegensatz zu diesem „Zuwenig“ an
Professionalität, lässt sich auch ein therapeutisches „Zuviel“ finden. Die fol-
genden Fälle beziehen sich auf Übereifer als ein „Zuviel“ an therapeutischen
Verhaltensweisen. Das „Zuviel“ kann genauso wie das „Zuwenig“ als Fehler
wahrgenommen werden.
6.13 Übereifer
6.13.1 Testung
„Jetzt fällt mir noch ein Fehler ein, der mir erst letztens gemeinsam mit
meiner Kollegin passiert ist. Ich habe eine leicht minderbegabte Klientin
in Behandlung. Die ist schon lange bei mir, und die Behandlung geht auch
gut, obwohl sie halt nicht die Hellste ist und auch Schwierigkeiten hat, be-
ruflich Fuß zu fassen. Sie bricht dann ihre Versuche immer recht schnell ab
und hat auch wenig Frustrationstoleranz etc. Im Rahmen eines zweimal im
Jahr stattfindenden Dreiergesprächs mit ihrem Sozialarbeiter, wo so Pläne
und Perspektiven besprochen werden, habe ich eben vorgeschlagen, es wäre
ganz gescheit, die Klientin einmal zu testen. Dass ich einmal ein Gefühl
für ihre Fähigkeiten bekomme. Es wäre ganz gut, dachte ich mir. Meine
Diagnose war nämlich eher depressive Anteile, also z. B. endogene Depres-
sion und das sozialarbeiterische Betreuungsteam agierte eher in Richtung
Persönlichkeitsstörung Borderline oder so. Ich habe weder eine Sucht noch
Selbstverletzung oder andere Merkmale eine Persönlichkeitsstörung fest-
stellen können. Für mich waren eben mehr das Depressive und der Selbst-
wert im Vordergrund.
Ich habe das also dann vorgeschlagen, und, weil ich eine Kollegin habe, die
auch gut testet, habe ich die Kollegin gleich dazu vorgeschlagen. Die Kolle-
156 6. Fallgeschichten
gin testet gut und testet auch das, was ich möchte. Ich wollte nicht, dass sie
irgendwo getestet wird und irgendetwas, was wir nicht verwerten können.
Jetzt war halt dann leider das Testergebnis für die Klientin so vernichtend,
dass viele Defizite hervorgekommen sind. Sie ist von der Minderbegabung
nicht auffällig, aber auch die Depression hat sich deutlich bewahrheitet,
auch ein wenig Borderlineanteile und etwas Dissoziatives. Auf jeden Fall
hat das ein vollkommenes Chaos ausgelöst und das wollte ich nicht. Das
war ein Riesenfehler. Ich hätte das dem Sozialarbeiter überlassen sollen
und ihm sagen, wenn er das braucht, dann wäre das möglich, aber das ist
nicht mein Job. Ich kann mit ihr arbeiten, auch ohne die Testergebnisse. Ich
habe mir gedacht, das war ein großer Fehler.
Dann hat sie auch noch so mit den Ergebnissen agiert, dass ich mit der Kolle-
gin noch einen totalen Streit gehabt habe. Die Klientin wollte die Ergebnisse
von mir und ich habe ihr aber gesagt, dass sie die Kollegin anrufen soll. Die
hat das auch gemacht, und zwar gleich elf Mal. Ich verstehe auch nicht, wa-
rum die Kollegin nicht abgehoben hat, aber sie sagt: ‚Wenn jemand – noch
dazu eine unbekannte Nummer so oft anruft, dann hebe ich nicht ab.‘
Im Endeffekt habe ich dann das Ergebnis bekommen, und das war sehr
schlimm für sie. Ich habe ihr zwar nicht alles vorgelesen, aber selbst das
war für sie überfordernd. Ich habe das indiziert, und das war insgesamt
sehr schwer für sie. Sie war dann so vernichtet, dass sie gar nicht mehr
kommen wollte. Ich habe sie dann doch überreden können und mit zwei-
wöchiger Pause ist sie dann auch wieder gekommen. Die zwei Wochen hat
sie auch gebraucht. Das war ein klassischer Fehler, nicht beachten, was die
Klientin eigentlich braucht, welche Struktur sie hat und welchen Selbstwert
sie hat und schnell, schnell, ein einziges Kuddelmuddel. Das passiert mir
nie wieder. Der Fehler war, meinen Wunsch nach diagnostischer Klarheit
gleich selber in die Hand zu nehmen. Das ist nicht meine Aufgabe als Psy-
chotherapeutin. Da ist es mir auch nicht gut gegangen, aber ich muss das
auf meine Schulter nehmen, das Testergebnis selbst war schon wichtig. Es
ist auch bei dem Test herausgekommen, dass die Klientin überhaupt nicht
mit schwierigen Situationen umgehen kann und sich sofort zurückzieht.
Das war es dann auch, was passiert ist. Ich bin froh, dass es gelungen ist,
die Klientin dann doch zu halten. Solche Fehler dürfen nicht passieren. Das
passiert mir auch nicht mehr, das habe ich daraus gelernt. Mit Testungen
muss man extrem achtsam umgehen. Das geht nicht zwischen Tür und An-
gel, obwohl es bei der Geschichte auch durch eine notwendige Einreichung
Zeitdruck gab, aber trotzdem, da muss man aufpassen und besonders sorg-
sam und ordentlich arbeiten. Sich Zeit nehmen für die Ergebnisse und das
gründlich handhaben.“ 58
58 Kollegin E, S. 21
6.13 Übereifer 157
Die Kollegin vermutet, dass ihr Bedürfnis nach diagnostischer Klarheit für
das Geschehene grundlegend verantwortlich war. Diese Annahme klingt
ganz plausibel, obgleich noch andere Momente für das Entstehen dieser
Situation denkbar wären. Es ist durchaus möglich, dass gerade eine min-
derbegabte Patientin besonders fürsorgliches Bemühen seitens der Thera-
peutin auslöst. Die Therapeutin ist im Quellberuf auch Sozialarbeiterin und
offensichtlich haben sich in diesem Fall die Kompetenzen überlagert. In der
Absicht, die Dinge in die Hand zu nehmen, zu erledigen, hat die Kollegin
auf die schützende Funktion des therapeutischen Settings vergessen. Ihr
Bemühen war kein Schützen mehr, es kippte in das Gegenteil. Die Folge
dieses wohlgemeinten „Zuviel“ war Chaos, Streit mit der Kollegin und eine
beinahe abgebrochene Therapie. Auch wenn die Inhalte der Testung für die
Kollegin wertvolle Informationen brachten, lässt sich diese Informations-
gewinnung nur schwerlich als aus dem Fehler entstandener Nutzen werten.
Der Streit mit der Kollegin jedoch hat diagnostische Qualität, wenn man
die Wirkung von speziellen Patienten auf Teams als diagnostisches Krite-
rium zulässt. Ein dem Borderlinesyndrom zugrundeliegender Mechanis-
mus ist die Spaltung. Patienten mit Borderline-Diagnose vermögen es im
Sinne der projektiven Identifikation ihre eigene Gespaltenheit in anderen
zum Ausdruck zu bringen.59 Teams, die sich über die Behandlung einer Pa-
tientin entzweien, können diesen Umstand als diagnostisches Kriterium
berücksichtigen. Das für Spaltungsmechanismen bekannte Schwarz-Weiß-
Denken bildet sich auch bei der Therapeutin selbst ab. Die Intention, welche
zunächst im Sinne der Patientin zu sein schien, kippte in das Gegenteil und
wurde zur Gefährdung für die Therapie. Auf mehreren Ebenen hat die Pro-
blematik der Patientin für Verwirrung gesorgt. Es ist im Umgang mit Pati-
enten dieser Diagnosegruppe kaum vermeidbar, Opfer der spaltenden Dy-
namik zu werden. Schnell wird eine Äußerung oder Intervention als Fehler
wahrgenommen, und meist ist die Betroffenheit, wie auch in unserem Fall,
recht groß. Ob das Beauftragen einer Testung an sich schon ein Fehler ist, ist
dabei diskutierbar. Hier liegt der Fehler vielleicht in der Unterschätzung der
Dynamik der Patientin und erst in weiterer Folge in den Abläufen rund um
die erfolgte Testung. Die Kollegin sagt zu Recht: „Mit Testungen muss man
extrem achtsam umgehen.“ Gerade bei Patienten mit Borderlineverdacht ist
das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben sehr häufig. In der Behandlung
von Patienten dieser Diagnosegruppe sind aber „tatsächliche Fehler“ von
borderline-induziertem Fehlerempfinden nur schwer zu unterscheiden.
59 Ermann 1997, S. 54
158 6. Fallgeschichten
6.13.2 Zahnschmerzen
ten gegangen. So hat der Fehler eine Ablösung vom Therapeuten ermöglicht
und gleichzeitig die eigenen Angstbewältigungsmechanismen gestärkt. Of-
fensichtlich war die Zeit dafür reif und der Patient fit genug. Natürlich lässt
sich aus dem geschilderten Blickwinkel von einem insgesamt positiven Ver-
lauf sprechen, abgesehen davon, dass der Therapeut ein schlechtes Gefühl
mit dem Abschluss dieser Behandlung hatte. Was war der Fehler?
Der Therapeut denkt, dass seine eigenen Anteile dominiert hätten und
er deswegen seine unmittelbar schützende Funktion verlassen habe. Außer-
dem wollte er „später“ nicht als Lügner dastehen. Aus dieser Motivation her-
aus hat er, gleichsam übereifrig, den Patienten auf eine Wahrheit vorbereiten
wollen, die nur seine eigene Wahrheit war. Er hat spontan einen Stilwech-
sel in der gemeinsamen Arbeit durchgeführt. Anstatt weiterhin zu schüt-
zen und zu stärken, hat er auf dosierte Konfrontation (Wahrheit) gesetzt:
„… dass eine Wurzelbehandlung höchst unangenehm und schmerzvoll sein
kann.“ Diesen Stilwechsel hat er mit der Rechtfertigung untermauert, dass
er nicht als Lügner dastehen möchte, dass er also die therapeutische Bezie-
hung nicht gefährden will. Der deutsche Analytiker Cremerius umschreibt
solches Geschehen folgendermaßen:
60 Cremerius 2003, S. 20
160 6. Fallgeschichten
„Das ist eine seltsame Fallgeschichte, die ich damit beginnen möchte, dass
die Therapie abgebrochen wurde. Insgesamt wurde die Therapie sogar zwei-
mal abgebrochen und dazwischen lagen wahrscheinlich ein bis zwei Jahre.
Es handelte sich um eine aktive, beruflich erfolgreiche Patientin, die im
Management tätig war und die zur allgemeinen Selbsterfahrung und zur
Bewältigung einiger Todesfälle in ihrem Bekanntenkreis in die Therapie
kam. Die therapeutische Arbeit verlief sehr produktiv, wobei eine deutliche
Tendenz zur Rationalisierung und zur intellektuellen Abwehr sowohl bei
der Patientin als auch bei mir sichtbar war. Die Arbeit hatte ein sehr hohes
Niveau, das durchaus auch Humor beinhaltete und ein spezielles, exklusi-
ves Verhältnis inszenierte.
Nach einigen Monaten der therapeutischen Arbeit bemerkte ich bei mir,
dass ich eigentlich ziemlich unter Druck stehe. Die Patientin, so fühlte ich,
erwartet immer wieder neue Erkenntnisse, Interpretationen, Deutungen
von mir. Ich spürte den Anspruch, ihr immer neuere Analysen der Situa-
tion vor Augen zu führen und sie immer wieder emotional aus der Reserve
und der Effekt folgte auf den Fuß. Was war mein Fehler? Es war schon rich-
tig, die therapeutische Beziehung zu thematisieren, nur war der Zeitpunkt
falsch gewählt, und meine persönliche Frustration als Basis für die Eröff-
nung dieses Themas zu verwenden, stellte sich als verheerend für die thera-
peutische Arbeit heraus. Es gehört schon Mut dazu, die eigene Empfindung
in die therapeutische Arbeit einzubringen. Es war überraschend für mich,
dass meine Empfindung wie ein Elefant im Porzellanladen wirkte und in
diesem Fall deutlich mehr zerstörte als ermöglichte. Mein Fehler war si-
cherlich zum einen die Wahl des Zeitpunktes, meine Wortwahl, meine
fehlende Behutsamkeit und der Umstand, dass ich meine Empfindung zu
einem Elefanten habe werden lassen und nicht früher auf meine eigenen
Empfindungen und Wahrnehmungen geachtet habe. Auch ich hätte gerne
Anerkennung von dieser Patientin für mein Bemühen bekommen. Ich hoffe,
der Patientin geht es gut und sie hat durch meinen Fehler keinen Schaden
genommen. Etwas Vertrauen war ja entstanden, und ich fürchte, ich habe
diese Basis ungeschickt verspielt. Das tut mir auch heute noch leid.“ 62
62 Kollege J, S. 49 f.
6.14 Schuld in der Psychotherapie 163
lichkeit der Patientin überprüfen können. Er hätte nicht seinen Druck zum
Thema gemacht, sondern ihre Befindlichkeit und ihre Zufriedenheit in der
Therapie thematisiert. Ihre Aussagen wären dann der weitere Leitfaden für
die weitere Zusammenarbeit gewesen.
Das Thematisieren der therapeutischen Beziehung ist ein Ebenenwechsel,
der für viele Patienten ungewohnt und zunächst eher beunruhigend wirkt.
Auch hier war dieser Ebenenwechsel nicht vorbereitet. In einem Gespräch
ist es nicht üblich, ohne Vorbereitung zu fragen: „Wie geht es uns heute
miteinander?“ 63 Für die therapeutische Arbeit ist es aber ein wichtiger Quell
an Informationen die therapeutische Beziehung selbst zu thematisieren. Um
diesem Problem zu begegnen, schlägt Irvin Yalom vor, dieses Muster, die-
sen Ebenenwechsel gleich zu Beginn der Therapie einzuführen.64 Sobald die
Patienten wissen, dass die therapeutische Beziehung auch als ein Abbild der
Beziehungen „draußen“ zu verstehen sind, sind sie darauf vorbereitet, auch
darüber nachzudenken und sich damit auseinanderzusetzen und die Be-
ziehung zum Therapeuten zum Thema zu machen. In obiger Fallgeschichte
reagierte die Patientin so heftig auf den Ebenenwechsel, dass sie sogar die
Therapie abbrach. Der Therapeut konnte die gemeinsame Arbeit nicht mehr
retten, und seine Analogie mit dem Elefanten im Porzellanladen beweist
den selbstkritischen Zugang zu dem Geschehenen.
Deutlicher wird die praxisnahe Auseinadersetzung mit Schuld auch in
der folgenden dramatischen Fallgeschichte.
Krise rechtzeitig gemerkt habe. Ich habe mich gehütet, irgend jemandem
zu sagen, dass ich ihr Liebesgefühl als Projektion zurückgeschmissen habe.
Das war sicher ein Fehler, heute würde ich mit den Gefühlen der Patientin
ganz anders umgehen. Ich habe mich nicht getraut, zu diesem Fehler zu
stehen. Das Klima in diesem Team war nicht entsprechend. Ich habe mich
fürchterlich gefühlt, und ich war vielleicht nicht schuld, aber ich war der
letzte Tropfen. Als junger Arzt hatte ich keine Werkzeuge, damit umzuge-
hen, ich habe mich einfach gefürchtet.“ 65
65 Kollege C, S. 10
66 Kottler, Blau 1991, S. 34
67 Kapitel 4.3
6.15 Andauernde Fehler 165
Die kausale Vorstellung, es geschehe punktuell ein Fehler und der Therapeut
könne eventuell Nutzen für die therapeutische Arbeit daraus ziehen, lässt
prozesshafte und andauernde Fehler außer Acht. Fehler sind nicht immer
nur der Endpunkt eines Geschehens und lassen sich auch nicht immer in
ein einfaches Abfolgemuster bringen. Wie die folgende Fallgeschichte zeigt,
können Fehler sich auch über viele Wochen einschleichen. Die Reaktion der
Therapeutin ist nicht wie bei den punktuellen Fehlern eine momentane Re-
aktion auf ein spezielles Element der Therapie, sondern eher ein anhaltendes
und ein sich vielleicht steigerndes Gefühl des Unbehagens.
6.15.1 Aushalten
„Ein weiterer großer Schnitzer von mir ist, dass, wenn ich hilflos werde,
tendiere ich zum Erklären. Wenn ich merke, ich kann mit dem, was ge-
rade ist, nicht so viel anfangen, dann erkläre ich, anstatt es stehen zu las-
sen, anstatt die Sachen ohne Kommentar stehen zu lassen. Da muss ich
aufpassen, um nicht sofort zu deuten, oder ich sage lieber, zu erklären.
Ich habe da eine Patientin, die ich für sehr intelligent halte. Sie hat so
etwas wie einen Eifersuchtswahn oder eine wahnhafte Einengung auf ih-
ren Mann. Sie ist sehr klug, und ich habe es echt schwer, das so stehen zu
lassen. Wenn sie wieder anfängt, von ihren Verdächtigung zu sprechen,
dann laufe ich Gefahr, dagegen zu sprechen. Es ist kein psychiatrisches
Bild. Ich kenne das. Er gibt keine Anhaltspunkte für Psychiatrisches. Es
ist ein schwieriger Punkt, wenn sie anfängt von ihren Verdächtigungen
und Recherchen, da nicht deutlich gegenzuhalten. Sie steht gut im Leben,
hat einen Job und Familie etc. Es ist schwer, diese eine Sache auszuhalten
und nicht in das Muster ihres Mannes zu rutschen – in dem Stil ‚Du bist
ja verrückt‘. Ich verstehe den Ehemann. Wie kommt er dazu, sich immer
diesen Verdächtigungen von ihr auszusetzen und das seit über einem Jahr
anzuhören.
166 6. Fallgeschichten
Ich bin da hilflos, ich bin noch nicht dran. Ich müsste es thematisieren und
in dem einen Punkt ihr sagen, dass es nicht gesund ist. Da schone ich sie
noch. Ich glaube aber, dass es mehr ist. Das ist ein Fehler, und ich habe
noch nicht das Richtige gefunden, um es zu thematisieren, ohne ihr Ver-
trauen zu verlieren. Ich habe Angst, dass sie sich vielleicht bestätigt fühlt
in ihren Fantasien, dass ihr Mann ein ‚Pantscherl‘ hat oder untreu war.
Ich weiß nicht, ob ich da richtig bin, ich bin hilflos da. Ich möchte eine
Vertrauensbasis aufbauen, und ich weiß nicht, ob sie so weit ist, dass ich
ihr sagen kann, dass sie da wirklich ein Problem hat. Ich nehme also den
Fehler in Kauf, um die Beziehung nicht zu gefährden. Ich weiß aber nicht,
ob das richtig ist. Vielleicht braucht sie ja psychiatrische Begleitung. Ich bin
nicht sicher. Eigentlich kann ich da nicht transparent sein. Das kann sich
als etwas Gutes herausstellen oder das kann auch daneben gehen. Ja, ich
bin eigentlich unzufrieden mit der Situation.“ 68
Kann man hier tatsächlich von einem Fehler sprechen? Die Kollegin selbst
empfindet ihr Vorgehen so. Die therapeutische Arbeit führt sie in ein Di-
lemma. Um die noch nicht genügend starke Beziehung zur Patientin nicht zu
gefährden, zögert die Therapeutin mit ihren Rückmeldungen. Da die Thera-
peutin wiederholt die Intelligenz der Patientin erwähnt, ist auch zu vermuten,
dass sie sich nicht auf eine Diskussion rund um den Realitätsgehalt des Wahns
einlassen will. Wahnhafte Ideen sind im Normalfall argumentativ fest unter-
mauert. In jedem Fall zögert sie, die Patientin mit der Realität zu konfron-
tieren, indem sie ihr verschweigt, dass ihre Eifersuchtsfantasien übersteigert
und irreal sind. Die Kollegin folgt dabei einer (ihrer) Angst, obwohl sie selbst
dabei Unbehagen empfindet. Indem die Kollegin dem Wahn nicht eindeutig
entgegentritt oder zumindest dessen Inhalte infrage stellt, wird sie in gewis-
ser Weise zur Komplizin des wahnhaften Geschehens. Wir haben schon in
anderen Fällen gesehen, dass Therapeuten den Patienten auf einem Weg fol-
gen, der sich letztlich als trügerisch oder zu beschwerlich herausstellt. Wir er-
innern hier an die Fallgeschichte mit dem Titel: „Zu viel Selbstoffenbarung“,
in welcher der Therapeut dem Weg nicht mehr folgen konnte und dann sei-
nen Druck durch einen plötzlichen Ebenenwechsel zu reduzieren versuchte.
Es bleibt in der Fallgeschichte hier völlig ungewiss, ob die Patientin später so
weit ist, sich der Realität zu stellen, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass
der Mann vielleicht ja tatsächlich ein Verhältnis hat und sich der Wahn der
Patientin als Realität heraus stellt. Das richtige Vorgehen scheint es hier nicht
zu geben und das Dilemma der Kollegin ist gut nachvollziehbar. Einzig ihre
Einschätzung der Situation als Fehler ist bemerkenswert. Die Kollegin schätzt
ihr Vorgehen als fehlerhaft ein, weil sie unzufrieden mit ihrer Handlungsun-
68 Kollegin E, S. 18
6.16 Das sympathische Ventil Lachen 167
„Die folgende Geschichte habe ich supervidiert, und die ist auch irgendwie
lustig. Ein Patient kommt zum Erstgespräch, und ich denke mir, den kenne
ich von irgendwo. Er hat einen total festen Händedruck und schaut mich
dabei an. Er hat fest gedrückt, und ich habe ganz spontan auch, so fest es
mir möglich war, gedrückt. Wir haben dann beide gelacht. Das war na-
türlich kein Fehler. Einige Stunden später ist mir dann eingefallen, woher
ich ihn kenne und habe ihm das dann auch gleich gesagt. Ich habe ihn gar
nicht ausreden lassen, weil ich mich so gefreut habe, dass es mir eingefallen
ist. Ich laufe gerne, und wenn es sich ergibt, dann hänge ich mich gerne
hinten an gute Läufer dran. Er ist so einer, an den ich mich schon ganz
oft drangehängt habe. Sozialkontakte beim Laufen sind eigen. Man kennt
sich, redet nie ein Wort miteinander. Ich musste in der Therapie wirklich
total lachen, ich habe das Gefühl, ich hatte einen totalen Ausfall aus mei-
ner therapeutischen Rolle, es war überhaupt nicht im Kontext der Thera-
pie. Ich musste es ihm unbedingt sagen. Er hat dann zwar gesagt, aha, es
sei ihm nie aufgefallen, aber er hat auch ‚super‘ gesagt.
Was ist der Fehler? Aus der Rolle herauszufallen? Ich hatte es für den Mo-
ment vergessen, was eigentlich Thema war. Irgendwas hat mich aus der
168 6. Fallgeschichten
Rolle gebracht. Er war sehr depressiv zu dieser Zeit, und ich bin vermutlich
aus dieser unglaublichen Schwere geflüchtet. Wir haben dann immer wie-
der über das Laufen gesprochen, und es ist ein großer, sportlicher Mann
mit viel Kraft, und er sitzt da wie ein Häufchen Elend. Vielleicht wollte ich
an eine Ressource heran. Der Fehler war meine Freude. Ich denke, es war
für ihn spürbar, weil sich die Stimmung in der Stunde völlig verändert hat.
Ich glaube, er hat mich so auch als Gegenüber wahrgenommen. Das Laufen
ist gleichsam das Gegenteil zur Depression.“ 69
6.16.2 Lachanfall
Während in der ersten Geschichte das Lachen und die Freude der Kollegin
vielleicht eine Reaktion auf die depressive Stimmung war und die Thera-
peutin intuitiv der Stimmung zu entkommen trachtete, ist in der zweiten
Geschichte das Lachen eine Spannungsabfuhr einer über Monate andauern-
den Dynamik. Wesentlich an diesen Geschichten ist aber, dass die Kollegen
ihr Lachen in den Bereich des Fehlers in der Therapie einordnen. In keiner
der Geschichten wird jemand ausgelacht, aber Affektäußerungen in dieser
Form widersprechen offensichtlich der Vorstellung der korrekten therapeu-
tischen Haltung. Hier stoßen wir wieder auf das Phänomen, dass normale
menschliche Reaktionen im therapeutischen Kontext als Fehler wahrge-
nommen werden. Wir erinnern uns an das Kapitel „Therapeuten sind auch
nur Menschen“. Dort behandelten wir das Witze erzählen, das angenehme
69 Kollegin D, S. 13
70 Kollege C, S. 11
6.17 Wie ich es probiere, es passt nicht 169
„Da hatte ich eine Klientin, die ich während ihrer Trennung begleitet habe.
Sie hat sich vom Vater ihres Kindes getrennt und hatte dann verschiedene Be-
ziehungen. Im Zuge ihrer Entwicklung ergaben sich immer wieder neue Be-
ziehungen und auch wieder Trennungen. Sie hat in dieser Zeit ihr Studium
beendet, und es gelang ihr, dann eine stabile Beziehung zu leben. Wir hatten
aber so ein spezielles Thema. Einmal hatte ich nämlich formuliert: ‚Da es Ih-
nen ja jetzt besser geht, können wir die Therapie auch abschließen.‘ Damals
hat sie sich von mir rausgeschmissen gefühlt. Wir haben darüber gesprochen,
und ich habe ihr gesagt, es ist nur wichtig für mich zu wissen, woran wir
arbeiten. Sie hat das zwar verstanden, aber seitdem war es für uns Thema,
einen guten Abschluss zu finden. Wir haben immer wieder darüber gespro-
chen und ich war sehr vorsichtig, und mir war klar, dass es das Ziel war,
diesen Abschluss gemeinsam zu finden. Ich habe gewusst, das ist für uns ein
schwieriges Thema. Irgendwann war es dann auch soweit, und wir haben die
Therapie gemeinsam beendet. Dann habe ich einige Monate nichts gehört,
und sie kam dann aber noch einmal und hat mir von einer Krise erzählt. Es
ist ihr während des Sommers schlechter gegangen. Und ich habe mich gewun-
dert, warum sie sich nicht gemeldet hat, und ich habe sie dann auch gefragt:
‚Warum haben Sie eigentlich nicht angerufen, und warum haben Sie sich so
Zeit gelassen, sich zu melden?‘ Diese Frage blieb unbeantwortet.
Eigentlich kamen wir insgesamt überein, dass sie sich schon so gut öffnen
kann und die Dinge so klar sieht, dass eigentlich gar keine weitere Therapie
notwendig ist. Am Schluss dieses kurzen zweiten Therapiedurchganges hat
170 6. Fallgeschichten
sie mir aber dann noch gesagt, warum sie sich nicht gleich gemeldet hatte.
Es war mein letzter Satz, den ich bei der Verabschiedung vor dem Sommer
gesagt habe. Ich habe sie damals mit den Worten verabschiedet: ‚Vielleicht
sehen wir uns ja wieder mal.‘ Das war in ihren Augen eine falsche Formu-
lierung. Das hätte ich anders formulieren können. Ich hätte sagen können:
‚Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören, oder schreiben Sie mir mal
eine SMS.‘ Die Worte, die ich verwendet habe, hatten einen paradoxen
Effekt. Ihre innere Reaktion war, wie ich später erfuhr:,Nein, ich melde
mich auf keinen Fall.‘ Obwohl sie auch gewusst hat, dass ich es nicht so
gemeint habe, hatte das Sich-neuerlich-Melden für sie den Beigeschmack
von ‚schon wieder gestolpert, schon wieder gestrandet‘. Wir konnten das
zwar gut besprechen, aber mir war dann schon klar, dass ich aufgrund der
langen Beziehung vielleicht eine uneindeutige Formulierung gewählt habe.
Natürlich weiß ich nicht, ob es nicht bei jeder Formulierung so gekommen
wäre, wie es gekommen ist, aber mir war bei der Therapie schon klar, dass
sie wohl eine starke Übertragung auf mich hatte. Ich hatte so das Gefühl,
dass sie gerne näher mit mir gewesen wäre. Vielleicht habe ich mit meinen
Worten die Ablösung nicht klar genug unterstrichen, und die Patientin hat
dann eben mit Trotz reagiert.“ 71
Das Thema der Patientin ist Trennung. Wir erfahren, dass nach der Tren-
nung von ihrem Partner und nach einer Phase wechselnder Beziehungen
nun eine stabile Beziehung möglich wurde. Der Kollegin war klar, dass Ab-
schied und Trennung für die Patientin von besonderer Wichtigkeit waren.
Trotz allen Bemühens um ein gutes Therapieende misslang dieses doch. Die
Kollegin, so stellte sich später heraus, wählte bei der Verabschiedung die fal-
schen Worte. Sie selbst bemerkte diesen vermeintlichen Fehler erst Wochen
später in einem zweiten Therapiedurchgang. Die Aussage „Vielleicht sehen
wir uns ja mal wieder“ bei Beendigung der Therapie löste in der Patientin
Trotz aus. Sie verknüpfte, wie sie später berichtete, ein Wiedersehen unmit-
telbar mit neuem Therapiebedarf. Die Kollegin hat ja vermutet, dass die Pa-
tientin gerne näher mit ihr gewesen wäre. So betrachtet, würde die Patientin
die Therapeutin vielleicht gerne wiedersehen, aber als Freundin, und da das
nicht möglich ist, will sie auch nicht neuerlich Patientin sein. Hier setzt der
Trotz ein. Wenn schon nicht näher, dann gar nicht!
Die Reaktion der Patientin lässt sich als Antwort auf die Verweigerung
des „Näherseins“ verstehen. Wäre es demnach nicht bei jeder Formulierung
so gekommen? Impliziert nicht der normale Gruß „Auf Wiedersehen“ auch
ein Wiedersehen? Wir sehen hier, dass selbst bei erfolgreicher Therapie und
großem Bemühen Fehler nicht verhinderbar scheinen. Die Patientin konnte
71 Kollegin B, S. 5 f.
6.18 Routinefehler 171
offensichtlich ihr Leben und ihre Partner im Zuge der Therapie verändern,
jedoch die grundlegende Problematik mit Trennung scheint, zumindest was
die Beziehung zur Therapeutin betrifft, im ersten Therapiedurchgang nicht
restlos geklärt worden zu sein. Es ist als bemerkenswerter Schritt zu werten,
dass die Patientin später ihren Trotz überwand und neuerlich die Kollegin
aufsuchte. Erst so wurde es möglich, die Abschiedsproblematik zu bespre-
chen und überhaupt erst von dem Fehler zu erfahren. Die Therapie insgesamt
hat aber vermutlich bewirkt, dass die Patientin über den angeblichen Fehler
der Therapeutin und über ihre eigene Reaktion offen sprechen konnte. So
gelang im zweiten Therapiedurchgang, ausgelöst durch einen Fehler etwas,
was zunächst nicht gelang: ein guter Abschluss.
6.18 Routinefehler
Im Zuge der Interviews brachten viele Kollegen ihre Ideen ein, was sie für ei-
nen gängigen Fehler hielten. Neben den berichteten Fallgeschichten wieder-
holten sich einige Elemente, die mit Routinefehler am besten beschrieben
werden können. Zu diesen Fehlern gehören: das Verwechseln von Lebens-
geschichten, das Vergessen oder Verdrehen von Namen der Partner oder
Kinder, unpünktlich sein, das Nichtabfragen von Hausübungen, zu viel zu
plaudern oder das Übernehmen einer Stimmung einer Sitzung in die dar-
auffolgende Stunde. Außerdem gehört auch das mehrmalige Ausfüllen des
gleichen Datenblattes mit einem Patienten zu dieser Rubrik der Routinefeh-
ler. Häufig wurde berichtet, dass es immer wieder vorkommt, dass zwei Pa-
tienten zum gleichen Termin bestellt werden oder dass Termine überhaupt
vergessen werden. Eine Kollegin erklärte Folgendes zum Fehler:
„Was ich auch kenne, ist, dass ich mir nicht zugestehe, dass mir jemand
auf die Nerven geht. Das ist dann nicht leicht für mich. Ich versuche das
immer zu Beginn für mich zu klären, aber das gelingt nicht immer. Wenn
ich jemanden nicht mag, oder wenn mir jemand eher unangenehm ist,
dann nehme ich diese Person nicht in Behandlung. Schwer ist es, wenn ich
erst im Laufe der Arbeit drauf komme und mir denke, nein, nein, das geht
nicht. Wenn ich meine negativen Übertragungsgefühle nur schwer im Griff
halte. Da brauche ich viel Supervision. Wenn ich das dann im persönlichen
Zusammenhang sehe und vor seiner Lebensgeschichte, dann wird es schon
leichter, wenn man versteht, warum diese Person so geworden ist. Falls das
nicht klappt, muss man hinschauen, hinschauen, hinschauen.“ 72
72 Kollegin E, S. 19
172 6. Fallgeschichten
6.19 Zusammenfassung
Fehler ein abruptes Ende genommen und es ist nicht auszuschließen, dass
der eine oder andere Fehler auch Schaden verursacht hat. Die Beschäftigung
mit den Fehlern in der Psychotherapie hat aber auch ganz andere, vielleicht
überraschende Aspekte dieses Phänomens vor Augen geführt. Das Außerge-
wöhnliche birgt eben auch Chancen für alle Beteiligten. Sie sind in verschie-
dener Art und Weise fruchtbar. In den Geschichten „Väter verwechselt“ oder
„Verwechslung“ sind durch die überlasteten Therapeuten Fehler entstanden,
die den herkömmlichen Ablauf veränderten und Neues zu Tage brachten.
Fehler können als Warnsignal fungieren, wie in der Geschichte „So dahin-
gesagt“, wo die Therapeutin mit der Aussage „Bist du bei deiner Mutter auch
so lästig“ erst zu bemerken begann, dass sie in einer höchst verstrickten Situ-
ation steckt. Zugespitzt hat sich diese Situation durch die Überbelastung der
Kollegin mit der Anzahl der zu betreuenden Jugendlichen.
Fehler können leitende Elemente werden, wenn zum Beispiel Unbehagen
spürbar wird. Unbehagen, das impulsiv durchbricht, wird wie in den Ge-
schichten „Kleinlaut“ oder „Riekens Fall“ als Fehler wahrgenommen und
führte dort zu fruchtbaren Veränderungen der Dynamik. Das Unbehagen,
das keinen Durchbruch schafft, wie in der Geschichte „Andauernder Feh-
ler“, wird ebenso als Fehler gesehen und nahm so indirekt Einfluss auf den
Prozess. Fehler erzeugen mitunter selbsterfahrerische Momente. Die Ge-
schichte „Blinde Flecken“ zeigt, wie die Kollegin anhand einer eskalieren-
den Auseinandersetzung mit einer Patientin und ihrer durch Gott geheilten
Depression auf ihre eigene Familie und deren religiöse Themen stößt.
Fehler können Sackgassen in der therapeutischen Arbeit entlarven, wie es
die Geschichte „Einzigartigkeit der Patientin“ gezeigt hat. Die Kollegin hat
in dieser Geschichte erkannt, dass sie von ihrem eigenen Heilungsschema
ausging und nicht auf die Einzigartigkeit der Patientin geachtet hatte. Fehler
vermögen auch Konflikte auszulösen. Die Geschichte „Unklarheit eröffnet
Spielraum“ zeigt überzeugend, wie die unklare Absageregelung Aggression
erzeugt, die der Therapie neue Impulse ermöglichte. Konflikte während der
therapeutischen Arbeit sind meist die Vorboten von qualitativer Verände-
rung in der Therapie. Es ist schier unermesslich, welche Möglichkeiten sich
durch Fehler in der Therapie ergeben.
Fehler sind nicht ausschließlich selbst für den Abbruch oder den Fortbe-
stand einer Therapie verantwortlich. Es ist der Umgang des Therapeuten
mit Fehlern, der maßgeblich dazu beiträgt, ob diese nutzbar in das thera-
peutische Geschehen integriert werden können oder zu Abbruch oder wei-
terführenden Streitereien führen. Ein Faktor, der dem Therapeuten dabei
7.1 Können Fehler Nutzen bringen? 177
„Das Schöne daran ist, dass er im Eingeständnis, dass es falsch war, zu mir
wieder das totale Vertrauen gefunden hat. Für ihn zuhause war Fehler-
machen ganz etwas Schlimmes, und es war für ihn schön zu sehen, wie ich
mit diesem Fehler umgehe, dass ich es nicht schönrede, dass ich mich nicht
rechtfertige, sondern dass ich dazu stehen kann.“ 3
„Wir sind doch Experten für Dialoge auch mit Menschen in Extremsitua-
tionen, ich glaube, dass ist eigentlich unser Job. Es ist unser Job, die Men-
2 Kollege J, S. 48
3 Kollegin I, S. 42
4 Casement 2002, S. 3
5 Vgl. Reuster 2001, S. 259
6 Bosch, Steinbrinck 2008, S. 143
178 7. Schlussfolgerungen
schen zum Sprechen zu führen und das Sprechen zu erleichtern. Wenn wir
aber beim Fehler hängen bleiben, und das artet in Streitereien aus in der
Art: besser oder schlechter, richtig oder falsch, dann steigen wir aus dem
psychotherapeutischen Prozess aus.“ 7
„Durch diese Verteidigung kommt ein anderer Dialog zustande, der ei-
gentlich nur verfestigt und die Sache erschwert. Das Zittern vor Fehlern
und das Rechtfertigen im Zusammenhang mit Fehlern ist die Gegenthese
zum Dialog. Es ist das Aussteigen aus dem Dialog. Nicht nebeneinander
existieren, sondern kämpfen. Angriff und Verteidigung bis zur Eskalation
und sogar zum Tod manchmal. Wenn Fehler geschehen, die in Vorwürfe
ausarten, dann würde ich mir Dialog wünschen.“ 8
„Wenn Sie einen Fehler gemacht haben, geben Sie ihn zu. Jeder Versuch,
ihn zu vertuschen, wird letztlich nach hinten losgehen.“ 11
7 Kollegin H, S. 35
8 Kollegin H, S. 36
9 Yalom 2002, S. 43
10 Vgl. Yalom 2002, S. 44 f.
11 Yalom 2002, S. 45
7.1 Können Fehler Nutzen bringen? 179
sichtbar, der Fehler macht. Dieser Aspekt ist es, der letztlich die Beziehung
zwischen Patient und Therapeut festigt. Fehler vermögen das sogar in be-
sonderem Maße, da der Therapeut als Fehlermacher von einem hohen, un-
nahbaren Sockel herunterkommt und als Gegenüber erkennbar wird. Wir
erinnern uns an das Zitat von Rhode-Dachser:
Fehler geben nicht nur dem Therapeuten die Chance, anders gesehen zu
werden. Durch die vom Fehler erzeugte Ausnahmesituation haben alle Be-
teiligten Gelegenheit, andere Seiten ihrer selbst zu zeigen, oder diese Sei-
ten werden sogar sichtbar, auch ohne dass man das will. Die berichteten
Fallgeschichten gewähren in einer ungewöhnlichen Weise Einblick in die
Arbeit der Psychotherapeuten. Gleichsam ihnen über die Schulter blickend,
kann der Leser an den Gedanken und Emotionen der Therapeuten Anteil
nehmen. Gerade in Situationen, in denen der Therapeut merkt, dass etwas
Unübliches, vielleicht ein Fehler, geschehen ist, ist dieser Blick über seine
Schulter besonders aufschlussreich. Die Überlegungen, Zweifel und selbst-
kritischen Aspekte, die den Therapeuten beschäftigen, zeigen den Raum, den
er reflektierend nutzt. Während manche Interventionen weder Zweifel noch
außergewöhnlicher Reflexion bedürfen, haben Besonderheiten, wie Fehler
während der Arbeit, immer ein hohes Maß an gedanklicher Aufmerksam-
keit. Daran über die Schulter schauend teilzuhaben, zeigt nicht nur die Ar-
beitsweise des jeweiligen Therapeuten in besonderen Situationen, sondern
führt auch sein „Krisenmanagement“ vor Augen.
In seiner eigenen Überraschung und Betroffenheit tritt der Therapeut
ganz menschlich hervor. In der Bewältigung der Situation wird er dann
besonders professionell, empathisch oder intuitiv, aber auch verloren oder
verzweifelt sichtbar. Insgesamt trägt eine Beschäftigung mit Fehlern nicht
nur zur Verbesserung der therapeutischen Arbeit bei, sondern auch zur
Entmystifizierung der Therapeutenschaft. Diese Entmystifizierung ist für
12 Rhode-Dachser 1988, S. 71 f.
180 7. Schlussfolgerungen
„Ich glaube schon grundsätzlich, dass Fehler zu einem guten Prozess wer-
den können. Das ist dann oft eine Chance, etwas in Gang zu bringen. Das
ist schon so, dass immer wieder Fehler an toten Punkten passieren, wenn
nix mehr geht. Es bleibt die Frage, ob das dann gelingt, das Gute in den
Prozess einzubauen.“ 13
„Wir nicken alle wissend, wenn wir hören, dass bei einem Kollegen die The-
rapie erst durch einen (Abstinenz-) Fehler so richtig in Gang gekommen
ist.“ 14
Das Paradoxon besteht darin, dass es kein Teil der Technik sein kann, diese
zu verlassen, um an das intendierte Ziel zu kommen. Es würde keine andere
Wissenschaft auf die Idee kommen, dass ihre Ergebnisse erst durch Fehler
zustande kommen. Wenn aber in der Psychotherapie erst das Verlassen des
Systems oder der Behandlungstechnik Erfolg ermöglichen, dann wird daran
sichtbar, dass das System zu eng gefasst ist. Die Forderung nach einer Sys-
temerweiterung steht im Raum. Muss die Technik erweitert werden?
13 Kollegin F, S. 22
14 Bösch 2007, S. 25
7.2 Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung 181
Die vorliegende Arbeit hat versucht, ein selten begangenes Feld der psycho-
therapeutischen Wissenschaft sowohl von der theoretischen als auch von
der praktischen Seite her zu beleuchten. Die theoretische Behandlung des
Themas Fehler hat gezeigt, dass sich – ausgehend von dem Schlagwort „Feh-
lerkultur“ – in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein spezifisches
Fehlerverständnis etabliert hat. Fehlerkultur ist die Gegenbewegung zu ei-
nem Ideal der korrekten Abläufe. Für Lernende, so konnten wir zeigen, ist
die positive Integration von Fehlern ein förderlicher Beitrag und Teil einer
neuen Lernkultur. In betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen werden
Fehler im Rahmen von Gesamtstrategien zur Verbesserung der Abläufe ge-
nutzt. In der psychotherapeutischen Literatur konnten wir unterschiedliche
Zugänge zu dem Phänomen Fehler unterscheiden. Die fehlerintegrierenden
Ansätze stehen da jenen Ansätzen gegenüber, die Fehlerquellen suchen und
diese zu eliminieren trachten. Da wir mithilfe von Dörner und anderen Au-
toren zeigen konnten, dass wir von unseren physiologischen und psycholo-
182 7. Schlussfolgerungen
7.2.1 Ausblick
Diese Untersuchung hat einen weiten Bogen von der Psychotherapie und
ihren wissenschaftlichen Methoden hin zu dem tatsächlichen und unmit-
telbaren Geschehen in der Praxis gezogen. Es wurde gezeigt, dass Fehler als
fixer Bestandteil der psychotherapeutischen Arbeit nicht nur zu eliminieren
sind, sondern dass sie Chancen in sich bergen. Es liegt an dem Verständ-
nis der einzelnen Psychotherapeuten, diese Chancen zu nutzen und die In-
formationen, die Fehler enthalten, zu entschlüsseln. Es besteht außerdem
die Hoffnung, dass durch Themen wie dieses die Arbeit der Psychothera-
peuten transparenter wird. Nicht nur Lernende können davon profitieren,
auch alle an Psychotherapie Interessierte bekommen einen Einblick in die
tägliche Arbeit der Therapeuten. Die Bereitschaft der Kollegen, sich für die
Interviews zur Verfügung zu stellen, hat ferner den Eindruck erweckt, dass
die Beschäftigung mit Fehlern in der therapeutischen Arbeit einen Bedarf
abdeckt. Hier scheint noch viel möglich. Wenngleich der Schwerpunkt der
vorliegenden Arbeit relativ weit gesteckt war, müssen wir die Untersuchung
vertiefender Aspekte der Fehlerkultur der weiterführenden Forschung in
Theorie und Praxis überlassen.
Therapeuten machen mit jedem Patienten, auch wenn nur eine einzige
Sitzung stattgefunden hat, neue Erfahrungen über das, was gut, und das,
was weniger gut gelaufen ist, und über das, was wirkt, und was besser getan
7.2 Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung 183
oder unterlassen worden wäre. Jeder Patient hilft dem Therapeuten, sich zu
entwickeln und sich mehr und mehr zu professionalisieren. Je mehr Chan-
cen der Therapeut nutzt, um am Patienten zu lernen, umso besser ist es.
Es ist zu vermuten, dass jeder Therapeut trotz abgeschlossener Ausbildung
individuelle Lernfelder hat. Bei manchen ist es das Sich-zurück-Nehmen,
bei manchen ist es die eigene Eitelkeit oder auch die zu Beginn der Unter-
suchung erwähnte Einsamkeit. Manche plagen sich mit einem Helfersyn-
drom, und andere wiederum finden ständig ihre eigene Geschichte in den
Lebensgeschichten der Patienten wiederholt. Der Therapeut aber – sofern er
dazu bereit ist – hat so gesehen jede Minute seine eigene Therapie. Der per-
fekte Therapeut ohne Eitelkeit, ohne Narzissmus, ohne Beziehungswunsch,
ohne Einsamkeit und ohne Fehler hat wenig Aussicht auf erfolgreiche The-
rapien. Die Patienten bedürfen einer spürbaren Persönlichkeit mit Ecken
und Kanten, um zu wachsen, eine Person, die auch bereit ist, mit ihnen zu
wachsen. Insofern sind Fehler nicht nur zu nutzen, sondern notwendig. Es
ist notwendig, dass der Therapeut dem Patienten kein unerfüllbares Ideal
der Vollkommenheit präsentiert, sondern ein realistisches Bild eines Men-
schen anbietet – mit all seinen Fehlern, blinden Flecken und Grenzen. Ein
perfekter Therapeut wäre ein schlechter Therapeut, immerhin gibt es ja auch
keine perfekten Patienten.
Tabelle der Interviewpartner
Altersklassen (Ak.): 1 (30 – 40), 2 (40 – 50), 3 (50 – 60), 4 (60 und älter)
und Ausbildung auf das Auftreten von Fehlern in der Luftfahrt. Eigen-
verlag, Innsbruck.
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