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Lioba Baving
Störungen des
Sozialverhaltens
1 23
Prof. Dr. Dr. Lioba Baving
Lehrstuhlinhaberin für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie
Zentrum für Integrative Psychiatrie gGmbH
Niemannsweg 147
24105 Kiel
ISBN-10 3-540-20934-4
ISBN-13 978-3-540-20934-8
Springer Medizin Verlag Heidelberg
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
2
2.1 Definition – 6
2.2 Leitsymptome –7
2.3 Schweregradeinteilung – 7
2.4 Untergruppen – 8
2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 – 8
2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV – 12
2.5 Ausschlussdiagnosen – 13
6 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
Definition
1 2.1 aggressives Verhalten jedoch, das in einem gege-
benen sozialen Kontext deutlich unangemessen
Kennzeichnend für die Störungen des Sozialver- ist, erschwert oder verunmöglicht das Zusam-
2 haltens (F91) ist nach der Internationalen Klas- menleben mit anderen Menschen und ist mit
sifikation psychischer Störungen ICD-10 (Welt- grundsätzlichen gesellschaftlichen Regeln nicht
3 gesundheitsorganisation 2000) »ein sich wieder- vereinbar. Auch oppositionelles Verhalten, also
holendes und andauerndes Muster dissozialen, trotziges und ungehorsames Verhalten, ist kei-
4 aggressiven oder aufsässigen Verhaltens«, wel- neswegs immer deviant, sondern in bestimm-
ches die Grundrechte anderer oder dem jewei- ten Entwicklungsphasen als beinahe norma-
5 ligen Lebensalter entsprechende soziale Normen tiv zu betrachten (»terrible two«). Ein andau-
und Regeln verletzt und seit 6 Monaten oder erndes Muster von erheblich ausgeprägtem und
6 länger besteht. Für die Diagnose einer Störung
des Sozialverhaltens ist also ein Verhaltensmus-
altersinadäquatem oppositionellem Verhalten ist
jedoch insofern dissozial, als es ebenfalls mit den
gehen. Aufgrund der oft hohen Kontextspezifi- F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit
tät der Störung ist die Prognose möglicherweise oppositionellem, aufsässigem
günstiger, als wenn oppositionelles oder aggres- Verhalten
sives Verhalten in verschiedenen sozialen Kon- Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch
texten auftritt. trotziges, provokatives, negativistisches und
feindseliges Verhalten, aktive Missachtung von
F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei Regeln und Anforderungen Erwachsener, geringe
fehlenden sozialen Bindungen Frustrationstoleranz und häufige Wutausbrü-
Hier liegt eine deutliche und umfassende Beein- che sowie gezieltes Ärgern von Erwachsenen und
trächtigung der Beziehungen des betroffenen Gleichaltrigen. Die Kinder sind oft zornig, ver-
Kindes zu anderen Menschen vor, wobei haupt- ärgert und nachtragend und schreiben anderen
sächliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber Menschen die Verantwortung für eigene Fehler
den »sozialisierten« Störungen des Sozialver- zu. Es kommen jedoch keine schweren aggres-
haltens gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen siven oder dissozialen Handlungen vor; ande-
sind, die sich als Isolation, Zurückweisung oder renfalls ist eine der anderen Störungen des Sozial-
Unbeliebtsein bei anderen Kindern oder Jugend- verhaltens zu diagnostizieren. Diese Störung tritt
lichen sowie durch das Fehlen länger dauernder in der Regel bei Kindern unter 9–10 Jahren auf.
Freundschaften mit Gleichaltrigen zeigen. Gele- Oft liegt eine komorbide Aufmerksamkeitsde-
gentlich bestehen gute – jedoch keine engen oder fizit-/Hyperaktivitätsstörung vor (August et al.
vertrauensvollen – Beziehungen zu Erwachse- 1999). Von einer oppositionellen Störung sind
nen, oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betrof-
Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärge- fen, während aggressiv-dissoziale Störungen bei
rung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Häu- Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen auftre-
fig findet sich eine begleitende emotionale Pro- ten. Eine oppositionelle Störung geht mit erheb-
blematik. lichen negativen psychosozialen Konsequenzen
einher, vor allem Konflikten zwischen Kind und
F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei Eltern sowie beeinträchtigten Beziehungen zu
vorhandenen sozialen Bindungen Gleichaltrigen. Dadurch wird ein Kind mit einer
Das wesentliche Differenzierungsmerkmal gegen- oppositionellen Störung wichtiger sozialer Erfah-
über der Störung des Sozialverhaltens bei fehlen- rungen und Lernmöglichkeiten beraubt, auch
den sozialen Bindungen besteht in der guten Ein- dann, wenn keine weiteren psychiatrischen Stö-
bindung in die Gruppe der Gleichaltrigen mit rungen vorliegen.
angemessenen, andauernden Freundschaften, Ein Teil der Jungen mit einer oppositionellen
während die Beziehungen zu Erwachsenen häu- Störung entwickelt eine Störung des Sozialver-
fig schlecht sind. Oft besteht die Bezugsgruppe haltens mit aggressivem oder dissozialem Ver-
aus dissozialen Kindern/Jugendlichen, wodurch halten (F91.0–F91.2), vor allem vom Subtypus
dann das sozial unerwünschte Verhalten des mit Störungsbeginn im Kindesalter (August et
Betroffenen reguliert und verstärkt wird; er kann al. 1999). Umgekehrt geht eine aggressiv-disso-
jedoch auch einer nichtdissozialen Peer-Gruppe ziale Störung häufig mit oppositionellen Symp-
angehören und sein dissoziales Verhalten außer- tomen begleitend oder in der Vorgeschichte ein-
halb dieses Rahmens zeigen. her. Der enge Zusammenhang zwischen oppo-
sitioneller Störung und aggressiv-dissozialer
Störung gilt vor allem für Jungen, während nur
wenige oppositionelle Mädchen aus Nicht-Inan-
spruchnahme-Stichproben eine aggressiv-disso-
10 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
11
zusätzlich
12 Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung?
13 nein ja
zusätzlich zusätzlich
14 Emotionale Störung? Emotionale Störung?
15 nein ja nein ja
18
Sonstige
Sonstigekombinierte
kombinierteStörung
Störung Störung
Störungdes
desSozialverhaltens
Sozialverhaltens
19 desSozialverhaltens
des Sozialverhaltensund
derEmotionen
der
und
Emotionen(F92.8)
(F92.8)
mitdepressiver
mit depressiverStörung
(F92.0)
(F92.0)
Störung
20 . Abb. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens mit komorbider ADHS und/oder emotionaler Störung.
(Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie et al. 2003)
2.4 Untergruppen
11 2
soziale Störung – vor allem einer solchen mit gnostiziert, wenn neben einer Störung des Sozi-
Beginn im Kindesalter – wird durch das Vorlie- alverhaltens gleichzeitig auch eine emotionale
gen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi- Störung des Kindesalters (F93) oder eine neuro-
tätsstörung begünstigt (Loeber et al. 1995). Hier- tische Störung (F4) vorliegt, also anhaltende, ein-
bei erhöhen die hyperaktiv-impulsiven Symp- deutige Symptome wie Angst, Furcht, Phobien,
tome die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Zwangsgedanken oder -handlungen, Deperso-
Sozialverhaltens mehr als die inattentiven Symp- nalisations- oder Derealisationsphänomene oder
tome (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Hypochondrie bestehen (. Abb. 2.1). Ein nied-
Eine aggressiv-dissoziale Störung mit komorbi- riges Selbstwertgefühl, leichtere emotionale Ver-
der ADHS beginnt nicht nur früher, sondern ist stimmungen sowie Zorn und Ärger, die bei Kin-
auch – verglichen mit einer aggressiv-dissozi- dern und Jugendlichen mit Störungen des Sozi-
alen Störung ohne ADHS – von ausgeprägterer alverhaltens häufig vorkommen, rechtfertigen
Symptomatik und höherer Persistenz gekenn- die Diagnose einer kombinierten Störung des
zeichnet. Sozialverhaltens und der Emotionen nicht.
In unselektierten Inanspruchnahme-Popu-
F92 Kombinierte Störungen des lationen zeigte sich eine klinisch signifikante
Sozialverhaltens und der Emotionen Komorbidität von Zwangsstörungen mit Stö-
Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer kom- rungen des Sozialverhaltens (Geller et al. 1996).
binierten Störung des Sozialverhaltens und der Möglicherweise wird der Zusammenhang u. a.
Emotionen (F92) dann zu stellen, wenn neben über eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-
der Störung des Sozialverhaltens auch eine /Hyperaktivitätsstörung vermittelt, die mit bei-
depressive Störung oder eine andere emotionale den Störungen überzufällig häufig assoziiert ist.
oder Befindlichkeitsstörung besteht. Nicht selten tritt eine posttraumatische Belas-
Beim gleichzeitigen Vorliegen einer depres- tungsstörung komorbid zu einer Störung des
siven Störung aus dem Kapitel F3 mit anhalten- Sozialverhaltens auf (Steiner et al. 1997; Ruch-
den, eindeutigen depressiven Symptomen, wie kin et al. 2002), meist im zeitlichen Verlauf nach
ausgeprägter Traurigkeit, Interessenverlust und der Störung des Sozialverhaltens (Cauffman et
Freudlosigkeit, sind die diagnostischen Krite- al. 1998; Reebye et al. 2000). Bei Mädchen sind
rien für eine Störung des Sozialverhaltens mit vor allem sexuelle Übergriffe relevant, bei Jun-
depressiver Störung (F92.0) erfüllt (. Abb. 2.1). gen eher körperliche Übergriffe oder Unfälle.
Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhal- Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens
tens mit depressiver Störung ist gegenüber besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, trau-
einer Störung des Sozialverhaltens sowie gegen- matisierenden Ereignissen ausgesetzt zu werden;
über einer depressiven Störung ohne das Vorlie- möglich ist aber auch, dass ungünstige psychoso-
gen der jeweils anderen Störung das Risiko für ziale Bedingungen sowohl die Entwicklung einer
schulisches Versagen, Substanzmissbrauch und Störung des Sozialverhaltens als auch einer post-
–abhängigkeit erhöht (Marmorstein u. Iacono traumatischen Belastungsstörung begünstigen.
2003). Ein beträchtlicher Anteil der Kovariati- Vergleichsweise wenig ist über den Zusam-
on zwischen beiden Störungen ist auf gemein- menhang zwischen somatoformen Störungen
same Faktoren zurückzuführen, die das Risiko und Störungen des Sozialverhaltens bekannt.
beider Störungen erhöhen, wie Dissozialität in Bei jugendlichen Delinquenten ging ein höherer
der Familie oder Zugehörigkeit zu einer delin- Schweregrad der Störung des Sozialverhaltens
quenten Peer-Gruppe (Fergusson et al. 1996). mit einer stärker ausgeprägten Somatisierung
Eine sonstige kombinierte Störung des Sozial- einher (Vermeiren et al. 2002), und das DSM-IV
verhaltens und der Emotionen (F92.8) wird dia- benennt das Vorliegen einer aggressiv-dissozi-
12 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation
für die Diagnose einer »conduct disorder« drei sprechend der DSM-IV-Klassifikation der Begriff
Symptome vorhanden sein. Somit ist beim Vor- »disruptives Verhalten« verwendet. Hiervon
liegen von ein oder zwei Symptomen – auch in abzugrenzen ist der Begriff »externalisierendes
erheblicher Ausprägung – nach dem DSM-IV Verhalten«, also – entsprechend der Wortbedeu-
die diagnostische Schwelle noch nicht erreicht, tung – nach außen gerichtetes Verhalten, wel-
während nach der ICD-10 bereits die Diagnose ches disruptive und hyperkinetische Verhaltens-
einer Störung des Sozialverhaltens gestellt wür- weisen zusammenfasst und diese dem »inter-
de, für welche ja lediglich ein Symptom in erheb- nalisierenden Verhalten«, also gehemmtem,
licher Ausprägung über einen Zeitraum von ängstlichem, zurückgezogenem und depres-
mindestens 6 Monaten erforderlich ist. Wäh- sivem Verhalten, gegenüberstellt (Achenbach u.
rend die ICD-10-Forschungskriterien den DSM- Edelbrock 1978).
IV-Kriterien sehr ähnlich sind, ist die Sinnhaf-
tigkeit der klinischen ICD-10-Kriterien in dem
linearen Zusammenhang zwischen der – auch 2.5 Ausschlussdiagnosen
geringen – Anzahl der Symptome einer Störung
des Sozialverhaltens und dem negativen Out- Die folgenden Diagnosen müssen ausgeschlos-
come begründet (Satterfield u. Schell 1997; Fer- sen worden sein, um die Diagnose einer Störung
gusson u. Woodward 2000). des Sozialverhaltens stellen zu können.
. Tab. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens: kategorial (ICD-10 und DSM-IV) und dimensional
horn wies in Verwahrloste Jugend ‒ Die Psy- Bezüglich der Entwicklung und Prognose dis-
19 choanalyse in der Fürsorgeerziehung (Aichhorn sozialen Verhaltens konnte Lee Robins in ihren
1925) auf den Zusammenhang zwischen emo- umfangreichen Längsschnittuntersuchungen zei-
20 tionalen Entbehrungen in der frühen Kindheit gen, dass dissoziale Erwachsene meist auch dis-
‒ aber auch einem Mangel an Erziehung ‒ und soziale Kinder und Jugendliche waren, dass sich
späterer dissozialer Entwicklung hin. John Bowl- aber keineswegs jedes im Kindes- und Jugendal-
Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
3 1
ter auftretende dissoziale Verhalten ins Erwach- tens, nicht jedoch die der oppositionellen Stö-
senenalter fortsetzt (Robins 1978). rung, die erst in die ICD-10 Eingang fand. Die
Ein ebenfalls relevanter Begriff, der auch in aktuellen Versionen der beiden international
die Gesetzgebung Eingang gefunden hat, lau- gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosesyste-
tet »Verwahrlosung«. Hermann Stutte (Stutte me, DSM-IV (American Psychiatric Associati-
u. von Bracken 1967) fasste darunter sowohl die on 2001) und ICD-10 (Weltgesundheitsorganisa-
Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen tion 2000), haben sich in ihrer Konzeption der
als auch das potenziell daraus resultierende Ver- Störungen des Sozialverhaltens einander ange-
halten: Ein »Zustand mangelnden Bewahrt- nähert (7 Kap. 2).
seins«, der durch Mängel in der familiären, sozi-
alen oder epochalen Situation bedingt sei, kön-
ne bei entsprechender Disposition des Kindes
zu seinem Versagen in Bezug auf die Anforde-
rungen des Gemeinschaftslebens führen. Hart-
mann definierte Verwahrlosung als »persisten-
tes und generalisiertes Sozialversagen« (Hart-
mann 1977). Wegen seiner negativen Besetzung
und potenziell stigmatisierenden Wirkung ist
der Begriff der Verwahrlosung, insbesondere in
der Sozialpädagogik, sehr umstritten, ist aber
nach Meinung anderer Autoren auch heute noch
relevant, weil er eine spezifische Personengrup-
pe mit einer konkreten sozialen Realität bezeich-
net, während die Begriffe »Dissozialität« oder
»Störung des Sozialverhaltens« eine weit größere
Personengruppe einschließen.
Im DSM-II, der zweiten Version des Dia-
gnosesystems der US-amerikanischen psychia-
trischen Fachgesellschaft (Diagnostisches und
Statistisches Manual, American Psychiatric
Association 1952), wurde die Störung des Sozi-
alverhaltens (»conduct disorder«) als diagnosti-
sche Kategorie etabliert, die unabhängig von der
legalen Einordnung des entsprechenden Verhal-
tens als delinquent oder nichtdelinquent zu seh-
en ist. Die oppositionelle Störung, bei der trot-
ziges, aufsässiges und negativistisches Verhalten
im Vordergrund steht – nicht aber aggressives
oder dissoziales Verhalten wie bei der »con-
duct disorder« – wurde im DSM-III (American
Psychiatric Association 1980) als diagnostische
Kategorie aufgeführt. Die Internationale Klassi-
fikation psychischer Störungen ICD-9 der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO 1978) enthielt
zwar die Diagnose der Störung des Sozialverhal-
3
3.3 Modellvorstellungen – 28
18 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
Variablen, die lediglich Begleiterscheinungen lich eine Vielzahl von einzelnen Genen beteiligt,
von Störungen des Sozialverhaltens darstellen. die in der Regel jeweils nur einen kleinen Effekt
haben und untereinander wie auch mit Umwelt-
faktoren interagieren (7 3.3). Als relevant wer-
3.1 Biologische Perspektive den u. a. Gene des serotonergen und des dopa-
minergen Systems betrachtet. Die Zusammen-
In diesem Abschnitt sollen die beteiligten Per- hänge zwischen bestimmten Polymorphismen
sonen, vor allem das Kind bzw. der Jugendliche und ihren Auswirkungen auf das Verhalten des
und seine Eltern, primär auf der biologischen Individuums sind komplex und von vielfältigen
Ebene betrachtet werden. Denn nicht nur das anderen Variablen abhängig.
Kind oder der Jugendliche weisen bestimm-
te biologische Merkmale auf, die sein Verhalten Organische Risikofaktoren
und seine Interaktionen beeinflussen, sondern Organische Risikofaktoren, wie prä-, peri- oder
oft sind es auch die Eltern, die ihrerseits sowohl postnatale medizinische Komplikationen und
ihre eigene – unter Umständen schwierige – psy- Zigaretten- oder Alkoholkonsum während der
chosoziale Entwicklung in die Interaktion mit Schwangerschaft, können die Wahrscheinlich-
ihrem Kind einbringen als auch bestimmte bio- keit einer Störung des Sozialverhaltens direkt
logische Risikofaktoren aufweisen. erhöhen, oder indirekt über die erhöhte Wahr-
Solche biologischen Unterschiede zwischen scheinlichkeit der Entwicklung einer Aufmerk-
Kindern und Jugendlichen mit disruptiven Stö- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die
rungen und unauffälligen Kindern und Jugend- ihrerseits ein bedeutsamer Risikofaktor für die
lichen beruhen nicht nur auf genetischen Unter- Entwicklung einer – insbesondere im Kindes-
schieden, sondern sie können auch mit dem alter beginnenden – Störung des Sozialverhal-
schädigenden Einfluss biologischer Faktoren tens ist. Neben den direkten pharmakologischen
(z. B. Geburtskomplikationen, Toxine) zusam- Effekten des Rauchens auf den Fetus sind wahr-
menhängen oder Auswirkungen früher gravie- scheinlich auch mütterliche Merkmale relevant,
render Erfahrungen sein, die im (neuro-)biolo- die mit fortgesetztem Rauchen trotz Bestehens
gischen Substrat des Denkens und Fühlens, also einer Schwangerschaft in Zusammenhang stehen.
in Körper und insbesondere Gehirn, bleibende In ähnlicher Weise ging mäßiger mütterlicher
»Spuren« hinterlassen haben. Alkoholkonsum, der jedoch über die gesamte
Schwangerschaft hinweg fortgesetzt wurde, mit
Genetische Faktoren ausgeprägterem aggressivem Verhalten der Kin-
In Zwillings- und Adoptionsstudien wurde gefun- der einher, als wenn die Mütter zumindest im
den, dass – in Abhängigkeit von der untersuchten letzten Drittel der Schwangerschaft keinen Alko-
Stichprobe und der Art des Verhaltens – etwa hol mehr tranken (Brown et al. 1991). Auch die
40–80% der Varianz aggressiv-dissozialen Ver- prä- oder postnatale Exposition mit Neurotoxi-
haltens genetisch beeinflusst werden (Arseneault nen, wie Blei oder organischen Lösungsmitteln,
et al. 2003; Rhee u. Waldman 2002). Genetische erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiver Symp-
Faktoren sind vor allem für früh beginnendes, tome (Dietrich et al. 2001; Till et al. 2001).
pervasives und stabiles aggressives Verhalten
bedeutsam; dagegen ist das genetische Risiko Neuroanatomische strukturelle und
für aggressiv-dissoziales Verhalten, welches im funktionelle Befunde
Jugendalter auftritt, weniger hoch (Arseneault et Bei verschiedenen Probandengruppen mit
al. 2003; Eley et al. 2003; Lyons et al. 1995). An erhöhter Aggressivität wurden strukturelle Defi-
dieser genetischen Disposition ist wahrschein- zite gefunden, vor allem im frontalen Kortex
20 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
gen aufgrund von sprachlichen Defiziten kann aktionen« – u. a. mit aggressivem Verhalten –
die Entwicklung einer Störung des Sozialverhal- durchzusetzen. Situativ wechselnd kann also das
tens begünstigen. Andererseits kann auch eine Kind sich durch oppositionelles Verhalten einer
Störung des Sozialverhaltens durch die damit unangenehmen elterlichen Anforderung entzie-
einhergehende Beeinträchtigung vieler schu- hen, was lerntheoretisch einer negativen Ver-
lischer und außerschulischer Lernsituationen zu stärkung entspricht, die zudem noch intermit-
verbalen Defiziten führen. So bestanden bei Pro- tierend und unvorhersehbar eintritt, wodurch
banden mit stabilem aggressiv-dissozialen Ver- die Auftretenswahrscheinlichkeit und Stabilität
halten im Kindes- sowie Jugendalter im Alter oppositionellen Verhaltens noch weiter erhöht
von drei Jahren Defizite in der räumlichen Verar- wird. Wenn die Eltern ihre Aufforderung mit
beitung, jedoch keine verbalen Defizite, woge- unangemessenen Mitteln durchsetzen, lernt das
gen im Alter von elf Jahren sowohl räumliche als Kind am Modell der Eltern seinerseits den Ein-
auch verbale Defizite gefunden wurden. Frühe satz aggressiver Verhaltensweisen. So kann es
Defizite in der räumlichen Verarbeitung könnten zu einer Eskalation negativen und aggressiven
also zu persistierendem aggressiv-dissozialem Verhaltens zwischen Eltern und Kind (»coerci-
Verhalten beitragen und von später hinzukom- ve cycle«) und zu einem Lerndefizit prosozialer
menden verbalen Defiziten überlagert werden Fertigkeiten kommen.
(Raine et al. 2002).
! Ungünstig sind also sowohl permissives Erzie-
Elterliches Erziehungsverhalten hungsverhalten, z. B. Inkonsistenz, willkürliche
Elterlichem Erziehungsverhalten kommt eine Reaktionen und unzureichende Aufsicht und
große Bedeutung bei Entstehung und Aufrecht- Steuerung, als auch rigides, harsches und von
erhaltung von Symptomen einer Störung des Ärger dominiertes Erziehungsverhalten.
Sozialverhaltens zu, wobei aber das Verhalten
der Eltern und das Verhalten des Kindes nicht Diese beiden Verhaltensmuster gehen überzufäl-
voneinander unabhängig sind, sondern sich in lig häufig miteinander einher (DeVito u. Hop-
hohem Maß gegenseitig beeinflussen. So erlaubt kins 2001). Diesen innerhalb der Familie erlern-
beispielsweise ein hoher statistischer Zusam- ten Interaktionsstil zeigt das Kind dann auch in
menhang zwischen familiärer Disharmonie und der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen.
disruptivem Verhalten eines Kindes nicht ohne Nach Patterson (1982) ist es bei einem »schwie-
Weiteres den Schluss, dass die familiäre Dishar- rigen« Kind wahrscheinlicher, dass es zu einem
monie für das disruptive Verhalten des Kindes koersiven Erziehungsstil der Eltern kommt.
kausal verantwortlich sei, sondern umgekehrt
kann auch das Verhalten des Kindes zu famili- Monitoring
ärer Disharmonie führen. Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird
Monitoring zunehmend wichtiger, dass Eltern
Koersiver Erziehungsstil also wissen, wann ihr Kind was in Begleitung
Nach Patterson (1982) ist der primäre Mechanis- welcher Personen tut, und dass das Kind bzw.
mus für die Entwicklung oppositioneller Verhal- der Jugendliche seine Eltern in dieser Kontroll-
tensweisen im Kindesalter ein koersiver Erzie- funktion geistig präsent hat.
hungsstil. Für die Eltern aversive Reaktionen Zwischen geringem elterlichen Monitoring
des Kindes auf Anforderungen (z. B. Schimp- und dissozialem Verhalten Jugendlicher besteht
fen, Schreien, Wutanfälle) führen dazu, dass ein wechselseitiger Zusammenhang. Einerseits
die Eltern entweder ihre Anforderung zurück- erhöht geringes elterliches Monitoring von Akti-
nehmen oder aber versuchen, mit »Überre- vitäten und sozialem Umgang eines Jugend-
24 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
und Jugendalter einer medikamentösen Behand- oder somatische Krankheit bzw. Behinderung
lung zugänglich. Dissozialität der Eltern kann eines Geschwisters wie auch ein chronischer
aus mehreren Gründen relevant sein: aufgrund Geschwisterkonflikt können die Eltern erheblich
der höheren genetischen Belastung des Kindes, belasten und ihr Erziehungsverhalten ungüns-
als ungünstiges Modell für aggressiv-dissoziales tig beeinflussen. Aggressive Kinder verhalten
Verhalten und durch Beeinträchtigung des fami- sich auch im Umgang mit ihren Geschwistern
liären Funktionsniveaus bis hin zu Vernachlässi- aggressiv (Aguilar et al. 2001) und können jün-
gung oder Misshandlung, was durch elterlichen gere Geschwister viktimisieren, als Rollenmodell
Substanzabusus noch verstärkt werden kann. für aggressiv-dissoziales Verhalten dienen oder
Eine abweichende Elternsituation bzw. Fami- den Anschluss von Geschwistern an dissoziale
lienstruktur kann in unterschiedlichen Kons- Gleichaltrige vermitteln. Enge Geschwister-Koa-
tellationen einen Risikofaktor für Störungen litionen können dazu beitragen, dass die Erzie-
des Sozialverhaltens darstellen. Alleinerziehen- hungsbemühungen der Eltern unterlaufen wer-
de Mütter sind überdurchschnittlich häufig von den und deviantes Verhalten – auch noch über
einem niedrigeren Schul- und Ausbildungsab- den Einfluss einer devianten Gleichaltrigen-
schluss und Einkommen, von geringerer sozi- gruppe hinausgehend – gefördert wird (Bullock
aler Einbindung und Unterstützung und einem u. Dishion 2002). Somit müssen bei familienbe-
geringeren psychischen Wohlbefinden betrof- zogenen Interventionen auch die Beziehungen
fen. Ob sich dieses auf das Verhalten des Kindes zwischen den Geschwistern und ihr Einfluss auf
oder Jugendlichen auswirkt, ist wesentlich von die Störung des Sozialverhaltens des Indexpati-
der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung abhän- enten berücksichtigt werden.
gig, u. a. von der kognitiven Anregung, emoti-
onalen Unterstützung und dem Interesse und
Monitoring bezüglich der Aktivitäten des Kindes 3.2.2 Kind/Jugendlicher und die
oder Jugendlichen. Die Abwesenheit des Vaters Gleichaltrigen
erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiven Ver-
haltens nur bei geringer väterlicher Dissoziali- Die folgenden sozial-kognitiven Mechanismen
tät; bei dissozialen Vätern dagegen entwickeln werden mit Bezug auf die Gruppe der Gleich-
die Kinder um so mehr disruptives Verhalten, je altrigen dargestellt, weil sie vor allem in diesem
mehr Zeit sie mit ihren Vätern verbringen (Jaffee Zusammenhang empirisch untersucht wurden,
et al. 2003). Instabilität der häuslichen Verhält- sie sind natürlich aber auch im Kontakt des Kin-
nisse durch Umzüge der Familie, Trennung der des oder Jugendlichen zu Erwachsenen relevant.
Eltern oder Hineinkommen eines neuen Part- Aggressive Kinder und Jugendliche nehmen
ners in die Familie ist ein weiterer Risikofak- die Absichten anderer Menschen als aggres-
tor. Dabei bringt eine erneute Eheschließung des siver und bedrohlicher wahr, als sie tatsächlich
erziehenden Elternteils potenziell mehr Schwie- sind (»negative attributional bias«), besonders
rigkeiten mit sich als allein eine Scheidung, u. a. in uneindeutigen sozialen Situationen, und rea-
durch eine Verminderung von Eltern-Kind- gieren dann ihrerseits mit aggressivem Verhal-
Kommunikation und elterlichem Monitoring ten, das sie als begründet und berechtigt emp-
(Pagani et al. 1998). finden (Crick u. Dodge 1996). Sie achten auch
selektiv auf Anzeichen von Feindseligkeit bei
Geschwister anderen Menschen (Gouze 1987), insbesondere
Auch Geschwister können eine Rolle bei der dann, wenn sie aufgeregt sind oder soziales Ver-
Entwicklung von Störungen des Sozialver- sagen erleben (Dodge u. Somberg 1987), und sie
haltens spielen. Eine chronische psychische überschätzen das Ausmaß an Ärger und Aggres-
26 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
5 Hierbei ist allerdings die Frage der Kausalität ! Auch verbale und/oder physische Viktimisie-
nicht so eindeutig zu beantworten, denn aggres- rung durch andere Kinder oder Jugendliche
3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule Für diesen Zusammenhang ist auch die
Bedeutung einer komorbiden ADHS, die ja in
Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwi- erheblichem Ausmaß sowohl mit Dyslexie als
schen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens auch mit den Störungen des Sozialverhaltens
und Symptomen einer Störung des Sozialver- assoziiert ist, bislang ungeklärt. Noch weniger
haltens, dessen Art jedoch bislang nicht geklärt ist über den Zusammenhang zwischen Schwie-
ist. Aggressiv-dissoziales Verhalten während rigkeiten beim Erlernen des Rechnens bzw. Dys-
der Grundschulzeit ging mit einer schlechten kalkulie und den Störungen des Sozialverhaltens
Leseleistung im Jugendalter einher (Williams u. bekannt.
McGee 1994). Umgekehrt zeigte sich auch ein
Zusammenhang zwischen schlechten Leseleis- ! Schulisches Leistungsversagen, aus welchen
tungen im frühen Kindesalter und Symptomen Gründen auch immer, kann in der Pathogene-
einer Störung des Sozialverhaltens im Jugend- se von Störungen des Sozialverhaltens eine Rol-
alter, der jedoch durch gemeinsame Variab- le spielen.
len, wie z. B. frühe Symptome einer Störung des
Sozialverhaltens, die bereits vor dem Erlernen Insbesondere bei Kindern aus benachteiligten
des Lesens bestanden hatten, erklärt wurde, so psychosozialen Verhältnissen kann früh auftre-
dass nach statistischer Kontrolle dieser Variab- tendes disruptives Verhalten in Kombination mit
len kein signifikanter Zusammenhang mehr zwi- frühen schulischen Leistungsschwierigkeiten zu
schen früher Leseleistung und späterer Störung einem kumulativen Motivations- und Fertigkei-
des Sozialverhaltens gefunden wurde (Fergus- tendefizit führen (Ackerman et al. 2003), wel-
son u. Lynskey 1997). Im Gegensatz dazu zeigten ches durch die Zuweisung einer Sündenbock-
Kinder mit geringer Leseleistung und unauffäl- rolle durch Lehrer noch verstärkt werden kann.
ligem Verhalten zu Schulbeginn nach 2 ½ Jahren Wenn es zu Schulschwänzen kommt, steigt die
deutlich mehr disruptives Verhalten, auch nach Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind oder Jugend-
statistischer Kontrolle möglicher konfundieren- licher sich devianten Gleichaltrigen anschließt.
der Variablen (Bennett et al. 2003). Möglicher- Umgekehrt führt es bei Schülern zu einer Ver-
weise ist der Zusammenhang zwischen Lesefer- minderung dissozialen Verhaltens, wenn sie sich
tigkeit und Störung des Sozialverhaltens alters- als sozial unterstützt erleben und im Unterricht
und kontextabhängig, so dass Schwierigkeiten mitarbeiten (Morrison et al. 2002); hierin kann
beim Erlernen des Lesens für die Prädiktion dis- also ein möglicher Ansatzpunkt für präventive
ruptiven Verhaltens im Grundschulalter rele- Maßnahmen bestehen.
vant sein können, während bis zur Adoleszenz
so viele andere Problembereiche hinzugekom-
men sind, dass die Lesefertigkeit relativ zu den 3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine
anderen Faktoren nur noch eine geringe Bedeu- Familie im psychosozialen
tung hat. Darüber hinaus gibt es hier Hinweise Umfeld
auf einen Geschlechtsunterschied: Für Jungen
war disruptives Verhalten prädiktiv für spätere Niedriges elterliches Ausbildungsniveau und
defizitäre Lesefertigkeiten, aber nicht umge- Einkommen, niedriger sozioökonomischer Sta-
kehrt; dagegen erwiesen sich frühe Schwierig- tus sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen
keiten beim Lesen bei Mädchen als ein Risiko- Minderheit sind soziodemographische Faktoren,
faktor für disruptives Verhalten in der Adoles- die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für
zenz (Maughan et al. 1996). Störungen des Sozialverhaltens einhergehen.
Welche ethnischen Gruppen die höchsten Raten
28 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
tung. Andererseits beeinflusst auch ein Kind von jedoch bei einem Adoptivkind ein genetisches Risiko
sehr frühem Lebensalter an seine Eltern und mit vor, wirkten sich solche ungünstigen psychosozialen
zunehmendem Lebensalter auch seine weitere Bedingungen erheblich auf das Verhalten des Kindes
psychosoziale Umgebung. Diese Zusammen- aus (Cadoret et al. 1995).
hänge werden mit dem Begriff der Gen-Umwelt-
Korrelationen beschrieben (Rutter u. Silberg Umgekehrt können günstige psychosoziale
2002). Bedingungen als protektive Faktoren wirken,
also dazu beitragen, dass genetische Risikofak-
Definition toren in geringerem Ausmaß wirksam werden.
Passive Gen-Umwelt-Korrelationen beruhen dar-
auf, dass Eltern ihren Kindern sowohl ihre Gene
weitergeben als auch aufgrund ihrer eigenen gene-
tisch beeinflussten Merkmale die Umweltbedin-
gungen ihrer Kinder gestalten. Unter aktiven Gen-
Umwelt-Korrelationen wird verstanden, dass ein
Kind auf der Basis seines Genotyps aktiv seine spe-
zifischen Umgebungsbedingungen aufsucht oder
gestaltet. Evokative Gen-Umwelt-Korrelationen
beziehen sich auf die Reaktionen anderer Men-
schen auf das Kind, die dieses durch sein – zum Teil
genetisch bedingtes – Verhalten evoziert.
Definition
Der Begriff der Gen-Umwelt-Interaktionen
bezeichnet dagegen genetisch bedingte interindi-
viduelle Unterschiede in der Vulnerabilität für spe-
zifische Umweltfaktoren (Rutter u. Silberg 2002).
Beispiel
Adoptivkinder, die in ihren Adoptivfamilien unter
ungünstigen Bedingungen aufwuchsen (Ehekon-
flikt, Trennung oder Scheidung, psychische Störung
oder Substanzabusus der Adoptiveltern), zeigten kein
erhöhtes aggressiv-dissoziales Verhalten, wenn sie
selbst kein erhöhtes genetisches Risiko aufwiesen; lag
4
4.1 Symptomatik – 32
4.1.1 Leitsymptome – 32
4.1.2 Klassifikation – 36
4.1.3 Psychischer Status des Kindes/Jugendlichen – 41
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des Kindes/Jugendlichen – 42
Nach Möglichkeit sollte man sich prägnante initiiert wirkt, denn mit Fortschreiten einer
Situationen so genau beschreiben lassen, dass aggressiven Auseinandersetzung wird fast
man sie sich als »Film« vorstellen kann. jeder Mensch irgendwann wütend.
5 Wie sehr wirkt oppositionelles, aggressives 5 Wie lange dauert ein Wutanfall? Wodurch
oder dissoziales Verhalten impulsiv-reaktiv kann er unterbrochen werden? Treten vege-
oder proaktiv? tative Begleiterscheinungen auf? Zerstört
Wichtig ist vor allem, ob der Beginn einer ein Kind nur Gegenstände von anderen und
solchen Verhaltenssequenz unüberlegt und eigene ungeliebte Gegenstände oder auch
»hitzig« oder geplant, »mit kühlem Kopf«
34 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
se Ausdruck zu verleihen sowie andere Strate- Auch im Kleinkind- und Vorschulalter ist
gien zum Erreichen ihrer Ziele zu entwickeln stabil und situationsübergreifend auftretendes
(Loeber u. Hay 1997). Wegen des häufigen Auf- hoch-intensives oppositionelles und aufsässiges
tretens solcher Verhaltensweisen in diesem Alter Verhalten pathologisch (Keenan u. Wakschlag
müssen quantitative und qualitative Aspekte, 2002) und erfordert eine Behandlung, erst recht
wie die Intensität, Rigidität und Situationsinad- dann, wenn auch eine ADHS und/oder aggres-
äquatheit dieses Verhaltens herangezogen wer- sives Verhalten bestehen. Gelegentlich kann auch
den, um alterstypische Autonomiebestrebun- bei Vorschulkindern die Diagnose einer aggres-
gen und Frustrationsäußerungen von Vorläufer- siv-dissozialen Störung gerechtfertigt sein, ins-
symptomen einer Störung des Sozialverhaltens besondere dann, wenn sie erhebliches körper-
abgrenzen zu können. lich-aggressives Verhalten zeigen. Auch wenn
Für aggressives Verhalten kann die genaue Kinder in diesem Alter mögliche Langzeitfolgen
Betrachtung der Art und Weise, wie ein Kind sol- ihres Verhaltens nur teilweise überschauen kön-
ches Verhalten einsetzt, Anhaltspunkte liefern. nen, sind doch die meisten Vorschulkinder in
der Lage, das Konzept von sozialen Regeln und
Beispiel Regelverletzungen zu verstehen und ihr Ver-
Kleinkinder nehmen anderen Kindern Spielzeug häu- halten daran auszurichten. Trotz der genann-
figer durch Entwinden oder Wegreißen weg, als dass ten diagnostischen Schwierigkeiten können also
sie stoßen, schlagen oder treten. Weiterhin stehen sol- deutliche Symptome einer oppositionellen oder
che direkten physisch aggressiven Handlungen sel- aggressiv-dissozialen Störung auch bei jüngeren
ten am Anfang eines Konfliktes, sondern treten eher in Kindern grundsätzlich zuverlässig diagnostiziert
dessen Verlauf auf. werden.
An Kinder im Schulalter werden höhere
Bedeutsam im Sinne eines auffäliigen Verhaltens Anforderungen als im Vorschulalter gestellt.
ist also ein direkter physischer Angriff, insbe- Im häuslichen Rahmen wird von ihnen erwar-
sondere dann, wenn er unprovoziert zu Beginn tet, mehr Verantwortung zu übernehmen sowie
eines Konfliktes auftritt. zeitweise ohne elterliche Aufsicht funktionieren
Wichtig für die Bestimmung einer Normab- zu können. Beim Übergang in die Schule müs-
weichung ist grundsätzlich die Klärung der Fra- sen Kinder lernen, außerhalb des häuslichen
ge, ob das Verhalten eine klinisch bedeutsame Rahmens den Aufforderungen von Autoritäts-
Belastung sowie Beeinträchtigung der sozialen personen nachzukommen, sich an die Routine
Beziehungen oder anderer wichtiger Funktions- des Schulalltages anzupassen, adäquate Bezie-
bereiche verursacht und mit der Bewältigung hungen zu Mitschülern aufzubauen und die
der alterstypischen Entwicklungsaufgaben inter- Anforderungen des Lernstoffes zu bewältigen.
feriert. In diesem Lebensalter ist relevant: Kann Da die zur Bewältigung des Schulalltages erfor-
ein Kind bei der Bewältigung von Alltagsrou- derliche Anpassung und Kooperation bezüg-
tinen mit Erwachsenen kooperieren? Kann es lich der schulischen Regeln und Abläufe vielen
einvernehmlich zusammen mit Gleichaltrigen Kindern grundsätzlich gelingt, ist das Auftreten
spielen oder wird es aufgrund der Destruktivi- deutlicher oppositioneller und aggressiv-disso-
tät seines Spielverhaltens ausgeschlossen? Kann zialer Verhaltensweisen per se normabweichend
ein Kind mit anderen Kindern zusammen sein, (Keenan u. Wakschlag 2002).
ohne dass kontinuierliche Aufsicht erforderlich Im Jugendalter sind ein gewisses Maß an
ist, um die körperliche Sicherheit der Kinder zu Non-Compliance mit den An- und Aufforde-
gewährleisten? rungen Erwachsener sowie an Risikoverhalten
normativ, nicht jedoch ein Muster erheblicher,
36 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
5 Treten signifikante aggressive oder dissozi- 5 Bestehen komorbid zu der Störung des
ale Handlungen auf? Sozialverhaltens Symptome einer Aufmerk-
Liegt eine Störung des Sozialverhaltens samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
mit oppositionellem, aufsässigem Verhal- (die – vor allem bei Jugendlichen – zeitlich
ten (F91.3) oder eine Störung des Sozial- vor der Störung des Sozialverhaltens auf-
verhaltens mit offensichtlich aggressivem getreten sein können), deren Schweregrad
oder dissozialem Verhalten (F91.0, F91.1 eine eigenständige Diagnose rechtfertigen
oder F91.2) vor? würde?
5 Treten signifikante aggressive oder disso- Liegt eine hyperkinetische Störung des
ziale Handlungen lediglich im Rahmen der Sozialverhaltens (F90.1) vor?
Familie auf? 5 Bestehen komorbid zu der Störung des
Liegt eine auf den familiären Rahmen Sozialverhaltens Symptome einer emotio-
beschränkte Störung des Sozialverhaltens nalen oder anderen Befindlichkeitsstörung,
(F91.0) vor? deren Schweregrad eine eigenständige
5 Bestehen gute soziale Beziehungen zu Diagnose rechtfertigen würde?
Gleichaltrigen? Liegt eine kombinierte Störung des Sozi-
Liegt eine Störung des Sozialverhaltens alverhaltens und der Emotionen (F92)
bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) vor?
oder eine Störung des Sozialverhaltens
bei vorhandenen sozialen Bindungen Da bei den letzten beiden Fragestellungen die
(F91.2) vor? spezifische Störung des Sozialverhaltens durch
das Vorliegen einer komorbiden Störung defi-
niert ist, wird hierauf erst in 7 4.3 (»Komorbide
Störungen«) eingegangen.
5 Tritt disruptives Verhalten auch in außerfa- ten, dass Jugendliche ihr Verhalten in struk-
miliären Kontexten auf? turierten Situationen besser steuern können,
5 Sind Symptome einer Aufmerksamkeits- so dass die Diagnose einer ADHS schwie-
defizit-/Hyperaktivitätsstörung oder einer riger als bei Kindern zu stellen ist.
Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperak- 5 Treten Symptome einer emotionalen Stö-
tivität auch außerhalb des häuslichen Rah- rung (übermäßige Angst, depressive Ver-
mens festzustellen? Zur Sicherung einer stimmung) auf?
solchen Diagnose ist die Pervasivität der 5 Sofern eine Psychopharmakotherapie
Symptomatik, also ein durchgehendes Mus- erfolgt: Werden Medikamenteneffekte und/
ter der Symptomatik mit Auftreten in min- oder -nebenwirkungen festgestellt?
destens zwei Lebensbereichen/Situationen,
z. B. Schule, Familie, Untersuchungssituati- Solche Informationen können im direkten
on, erforderlich (s. Leitlinien »Hyperkine- Gespräch, telefonisch, durch schriftliche Berichte
tische Störungen«, Deutsche Gesellschaft für in freier Form oder durch Ausfüllen geeigneter
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psycho- standardisierter Beurteilungsskalen gewonnen
therapie et al. 2003). Hierbei ist zu beach- werden.
38 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Exkurs
1 Schweigepflicht und Schweigepflichts-
die von anderen Personen (z. B. Eltern, Schule)
genannten Symptome einer Störung des Sozial-
entbindung
verhaltens nicht angegeben bzw. treten nicht auf.
2 Nach § 203 Abs. 1 des Strafgesetzbuches
Im Durchschnitt berichten Eltern und Lehrer
(StGB) ist es Angehörigen verschiedener
eine höhere Prävalenz von Störungen des Sozi-
3 Berufsgruppen (u. a. Ärzten und Psycho-
alverhaltens als die Kinder bzw. Jugendlichen
therapeuten) untersagt, Geheimnisse, die
selbst, die jedoch andere wichtige Informationen
4 ihnen bei der Berufsausübung anvertraut
wurden, unbefugt zu offenbaren. Eine Ver-
beitragen können (z. B. verdeckte aggressiv-dis-
soziale Handlungen, Substanzkonsum, Dunkel-
letzung der Schweigepflicht kann eine
5 Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe nach
felddelinquenz, Beziehungen zu Gleichaltrigen,
psychosoziales Funktionsniveau). Die Angaben
sich ziehen. Als schutzwürdig gelten alle
6 gesundheitlichen, familiären und finanziel-
von unterschiedlichen Informanten, auch wenn
diese in dem gleichen Lebensbereich mit dem
len Tatsachen, so auch, dass sich jemand
7 in ärztlicher Behandlung befindet. Nur das
Kind oder Jugendlichen Kontakt haben, können
divergieren. Da viele relevante Verhaltensweisen
unbefugte Offenbaren eines Geheimnisses
versteckt auftreten können, berichten Dritte häu-
8 ist strafbar, wenn also die Weitergabe des
fig nicht alle Symptome und schätzen das Alter
Geheimnisses ohne Zustimmung des Verfü-
bei Störungsbeginn zu hoch ein. Das Alter bei
9 gungsberechtigten und ohne ein Recht zur
Mitteilung erfolgt. Durch eine Entbindung
Beginn einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperak-
tivitätsstörung, die ja vor dem 6. Lebensjahr auf-
10 von der Schweigepflicht kann jedoch ein
Arzt oder Psychotherapeut zum Offenbaren
getreten sein muss, kann zuverlässig nur anhand
von Informationen Dritter (Eltern, Kindergar-
eines geschützten Geheimnisses berech-
11 tigt werden.
ten/Vorschule) bestimmt werden.
12 Informationsquellen
Auch Informationen über Vorbehandlungen 5 Kind/Jugendlicher
13 (psychiatrische oder psychotherapeutische 5 Erziehungsberechtigte
Behandlung, Logopädie, Ergotherapie usw.), aber 5 evtl. andere Familienmitglieder
14 auch allgemeine medizinisch relevante Informati- 5 Spielgruppe/Kindergarten/Schule
onen (z. B. über Unfälle, somatische Krankheiten, 5 evtl. »Vorbehandler«
15 sonstige medikamentöse Behandlungen) sind 5 evtl. Jugendamt, Einrichtungen der
einzuholen. Jugendhilfe, Jugendgerichtshilfe
16 Wenn bereits Kontakt zum Jugendamt
bestand, sollte nach Möglichkeit versucht wer- Die Reihenfolge des Einholen von Informa-
18 behalte der Eltern stoßen. Sofern keine kon- dung erforderlich, liegt sie ggf. vor?
krete Gefährdung des Kindeswohls droht, ist es
oft ratsam, nicht zu drängen, sondern zunächst
19 abzuwarten, um die Kooperation der Eltern und Treten signifikante aggressive oder
damit die Behandlung des Kindes nicht zu ris- dissoziale Handlungen auf?
20 kieren. Liegt eine Störung des Sozialverhaltens mit oppo-
Bei Exploration und psychiatrischer Unter- sitionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) oder
suchung des Patienten werden möglicherweise eine Störung des Sozialverhaltens mit offen-
4.1 Symptomatik
39 4
sichtlich aggressivem oder dissozialem Verhalten schnell wütend, sind oft verärgert und schrei-
(F91.0, F91.1 oder F91.2) vor (. Abb. 4.1)? ben anderen Menschen die Verantwortung für
Typische Verhaltensweisen aggressiv-disso- eigene Schwierigkeiten oder Fehler zu. Für die
zialer Störungen sind Tyrannisieren, exzessives Diagnose einer oppositionellen Störung muss
Streiten und – bei älteren Kindern oder Jugend- die Symptomatik auch außerhalb des häuslichen
lichen – Erpressung oder Gewalttätigkeit, ausge- Rahmens vorhanden sein, auch wenn meist das
prägte und unkontrollierte Wutausbrüche, Zer- Verhalten bei Interaktionen mit Erwachsenen
stören von Gegenständen, Feuerlegen, Grausam- oder Gleichaltrigen, die das Kind gut kennt, viel
keit gegenüber anderen Kindern und gegenüber offensichtlicher ist; während einer klinischen
Tieren, Stehlen. Diese Störungen treten in der Untersuchung können Hinweise auf die Störung
Regel situationsübergreifend auf, häufig in der gänzlich fehlen. Dieses Störungsbild ist charak-
Schule am offensichtlichsten. Auch situations- teristischerweise bei Kindern unter 10 Jahren
spezifisches Auftreten ist mit der Diagnose ver- zu finden; bei älteren Kindern tritt oppositio-
einbar, sofern das Verhalten nicht ausschließlich nelles Verhalten meist nicht isoliert auf, sondern
im familiären Rahmen zu beobachten ist – dann geht mit aggressivem und/oder dissozialem Ver-
ist die Diagnose einer auf den familiären Rah- halten einher, so dass dann die Diagnose einer
men beschränkten Störung des Sozialverhaltens aggressiv-dissozialen Störung des Sozialverhal-
(ICD-10 F91.0) zu stellen. Wenn deutlich aggres- tens (F91.0–F91.2) zu stellen ist.
siv-dissoziale Symptome auftreten, darf die Dia-
gnose einer Störung des Sozialverhaltens mit Treten signifikante aggressive oder
oppositionellem, aufsässigem Verhalten nicht dissoziale Handlungen lediglich im
mehr gestellt werden, auch wenn – was relativ Rahmen der Familie auf?
häufig der Fall ist – eine aggressiv-dissoziale Stö- Liegt eine auf den familiären Rahmen beschränkte
rung mit oppositionellen Symptomen oder auch Störung des Sozialverhaltens (F91.0) vor?
einer voll ausgebildeten oppositionellen Störung (. Abb. 4.1)
einhergehen kann. Die auf den familiären Rahmen beschränkte
Die Störung des Sozialverhaltens mit oppo- Störung des Sozialverhaltens (F91.0) ist nach der
sitionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) ist ICD-10 durch aggressives oder dissoziales Ver-
gekennzeichnet durch ein Muster durchgehend halten – nicht nur oppositionelles, aufsässiges
negativistischen, feindseligen, aufsässigen, pro- oder trotziges Verhalten – gekennzeichnet, wel-
vokativen und trotzigen Verhaltens. Dieses liegt ches völlig oder fast völlig auf den häuslichen
deutlich außerhalb der Grenzen des normalen Rahmen oder auf Interaktionen mit Mitgliedern
Verhaltens, verglichen mit gleichaltrigen Kin- der Kernfamilie oder der unmittelbaren Lebens-
dern; hierbei ist zu berücksichtigen, dass gele- gemeinschaft beschränkt ist. Diese Diagnose
gentliches mutwilliges oder ungezogenes Verhal- darf nur dann gestellt werden, wenn außerhalb
ten Teil der normalen Entwicklung von Kindern des familiären Rahmens keine bedeutsamen
ist. Kinder mit einer oppositionellen Störung Symptome einer Störung des Sozialverhaltens
missachten häufig und aktiv Anforderungen oder auftreten und sich die sozialen Beziehungen des
Regeln Erwachsener und zeigen exzessive Grob- Kindes oder Jugendlichen außerhalb der Familie
heit, Unkooperativität und Widerstand gegen im normalen Rahmen bewegen. Zu beachten ist,
Autorität. Typischerweise hat ihr Trotz eine dass die allgemeinen Kriterien einer Störung des
deutlich provokative Qualität, so dass sie Kon- Sozialverhaltens erfüllt sein müssen; auch eine
frontationen hervorrufen. Sie ärgern gezielt und schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehung allein
überlegt Erwachsene und Gleichaltrige, haben rechtfertigt die Diagnose nicht.
eine geringe Frustrationstoleranz und werden
40 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
2
(mit Schweregrad und Dauer)
3 Deutliche Aggressivität
und/oder Dissozialität?
4
nein ja
5 Störung des Sozialverhaltens
Disruptives Verhalten
6
mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
auch außerhalb der Familie?
(F91.3)
7 nein ja
12 . Abb. 4.1. Störungen des Sozialverhaltens (F91). (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Ge-
sellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
13
14 Beispiel Bestehen gute soziale Beziehungen zu
Auftreten können: Stehlen zu Hause, oft auf Geld Gleichaltrigen?
15 oder Gegenstände von ein oder zwei bestimmten Per- Liegt eine Störung des Sozialverhaltens bei feh-
sonen beschränkt; vorsätzlich destruktives Verhalten, lenden sozialen Bindungen (F91.1) oder eine Stö-
16 meist beschränkt auf bestimmte Familienmitglieder, rung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozi-
z. B. Zerstören von Spielzeug oder Schmuck, Zerrei- alen Bindungen (F91.2) vor? (. Abb. 4.1)
5 Kontrollüberzeugungen
1 5 Selbstbild.
derlich, Schweigepflichtsentbindung einholen!).
Relevant sind:
5 Prä-, peri- und postnatale Anamnese: u. a.
2 mütterlicher Alkohol- und/oder Drogen-
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des missbrauch, Medikamenteneinnahme,
3 Kindes/Jugendlichen Infektionskrankheiten, prä-, peri- und post-
natale Komplikationen
4 Diesbezügliche Informationen werden über die 5 Entwicklungsanamnese (u. a. Meilensteine
Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen selbst, der Entwicklung: motorische Entwicklung,
5 durch Befragung Dritter sowie gegebenenfalls Sprachentwicklung, Sauberkeitsentwicklung;
durch die Sichtung von Unterlagen (Zeugnisse, motorische, sensorische und/oder kognitive
6 Akten) gewonnen. Relevant sind:
5 Beziehungen zwischen den Familienmitglie-
Entwicklungsprobleme)
5 Medizinische Anamnese, insbesondere hirn-
7 dern
5 Beziehungen zu Gleichaltrigen (soziale
organische Beeinträchtigungen (u. a. Schä-
del-Hirn-Trauma, zerebrale Infektionen,
Akzeptanz, Isolation oder Zurückweisung, Epilepsie, systemische Erkrankungen mit
8 Viktimisierung, Freundschaften, Partnerbe- Auswirkungen auf das Gehirn), aber auch
ziehungen, Anschluss an eine deviante Peer- andere Krankheiten und Behinderungen
9 Gruppe, Einbindung in Gruppen mit proso- 5 Bezugspersonenwechsel und Bindung in
zialen Aktivitäten) den ersten Lebensjahren
10 5 Schulische bzw. berufliche Situation (aktu- 5 Vorgeschichte bezüglich des Status als Stief-
eller Leistungsstand, Leistungsentwicklung, kind, Adoptionen, Platzierung in Pflegefa-
11 Fehlzeiten, soziales Verhalten; Übermüdung, milien oder Heimen (auch hinsichtlich Bin-
Verlangsamung oder ungewöhnliche Affekt- dungsentwicklung und Beziehungsabbrü-
12 ausbrüche als Hinweis auf Substanzabusus)
5 Lebensstil (auch Risikoverhalten), vorherr-
chen)
5 Entwicklung in Kindergarten und Schu-
schende Motive le (intellektuelle Leistungsfähigkeit, Spra-
13 5 Ressourcen und Defizite, bezogen auf Fami- che, Aufmerksamkeit und Konzentration,
lie, Schule, Gleichaltrige, Freizeitverhalten Impulsivität, motorische Unruhe, Verhalten
14 5 Aktuelle psychosoziale Belastungsfaktoren im Umgang mit Gleichaltrigen und Erwach-
5 Delinquenz (Gefährdung Dritter?), anhän- senen, soziale Beziehungen, Verhalten im
15 gige Gerichtsverfahren Unterricht, schulische Leistungsschwierig-
keiten, spezifische Störungen schulischer
16 Fertigkeiten, Beziehungsabbrüche durch
4.2 Störungsspezifische Klassen-/Schulwechsel oder Schulverweis,
17 Entwicklungsgeschichte Viktimisierung durch Mitschüler, Sünden-
bockposition bei Lehrern, Schulschwänzen,
? Diagnostische Leitfrage
Bestehen weitere komorbide psychiatrische
Störungen auf der Achse I des Multiaxialen
Klassifikationssystems?
Definition
Mit Komorbidität wird das Auftreten von mehr
als einer spezifisch diagnostizierbaren Störung
bei einer Person in einem definierten Zeitinter-
vall bezeichnet, wobei eine komorbide Störung
44 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Explorationspunkte
13 Substanzkonsum wird häufig von Jugendlichen
Psychische und Verhaltensstörungen durch nicht ohne Weiteres eingeräumt, noch weni-
14 psychotrope Substanzen (F1) ger von sich aus genannt. Es sollte also direkt
Dass disruptives Verhalten ausschließlich im und spezifisch danach gefragt werden. Folgende
15 Rahmen von Substanzgebrauch – z. B. als Punkte sind bei der Exploration bezüglich Subs-
Beschaffungskriminalität bei Drogenabhängig- tanzgebrauchs relevant (s. auch Leitlinie »Psy-
16 keit oder als wiederkehrendes aggressives Ver- chische und Verhaltensstörungen durch psycho-
halten unter Alkoholintoxikation – auftritt, ist trope Substanzen«, Deutsche Gesellschaft für
17 selten; in der Regel besteht im Jugendalter eine
Störung durch psychotrope Substanzen komor-
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe-
rapie et al. 2003):
5 Suchtmittelanamnese:
18 bid mit einer Störung des Sozialverhaltens. Ins-
besondere früh beginnender, ausgeprägter und – Zigarettenrauchen
anhaltender Substanzabusus (Nikotin, Alko- – Alkohol: wann erster Konsum, erster
19 hol, illegale Drogen) ist mit aggressiv-dissozi- Vollrausch, Beginn eines regelmäßigen
alen Störungen mit Beginn in der Kindheit sowie Konsums, in welcher Menge?
20 dem Vorliegen einer komorbiden Aufmerksam- – Welche illegalen Substanzen?
keitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung assoziiert; – Für jede genannte illegale Substanz:
hierbei ist multipler Substanzkonsum eher die wann erster Konsum, Beginn eines regel-
4.3 Komorbide Störungen
45 4
mäßigen Konsums, Dauer und Intensität Kodierung jeweils die relevante Substanz(klasse)
des Konsums im zeitlichen Verlauf? einzusetzen.
– i.v.-Konsum von Drogen? Körperliche Um Gewissheit über die konsumierten Subs-
Entgiftungen, Entwöhnungen, Absti- tanzen zu bekommen, ist es ratsam, Bestätigung
nenzphasen? aus mehreren Quellen zu suchen (eigene Anga-
5 Ausmaß des aktuellen Substanzgebrauches ben des Patienten, klinische Symptome, Analy-
5 Subjektiv erlebte Drogenwirkungen (Stim- se von Urin- oder Blutproben, Substanzbesitz,
mungsänderungen vor, während und nach fremdanamnestische Angaben). Auch wenn viele
dem Konsum, als unangenehm erlebte Into- Betroffene mehrere Substanzen zu sich nehmen,
xikations- oder Entzugssymptome) sollte die Diagnose möglichst entsprechend der
5 Bisherige negative Konsequenzen des Subs- am häufigsten gebrauchten Substanz oder Subs-
tanzgebrauchs im schulischen Bereich (z. B. tanzklasse gestellt werden oder aber entspre-
schlechte Leistungen, Fehlen in der Schu- chend derjenigen, welche die gegenwärtige Stö-
le), familiären und weiteren psychosozialen rung hervorgerufen hat. Nur wenn die Substanz-
Umfeld aufnahme chaotisch und wahllos verläuft, sollte
5 Intensität der Beschäftigung mit dem Subs- die Kategorie Störungen durch multiplen Subs-
tanzgebrauch, Vernachlässigung früherer tanzgebrauch (F19) gewählt werden.
Freunde und Hobbys zugunsten von Subs- Substanzspezifische Intoxikationssymptome
tanzbeschaffung und -konsum? werden in 7 Abschn. 5.3 dargestellt. Angaben
5 Tagesablauf (Aktivitäten mit Bezug vs. ohne zum Nachweis der einzelnen Substanzen finden
Bezug zum Substanzgebrauch) sich in 7 Abschn. 4.5.4.
5 Zugehörigkeit zu devianter Peer-Gruppe?
5 Kontext des Substanzgebrauches, diesbezüg- Klinische Erscheinungsbilder
liche Einstellungen und tatsächlicher Subs- Die klinischen Erscheinungsbilder werden durch
tanzgebrauch in der Peer-Gruppe die Stellen nach dem Punkt, also ab der vierten
5 Riskantes Sexualverhalten (im intoxikierten Stelle der ICD-10-Kodierung, gekennzeichnet,
und nichtintoxikierten Zustand)? wobei nicht alle Kodierungen für alle Substan-
5 Finanzierung des Substanzgebrauches: Dieb- zen sinnvoll anzuwenden sind.
stähle, Einbrüche, Dealen, Prostitution
(gelegentlich auch bei männlichen Jugend- Akute Intoxikation. Eine akute Intoxikati-
lichen!), Schulden? on (F1x.0) ist ein vorübergehendes Zustands-
5 Bisherige Strafen aufgrund von Verstößen bild nach Aufnahme psychotroper Substanzen
gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), mit Veränderungen oder Störungen von kör-
Eigentumsdelikten oder aggressiven Hand- perlichen Funktionen, psychischen Funktionen
lungen im Zusammenhang mit dem Subs- (Bewusstsein, Wahrnehmung, Kognition, Af-
tanzkonsum? fekt) oder Verhalten. Mit Abnahme der Intoxi-
5 Aktuelle aufrechterhaltende Faktoren für kation verschwinden die Symptome ohne erneu-
den Substanzgebrauch te Substanzzufuhr nach einiger Zeit vollständig.
5 Wichtigste Bezugsperson des Jugendlichen, Diese Diagnose darf nur dann als Hauptdiagno-
die sein Vertrauen genießt und durch die er se gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der In-
eventuell erreicht werden kann. toxikation keine länger dauernden Probleme mit
psychotropen Substanzen bestehen; anderen-
Bei der Klassifikation der psychischen und Ver- falls haben die Diagnosen schädlicher Gebrauch
haltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1x.1), Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) oder psy-
(F1) ist für das x an der dritten Stelle der ICD-10- chotische Störung (F1x.5) Vorrang.
46 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
gnose zu stellen (Leitlinie »Psychische und Ver- Entzugssyndrom. Ein Entzugssyndrom (F1x.3)
8 haltensstörungen durch psychotrope Substan- verläuft bei Jugendlichen aufgrund des kürze-
zen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Ju- ren Zeitraumes des Substanzmissbrauches meist
9 gendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003; milder als bei Erwachsenen. Häufige Symptome
American Academy of Child and Adolescent sind Gespanntheit, Gereiztheit, Unruhe, Schlaf-
10 Psychiatry 1997). Häufig werden neben dem Be- störungen und vegetative Beschwerden wie
griff »schädlicher Gebrauch« auch die Begriffe Schweißausbrüche und gelegentlich Kreislauf-
11 »Missbrauch« oder »Abusus« verwendet. beschwerden; auch ein Einbruch der Stimmung
im Sinne einer depressiven oder sogar suizidalen
12 Abhängigkeitssyndrom. Bei einem Abhän-
gigkeitssyndrom (F1x.2) besteht der starke, ge-
Krise ist möglich. Beginn und Verlauf der Ent-
zugssymptome sind zeitlich limitiert und abhän-
legentlich übermächtige Wunsch, Substanzen gig von der Substanz und Dosis, die vor dem Ab-
13 oder Medikamente zu konsumieren. Diese Dia- setzen verwendet wurde. Jugendliche reagieren
gnose sollte nur dann gestellt werden, wenn drei auf mögliche Entzugserscheinungen oft ängstli-
14 oder mehr der nachfolgend genannten Kriterien cher als Erwachsene, was zu einer ausgeprägten
gleichzeitig mindestens einen Monat lang oder Aggravierung der Symptomatik führen kann.
15 innerhalb von 12 Monaten wiederholt aufgetre- Ein Entzugssyndrom kann jedoch auch bei Ju-
ten sind: gendlichen durch Krampfanfälle kompliziert
16 5 Starker Wunsch oder eine Art subjektiver werden. Die Entzugssymptomatik kann in sehr
Zwang, die psychotrope Substanz zu konsu- abgeschwächter Form noch etwa 3–4 Monate
17 mieren (»Craving«)
5 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des
fortbestehen, z. B. in Form von innerer Unruhe
und leichten Schlafstörungen.
Störungsrelevante Rahmenbedingungen
9
10 notwendigerweise für ihre Entstehung bedeut- 4.5 Testpsychologische und
sam waren. Es soll also der kausale und – noch somatische Diagnostik
11 wichtiger – der funktionale Zusammenhang
zwischen dem disruptiven Verhalten und seinem 4.5.1 Fremd- und
12 systemischen Kontext erfasst werden.
Falls die sozialen Eltern nicht auch die bio-
Selbstbeurteilungsskalen
logischen Eltern sind, sollten nach Möglichkeit Fremdbeurteilungsskalen dienen zur standar-
13 Informationen über beide Familien erhoben disierten Einschätzung des Verhaltens des Kin-
werden. Auch das Kind oder der Jugendliche des oder Jugendlichen durch Eltern, Lehrer
14 sollte befragt werden, weil sein subjektives Erle- und Erzieher; bei älteren Kindern und Jugend-
ben bedeutsam ist und weil manche Informati- lichen können auch Selbstbeurteilungsskalen
15 onen möglicherweise eher von ihm selbst als von eingesetzt werden. Die durch solche Instrumen-
anderen Familienmitgliedern berichtet werden. te gewonnenen Informationen können Explo-
16 In der vorstehenden Übersicht werden für ration bzw. Befragung und Verhaltensbeobach-
jede Kategorie störungsrelevanter Rahmenbe- tung nicht ersetzen, jedoch ergänzende Informa-
17 dingungen spezifische Aspekte aufgeführt.
Hierbei ist zu beachten, dass die genannten
tionen liefern und zu gezielten weiterführenden
Fragen genutzt werden. Breitband-Verfahren
Verhalten von Kleinkindern (2–3 Jahre) und von 4.5.2 Altersbezogene Testdiagnostik
Kindern und Jugendlichen (4–18 Jahre) werden
durch einen Fragebogen für Lehrer (Teacher Eine orientierende Intelligenzdiagnostik soll-
Report Form) über das Verhalten von Kindern te nicht nur bei jedem Schüler durchgeführt
und Jugendlichen (4–18 Jahre) und einen Frage- werden, sondern ist auch für Fragen von Früh-
bogen zur Selbstbeurteilung (Youth Self Report) förderung und Ausbildung jenseits der Schu-
für ältere Kinder und Jugendliche (11–18 Jahre) le relevant. Eine ausführliche testpsychologische
ergänzt. Diese Instrumente liegen in deutschen Untersuchung von Intelligenz und schulischen
Versionen vor (Arbeitsgruppe Deutsche Child Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) soll-
Behavior Checklist 1993a,b, 1998a,b). te dann erfolgen, wenn Hinweise auf Schulleis-
Mit dem Diagnostik-System für Psychische tungsprobleme (schlechte Noten, Wiederho-
Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD- lung einer Klasse, Besuch einer Sonderschule)
10 und DSM-IV (DISYPS-KJ; Döpfner u. Lehm- oder schulische Unterforderung vorliegen. Ein
kuhl 2000) können verschiedene psychische Stö- grundsätzliches Problem bei der testpsycholo-
rungen bei Kindern und Jugendlichen (u. a. Stö- gischen Untersuchung der spezifischen Ent-
rungen des Sozialverhaltens, ADHS, Angst- und wicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
depressive Störungen, autistische Störungen, Tic- besteht darin, dass die Lese-, Rechtschreib- und
störungen und Bindungsstörungen) erfasst wer- Rechenleistungen eines Probanden auch von Art
den. Zur klinischen Beurteilung dienen Diagno- und Inhalt seines bisherigen Schulunterrichtes
se-Checklisten, die Einschätzung durch Eltern abhängen. Darum ist auch die qualitative Unter-
und Erzieher/Lehrer erfolgt durch Fremdbeur- suchung der spezifischen individuellen Beein-
teilungsbögen, und ältere Kinder und Jugendli- trächtigungen und Fehler für die Diagnose wich-
che können sich selbst anhand von Selbstbeur- tig (für weitere Erläuterungen 7 5.2). Auch bei
teilungsbögen einschätzen. Unter anderem lie- Hinweisen auf eine Sprachentwicklungsstörung
gen der FBB-HKS (Fremdbeurteilungsbogen (7 5.2) kommt der klinischen Untersuchung der
Hyperkinetische Störung), FBB-HKS/3–6 für Sprache und der Exploration der Bezugsper-
Vorschulkinder mit hyperkinetischen Störungen sonen eine hohe Bedeutung zu. Viele Sprachtests
und FBB-SVV sowie SBB-SVV (Fremd- und sind unzureichend normiert und können ledig-
Selbstbeurteilungsbogen für Störungen des Sozi- lich zur klinischen Einschätzung, nicht jedoch
alverhaltens) vor. zu einer quantitativen Einordnung herangezo-
Der Erfassungsbogen für aggressives Ver- gen werden.
halten in konkreten Situationen (EAS; Peter-
mann u. Petermann 2000) liegt in zwei verschie- Entwicklungsdiagnostik
denen Versionen, für Jungen und für Mädchen, Bei Vorschulkindern ist die Durchführung einer
im Alter von 9–13 Jahren vor. Hierbei handelt zumindest orientierenden Entwicklungsdi-
es sich um einen normierten Test zur Erfassung agnostik ratsam.
des Merkmals Aggression in verschiedenen kon- Der Entwicklungstest von 6 Monaten bis
kret dargestellten Alltagssituationen, die sich auf 6 Jahren (ET 6–6; Petermann u. Stein 2000)
Konflikte unter Kindern, Aggressionen gegen erlaubt die Erfassung von kindlichem Entwick-
Gegenstände und Autoaggression beziehen. lungsstand und bedeutsamen Entwicklungsre-
tardierungen über eine relativ breite Altersspan-
ne. Erfasst werden Körpermotorik, Handmoto-
rik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung,
Sozialentwicklung und emotionale Entwick-
lung.
52 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
lichem Maß Zeitfaktoren in die Bewertung ein. Non-verbale Intelligenztests für Kinder im
Daneben können vier weitere Indizes bestimmt Vorschulalter:
werden: sprachliches Verständnis (ähnlich Ver- 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest
bal-IQ), Wahrnehmungsorganisation (ähn- (SON-R 2½–7)
lich Handlungs-IQ), Unablenkbarkeit (Subtests 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment
Rechnerisches Denken und Zahlennachspre- Battery for Children (K-ABC)
chen) und Arbeitsgeschwindigkeit (Subtests Diese enthält jedoch viele Untertests mit
Zahlen-Symbol-Test und Symbolsuche). Anforderungen an das Kurzzeitgedächtnis,
Das Adaptive Intelligenz Diagnostikum 2 und bei sprachentwicklungsgestörten Kin-
(AID 2; Kubinger u. Wurst 2001) ermöglicht die dern liegen häufig Störungen des auditiven
Erfassung verschiedener verbal-akustischer und Kurzzeitgedächtnisses vor.
manuell-visueller Fähigkeiten im Altersbereich 5 Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1)
von 6 bis 15 Jahren. Durch die Rasch-Skalierung, 5 Coloured Progressive Matrices (CPM)
also strenge Eindimensionalität der Items inner-
halb eines Subtests, ist eine adaptive Itemvorgabe Non-verbale Intelligenztests für Kinder im
möglich. Dass die Probanden also nur die Items Schulalter:
bearbeiten, die ihrem Leistungsniveau entspre- 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest
chen, fördert ihre Testmotivation und macht die (SON-R 5½−17)
Testdurchführung ökonomisch. Zu mehreren 5 Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kin-
Subtests liegt eine sprachfreie Instruktion vor. der III (HAWIK-III), Handlungsteil
Der Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenz- 5 Adaptives Intelligenzdiagnostikum 2 (AID-
test für jüngere Kinder (SON-R 2½–7; Tellegen et 2)
al. 1996) und ältere Kinder (SON-R 5½–17; Snij- 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment
ders et al. 1997) misst die allgemeine intellektu- Battery for Children (K-ABC)
elle Leistungsfähigkeit mit Mehrfachwahl- und 5 Grundintelligenztest Skala 1 und 2 (CFT 1,
Handlungstests und ist ohne die Verwendung CFT 20, CFT 20-R)
gesprochener oder geschriebener Sprache durch- 5 Coloured Progressive Matrices (CPM), Stan-
führbar. Bei den Beispiel-Items erhält der Pro- dard Progressive Matrices (SPM)
band Hilfen zum Verständnis der Aufgabenstel-
lung, darüber hinaus auch bei der Testführung Probanden mit Intelligenzminderung
die Rückmeldung, ob das Item richtig beantwor- Wenn bei einem Probanden eine Intelligenz-
tet wurde oder nicht. Der Test weist eine rela- minderung vorliegt, sind testpsychologische
tiv hohe Kulturfairness auf, die Item-Vorgabe Untersuchung und Interpretation der Testergeb-
erfolgt adaptiv, und überwiegend handelt es sich nisse schwieriger als bei Probanden mit durch-
um einen Power-Test, so dass dieser Test insbe- schnittlicher Intelligenz. Bei der Auswahl der
sondere zur Untersuchung behinderter Proban- Untersuchungsinstrumente und der Interpreta-
den sehr gut geeignet ist. tion der Ergebnisse müssen die Kooperationsbe-
reitschaft des Probanden, sein soziokultureller
Probanden mit verzögerter Hintergrund, bisherige Bildungsmöglichkeiten
Sprachentwicklung oder Sprachstörung und sensorische, motorische und kommuni-
Bei Kindern mit verzögerter Sprachentwick- kative Beeinträchtigungen berücksichtigt wer-
lung oder Sprachstörung muss zur Einschätzung den. Es sollten möglichst mehrere standardi-
der Intelligenz auf sog. non-verbale Verfahren sierte Intelligenztests eingesetzt werden (z. B.
zurückgegriffen werden. Kaufman Assessment Battery for Children, Sni-
54 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik
Weitere diagnostische
1 5.1
Leitfragen
des Sozialverhaltens erfüllen, um welche
Störung des Sozialverhaltens es sich han-
delt und welche komorbiden Störungen und
2 Die ersten drei diagnostischen Leitfragen sind Belastungen darüber hinaus bestehen. Mit
in Kap. 4 (7 4.1.1, 4.1.2 und 4.3) behandelt wor- dieser diagnostischen Leitfrage tritt man
3 den. Wenn sie beantwortet wurden, ist geklärt, gleichsam einen Schritt zurück und betrach-
ob eine Störung des Sozialverhaltens und even- tet die vorliegenden diagnostischen Infor-
4 tuell weitere klinisch-psychiatrische Störungs- mationen unter der Frage, ob die gegebenen
bilder (Achse I des MAS) vorliegen. Weitere ent- Symptome, die man bislang unter der Über-
5 scheidende diagnostische Schritte sind Diffe- schrift »Störung des Sozialverhaltens« ein-
renzialdiagnose und multiaxiale Bewertung, zu geordnet hatte, nicht sinnvoller und zutref-
6 deren Klärung zwei weitere diagnostische Leit-
fragen dienen.
fender im Rahmen einer anderen psych-
iatrischen Störung zu erklären sind; hier
13
14 haft wirkendes Verhalten im Vordergrund, spä- 5 Macht es Wortstellungs- oder Endungsfeh-
ter sozialer Rückzug, Depressivität, Schulver- ler?
15 weigerung oder Aggressivität. Liegt bei einem 5 Kann das Kind Erlebnisse oder Geschichten
Kind mit einer Störung des Sozialverhaltens eine verständlich berichten?
16 Sprachstörung vor, so ist deren korrekte Dia- 5 Ist der Wortschatz etwa altersgemäß?
gnose und adäquate Therapie im Rahmen der 5 Fallen dem Kind Wörter, die es sicher kennt,
17 Behandlungsplanung von hoher Bedeutung.
Vor allem bezüglich einer expressiven Sprach-
häufig nicht ein?
5 Versteht das Kind Sprache altersentspre-
11
12 Lesestörung
Die Lesestörung (Vorkommen bei F81.0 und
Rechtschreibstörung
Bei Vorliegen einer Rechtschreibstörung (Vor-
F81.3) ist gekennzeichnet durch: kommen bei F81.0, F81.1 und F81.3) zeigen sich
13 5 Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzu- bei Verwendung der deutschen Schriftsprache
fügen von Worten oder Wortteilen folgende Fehler:
14 5 Vertauschen von Buchstaben in Wörtern 5 Reversionen (Verdrehungen von Buchsta-
oder Wörtern im Satz ben im Wort: b-d, p-q)
15 5 Niedrige Lesegeschwindigkeit 5 Reihenfolgefehler (Umstellungen von
5 Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Buchstaben im Wort)
16 Zögern oder Verlieren der Zeile 5 Auslassungen von Buchstaben oder Wort-
5 Defizite im Leseverständnis: Gelesenes teilen
scheiden, einfache Wortreime zu bilden, das und nehmen dazu unter Umständen äußere visu-
Alphabet aufzusagen und die Buchstaben kor- elle Reize zur Hilfe. Beim Subtrahieren im Kopf
rekt zu benennen. zählen die Kinder häufig rückwärts ab, wodurch
sie dann oft nicht die richtige Zahl, sondern die
nächstgrößere Zahl als Lösung angeben.
Rechenstörung
Bei Vorliegen einer Rechenstörung (Vor- Beispiel
kommen bei F81.2 und F81.3) können in fol- »Wieviel sind 17 minus 6?« Antwort: »12«. Lösungs-
genden Bereichen Schwierigkeiten beste- weg des Kindes: 17 – 16 – 15 – 14 – 13 – 12 (also 6 Zahlen
hen: zurückgezählt, ausgehend von 17).
5 Erfassen der Größe einer Menge und
Vergleichen mit einer anderen Menge Besonders schwer fällt den Kindern das Über-
5 Verstehen von Rechenoperationen und schreiten der Zehnergrenzen (z. B. 26 minus
der ihnen zugrunde liegenden Kon- 9). Manche Kinder wenden komplizierte Zerle-
zepte (z. B. mehr-weniger, Teil-Ganzes, gungen der einzelnen Zahlen und etliche dazwi-
Vielfaches) schen liegende Rechenschritte an und kommen
5 Aufbau von Zahlenstrahl- oder Zahlen- so unter Umständen zum richtigen Ergebnis,
raumvorstellungen, Abschätzen von wenn auch aufgrund der hohen Belastung des
Rechenergebnissen Arbeitsgedächtnis deutlich störanfälliger, benö-
5 Erwerb des arabischen Stellenwertsys- tigen aber hierfür sehr viel Zeit. Beim Multipli-
tems und seiner syntaktischen Regeln zieren kann ein Kind eventuell das Einmaleins
sowie der hierauf aufbauenden Rechen- als Faktenwissen aus dem Gedächtnis abrufen,
prozeduren ohne aber das Prinzip verstanden zu haben oder
5 Sprachliche Zahlenverarbeitung anwenden zu können. So kann es vielleicht aus
(Erwerb der Zahlwortsequenz und der dem Kopf 1×8, 2×8 usw. bis 10×8 aufsagen, aber
Zählfertigkeiten, Speichern von Fakten- – selbst mit visueller Unterstützung – außer-
wissen, z. B. Einmaleins) stande sein, für 11×8 die richtige Lösung zu fin-
5 Übertragen von Zahlen aus einer Kodie- den. Dividieren fällt selbst Jugendlichen mit
rung in eine andere (Zahlwort – ara- einer Rechenstörung, denen es gelungen ist, in
bische Ziffer – analoge Repräsentation). den anderen drei Grundrechenarten Kompen-
sationsstrategien zu entwickeln ist, sehr schwer.
Für mündliche wie schriftliche Rechenopera-
Wie bei der (Lese-)Rechtschreibstörung kön- tionen konstruieren Kinder mit einer Rechen-
nen auch Kinder mit einer Rechenstörung, die störung ihre eigenen Algorithmen, die gelegent-
über eine höhere Intelligenz und/oder ein gutes lich zufällig zu einem richtigen Ergebnis führen
Gedächtnis verfügen, in den unteren Grund- können. Somit ist es bei der klinischen Unter-
schulklassen ihre Störung unter Umständen suchung sehr wichtig, sich erklären zu lassen,
noch kompensieren. Bei der klinischen Unter- wie das Kind jeweils zu dem von ihm genannten
suchung der Rechenfertigkeiten kann ein Kind Ergebnis gelangt ist.
bei einfachen Additionen im Kopf möglicher- Bei Vorliegen einer Rechenstörung ist auch
weise zum richtigen Ergebnis gelangen, benötigt das Erlernen bestimmter alltagspraktischer Fer-
jedoch meist deutlich länger als andere Kinder tigkeiten erschwert, wie z. B. das Berechnen des
seines schulischen Niveaus. Jüngere Kinder kom- Wechselgeldes beim Einkaufen oder das Uhrle-
men ohne Abzählen an den Fingern kaum zum sen bei Uhren mit Zifferblättern. Selbst wenn die-
richtigen Ergebnis, ältere Kinder zählen im Kopf se Fertigkeiten grundsätzlich erworben werden,
66 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Krankheitsprozesses verloren gehen, ist für eine metrischen Tests, u. a. auch in standardisierten
Intelligenzminderung (= geistige Behinderung) Intelligenztests, soweit diese bei der betroffenen
eine unvollständige Entwicklung der geistigen Person durchführbar sind. Der jeweilige Test
Fähigkeiten sowie der psychosozialen Anpassung sollte unter Berücksichtigung des individuellen
kennzeichnend. Leistungsniveaus sowie zusätzlicher spezifischer
Behinderungen, wie sensorischen oder moto-
Letzteres gilt in geringerem Maße auch für die rischen Beeinträchtigungen, ausgewählt werden.
Lernbehinderung (= unterdurchschnittliche Die angegebenen IQ-Werte sind nicht als starre
Intelligenz, oder niedrige Intelligenz entspre- Grenzen, sondern eher als Richtlinien zu verste-
chend dem Multiaxialen Klassifikationssystem), hen, da die mit einem Intelligenztest gemessenen
welche nicht als separate Kategorie in der ICD- Werte auch von vielen anderen intelligenzunab-
10 aufgeführt wird; nach der üblichen Termino- hängigen Faktoren beeinflusst werden können
logie liegt bei einer Lernbehinderung der Intelli- (7 4.5.2).
genzquotient zwischen 70 und 84.
Die in der ICD-10 angegebenen Intelligenz- ! Ein über dem Durchschnitt liegendes Intel-
werte basieren auf Testergebnissen mit einem ligenzniveau stellt einen protektiven Faktor
Mittelwert von 100 und einer Standardabwei- bezüglich der Entwicklung einer Störung des
chung von 15, in Übereinstimmung mit vielen Sozialverhaltens dar.
gebräuchlichen Intelligenztests. Eine Lernbehin-
derung, eine leichte Intelligenzminderung (F70:
IQ 50–69) sowie eine mittelgradige Intelligenz- 5.2.3 Achse IV des MAS: Körperliche
minderung (F71: IQ 35–49) begünstigen die Ent- Symptomatik
wicklung einer Störung des Sozialverhaltens,
wobei mit der vierten Stelle der ICD-10-Kodie- Auf der Achse IV werden aktuelle körper-
rung das Ausmaß der Verhaltensstörung klassi- liche (zerebrale und nichtzerebrale) Störungen
fiziert werden kann (also F70.1 bzw. F71.1: leich- kodiert, unabhängig davon, ob angenommen
te bzw. mäßige Intelligenzminderung mit deut- werden kann, dass sie in einem ursächlichen
licher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Zusammenhang mit einer psychischen Störung
Behandlung erfordert). Eine schwere Intelligenz- stehen oder nicht. Das Vorliegen einer chro-
minderung (F72: IQ 20–34) oder schwerste Intel- nischen körperlichen (nichtzerebralen) Krank-
ligenzminderung (F73: IQ <20) stellt jedoch eine heit stellt erhöhte Anforderungen an die Res-
Ausschlussdiagnose für eine Störung des Sozial- sourcen eines Kindes oder Jugendlichen wie
verhaltens dar, da man bei einem so niedrigen auch seiner psychosozialen Umgebung, so dass
Intelligenzniveau nicht mehr von einem Ver- die Betroffenen häufiger Symptome einer Stö-
ständnis selbst einfachster Regeln des Zusam- rung des Sozialverhaltens entwickeln, als dieses
menlebens ausgehen kann (7 2.5). bei gesunden Gleichaltrigen der Fall ist. Dieses
Die Einschätzung der Intelligenz sollte auf gilt um so mehr für zerebrale Störungen. So wur-
allen verfügbaren Informationen beruhen. Dazu den im Verlauf mehrerer Jahre nach einer bakte-
gehören der klinische Eindruck (Kontaktverhal- riellen Meningitis die Defizite von Aufmerksam-
ten, affektive Reaktionen, Aufmerksamkeit, Kon- keit und Kurzzeitgedächtnis zwar kleiner, Defizi-
zentration, Reaktionsfähigkeit, Sprachverständ- te hinsichtlich gemessener Intelligenz, exekutiver
nis und -produktion), das Anpassungsverhalten Funktionen und schulischer Fertigkeiten waren
der Person an die Anforderungen des alltäglichen jedoch weiterhin festzustellen (Grimwood et al.
Lebens, gemessen an ihrem kulturellen Hinter- 2000). Solche Kinder und Jugendlichen sind in
grund, sowie ihre Leistungsfähigkeit in psycho- höherem Ausmaß von schulischem Leistungs-
68 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Differenzialdiagnose und
1 versagen und disruptivem Verhalten betroffen
(Koomen et al. 2003). Ein höheres Ausmaß an
5.3
Hierarchie des diagnostischen
disruptivem Verhalten nach einer Enzephalitis Vorgehens
2 kann jedoch auch eine unmittelbare Folge der
zerebralen Störung sein; in diesem Fall wäre auf
3 Achse I die Diagnose »postenzephalitisches Syn- ? Diagnostische Leitfrage
drom« zu kodieren (7 5.3). Bestehen die disruptiven Symptome nicht nur
4 im Rahmen einer anderen psychiatrischen Stö-
rung?
5 5.2.4 Achse V des MAS: Assoziierte
aktuelle abnorme psychosoziale Unter »Differenzialdiagnostik« wird die Abwä-
6 Umstände gung der verschiedenen Symptome eines Pati-
enten hinsichtlich der möglichen zugrunde lie-
Verhaltensstörungen durch psychotrope Subs- so dass er in einer Klinik behandelt worden sei. Bei der
tanzen« der ICD-10, da es sich um potenziell somatischen Untersuchung zeigt sich Fieber und ein
lebensbedrohliche Zustände handeln kann. In leicht erhöhter Blutdruck.
Akutsituationen müssen weiterhin die Differen- Mögliche Differenzialdiagnosen, die sich gegenseitig
zialdiagnosen einer akuten Psychose und einer nicht ausschließen, sind:
manischen Episode vordringlich abgeklärt wer- 5 Störung des Sozialverhaltens, evtl. mit komorbider
den. Gerade bei Patienten mit einer bekannten ADHS (Patient folgt aufgrund eines Aufmerksam-
Störung des Sozialverhaltens oder schwierigen keitsdefizites dem Gespräch unzureichend)
psychosozialen Bedingungen ist die Wahrschein- 5 Intoxikation mit Alkohol, evtl. auch mit anderen
lichkeit größer, dass disruptives Verhalten in die- Substanzen (Biergeruch; erhöhter Blutdruck infolge
sem Zusammenhang gesehen wird und andere – von u. a. Amphetaminkonsum)
u. a. auch organische – Faktoren als Erklärungs- 5 Psychotische Störung (familiäre Belastung)
möglichkeit für akut auftretendes aggressives 5 Schädel-Hirn-Trauma, z. B. durch körperliche Aus-
Verhalten zu wenig in Betracht gezogen werden. einandersetzung oder Sturz im Rahmen des Stadi-
onbesuches
Wichtige Ursachen akuter aggressiver Hier lieferte das Vorliegen von Fieber mit erhöhtem
Erregungszustände Blutdruck und der eingeschränkten Fähigkeit des Pati-
5 Enzephalitis enten, seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zu rich-
5 Substanzintoxikation (vor allem Alko- ten, den entscheidenden differenzialdiagnostischen
hol, Amphetamine, Kokain, Inhalan- Hinweis auf das Vorliegen einer zerebralen Infektion
zien; besonders unberechenbar sind mit einem deliranten Bild.
Mischintoxikationen)
5 Schädel-Hirn-Trauma
5 Delir jeglicher Pathogenese Diagnostisches und differenzialdi-
5 Akute Psychose agnostisches Vorgehen bei aggressiven
5 Manische Episode Erregungszuständen (angelehnt an
Guerrero 2003)
5 Identifizieren des (der) aktuell wichtigs-
Beispiel ten Symptoms (Symptome)
Ein 16-jähriger männlicher Jugendlicher, ein Auslän- 5 Identifizieren möglicher Differenzial-
der, der nicht gut deutsch spricht, wird von der Polizei diagnosen anhand der Ergebnisse von
in Begleitung seines Cousins gebracht, weil er auf der Exploration, psychiatrischer Untersu-
Straße durch lautes und aggressives Verhalten aufge- chung und ggf. fremdanamnestischen
fallen war. Dieses Verhalten zeigt er auch gegenüber Informationen
dem untersuchenden Arzt. Der Cousin gibt an, dass 5 Erhebung der Vitalparameter (ziehen Sie
der Patient schon immer schnell wütend geworden sei spezifisch Störungen mit hoher Gefähr-
und Angst vor Ärzten habe. Sie seien im Fußballstadi- dung für den Patienten in Betracht!)
on bei einem Spiel gewesen und hätten Bier getrun- 5 »Warum jetzt«? Welche Hypothese er-
ken. Trotz des Heranziehens eines Übersetzers wird klärt am besten, warum gerade jetzt ein
die psychiatrische Untersuchung durch die Sprach- aggressiver Erregungszustand auftritt?
barriere erschwert, und der Patient scheint Schwierig- 5 Überprüfen der Differenzialdiagnosen
keiten zu haben, dem Gespräch zu folgen. Der Cousin anhand aller vorliegenden Informati-
gibt an, dass ein Onkel früher mal einen Nervenzusam- onen.
menbruch hatte und sehr durcheinander gewesen sei,
70 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Exkurs
1 Zerebrale Infektionen als Ursachen ag- Die klinische Diagnose kann oft nur wenig
gressiven Verhaltens zuverlässig gestellt werden. HSV-spezifische
2 Antikörper im Serum haben für die Diagnose
Symptome einer akuten Virusenzephalitis einer Herpes-simplex-Enzephalitis keine hohe
3 Bei einer akuten Virusenzephalitis können Bedeutung (Sauerbrei et al. 2000), denn etwa
neben der Triade aus Fieber, Kopfschmerzen 90% der Bevölkerung sind seropositiv für HSV-
15 al. 2003).
Die ersten Symptome einer HSV-Infektion kön-
gismus, Brudzinski-Zeichen (reflektorische
Beugung im Kniegelenk bei passiver Anhe-
nen völlig unspezifisch sein. Das klinische Bild bung des Kopfes) sowie Kernig-Zeichen (im Sit-
16 einer HSV-Enzephalitis fluktuiert charakteristi- zen kann keine Kniestreckung ausgeführt wer-
scherweise und kann sich über einen Zeitraum den) sind im Kindes- und Jugendalter oft nur
17 von mehreren Tagen entwickeln. Als Symptome mäßig ausgeprägt oder fehlen ganz. Bei aku-
können auftreten: Fieber, Kopfschmerzen, tem Beginn ist in der Regel deutlich, dass die
18 Bewusstseinsstörung (bis hin zum Koma), Ver- psychopathologischen Veränderungen im Rah-
wirrung, Lethargie, verändertes Verhalten, men einer somatischen Erkrankung zu sehen
19 delirantes Bild, fokale neurologische Zeichen, sind. Die häufigsten Erreger einer bakteriellen
zerebrale Krampfanfälle (bei etwa der Hälfte Meningoenzephalitis im Kindesalter sind Neis-
Vor Beginn einer antibiotischen Therapie sollte ! Eine akute Enzephalitis ist ein medizi-
eine Blutkultur abgenommen werden. Im Blut- nischer Notfall!
bild zeigt sich eine Leukozytose, und es kommt
zu einer Erhöhung des C-reaktiven Proteins, die Nach Ablauf einer Enzephalitis kann es im Rah-
jedoch ganz früh im Verlauf der Infektion noch men eines postenzephalitischen Syndroms
fehlen kann. Die definitive Diagnose einer bak- (F07.1) zu erhöhter Aggressivität kommen.
teriellen Meningoenzephalitis erfolgt durch
Erregernachweis im Liquor.
5.3.2 Differenzialdiagnose
klinisch-psychiatrische Störungsbilder aufge-
Nachfolgend werden für die Störungen des Sozi- führt. Der zugehörige differenzialdiagnostische
alverhaltens differenzialdiagnostisch relevante Entscheidungsbaum ist in . Abb. 5. 1 gestellt.
5
Ausschlussdiagnose! – Vorübergehende Ticstörung (F95.0)
5 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeits- – Chronische motorische oder vokale Tic-
störung (F90.0) störung (F95.1)
6 Wenn komorbid mit einer Störung des Sozi- – Kombinierte vokale und multiple moto-
alverhaltens → Hyperkinetische Störung des rische Tics (Tourette-Syndrom; F95.2)
7 Sozialverhaltens 5 Enuresis (F98.0), Enkopresis (F98.1)
5 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperakti-
8 vität (F98.8)
9
10 Organische, einschließlich weist lediglich daraufhin, dass das zu beob-
symptomatischer psychischer Störungen achtende psychopathologische Syndrom auf
11 (F0) jeden Fall einer unabhängig davon diagnosti-
Das Kapitel F0 der ICD-10 umfasst psychische zierbaren zerebralen oder systemischen Krank-
12 Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer
zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder
heit oder Störung zugeordnet werden kann. Der
Begriff »symptomatisch« wird dann verwen-
einer anderen Störung, die zu einer Hirnfunk- det, wenn eine organische psychische Störung
13 tionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann auf einer mittelbaren zerebralen Beteiligung bei
primär sein, bei Krankheiten, Verletzungen oder einer systemischen, extrazerebralen Krankheit
14 Störungen, die das Gehirn direkt oder in beson- oder Störung beruht. In der Regel erfordert also
derem Maße betreffen; oder sekundär, z. B. bei die Diagnosestellung bei Störungen aus diesem
15 Systemerkrankungen oder Störungen, die das Abschnitt die Verwendung zweier Kodierungen,
Gehirn nur als eines von vielen Organen oder eine Kodierung für das psychopathologische
16 Körpersystemen betreffen. Durch Alkohol und Syndrom, die andere für die zugrunde liegende
andere psychotrope Substanzen verursach- somatische Störung.
17 te Störungen der Hirnfunktion werden jedoch
unter F1 klassifiziert, damit alle durch psycho-
Die psychopathologischen Symptome der
unter F0 aufgeführten Zustandsbilder kön-
schließlich Medikation und Substanzkonsum, Voraussetzung für die Diagnose einer orga-
sowie um Angaben über Vorgeschichte und Ent- nischen psychischen Störung nach diesen bei-
wicklung des aktuellen Bildes sowie Art und den diagnostischen Kategorien ist der objek-
Ausmaß der Abweichung vom Normalzustand tive Nachweis anhand körperlicher, neurolo-
zu erhalten. Die Fluktuationen in der Symp- gischer oder laborchemischer Untersuchungen
tomatik können jedoch zu widersprüchlichen und/oder Anamnese einer zerebralen Krank-
fremdanamnestischen Angaben über die Symp- heit, Schädigung oder Funktionsstörung oder
tomatik des Patienten führen. Neben Explorati- einer systemischen Krankheit in der Vorge-
on, psychiatrischer Untersuchung und Anam- schichte, die bekanntermaßen eine zerebrale
nese sind körperliche Untersuchung, Laborun- Funktionsstörung verursachen kann. Solche
tersuchungen sowie EEG (meist verlangsamte zugrunde liegenden somatischen Störungen
Hintergrundaktivität) und MRI für die Differen- sind u. a.: Infektionskrankheiten mit zentral-
zialdiagnose der zugrunde liegenden Ätiologie nervöser Beteiligung, Schädel-Hirn-Traumata,
des Delirs relevant. zerebrale Tumoren, Epilepsie, endokrine und
Das anticholinerge Delir geht aufgrund seiner metabolische Störungen und Autoimmunpro-
spezifischen Pathogenese mit einer spezifischen zesse mit zentralnervöser Beteiligung. Weiterhin
Symptomatik einher. wird ein zeitlicher Zusammenhang (Wochen bis
einige Monate) zwischen der Entwicklung der
zugrunde liegenden Krankheit und dem Auf-
Symptome eines anticholinergen Delirs treten des psychischen Syndroms gefordert. Ein
(F05) deutlicherer Hinweis auf eine ätiologische Bezie-
5 Agitiertheit und Aggressivität hung ergibt sich, wenn es nach Rückbildung
5 Optische Halluzinationen oder Besserung der zugrunde liegenden vermu-
5 Mydriasis teten Ursache auch zu einer Besserung der psy-
5 Rote, trockene Haut chischen Störung kommt.
5 Fieber
5 Tachykardie
5 Dysarthrie
5 Harnverhalt
1
Kind/Jugendlicher
mit disruptiven Symptomen
10 F60.3 Emotional-instabile
ja nein
Wiederholte Handlungen ohne vernünftige Motivation,
Persönlichkeitsstörung die nicht kontrolliert werden können und die Interessen
11 (auch komorbid) der betroffenen Person oder anderer schädigen
ja nein
13
(auch komorbid) eingeschränkte, stereotype Interessen und Aktivitäten?
ja nein
F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Intensive negative Gefühle gegenüber einem unmittelbar
14 (Ausschluss) jüngeren Geschwister?
ja nein
ja nein
18 ja
keitsstörung erfüllt, Alter ≥16 Jahre?
nein
F60.2 dissoziale Persönlichkeitsstörung Mindestens ein disruptives Symptom in erheblicher
19 (Ausschluss) Ausprägung seit mindestens sechs Monaten
nein
ja
20
F91, F92, F90.1, F90.8 Störungen des Evaluation des bisherigen diagnostischen Prozesses,
Sozialverhaltens (s. Abb. 2.1, 4.1) Einholen von weiteren diagnostischen Informationen
. Abb. 5.1. Differenzialdiagnostik bei disruptiven Symptomen. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«,
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
77 5
Exkurs
Hirntumoren als Ursache aggressiven Verhal- Epilepsie als Ursache aggressiven Verhaltens
tens Eine Epilepsie kann idiopathisch, d. h. ohne
Hirntumoren stellen im Kindesalter nach den eine erkennbare Ursache, auftreten oder Folge
Leukämien die zweitgrößte Gruppe maligner einer Enzephalitis, eines Schädel-Hirn-Traumas
Erkrankungen dar. Ein Hirntumor kann sich oder eines Gehirntumors sein. Bei den meisten
durch Lokalsymptome infolge der Irritation des Patienten mit Epilepsie besteht keine erhöhte
Hirngewebes am Tumorsitz sowie in unspe- Aggressivität, hiervon ist lediglich eine kleine
zifischen Fernsymptomen äußern, die durch Subgruppe betroffen, insbesondere bei Beteili-
intrakranielle Drucksteigerung (Tumormasse, gung temporolimbischer Regionen. Im Zusam-
peritumorales Ödem, Liquoraufstau) entstehen. menhang mit epileptischen Anfällen auftre-
Primäre Manifestation eines Großteils der Hirn- tendes aggressives Verhalten geht mit hohem
tumoren im Kindesalter sind Kopfschmerzen; Arousal, Angst oder Furcht einher. Während
eines der frühesten Anzeichen eines Hirntu- eines epileptischen Anfalls auftretendes, iktales
mors kann jedoch auch eine Verhaltensände- aggressives Verhalten ist selten, und in der
rung des betroffenen Kindes sein (van Koot Regel handelt es sich dann um einfaches, ste-
1992). Nicht selten treten Wutausbrüche und reotypes und ungezieltes aggressives Verhal-
impulsiv-aggressives Verhalten auf, vor allem ten. Auch postiktal, im Anschluss an einen epi-
dann, wenn temporale und hypothalamische leptischen Anfall, tritt äußerst selten eine kon-
Regionen – welche mit aggressivem Verhal- sekutive Abfolge zielgerichteter aggressiver
ten in Zusammenhang stehen – betroffen sind Handlungen auf. Interiktales, also im Intervall
(van Koot 1992; Nakaji et al. 2003; Weissenber- zwischen den epileptischen Anfällen auftre-
ger et al. 2001). Auch gutartige Tumoren und tendes impulsiv-aggressives Verhalten ist ein
andere intrakranielle Raumforderungen, z. B. bei Patienten mit Temporallappen-Epilepsie gut
Abszesse, umschriebene Blutungen und Zys- bekanntes, aber dennoch selten auftretendes
ten, können zu erhöhter Aggressivität füh- Phänomen; es kann auch Folge von interiktaler
ren, selbst dann, wenn im MRI kein Hinweis auf epileptiformer Aktivität sein. Vermehrtes impul-
einen Verdrängungseffekt oder erhöhten intra- siv-aggressives Verhalten im Rahmen einer Epi-
kraniellen Druck festzustellen ist, und psychia- lepsie kann nicht nur direkt auf die abnorme
trische Symptome mit deutlich erhöhter impul- elektrische Aktivität zurückzuführen sein, son-
siver Aggressivität können die einzige Mani- dern auch eine unerwünschte Nebenwirkung
festation sein – ohne begleitende neurolo- einer antiepileptischen Therapie darstellen. So
gische Befunde wie zerebrale Krampfanfäl- kam es vor allem bei Kindern mit Intelligenz-
le oder fokale Ausfälle (von Gontard u. Müller minderung unter antiepileptischer Behandlung
1991; Nakaji et al. 2003). Die chirurgische Ent- zu vermehrter Gereiztheit und aggressivem
fernung des Tumors kann eine kausale Thera- Verhalten (Harbord 2000). Grundsätzlich kann
pie des disruptiven Verhaltens darstellen (Naka- natürlich auch bei Patienten mit einer Epilepsie
ji et al. 2003). Auch wenn intrakranielle Tumo- vermehrt proaktiv-aggressives Verhalten auftre-
ren eine seltene Ursache disruptiven Verhaltens ten, welches dann nicht als unmittelbar orga-
sind, sollte man zumindest bei extremer oder nisch verursachtes Verhalten zu betrachten ist,
atypischer Ausgestaltung des aggressiven Ver- wohl aber mit den mit einer Epilepsie einherge-
haltens sowie bei zusätzlichem Vorliegen neu- henden kognitiven, emotionalen und psycho-
rologischer Symptome eine MRI-Untersuchung sozialen Schwierigkeiten in Zusammenhang
in Betracht ziehen. stehen kann.
6
78 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
6 5 Weitere Symptome:
– Retrograde Amnesie für die das Schä-
von unterschiedlich schweren Läsionen in unter-
schiedlichen Hirnregionen können sich unter-
7
del-Hirn-Trauma bewirkende Kraftein- schiedliche Symptome manifestieren (McAllis-
wirkung selbst sowie einen variablen ter u. Arciniegas 2002). Bei einem geschlossenen
davor liegenden Zeitraum Schädel-Hirn-Trauma sind häufig vor allem fron-
8 – Evtl. anterograde Amnesie tale und temporale Regionen betroffen, so dass
– Evtl. vegetative Symptome (Blässe, es neben kognitiven Beeinträchtigungen (u. a.
9 Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kopf- von Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksam-
schmerzen) keit, Gedächtnis und Problemlösen) zu ausge-
10 – Bei substanziellen Hirnverletzungen: prägter Impulsivität, affektiver Labilität und Irrita-
neurologische Herdzeichen bilität sowie impulsiver Aggressivität bei gering-
11 – Bei schweren Schädel-Hirn-Traumata: fügigen Anlässen kommen kann (McAllister 1992;
gravierende Kreislauf- und Atemfunkti- Max et al. 2001). Bereits geringe fokale neurolo-
17 Schädel-Hirn-Trauma nahelegt?
5 Sind Spuren einer Krafteinwirkung auf den
1998), in Wechselwirkung mit den durch orga-
nische Faktoren bedingten Schwierigkeiten. So
18
Gesichtsschädel festzustellen? zeigte sich bei Kindern nach einem Schädel-Hirn-
5 Kann der Patient sich an das Schädel-Hirn- Trauma eine Zunahme aggressiven Verhaltens
Trauma selbst erinnern? erst im Zusammenhang mit erhöhten schulischen
19 5 Trat eine posttraumatische Bewusstseins- Anforderungen (Feeney u. Ylvisaker 2003).
störung auf (die aber auch übersehen wor-
20 den sein kann)?
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
79 5
7 unberechenbar sind.
Im Rahmen einer akuten Intoxikation kann
klassischen Manie aufgrund des episodischen
Verlaufes gut davon abgrenzbar.
es auch zu einem Delir (F1x.03) kommen, z. B. Bei jüngeren Kindern ergeben sich hier
8 als anticholinerges Delir durch Ingestion von jedoch differenzialdiagnostische Schwierig-
Pflanzenalkaloiden (F19.03). Weniger bedeut- keiten, und gerade bei Kindern mit ausgeprägter
9 sam ist im Jugendalter das Entzugssyndrom mit affektiver Instabilität, Irritabilität und Aggressi-
Delir (F1x.4), welches z. B. bei Alkohol- oder vität wird im US-amerikanischen Raum nicht
10 Benzodiazepinentzug auftreten kann. Erheb- selten eine bipolare Störung diagnostiziert.
liches aggressives Verhalten kann im Rahmen Begründet wird dieses u. a. damit, dass eine
11 einer substanzinduzierten psychotischen Stö- bipolare Störung mit Beginn im Kindesalter sehr
rung (F1x.5) auftreten. Diesbezüglich relevante selten einen klassischen episodischen Verlauf
12 Substanzen sind Cannabis, Amphetamine, LSD,
Ecstasy, Alkohol, psychotrope Alkaloide, orga-
zeige, wie er bei erwachsenen Patienten zu sehen
ist, sondern subkontinuierlich und unregelmä-
nische Lösungsmittel, Alkohol und Kokain; ins- ßig verlaufe, wobei das klinische Bild von Irri-
13 besondere bei multiplem Substanzkonsum ist tabilität, Dysphorie, Wutausbrüchen, Feindselig-
die Gefahr einer psychotischen Störung erhöht. keit und Aggressivität gekennzeichnet sei. Dage-
14 Weiterhin kann es, z. B. nach chronischem Abu- gen hat die Diagnose einer bipolaren Störung im
sus von organischen Lösungsmitteln, zu einer Kindesalter im Verbreitungsbereich der ICD-10
15 durch psychotrope Substanzen induzierten Per- Seltenheitswert. Diese Frage ist jedoch keines-
sönlichkeits- oder Verhaltensstörung (F1x.71) mit wegs akademisch, denn die klinische Erfahrung
16 erhöhter Aggressivität kommen. zeigt, dass bei einem Teil der Kinder mit dem
beschriebenen klinischen Bild tatsächlich die
17 Schizophrenie (F20)
Die Diagnose einer Schizophrenie schließt nach
Gabe eines stimmungsstabilisierenden Medika-
mentes (z. B. Valproat, Lithium) für eine suffizi-
rung aus dem Kapitel F3 erfüllt sind, dann ist die ten; typisches Kennzeichen ist jedoch das wie-
Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit derholte Erleben des Traumas in sich aufdrän-
depressiver Störung (F92.0) zu stellen (7 2.4). genden Erinnerungen oder Albträumen. Wenn
Hierbei ist zu bedenken, dass insbesonde- nach einem belastenden Lebensereignis vorwie-
re Eltern, aber unter Umständen auch Kinder gend bzw. unter anderem Symptome einer Stö-
und Jugendliche selbst, zu einer Aggravierung rung des Sozialverhaltens auftreten, die nicht
der depressiven Symptomatik und einer Dissi- länger als 6 Monate andauern, ist die Diagno-
mulation aggressiv-dissozialen Verhaltens nei- se einer Anpassungsstörung mit vorwiegender
gen. Selbst wenn eine Störung des Sozialver- Störung des Sozialverhaltens (F43.24) bzw. einer
haltens zeitlich nach einer depressiven Störung Anpassungsstörung mit gemischter Störung von
aufgetreten ist, kann nicht vorausgesetzt wer- Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) zu stellen.
den, dass eine effektive Behandlung der depres- Dagegen sollte für die Diagnose einer Störung
siven Störung zu einer Remission der Störung des Sozialverhaltens die Symptomatik mindes-
des Sozialverhaltens führt. Hierbei ist u. a. rele- tens 6 Monate lang bestanden haben (7 2.5).
vant, wie lang die Störung des Sozialverhaltens
bereits besteht und in welchem Maß für die dis- Essstörungen (F50)
ruptiven Verhaltensweisen aktuelle aufrechter- Das Stehlen von Nahrungsmitteln im Rahmen
haltende Faktoren unabhängig von der depres- einer Essstörung (z. B. Heißhungerattacken bei
siven Störung vorliegen. Bulimia nervosa) sollte nicht als Störung des
Sozialverhaltens klassifiziert werden, wenn sons-
Neurotische, Belastungs- und somatoforme tige dissoziale oder aggressive Handlungen feh-
Störungen (F4) und emotionale Störungen len. Gleichwohl kann eine Störung des Sozial-
des Kindesalters (F93) verhaltens komorbid mit einer Bulimie auftreten
Wenn neben den diagnostischen Kriterien für (7 4.3), seltener mit einer Anorexie.
eine Störung des Sozialverhaltens auch die dia-
gnostischen Kriterien für eine Störung aus den Nichtorganische Schlafstörungen (F51)
Kapiteln F4 oder F93 erfüllt sind, dann ist laut Eine Schlafstörung kann als komorbide Störung
ICD-10 eine sonstige kombinierte Störung des zu einer Störung des Sozialverhaltens relevant
Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) zu sein (7 4.3).
diagnostizieren (7 2.4).
Hier stellt sich jedoch die Frage, ob nicht Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)
die separate Aufnahme spezifischer Störungen Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeits-
aus diesen Kategorien, wie z. B. Panikstörung, störung schließt nach der ICD-10 die gleichzei-
Zwangsstörung oder posttraumatische Belas- tige Diagnosestellung einer Störung des Sozial-
tungsstörung, in die multiaxiale Diagnose des verhaltens aus (7 2.5).
betroffenen Patienten sinnvoll wäre. Vor allem
im häuslichen Rahmen auftretende Zwangs- Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung
handlungen (F42.1), die mit aggressivem Ver- (F60.3)
halten einhergehen können, wenn der Patient Im Einzelfall können erhebliche Abgrenzungs-
an deren Durchführung gehindert wird, kön- schwierigkeiten zwischen einer (hyperkine-
nen Anlass zur Verwechslung mit einer auf den tischen) Störung des Sozialverhaltens mit aus-
häuslichen Rahmen beschränkten Störung des geprägter impulsiver Aggressivität und einer
Sozialverhaltens geben. Auch im Rahmen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom
posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) impulsiven Typus (F60.30) auftreten, für deren
können Reizbarkeit und Wutausbrüche auftre- Diagnose nach den ICD-10-Forschungskriterien
82 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
bereits eingetreten sind, sowie die ständige lungsbedingtem Experimentieren mit Feuer
gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel. sowie unbeabsichtigter Brandstiftung, Brandstif-
Falls delinquente Handlungen ausschließlich in tung im Rahmen einer Störung des Sozialverhal-
diesem Rahmen durchgeführt werden – z. B. tens und pathologischer Brandstiftung sind die
Diebstähle zur Finanzierung des Glücksspiels –, Übergänge im Kindes- und Jugendalter fließend,
wird hierdurch die Diagnose einer Störung des und meistens tritt Brandstiftung im Rahmen
Sozialverhaltens nicht gerechtfertigt. Umgekehrt einer Störung des Sozialverhaltens auf. Pyroma-
kann Glücksspiel auch im Rahmen einer Störung nie scheint im Kindesalter selten vorzukommen;
des Sozialverhaltens beobachtet werden, die im es gibt jedoch vereinzelt Jugendliche, die tatsäch-
Jugendalter sehr viel häufiger als das patholo- lich die typischen diagnostischen Kriterien einer
gische Spielen auftritt. Für die Differenzialdi- Impulskontrollstörung erfüllen, nämlich ausge-
agnose ist zum einen der für das pathologische prägtes Interesse und häufige Beschäftigung mit
Spielen typische Kontrollverlust relevant, zum Feuer und damit assoziierten Gegenständen und
anderen, ob – neben eventuellen delinquenten Handlungen sowie steigende Spannung vor der
Handlungen zur Finanzierung des Glücksspiels Handlung und Spannungsabfall nach der Hand-
– andere dissoziale oder aggressive Handlungen lung. Sofern andere dissoziale Verhaltensweisen
auftreten, die dann die Diagnose einer Störung oder aggressive Verhaltensweisen fehlen, ist auch
des Sozialverhaltens nahelegen würden. im Jugendalter die Diagnose der Pyromanie oder
Das Störungsbild der pathologischen Brand- pathologischen Brandstiftung zu stellen.
stiftung (F63.1) ist gekennzeichnet durch mehre- Nach der ICD-10 ist pathologisches Stehlen
re Episoden – anscheinend unmotivierter – ver- (Kleptomanie, F63.2) charakterisiert durch häu-
suchter oder vollendeter Brandstiftung an Häu- figes Nachgeben gegenüber dem Impuls, Dinge
sern oder anderen Objekten sowie eine intensive zu stehlen, die nicht zum persönlichen Gebrauch
Beschäftigung mit allem, was mit Feuer und oder aufgrund ihres Geldwertes benötigt wer-
Bränden in Zusammenhang steht. Die Moti- den. Die Gegenstände werden häufig wegge-
vation für die Brandstiftung liegt in der Beob- worfen oder verschenkt, manchmal auch gehor-
achtung des Brandes selbst; berichtet werden tet oder heimlich zurückgegeben. Wie bei ande-
Gefühle wachsender Spannung vor der Hand- ren Impulskontrollstörungen beschreiben die
lung und starke Erregung, Vergnügen, Befrie- Betroffenen gewöhnlich steigende Spannung
digung oder Entspannung während oder sofort vor der Tat und Vergnügen, Befriedigung oder
nach ihrer Ausführung. Andere Motive wie Entspannung während und sofort nach der Tat.
materieller Gewinn, Rache, politischer Extre- Die Diebstähle – in Geschäften oder an anderen
mismus oder Verdecken von Spuren einer Straf- Orten – werden allein und gewöhnlich ohne Vor-
tat sind nicht erkennbar oder nicht relevant. Die ausplanung durchgeführt. Der Impuls zum Steh-
Störung ist bei Männern – oft mit geringen sozi- len wird oft als Ich-dyston, falsch und sinnlos
alen Fertigkeiten und schulischem Leistungs- erlebt, und zwischen den einzelnen Diebstählen
versagen in der Vorgeschichte – häufiger als bei können Angst und Schuldgefühle auftreten, was
Frauen. Die Diagnose wird nicht gestellt, wenn jedoch erneutes Stehlen nicht verhindert. Hier-
das Feuerlegen im Rahmen einer Störung des bei handelt es sich um eine eher seltene Störung.
Sozialverhaltens, einer manischen Episode oder Vom pathologischen Stehlen abzugrenzen sind
als Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzi- die weitaus häufigeren Fälle, bei denen der per-
nationen (z. B. bei Schizophrenie) auftritt oder sönliche Nutzen der Diebstähle offensichtlich ist
auf vermindertes Urteilsvermögen (z. B. bei geis- und die Diebstahlshandlungen sorgfältiger
tiger Behinderung, tiefgreifender Entwicklungs- geplant sind. Insbesondere Jugendliche steh-
störung) zurückzuführen ist. Zwischen entwick- len gelegentlich auch als Mutprobe oder »Initi-
84 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
Ausmaß an emotionalen Auffälligkeiten. Die- tet das oppositionelle Verhalten eines mutisti-
se sind meist nur gering ausgeprägt und vorü- schen Patienten deutlich das bei dieser Störung
bergehend, manchmal kann jedoch die nach der üblicherweise zu beobachtende Ausmaß, kann
Geburt des jüngeren Geschwisters entstandene erwogen werden, zusätzlich die Diagnose einer
Rivalität und Eifersucht auffällig ausgeprägt sein oppositionellen Störung zu stellen.
und lang anhalten. Das Konkurrieren mit dem
Geschwisterkind um die Aufmerksamkeit und Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
Zuneigung der Eltern sollte nur dann als abnorm (F94.1)
bewertet werden, wenn es mit besonders nega- Hauptmerkmal einer reaktiven Bindungsstö-
tiven Gefühlen verbunden ist. Hartnäckige Wei- rung des Kindesalters ist ein abnormes Bezie-
gerung zu teilen, Mangel an positiver Beachtung hungsmuster zu Betreuungspersonen, mit deut-
und freundlicher Zuwendung, aber auch offene lich widersprüchlichen oder ambivalenten sozi-
Feindseligkeit, körperliches Verletzen, Böswillig- alen Reaktionen in verschiedenen Situationen,
keit oder Hintergehen des Geschwisters können das sich vor dem Alter von 5 Jahren entwickelt
auftreten. Gewöhnlich nehmen oppositionelles hat. Weiterhin liegt eine emotionale Störung mit
oder konfrontatives Verhalten gegenüber den einem Verlust emotionaler Ansprechbarkeit,
Eltern zu, aber neben Wutausbrüchen kommt es sozialem Rückzug, aggressiven Reaktionen und/
auch zu Verstimmungszuständen in Form von oder ängstlicher Überempfindlichkeit vor.
Angst, Unglücklichsein oder sozialem Rück-
zug. Darüber hinaus ist oft eine gewisse Regres- Bindungsstörung des Kindesalters mit
sion mit Verlust bereits erworbener Fertigkeiten Enthemmung (F94.2)
(z. B. Blasen- oder Darmkontrolle) und einer Die Bindungsstörung des Kindesalters mit Ent-
Tendenz zu babyhaftem Verhalten zu beobach- hemmung ist von einem diffusen, nichtselek-
ten. So möchte das Kind das Baby in Aktivitäten, tiven Bindungsverhalten bzw. einem relativen
welche die elterliche Aufmerksamkeit beanspru- Fehlen selektiver sozialer Bindungen gekenn-
chen, z. B. gefüttert werden, nachahmen. Der zeichnet. Ab dem Kleinkindalter ist aufmerk-
Schlaf kann gestört sein, und häufig besteht ein samkeitssuchendes Verhalten zu beobach-
verstärktes Bedürfnis nach elterlicher Aufmerk- ten, welches sich auch als disruptives Verhalten
samkeit, etwa beim Zubettgehen. manifestieren kann.
Die Abgrenzung gegenüber einer auf den Wenn eine Bindungsstörung komorbid zu
familiären Rahmen beschränkten Störung des einer Störung des Sozialverhaltens auftritt, ist die
Sozialverhaltens (F91.0) oder einer kombinierten Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens bei
Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen fehlenden sozialen Bindungen (F91.2) zu stellen
(F92) ergibt sich aus dem kausalen Zusammen- (7 4.1).
hang mit der Geburt eines Geschwisterkindes,
der sich in der zeitlichen Nähe zur Geburt sowie Ticstörungen (F95)
in den spezifischen Inhalten des abweichenden Eine vorübergehende Ticstörung (F95.0) oder
Verhaltens widerspiegelt. Bei einem Persistieren eine chronische motorische oder vokale Ticstö-
des Problematik kann sich hieraus jedoch eine rung (F95.1) tritt vor allem bei Vorliegen einer
auf den familiären Rahmen beschränkte Störung hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens
des Sozialverhaltens entwickeln. als komorbide Störung auf (7 4.3).
Bei etwa einem Viertel der Patienten mit
Elektiver Mutismus (F94.0) kombinierten vokalen und multiplen moto-
Im Rahmen eines elektiven Mutismus tritt häufig rischen Tics (Tourette-Syndrom, F95.2) werden
auch oppositionelles Verhalten auf. Überschrei- plötzlich auftretende Wut und explosives aggres-
86 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung
18 te-Syndrom auftreten.
Auswahl des
1 6.1
Interventionssettings
Wesentlich für die Auswahl des Interventi-
onssettings ist zunächst die Klärung der Frage,
ob eine akute Eigen- und/oder Fremdgefähr-
2 Eine Störung des Sozialverhaltens hat nicht nur dung besteht (. Abb. 6.1). Wenn bei Vorliegen
für Dritte, sondern auch für die Entwicklung einer akuten Eigen- und/oder Fremdgefährdung
3 des betroffenen Kindes oder Jugendlichen selbst ein überwiegend akut-psychiatrischer Interven-
negative Konsequenzen, so dass bei Diagnose tionsbedarf gegeben ist, wenn also die Gefähr-
4 einer solchen Störung auch geeignete Interven- dung auf einer psychiatrischen Störung beruht
tionen durchgeführt werden sollten. oder zumindest ein dahingehender Verdacht
5 besteht, ist eine stationäre kinder– bzw. jugend-
6
Leitsymptom(e) gesichert
7 für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens«
(mit Schweregrad und Dauer)
8
Akute Eigen- und/oder Fremdgefährdung?
9 nein ja
16
teil- oder vollstationäre
Einrichtung der Suchthilfe
17
Rat, das Jugendamt
18
hinzuzuziehen
18 Behandlungsziels ist.
Entsprechend der jeweiligen Problemkons-
Auch die soziokulturellen einschließlich eth-
nischer und religiöser Gegebenheiten und Wert-
tellation und dem Behandlungsbedarf wird ein vorstellungen der Familie sind zu berücksich-
19 Therapieplan unter Einbezug verschiedener tigten. Das Definieren von konkreten, spezi-
Komponenten erstellt: fischen Zwischenzielen unter Beteiligung von
20 5 Psychoedukative Maßnahmen: Aufklä- Kind bzw. Jugendlichem und Eltern hilft dabei,
rung und Beratung der Eltern, des Kindes/ den Behandlungsfortschritt für Kind, Eltern und
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
91 6
Behandler sichtbar werden zu lassen und die zunehmend mehr Lebensbereiche negativ beein-
Effektivität einer Intervention zu beurteilen. flusst werden, ist es bereits als Erfolg zu bewer-
Die Qualität der therapeutischen Bezie- ten, wenn der Schweregrad der Störung und
hung zwischen Kind und Behandler sowie zwi- die Anzahl betroffener Lebensbereiche nicht
schen Eltern und Behandler ist für den Thera- zunimmt und das Funktionsniveau des Kindes
pieerfolg von hoher Relevanz. Sehr wichtig ist oder Jugendlichen, also die Bewältigung seiner
es, neutral und gelassen mit sog. »Widerstand« alterstypischen Entwicklungsaufgaben, gesichert
umzugehen. Gerade Kinder und Jugendliche mit werden kann.
Störungen des Sozialverhaltens wachsen häu-
fig unter schwierigen psychosozialen Bedin-
gungen auf, und es ist eher die Regel als die Aus- 6.2.1 Krankheitsstadienbezogene
nahme, dass die Eltern – aus welchen Gründen Komponenten
auch immer – nicht in der Weise mitarbeiten
(können), wie die »Helfer« es für notwendig hal-
ten. Dann sollte eine sachliche Analyse erfolgen, Prävention und frühe Intervention
worin das Hindernis besteht. Wenn Interventi- Die Stabilität von Störungen des Sozialverhal-
onen nicht umgesetzt werden, ist dies stets ein tens sowie Ausmaß und Vielfalt möglicher nega-
Anzeichen dafür, dass bestimmte Hindernisse tiver Auswirkungen legen es nahe, präventive
für die Behandlung nicht hinreichend berück- Anstrengungen zu unternehmen. Sind opposi-
sichtigt wurden. Hieraus können sich relevante tionelle, aggressive und/oder dissoziale Verhal-
Informationen ergeben, z. B. dass wichtige auf- tensweisen erst einmal etabliert, trägt eine Viel-
rechterhaltende Faktoren oder Beschränkungen zahl unterschiedlicher Faktoren zu ihrer Auf-
der psychosozialen Ressourcen nicht genügend rechterhaltung und Stabilisierung bei und wirkt
in die Behandlungsplanung einbezogen wurden. dem Einfluss von Interventionen, die auf eine
Verminderung solcher Verhaltensweisen gerich-
! Die Behandlung sollte hinreichend intensiv tet sind, entgegen. Deswegen ist es wichtig, dass
und von hinreichend langer Dauer sein, um tat- frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die bei
sächlich Verhaltensänderungen beim Patienten den Risikofaktoren für die Entwicklung von Stö-
zu bewirken. Bei der Planung und Durchfüh- rungen des Sozialverhaltens ansetzen. Solche
rung der Interventionen ist darauf zu achten, Präventionsprogramme unterscheiden sich hin-
dass eine möglichst hohe Generalisierung des sichtlich des Zeitpunkts der Intervention (Prä-
Behandlungserfolgs in den Alltag des Patienten natalzeit bis Adoleszenz), hinsichtlich des Fokus
erreicht werden kann. der durchgeführten Interventionen (Kind/
Jugendlicher, Familie, Schule, Gemeinde) sowie
Stets sollte überlegt werden, wie der Behand- hinsichtlich des Umfangs und Interventionsbe-
lungserfolg stabilisiert werden kann, z. B. durch darfs der Zielgruppe.
eine Fortführung der Behandlung mit geringe-
rer Intensität, »Booster-Sitzungen« in größeren Universelle Prävention
Zeitabständen oder »Nachsorge« in anderen Set- Eine universelle Prävention zielt darauf ab, bei
tings, einschließlich Elterngruppen, regionalen allen Mitgliedern einer (Teil-)Population Risiko-
sozialen Diensten und Jugendhilfe. faktoren zu vermindern. Bespiele dafür sind:
Bei einem nicht unerheblichen Teil der 5 Einschränkung von Gewaltdarstellungen in
Patienten kann keine vollständige Remission den Medien (einschließlich Computerspie-
erreicht werden. Da bei einer Störung des Sozi- len, Internet) sowie diesbezügliche Zugangs-
alverhaltens jedoch die Tendenz besteht, dass beschränkungen für Kinder und Jugendliche
92 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
der Therapeut auf indirektem Weg Einfluss auf Eltern sollte deutlich werden, dass sie, wenn
das Kind. Das Verhalten des Kindes soll von den sie dem Wunsch des Kindes nachgeben, weil es
Eltern als veränderbar verstanden werden, und einen Wutanfall bekommt, die Wahrscheinlich-
die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens auf keit weiterer Wutausbrüche erhöhen. In solchen
das Verhalten ihres Kindes sollen ihnen deutlich Situationen kann ein Time-out eingesetzt wer-
werden. den, damit das Kind (wie auch die Eltern) sich
wieder beruhigen können; denn es ist kontra-
Beispiel produktiv, wenn Eltern die Kontrolle über sich
Von großer Bedeutung ist es, wie Eltern ihr Kind wahr- selbst verlieren und anfangen zu schreien oder
nehmen: Denken sie, dass ihr Kind deviantes Verhal- das Kind zu schlagen. Eltern können ihr Kind
ten zeigt, um sie zu ärgern? Haben sie unrealistische dabei unterstützen, die Kontrolle über sein Ver-
Erwartungen an das Verhalten ihres Kindes? Können halten wieder zu erlangen, und versuchen, nach
sie differenzieren, wann ihr Kind Unterstützung benö- einem solchen Vorfall wieder zu einem neutral-
tigt, wann Begrenzung? Die Eltern werden angeleitet, positiven Ton zu gelangen.
das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen auf eine Generelles Ziel ist es auch, den Eltern Strate-
veränderte Art und Weise zu beobachten und zu defi- gien zu vermitteln, die die Zusammenarbeit zwi-
nieren, z. B.: »Mein Kind will mich mit seinem Wutaus- schen Kind und Eltern fördern. Eltern werden
bruch nicht (nur) ärgern, sondern es ist frustriert und dazu ermutigt, mit ihrem Kind Absprachen zu
weiß nicht, wie es auf andere Weise damit umgehen treffen, die Regeln sowie die Konsequenzen deut-
kann«. lich und nachvollziehbar mitzuteilen, adäquate
und faire positive und negative Konsequenzen
Wichtig ist, dass Eltern realistische, altersadä- zu wählen, und nicht ihr Kind zu bestrafen, ohne
quate Erwartungen an das Verhalten ihres Kin- den Grund dafür verdeutlicht zu haben. Im Rah-
des haben und die spezifischen Merkmale ihres men der von den Eltern vorgegebenen Ziele kön-
Kindes – z. B. seine ADHS-Symptomatik – ver- nen Kindern Optionen und Wahlmöglichkeiten
stehen, die zu seinem disruptiven Verhalten bei- angeboten werden und potenziell konflikterzeu-
tragen. gende Ereignisse vorbesprochen werden.
Vor allem bei ausgeprägtem disruptiven Ver-
halten des Kindes und/oder mehreren fehlge- Beispiel
schlagenen Interventionsversuchen ist es wich- Wenn ein Kind seine Hausarbeiten nicht machen will,
tig, den Eltern schnell möglichst konkrete kann es helfen, wenn es Teilaspekte selber bestimmen
Verhaltensstrategien zum Umgang mit proble- darf, z. B. mit welchem Stift es schreiben will oder in
matischen Verhaltensweisen ihres Kindes an die welcher Reihenfolge es die Hausarbeiten erledigt.
Hand zu geben.
Kinder mit oppositionellen Störungen finden
Beispiel es häufig schwierig, Außenvorgaben bezüglich
Einfache und klare Anweisungen, promptes und eines Wechsels ihrer Tätigkeit unmittelbar nach-
konsistentes Reagieren auf erwünschtes und uner- zukommen; es gelingt ihnen leichter, sich koope-
wünschtes Verhalten, Einführen eines Token-Systems rativ zu verhalten, wenn die Veränderung vorher
für erwünschtes Verhalten und einer Time-out-Proze- angekündigt wird.
dur als negative Konsequenz, Etablieren von »Notfall-
plänen« für konfliktreiche Situationen (z. B. morgens, Beispiel
Mahlzeiten, Einkaufen, Besuche, Öffentlichkeit). Statt der unmittelbaren Aufforderung »Jetzt ist Schla-
fenszeit« kann die Ankündigung »In fünf Minuten
ist es Zeit, schlafen zu gehen« besser angenommen
96 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
direkter negativer Sanktionen verzichtet wird, da fig zu Konflikten führt. Hierfür stellen die El-
diese missbräuchlich gegen das Kind eingesetzt tern zusammen mit ihrem Kind einen Ablauf-
werden könnten (Ducharme et al. 2000). plan auf, in welchem dem Kind weniger ange-
nehme Tätigkeiten, z. B. Zähneputzen, mit ange-
Beschränken auf Aufforderungen mit hoher Er nehmeren Tätigkeiten, z. B. Vorlesen einer Ge-
folgswahrscheinlichkeit. Den Eltern wird ver- schichte durch seine Mutter, abwechseln. Wenn
mittelt, nur Aufforderungen mit hoher Erfolgs- eine Verpflichtung nicht erfüllt wird, tritt somit
wahrscheinlichkeit an das Kind zu richten, also als natürliche Konsequenz der Verlust der zeit-
solche Aufforderungen, denen es mit einer ho- lich darauf folgenden angenehmen Aktivität ein.
hen Wahrscheinlichkeit nachkommt. Das Be-
folgen einer Aufforderung wird von den Eltern Beispiel
mit Lob und körperlicher Berührung beantwor- Hilfreich ist auch die visuelle Gestaltung des Ablauf-
tet, so dass die Eltern sich schnell als erziehungs- und Zeitplanes mit grafischen Mitteln; so kann ein
kompetenter erleben und das familiäre Klima älteres Kind den Plan auf dem Computer erstellen,
positiver wird. Wenn das Kind anhand einfach oder ein jüngeres Kind kann mit seiner Mutter Bilder
zu befolgender Aufforderungen gelernt hat, ko- aus Zeitschriften ausschneiden und aufkleben, um
operatives Verhalten als positiv zu erleben, kön- die jeweiligen Aktivitäten des Planes zu visualisieren.
nen vorsichtig zunehmend schwierigere Anfor- Wenn die Eltern im Plan eintragen, dass das Kind die
derungen an das Kind gestellt werden. jeweiligen Aktivitäten ausgeführt hat, liefert dieses
dem Kind eine direkte visuelle Rückmeldung und kann
Ignorieren unerwünschter Verhaltensweisen. Anlass zum Loben des Kindes sein; wenn das Kind sei-
Das Ignorieren unerwünschter Verhaltenswei- ne Aktivitäten anhand des Planes checkt, kann es sich
sen, die keine grundlegenden Rechte ande- die Abfolge der Tätigkeiten und erwünschten Ver-
rer Menschen verletzen, kann bei einer ausge- haltensweisen besser merken sowie sein Gefühl von
prägten oppositionellen Störung zunächst eine Selbstwirksamkeit erhöhen.
geeignete Strategie sein. Anderenfalls muss das
Kind so häufig korrigiert werden, dass dies zu ei- Eltern sollten darauf vorbereitet werden, dass
ner weiteren Belastung der Eltern-Kind-Interak- ihr Kind sich zeitweise nicht an den Plan und
tion führt und von den Eltern kaum konsistent die diesbezüglichen Absprachen halten will, und
durchgehalten werden kann. Ignorieren bedeu- mögliche Reaktionen eventuell im Rollenspiel
tet hier, dass die Eltern keine Reaktion auf un- üben. Dabei sollten sie weder nachgeben noch
erwünschte Verhaltensweisen des Kindes zeigen, auf die zunehmenden Emotionen ihres Kindes
wohl aber unmittelbar auf jede andere Verhal- ihrerseits mit verstärkten Emotionen reagieren.
tensweise des Kindes; denn vollständiges Igno-
rieren des Kindes für einen gewissen Zeitraum Beispiel
stellt ja eine soziale Bestrafung dar. Wenn Ver- Eine Routine für das Einkaufen im Supermarkt mit
haltensweisen nicht ignoriert werden können, einem jüngeren Kind kann so aussehen, dass Mut-
weil ein Kind sich selbst oder andere Menschen ter und Kind zusammen eine Liste mit 10 Gegenstän-
damit körperlich zu verletzen droht, kann Igno- den erstellen, die das Kind während des Einkaufens
rieren in Verbindung mit Hinlenken des Kindes suchen und in den Einkaufswagen legen soll, um sei-
zu einer anderen Aktivität hilfreich sein. ner Mutter zu helfen. Der letzte Gegenstand auf der
Liste befindet sich immer kurz vor der Kassenzone. Als
Etablieren von Alltagsroutinen. Alltagsrou- Belohnung für das Finden dieses Gegenstands darf
tinen werden für eine Tageszeit oder eine täg- das Kind einen von drei akzeptablen Gegenständen
liche Aktivität eingesetzt, die besonders häu- aussuchen und ebenfalls in den Wagen legen. Hält
98 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
7 Beispiel
sozialen Bedingungen der Familie erhöht und
der Transfer des Erlernten in die häusliche Situ-
Wenn ein Kind während eines Spiels mit Gegenstän- ation unterstützt. Bei jungen Kindern sind Spiel-
8 den nach einem anderen Kind wirft, kann es solange stunden mit Kind und Eltern unter Beachtung
nicht weiter an dem Spiel teilnehmen, bis es sich beru- der Grundprinzipien des Elterntrainings mit
9 higt hat, damit niemand verletzt wird. Anleitung durch den Therapeuten sehr hilfreich
dafür, dass die Eltern ihre neu erworbenen Fer-
10 Durchführung des Elterntrainings tigkeiten üben können und mehr Sicherheit im
Insbesondere zu Beginn eines Elterntrainings Umgang mit ihrem Kind gewinnen.
11 ist es sehr wichtig, dass die Eltern in ihren Wenn das Elterntraining in einem Gruppen-
Äußerungen gestärkt werden und so Sicher- setting durchgeführt wird, sollte genügend Zeit
12 heit gewinnen und für die weitere Arbeit moti-
viert werden. Eltern haben, bevor sie mit ihrem
für Fragen und zum Üben der Fertigkeiten ein-
geplant sowie Diskussion und Feedback der Teil-
Kind in Behandlung kommen, häufig schon viel- nehmer untereinander gefördert werden. Auch
13 fältige Erfahrungen des Scheiterns im Umgang Kontakt der Eltern untereinander und gegen-
mit ihrem Kind gemacht und fühlen sich von seitige Unterstützung außerhalb der Gruppen-
14 Verwandten und Erziehern oder Lehrern als sitzung erhöht die Generalisierung und Stabili-
»schlechte Eltern« gesehen und abgewertet. Hier sierung der Therapieeffekte. Ausbildungsniveau
15 kann die Erfahrung, dass es anderen Eltern ähn- und soziokultureller Hintergrund der Eltern soll-
lich ergangen ist, hilfreich sein. Es sollten die ten berücksichtigt werden; es kann ratsam sein,
16 Anliegen der Eltern erfragt werden, bezogen auf weniger Gewicht auf schriftliches Material und
möglichst konkrete Alltagssituationen mit wie- verbale Lehrmethoden zu legen und mehr mit
17 derkehrenden Schwierigkeiten im Umgang mit
dem Kind, und dafür möglichst konkrete Hilfen
Lernen am Modell und Rollenspiel zu arbeiten.
Der (soziale) Vater sollte auch dann mög-
es jedoch oft besser, die Mutter in ihrer Rolle der Dann sind zusätzliche eltern- und/oder kind-
weitgehend allein verantwortlichen Erziehungs- bezogene Interventionen erforderlich, um die
person zu stärken, denn für ein Kind ist es weni- Wirksamkeit von Elterntraining zu erhöhen:
ger schwierig, sich auf verschiedene Partner der 5 Coping-Fertigkeiten und interpersonelle
Mutter als auf wechselnde Väter einzustellen. Fertigkeiten der Eltern erhöhen
Bei Problemen mit einer langen Vorgeschich- 5 Aufbauen eines sozialen Netzwerkes zur
te kann man keinen ausreichenden Effekt inner- Unterstützung und Entlastung der Eltern
halb kurzer Zeit und mit wenigen Trainingsstun- 5 Hinarbeiten auf die Behandlung wichtiger
den erwarten; meist ist ein Trainingsumfang von elterlicher Probleme (z. B. Depression, Subs-
mindestens 20 Sitzungen in wöchentlichen oder tanzmissbrauch)
zweiwöchentlichen Abständen erforderlich. Es 5 Psychotherapeutische und/oder medika-
sollten realistische Zwischenziele gesetzt werden mentöse Behandlung komorbider Störungen
und kleine Erfolge, die vielleicht von den Eltern des Kindes.
gar nicht wahrgenommen oder nicht als solche
erlebt werden, positiv verstärkt werden. Wenn Oft kann es günstig sein, zunächst mit dem eigent-
Eltern ihr eigenes Verhalten und das ihrer Kinder lichen Elterntraining zu beginnen, weil auch
regelmäßig evaluieren, kann es ihnen dabei hel- dieses über eine Verhaltensänderung des Kindes
fen, ihre Ziele präsent zu halten; auch der Behand- die Belastung der Eltern deutlich verringern kann.
ler sollte dieses tun. Eltern müssen darauf vorbe- Bei unzureichendem Erfolg können dann zusätz-
reitet werden, dass Hindernisse auftreten wer- liche Interventionen durchgeführt werden, die
den und Rückschläge zu erwarten sind. Günstig möglichst spezifisch auf die tatsächlichen Belas-
für die Stabilisierung des Trainingseffektes ist es, tungs- und Risikofaktoren gerichtet sein sollten.
wenn nach Durchführung des eigentlichen Trai- Häufig belasten ungünstige psychosoziale
nings noch Booster-Sitzungen in längeren Zeitab- Bedingungen die Eltern in einem solchen Aus-
ständen angeschlossen werden können. maß, dass kaum noch Ressourcen zur Bewäl-
tigung der Anforderungen des Alltags beste-
Ergänzende Interventionen bei hen, und je mehr elterliche Probleme vorhan-
unzureichender Wirksamkeit den sind, desto weniger wirksam ist der isolierte
Die kurz- und langfristige Wirksamkeit von Einsatz eines Elterntrainings. Interventionen bei
Elterntraining, vor allem für Kinder zwischen 4 belasteten Familien müssen stärker das Umfeld
und 8 Jahren, ist gut gesichert. Elterntrainings, der Familie berücksichtigen, also nicht nur die
die bei Kindern im Vorschulalter durchgeführt klassischen Ziele eines Elterntrainings verfol-
werden, sind wirkungsvoller, als wenn die Kin- gen, sondern auch die psychosozialen Schwie-
der älter sind (Dishion u. Patterson 1992). Eltern- rigkeiten der Familie angehen. Dann ist eher ein
training ist weniger gut wirksam, wenn erschwe- Ansatz im Sinne der multisystemischen Therapie
rende Faktoren hinzukommen: (Henggeler et al. 1998) geeignet, bei welcher ein
5 Psychische Störungen der Eltern »Paket« vielfältiger Interventionen für Kinder/
5 Niedriger sozioökonomischer Status der Jugendliche und ihre Familien »je nach Bedarf«
Eltern eingesetzt wird, häufig in Form von »Home Treat-
5 Hohe psychosoziale Belastung der Eltern ment«. Dabei wird den Eltern Hilfe in den Berei-
5 Chronischer Ehekonflikt chen und auf die Art und Weise angeboten, die
5 Allein erziehendes Elternteil sie benötigen, um ihre Eltern- und Erziehungs-
5 Kinder mit einer ausgeprägten und/oder sta- funktion adäquat erfüllen zu können; hier stellt
bilen Störung des Sozialverhaltens Elterntraining lediglich einen Bestandteil dar.
5 Kinder mit komorbiden Störungen Wichtige elterliche Probleme (z. B. Drogenmiss-
100 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
auch eine gewisse Bereitschaft des Kindes oder wählen, sondern möglichst konkret, z. B. mit
Jugendlichen zu diesbezüglicher Kooperation Geschichten, Spielen und auf der Verhaltensebe-
voraus, so dass ausschließlich rigide Kontrol- ne zu arbeiten.
le und Durchsetzen von Verboten nicht zielfüh-
rend sind, sondern sich unter Umständen durch Adäquate Wahrnehmung und Interpretation
die Belastung der Eltern-Kind-Beziehung nega- sozialer Situationen
tiv auswirken können. Aggressive Kinder achten in sozialen Situati-
onen überdurchschnittlich häufig auf Anzeichen
Aufklärung und Beratung des Kindes/ für Feindseligkeit, insbesondere dann, wenn sie
Jugendlichen soziale Zurückweisung erleben und ein hohes
Diese sollte bei Kindern ab dem Schulalter und Niveau emotionaler Erregung aufweisen. Solche
bei Jugendlichen in altersangemessener Form negativen Attributionen tragen zu den interper-
durchgeführt werden. Ziele sind: sonalen Schwierigkeiten aggressiver Kinder und
5 Information hinsichtlich der Symptomatik, Jugendlicher bei und sollten gegebenenfalls ein
der vermuteten Ätiologie, des vermutlichen Ziel therapeutischer Interventionen sein, da sie
Verlaufes sowie der Behandlungsmöglich- häufig dysfunktional sind und eine aufrechter-
keiten haltende Bedingung für impulsiv-aggressives
5 Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Verhalten darstellen. Weiterhin kann auch die
Selbstbeobachtung und Selbststeuerung Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen dif-
ferenziert wahrzunehmen, eingeschränkt sein,
Soziales Problemlöse- und Kompetenz- und damit auch die Fähigkeit, sich in die Sicht-
training und Erlebensweise einer anderen Person hinein-
Wichtige kognitiv-verhaltenstherapeutische In- zuversetzen.
terventionen bei Kindern und Jugendlichen mit Ziel ist somit die differenziertere Wahrneh-
Störungen des Sozialverhaltens sind unter den mung eigener und fremder Absichten, Einstel-
Begriff des sozialen Problemlöse- und Kompe- lungen, Gefühle und Handlungen, um eine dif-
tenztrainings zu fassen, dessen Kurzzeitwirk- ferenziertere Interpretation sozialer Situationen
samkeit belegt ist, mit jedoch wenig nachgewie- zu fördern.
senen Langzeiteffekten (Kazdin 2000). Je nach
Programm und Zielgruppe werden hier unter- Beispiel
schiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenom- Als Materialien können Bilder oder Videofilme mit Per-
men: Wahrnehmung und Bewertung sozialer sonen in sozialen Situationen, die dem Alltagserleben
Situationen, soziales Problemlösen/Umgang der Kinder ähnlich sind, verwendet werden. Die Kin-
mit sozialen Konfliktsituationen, Erwerb sozi- der werden angeleitet, die Situationen zu beschreiben,
aler Fertigkeiten, Umgang mit Ärger und Wut. die dargestellten Gefühle zu identifizieren, zu überle-
Die Durchführung eines solchen Trainingspro- gen, was der aktuellen Situation vorausgegangen sein
gramms ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ein könnte und in welchen Situationen sie sich selbst so
Kind oder Jugendlicher tatsächlich nicht über gefühlt haben; gefördert werden also auch Perspek-
die entsprechenden Fertigkeiten verfügt, nicht tivübernahme und Einfühlungsvermögen. Anhand
aber, wenn vorhandene Fertigkeiten nicht zum uneindeutiger sozialer Situationen können verschie-
Einsatz gebracht werden, weil aggressiv-disso- dene Interpretationen der Situation und der Motiva-
ziales Verhalten zu positiveren Konsequenzen tion der beteiligten Personen besprochen und disku-
führt. Je geringer die kognitiven Fertigkeiten tiert werden. Hilfreich kann auch das Nachspielen und
eines Kindes sind, desto wichtiger ist es, nicht ei- Erleben im Rollenspiel sein, wobei auch die physiolo-
nen überwiegend kognitiv-verbalen Ansatz zu
102 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Durchführung des sozialen Problemlöse- rigeren Situationen zu üben, sollten auch Kon-
und Kompetenztrainings fliktsituationen in der Gruppe geübt werden, die
Üblicherweise wird das Training in einer (Klein-) mit einer gewissen emotionalen Erregung bei
Gruppe durchgeführt, da die Kinder so mehr den Kindern einhergehen.
Möglichkeiten haben, voneinander zu lernen Die Arbeit mit den Kindern wird von einer
und zusammen zu üben. Auch das gegensei- intensiven Beratung der Eltern begleitet. Sie wer-
tige Feedback der Kinder ist sehr wichtig für den in regelmäßigen Abständen über die neu
den Transfer des Gelernten in soziale Alltagssi- erworbenen Konzepte und sozialen (Problem-
tuationen mit Gleichaltrigen. Bei Kindern mit löse-)Fertigkeiten ihrer Kinder informiert und
sehr geringen sozialen Fertigkeiten oder starker gebeten, den Gebrauch dieser Fertigkeiten zu
sozialer Gehemmtheit kann es jedoch erforder- loben und zu verstärken, wann immer sie dies
lich sein, eine individuelle Trainingsphase vor- bei ihrem Kind bemerken. So können sie die
zuschalten. Funktion von Mediatoren übernehmen und ihr
Das Training sollte attraktiv und abwechs- Kind bei alternativen Problem- und Konfliktlö-
lungsreich gestaltet werden, um die Aufmerk- sungen unterstützen.
samkeit der Kinder zu fokussieren und ihre Moti-
vation zur Mitarbeit zu fördern. Der Therapeut ! Am erfolgreichsten ist die Kombination von
nimmt eine aktive Rolle ein: Er demonstriert den eltern- und kindzentrierten Interventionen
Gebrauch geeigneter Selbst-Verbalisationen, ver- (Webster-Stratton u. Hammond 1997); dage-
stärkt geeignete Problemlösungen, gibt Hinweis- gen ist die isolierte Durchführung von kind-
signale für den Gebrauch bestimmter Fertig- zentrierten Interventionen nur begrenzt sinnvoll.
keiten, gibt Feedback und lobt die Anwendung des
Erlernten. Zentrale Konzepte und neu erworbene Kindzentrierte Interventionen erhöhen nicht
Fertigkeiten werden durch Wiederholung gefes- den Effekt von Elterntraining auf disruptives
tigt, auch unter Verwendung von Videofilmen Verhalten, führen aber zu einer Verbesserung
und graphisch gestalteten Materialien, z. B. Auf- in Bereichen, die durch das Elterntraining nicht
kleber oder Cartoons, als »prompts« für bestimm- beeinflusst werden, z. B. Beziehungen zu Gleich-
te soziale Fertigkeiten oder Strategien. altrigen.
und Kosten solcher Programme müssen also in Kindergarten/Schule sowie beim Kind selbst
hinreichend gering sein, so dass diese über lan- mit einer medikamentösen Behandlung des Kin-
ge Zeit möglichst flächendeckend etabliert wer- des kombiniert werden. Ein nach den gleichen
den können. Grundprinzipien aufgebautes Buch für Eltern,
Wünschenswert ist es, dass es Schule bzw. Wackelpeter und Trotzkopf (Döpfner et al. 2000),
Kindergarten und Eltern gelingt, im Interes- lässt sich im Rahmen des Therapieprogrammes
se des Kindes zusammenzuarbeiten, denn häu- oder als Selbsthilfebuch einsetzen.
fig entstehen im Laufe der Zeit auch in diesem Bei den familienzentrierten Interventionen
Bereich »koersive« Interaktionen, bei denen bei- steht die Arbeit mit den Eltern im Mittelpunkt,
de Seiten wechselseitig zunehmend negativeres wobei das Kind je nach Problematik, Alter und
Verhalten der anderen Seite fördern. Behandlungsbaustein unterschiedlich stark inte-
griert wird; nur wenige Bausteine werden aus-
! Wenn jedoch eine konkrete Gefährdung des schließlich mit den Eltern durchgeführt. Zentra-
Kindeswohls zu befürchten ist, dürfen und sol- le Ziele der familienzentrierten Interventionen
len Lehrer bzw. Erzieher auch ohne Wissen oder sind die Verbesserung der Eltern-Kind-Bezie-
Einverständnis der Eltern das Jugendamt infor- hung und die Verringerung problematischer
mieren. Verhaltensweisen des Kindes in der Familie.
Folgende Themenkomplexe werden im
THOP behandelt:
6.2.4 Therapieprogramme 1. Konkrete Beschreibung der Verhaltens-
probleme, Entwicklung eines gemeinsamen
Hier werden nur Therapieprogramme vorge- Störungskonzeptes anhand von konkreten
stellt, die in deutscher Sprache vorliegen und Beispielsituationen, Behandlungsziele und
somit ohne den Aufwand einer Übersetzung der Behandlungsplanung
Trainingsmaterialien praktisch angewendet wer- 2. Förderung positiver Eltern-Kind-Inter-
den können. aktionen (z. B. durch gemeinsame Spiel-
zeiten von Eltern und Kind, die unter genau
Therapieprogramm für Kinder mit definierten, gemeinsam erarbeiteten und
hyperkinetischem und oppositionellem geübten Regeln zu Hause durchgeführt wer-
Verhalten den)
Beim Therapieprogramm für Kinder mit hyperki- 3. Pädagogisch-therapeutische Interventi-
netischem und oppositionellem Verhalten THOP onen zur Verminderung von impulsivem
(Döpfner et al. 2002) handelt es sich um ein mul- und oppositionellem Verhalten (z. B. wir-
timodales Therapieprogramm für Kinder von kungsvolle Aufforderungen, positive Zuwen-
etwa 3 bis 12 Jahren, das sowohl bei Kindern mit dung zum Kind bei angemessenem Verhal-
hyperkinetischen Symptomen als auch bei Kin- ten, angemessene negative Konsequenzen
dern mit oppositionellen Symptomen eingesetzt bei Problemverhalten)
werden kann. Nach einer umfassenden Diagnos- 4. Spezielle operante Methoden (z. B. Token-
tik erfolgt die Erstellung eines Therapieplanes für Systeme, Response-Cost-Verfahren, Auszeit)
die individuellen Verhaltensprobleme des Kin- bei Problemen, die durch die pädagogisch-
des. Hierbei sollen Eltern bzw. Erzieher/Lehrer therapeutischen Interventionen nicht hinrei-
die Fertigkeiten erwerben, um als Mediatoren chend vermindert werden konnten
von Verhaltensänderungen des Kindes zu fun- 5. Interventionen bei spezifischen Verhaltens-
gieren. Je nach Indikation können verhaltens- problemen (z. B. Hausaufgaben, Verhalten
therapeutische Interventionen in der Familie, in öffentlichen Situationen)
106 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Tag hinweg zu erzielen (Stein et al. 1996; Pelham auch am Wochenende und in den Schulferien
et al. 2001). Von der Überschreitung einer Tages- indiziert. In etwa jährlichen Abständen sollte ein
dosis von 1 mg/kg Körpergewicht ist in der Re- kontrollierter Auslassversuch der Medikation in
gel abzuraten, weil es dann wiederum zu einer Betracht gezogen werden.
Verschlechterung des kognitiven Funktionie- Wenn Zweifel bezüglich des Medikationsef-
rens – mit einer Einengung der Aufmerksamkeit fektes – bei Eltern oder Behandlern – bestehen,
und Einschränkungen der kognitiven Flexibili- kann ein Doppelblindversuch hilfreich sein.
tät und der Problemlösefähigkeit – kommt und Hierzu sollte eine Dosis gewählt werden, die für
das Risiko von Nebenwirkungen deutlich zu- eine Therapie-Response ausreichend hoch ist,
nimmt. Die Obergrenze liegt grundsätzlich bei etwa 0,5–0,7 mg/kg Körpergewicht und Tag. Zur
60 mg Methylphenidat pro Tag; in Einzelfällen Vermeidung von Nebenwirkungen kann schritt-
werden jedoch bei Jugendlichen höhere Dosen weise bis zur Zieldosis aufdosiert werden; dann
bis zu etwa 80 mg/Tag benötigt. Auf ambulanten erfolgt der Wechsel zu einer etwa zwei- bis vier-
Betäubungsmittel(BtM)-Rezepten ist das Über- wöchigen Doppelblindphase, bei der weder Pati-
schreiten der vorgesehenen Höchstmenge durch ent/Eltern noch Behandler wissen, wann der
den Großbuchstaben A zu kennzeichnen. Patient Verum und wann Placebo erhält. In
Die medikamentöse Einstellung sollte mit jedem relevanten Setting wird für vorgegebene
einer niedrigen Dosis begonnen werden, in Zeitabschnitte die Wirkung beurteilt, nach Mög-
Abhängigkeit vom Körpergewicht in der Regel lichkeit immer von den gleichen Personen, weil
5–10 mg Methylphenidat, um zu überprüfen, ob so die Reliabilität der Beurteilung höher ist. Nach
eine erhöhte Sensitivität für bestimmte Neben- der Entblindung zeigt sich dann, ob die Bewer-
wirkungen wie Bauchschmerzen oder sympa- tungen des medikamentösen Effektes mit der
thomimetische Effekte besteht. Bei Verträglich- Gabe von Verum bzw. Placebo übereinstimmen.
keit kann die Steigerung der Dosis ebenfalls in 5–
10-mg-Schritten erfolgen. Aufgrund der kurzen Pharmakokinetik. Die Wirkung von Methylphe-
Halbwertszeit von Methylphenidat ist es häu- nidat setzt in der Regel nach 30–60 Minuten ein,
fig bereits in der Aufdosierungsphase sinnvoll, im Einzelfall – vor allem auf nüchternen Magen
eine zweite Dosis zu geben. Insbesondere bei – auch schon nach 10 Minuten. Die maximale
Kindern mit disruptiven Symptomen ist häu- Plasmakonzentration wird nach etwa 1–2 Stun-
fig auch die Gabe einer dritten Dosis ratsam, den erreicht, die Plasmahalbwertszeit beträgt et-
wobei darauf geachtet werden muss, ob das Ein- wa 2½ Stunden, und nach 4 Stunden ist meist
schlafen dadurch gestört wird; umgekehrt kann kein signifikanter Medikamenteneffekt mehr
es jedoch auch – durch eine Verminderung der festzustellen. Wenn Rebound-Phänomene im
motorischen Unruhe vor dem Schlafengehen – Sinne eines verstärkten Auftretens der Sympto-
zu verbessertem Einschlafen kommen. Alter- matik mit Nachlassen des Medikamenteneffektes
nativ zur 2- bis 3-maligen Gabe von Standard- auftreten oder wenn die mittägliche Einnahme
Methylphenidat kann die Gabe eines Retard- der Medikation nicht gewährleistet ist, kann die
präparates in Betracht gezogen werden. Da bei morgendliche Gabe eines Methylphenidat-Re-
Kindern und Jugendlichen mit einer hyperkine- tardpräparates vorteilhaft sein; hierdurch verlän-
tischen Störung des Sozialverhaltens die Medi- gert sich jedoch nicht die Halbwertszeit an sich,
kation nicht nur zur Verminderung der Symp- sondern der Zeitraum, über den hinweg der Stoff
tome in der Schule dient, sondern auch zur För- freigesetzt wird. In der Leber wird der Hauptme-
derung der sozialen Integration in die Familie tabolit Ritalinsäure gebildet, der inaktiv ist und
und in die Gruppe der Gleichaltrigen, ist eine innerhalb von 24 Stunden vollständig über den
Fortführung der Stimulanzienbehandlung meist Urin ausgeschieden wird. Gelegentlich können
112 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
sollte die Dosis reduziert oder die Behandlung kommt es zu einem Anstieg der Anfallshäufig-
ausgesetzt werden, bis es zu einem Aufholen keit, was zu einem Überprüfen der Therapie und
der Wachstumsverzögerung gekommen ist. Bei ggf. Absetzen von Methylphenidat führen sollte.
bestimmungsgemäßem Gebrauch von Methyl- Auch das Vorliegen einer Ticstörung, ein-
phenidat in den zugelassenen Anwendungs- schließlich eines Tourette-Syndroms, stellt keine
gebieten ist die Gefahr einer Abhängigkeit von absolute Kontraindikation für die Behandlung
Methylphenidat praktisch nicht vorhanden; es einer (hyperkinetischen) Störung des Sozialver-
muss jedoch die Möglichkeit eines Gebrauchs in haltens mit Stimulanzien dar. Die Auswirkungen
nicht vorgeschriebenen Dosierungen oder einer auf die Ticsymptomatik sind individuell unter-
Weitergabe des Medikaments an Dritte beachtet schiedlich. Vor allem zu Beginn einer Stimu-
werden, auch wenn Methylphenidat vergleichs- lanzienbehandlung können die Tics zunehmen
weise selten im Rahmen eines Substanzabusus und – solange die Therapie fortgesetzt wird –
eingesetzt wird. Die Entwicklung einer Subs- auf einem höheren Niveau persistieren oder aber
tanzabhängigkeit wird durch eine Stimulanzi- nach einigen Wochen wieder abnehmen; die
enbehandlung nicht gefördert, sondern wahr- Medikation kann aber auch ohne Auswirkungen
scheinlich im Gegenteil eher verringert. Bei Pati- auf die Ticsymptomatik bleiben oder diese gar
enten mit signifikantem Substanzabusus darf vermindern. Es gibt keine Evidenz dafür, dass
Methylphenidat jedoch nicht eingesetzt werden. Stimulanzien zur bleibenden Verstärkung einer
Zu beachten ist, dass unter Methylphenidat- Ticsymptomatik, über den Zeitraum der Medi-
Einnahme ein Amphetamin-Screening im Urin kamenteneinnahme hinaus, geführt hätten. Bei
positiv werden kann, weil die beiden Substanzen der Beurteilung dessen, ob Stimulanzien zu
strukturell sehr ähnlich sind. einer Verstärkung der Ticsymptomatik geführt
Sehr seltene Nebenwirkungen sind Leukope- haben könnten, muss berücksichtigt werden,
nie, Thrombozytopenie oder Anämie sowie eine dass diese – auch ohne Stimulanziengabe - einer
Störung der Leberfunktion. störungsimmanenten Dynamik (»waxing and
waning«) unterliegt. Sollte es unter Stimulan-
Kontraindikationen. Kontraindikationen sind zien, deren Gabe als für den Patienten notwen-
das Bestehen einer psychotischen Störung oder dig erachtet wird, tatsächlich zu einer länger
einer Schwangerschaft. Eine psychotische Stö- andauernden, untolerierbaren Verstärkung von
rung kann durch Stimulanzien exazerbieren. Sti- Tics kommen, kann eine zusätzliche Medikati-
mulanzien sind plazentagängig, und in tierex- on zur Behandlung der Ticsymptomatik erwo-
perimentellen Untersuchungen wurden für Me- gen werden. Hierbei ist Tiaprid das Mittel der
thylphenidat teratogene Effekte beschrieben. ersten Wahl, in einschleichender Dosierung von
Deshalb sollten weibliche Jugendliche, die mit 2 mg, 5 mg und 10 mg/kg Körpergewicht. Als
Methylphenidat behandelt werden, zuverlässige Nebenwirkungen können vor allem Müdigkeit,
Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung aber auch Agitation und Schlaflosigkeit, sowie
anwenden. Kopfschmerzen und Schwindel auftreten. Auch
Bei herabgesetzter Krampfschwelle soll- unter einer medikamentösen Behandlung der
te Methylphenidat langsam aufdosiert und Ticsymptomatik ist jedoch oft keine vollständi-
eine niedrige Zieldosis angestrebt sowie EEG- ge Symptomfreiheit zu erwarten, so dass es bei
Kontrollen durchgeführt werden. Das Vorlie- einer chronischen Ticstörung ein wichtiges The-
gen einer Epilepsie ist dann, wenn ein Patient rapieziel darstellt, die Bewältigung und soziale
unter antiepileptischer Medikation anfallsfrei Kompetenz des Patienten im Umgang mit seiner
ist, keine Kontraindikation für eine Behandlung Symptomatik zu erhöhen.
mit Methylphenidat. Lediglich in Einzelfällen
114 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Interaktionen. Amphetamin kann die Wirkung ne Metabolisierung über die Niere ausgeschie-
von β-Blockern verringern, von Trizyklika ver- den. Die Angaben über den Wirkungsbeginn di-
stärken. vergieren in der Literatur, zwischen wenigen Ta-
gen und einigen Wochen.
Kontrolluntersuchungen. Sinnvoll ist die Kon-
trolle von Blutbild, Transaminasen, Bilirubin, Nebenwirkungen. Die Substanz zeigt nur sehr
Kreatinin sowie Blutdruck und Puls vor Thera- geringe sympathomimetische Effekte auf Blut-
piebeginn; außerdem sollte ein EKG vor Thera- druck und Herzfrequenz; wie bei anderen Sti-
piebeginn und nach Erreichen der Zieldosis ge- mulanzien können jedoch verminderter Appetit,
schrieben werden. Bei Hinweisen auf eine er- gastrointestinale Beschwerden, Einschlafstörun-
niedrigte Krampfschwelle ist auch ein EEG sinn- gen und erhöhte Reizbarkeit auftreten. Bauch-
voll. Unter der Behandlung sollten in angemes- schmerzen können jedoch auch Anzeichen ei-
senen Abständen Blutdruck- und Pulskontrol- ner Leberfunktionsstörung sein, der relevantes-
len durchgeführt werden, sowie ein sorgfältiges ten Nebenwirkung von Pemolin. Bei etwa 3%
klinisches Monitoring und Untersuchungen von der Patienten tritt eine Erhöhung der Transami-
Blutbild und Leberfunktionsparametern und et- nasen auf, die sich nicht in jedem Fall nach Ab-
wa jährlich ein EKG bei längerer Behandlung. setzen des Medikaments wieder normalisiert. In
Einzelfällen kam es zu akutem Leberversagen,
Pemolin häufig bei Patienten mit Vorerkrankungen der
Leber oder Begleitmedikation.
Wirkungsweise. Pemolin (Tradon) hat ähnliche
Wirkungen im zentralen Nervensystem wie Me- ! Eine Therapie mit Pemolin darf nur dann
thylphenidat und Amphetamin, unterscheidet begonnen werden, wenn Methylphenidat kei-
sich aber in seiner Strukturformel deutlich von nen ausreichenden Erfolg zeigte und ande-
den beiden anderen Substanzen und unterliegt re Behandlungsformen unzureichend wirksam
nicht dem Betäubungsmittelgesetz. sind. Die Erstverordnung von Pemolin muss
nach sorgfältiger Überprüfung durch einen Kin-
Dosierung. Man sollte mit einer niedrigen Do- der- und Jugendpsychiater erfolgen.
sis beginnen (z. B. 10–20 mg Pemolin, in Abhän- Die weitere Verordnung darf nur durch Ärzte
gigkeit vom Körpergewicht), vor allem um zu mit breiter Erfahrung in der Behandlung von
überprüfen, ob eine erhöhte Nebenwirkungs- ADHS nach eingehender Aufklärung der Eltern
sensitivität besteht, und dann etwa alle 3–5 Ta- über die mit der Anwendung von Pemolin ver-
ge die Dosis in 10-mg-Schritten steigern, bis sich bundenen potenziellen Risiken erfolgen. Die
ein therapeutischer Effekt zeigt. Bei Pemolin be- Patienten müssen vor Therapiebeginn normale
nötigt die individuelle Dosisfindung unter Um- Leberfunktionsparameter aufweisen, und unter
ständen relativ lange. Übliche Tagesdosen betra- der Therapie sind diese regelmäßig in zweiwö-
gen 20–60 mg; eine Dosis von 100 mg pro Tag chentlichen Abständen zu kontrollieren.
sollte nicht überschritten werden.
Günstig für die Behandlung einer ADHS bei
Pharmakokinetik. Die höchste Plasmakonzent- Kindern und Jugendlichen mit einer Störung
ration wird 2–4 Stunden nach Einnahme er- des Sozialverhaltens ist das praktisch nicht vor-
reicht, und die Plasmahalbwertszeit beträgt 8– handene Missbrauchspotential von Pemolin;
12 Stunden, so dass meist eine einmalige Einnah- ungünstig sind jedoch die hohen Anforderungen
me pro Tag ausreichend ist. 60% der Dosis wer- an die Compliance der Patienten bezüglich der
den nach hepatischer Metabolisierung, 40% oh- häufig erforderlichen Kontrollen der Leberfunk-
116 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
ger ist als die der Stimulanzien. Für die Behand- Nebenwirkungen. Durch die anticholinerge
8 lung einer Depression im Kindes- und Jugendal- Komponente kann es zu Mundtrockenheit (mit
ter wurde keine über einen Plazeboeffekt hinaus- einem erhöhten Risiko von Karies und Gingi-
9 gehende Wirkung belegt; dennoch kann Imipra- vitis bei langfristiger Gabe), Akkommodations-
min bei komorbider depressiver oder ängstlicher störungen, (meist nur diskreter) Beschleunigung
10 Symptomatik vorteilhaft gegenüber dem Einsatz der Herzfrequenz, Miktionsstörungen, Obstipa-
von Stimulanzien sein, da Stimulanzien bei die- tion und anticholinerger Suppression des REM-
11 ser Symptomkonstellation weniger gut wirken Schlafes – die bei häufigem Auftreten von Alb-
und zu einer Verstärkung der depressiven bzw. träumen therapeutisch erwünscht sein kann –
12 ängstlichen Symptomatik führen können. Die
Wirksamkeit von Imipramin bei Vorliegen einer
kommen. Weiterhin können Störungen der Ther-
moregulation mit Hypo- oder Hyperthermie so-
Enuresis nocturna ist klar belegt; eine medika- wie verminderter oder vermehrter Schweißse-
13 mentöse Behandlung ist jedoch nur dann sinn- kretion und eine Appetitsteigerung mit Kohlen-
voll, wenn ein hoher Leidensdruck besteht und hydrathunger und Gewichtszunahme auftreten;
14 begleitend verhaltenstherapeutische Interventi- Letzeres kann dann vorteilhaft sein, wenn es un-
onen erfolgen, denn bei alleiniger Pharmakothe- ter Stimulanzien zu einem Gewichtsabfall ge-
15 rapie kommt es oft innerhalb von wenigen Wo- kommen ist. Imipramin kann geringgradig se-
chen bis Monaten nach Absetzen des Medika- dierend wirken, wobei sich bei längerer Einnah-
16 mentes zu einem Rezidiv. me diesbezüglich eine partielle Toleranz entwi-
ckeln kann; es kann aber auch aktivieren sowie
17 Dosierung. Die Behandlung sollte mit einer
niedrigen Dosis beginnen, in Abhängigkeit vom
zu Unruhe und Schlafstörungen führen. Auf-
grund der antiadrenergen Eigenschaften kann es
dingt erforderlich erachtet wird, sollte wegen der lich weniger extrapyramidalmotorischen Neben-
Häufigkeit von Gefäßanomalien in der Ellenbeu- wirkungen als die klassischen Neuroleptika. Das
ge, die zu einer versehentlichen intraarteriellen Rezeptorprofil weist neben einem ausgeprägten
Injektion führen können, Venen außerhalb der Serotonin-Antagonismus auch antidopaminerge
Ellenbeuge verwendet werden. Auch bei lege ar- und antiadrenerge, jedoch keine anticholinergen
tis durchgeführter i.v.-Injektion können Throm- Eigenschaften auf. Risperidon ist in Deutsch-
bophlebitiden bis hin zu Nekrosen auftreten, so land ab dem 6. Lebensjahr bei Verhaltensstörun-
dass nur langsam und nach Verdünnung auf 1:10 gen in Form von Impulssteuerungsstörungen
intravenös injiziert werden darf. mit selbst- und/oder fremdaggressivem oder be-
handlungsbedürftigem störendem Verhalten bei
Interaktionen. Bei Kombination mit anderen Intelligenzminderung oder Intelligenz im un-
zentral dämpfenden Substanzen können ver- teren Normbereich zugelassen. In kontrollier-
stärkt Sedierung und Atemdepression auftre- ten Studien wurde eine Verminderung aggres-
ten. Eine Kombination mit anderen anticholin- siven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen
ergen Substanzen sollte aufgrund der Gefahr mit Störung des Sozialverhaltens gezeigt (Find-
eines anticholinergen Delirs vermieden werden. ling et al. 2000). Eine Kombination von Rispe-
Bei Kombination mit trizyklischen Antidepres- ridon mit Stimulanzien zur Behandlung aggres-
siva kommt es zu einer wechselseitigen Beein- siven Verhaltens bei einer hyperkinetischen Stö-
flussung des hepatischen Metabolismus mit er- rung des Sozialverhaltens ist möglich (Snyder et
höhten Plasmakonzentrationen. Die Kombina- al. 2002). Weiterhin weist Risperidon auch eine
tion mit anderen niedrig-potenten Neuroleptika stimmungsstabilisierende Wirkung auf.
bringt keine Vorteile, sondern lediglich Risiken
mit sich. Dosierung. Zur Verminderung impulsiv-ag-
gressiven Verhaltens wird Risperidon üblicher-
Kontrolluntersuchungen. Das Auftreten einer weise in einer niedrigen Dosierung eingesetzt.
Blutdyskrasie aktuell oder in der Vorgeschich- Die Anfangsdosis beträgt 0,25 mg pro Tag bei
te stellt eine Kontraindikation für die Gabe von Kindern und 0,5 mg pro Tag bei Jugendlichen.
Levomepromazin dar (Gefahr der Agranulozy- Der Dosisaufbau sollte schrittweise erfolgen, bei
tose). Somit sollten bei Gabe von trizyklischen dieser Indikation bis zu einer Zieldosis von et-
Neuroleptika Blutbild (einschließlich Differenzi- wa 1–2 mg täglich für Kinder und 2–4 mg täglich
alblutbild und Thrombozyten) sowie Transami- bei Jugendlichen (Pappadopulos et al. 2003). Zur
nasen kontrolliert werden, in den ersten Wochen Beurteilung des Therapieerfolges ist ein Behand-
14-tägig, dann viertel- bis halbjährlich. Auch ein lungszeitraum von mindestens 2 Wochen mit ei-
EKG sollte vor und nach Beginn der Behandlung ner adäquaten Dosis erforderlich. Übliche Erhal-
durchgeführt werden, danach in halbjährlichen tungsdosen liegen zwischen 0,5 mg und 1 mg pro
Abständen; weiterhin ein EEG. Tag. Wenn eine Remission des aggressiven Ver-
haltens für mindestens 6 Monate bestanden hat,
! Der Patient sowie seine Betreuungspersonen kann erwogen werden, die Medikation langsam
sollten über die »grippeähnlichen« Symptome abzusetzen.
einer Agranulozytose informiert werden.
Pharmakokinetik. Risperidon wird nach oraler
Risperidon Gabe vollständig resorbiert, und die maximale
Plasmakonzentration wird nach 1–2 Stunden er-
Wirkungsweise. Risperidon (Risperdal) ist ein reicht. In der Leber erfolgt die Metabolisierung
atypisches Neuroleptikum, führt also zu erheb- über CYP2D6 zu 9-Hydroxyrisperidon, welches
120 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1 . Tab. 6.1. Empfohlene Kontrolluntersuchungen unter Lithium. (Nach Nissen et al. 1998)
3 Lithium- ++++ + + + + + +
spiegel im
4 Serum
Natrium, + ++++ + + + + + +
5 Kalium, Kal-
zium
6 Serumkrea- + ++++ + + + + + +
tinin, Harn-
7
stoff
Kreatinin- + +
8
Clearance
Urinstatus, + +
9
Osmolalität
10 Nüchtern- + + +
blutzucker
11 Blutbild + + + + +
EKG + + +
12 EEG + +
13 Körperge-
wicht
+ + +
14 Halsumfang + + +
ggf. +
15 Schwanger-
schaftstest
16 Alle Kontrolluntersuchungen sind bei gegebener klinischer Indikation häufiger als angegeben durchzuführen.
17 Schwitzen, Fieber, Erbrechen oder Diarrhoe). bilisierendes Medikament eingesetzt wird, ver-
mungslabilität, Reizbarkeit und explosiven Wut- ! Valproat kann in seltenen Fällen, vor allem bei
ausbrüchen (Donovan et al. 2000). jungen Kindern, schwerwiegende Pankreaser-
krankungen verursachen und hepatotoxisch
Dosierung. Die Aufdosierung sollte wegen mög- wirken. Eine Leberschädigung tritt meist inner-
licher gastrointestinaler Beschwerden einschlei- halb der ersten 6 Monate der Behandlung auf,
chend erfolgen. In der Regel vergehen 2–4 Tage, besonders in der 2.–12. Woche. Die Betreuungs-
bis der Valproatspiegel konstant ist. Der empfoh- personen müssen über Symptome einer begin-
lene Valproatspiegel, bestimmt vor der ersten Ta- nenden Valproat-Unverträglichkeit – Appetit-
gesdosis, liegt bei 50–100 µg/ml. Übliche Dosie- losigkeit, neu auftretende Abneigung gegen
rungen bei Kindern betragen 30 mg/kg Körper- gewohnte Speisen oder gegen Valproat selbst,
gewicht, bei Jugendlichen 25 mg/kg Körperge- Übelkeit und wiederholtes Erbrechen, unklare
wicht, verteilt auf zwei Tagesdosen. Oberbauchbeschwerden, Ödemneigung, Apa-
thie, Bewusstseinsstörung mit Verwirrtheit und
Pharmakokinetik. Valproat wird nach oraler Unruhe – aufgeklärt werden, die sich oft schon
Gabe schnell und vollständig resorbiert, und der vor einer Veränderung der Leberwerte zeigen.
maximale Plasmaspiegel wird nach 2–8 Stunden
erreicht. Die Substanz ist zu über 90% an Plas- Kontraindikationen. Absolute Kontraindikati-
maproteine gebunden, wird in der Leber meta- onen sind Lebererkrankungen in der Eigen- oder
bolisiert und mit einer Eliminationshalbwerts- Familienanamnese sowie manifeste schwerwie-
zeit von 12–16 Stunden ausgeschieden. gende Leber- und Pankreasfunktionsstörungen,
Leberfunktionsstörungen mit tödlichem Aus-
Nebenwirkungen. Die häufigsten Nebenwir- gang unter Valproattherapie eines Geschwister-
kungen sind Übelkeit und Brechreiz, die durch kindes, Porphyrie und Blutgerinnungsstörun-
Einnahme der Medikation mit der Mahlzeit ge- gen. Valproat darf nur unter besonderer Vor-
lindert werden können; auch Appetitsteigerung sicht bei Kleinkindern, mehrfach behinderten
und Gewichtszunahme treten häufig auf. So- Kindern und Jugendlichen und Patienten mit
fern es zu einer Sedierung kommt, was jedoch Knochenmarkschädigung angewendet werden,
unter Monotherapie selten der Fall ist, nimmt ebenso bei Patienten mit metabolischen Erkran-
diese im Laufe der Behandlung ab. Selten sind kungen, insbesondere angeborenen Enzymopa-
– meist dosisabhängige – Thrombozytenabfälle thien, denn unter Valproat kann es zu einem An-
und Neutropenien (Einzelfälle von Agranulozy- stieg des Ammoniakserumspiegels mit Apathie,
tose sind beschrieben!). Valproat kann auch ei- Somnolenz, Erbrechen und Hypotension kom-
ne von-Willebrand-Jürgens-Erkrankung hervor- men.
rufen. Bei operativen Eingriffen ist die potenzi-
ell erhöhte Blutungsneigung zu berücksichtigen. Interaktionen. Nach Möglichkeit sollte eine Be-
Unter hohen Dosen kann ein Tremor auftreten, handlung mit Valproat als Monotherapie durch-
sowie Reizbarkeit und Dysphorie. Eine Intoxika- geführt werden. Potenziell hepatotoxische Subs-
tion geht mit Bewusstseinsminderung (bis hin tanzen (auch Alkohol!) verstärken wahrschein-
zum Koma), Muskelschwäche, Hypo- bis Are- lich die Hepatotoxizität von Valproat. Bei Ein-
flexie, Koordinationsstörungen und Verwirrt- nahme enzyminduzierender Medikamente ist
heit einher; bei Monotherapie ist eine Überdo- die Eliminationshalbwertszeit von Valproat kür-
sierung jedoch vergleichsweise wenig gefährlich. zer. Valproat hemmt den hepatischen Metabolis-
Valproat ist plazentagängig, und Neuralrohrde- mus anderer Substanzen. Der Spiegel von unge-
fekte bei Einnahme von Valproat während der bundenem Diazepam wird bei Kombination mit
Schwangerschaft sind beschrieben. Valproat erhöht, die Plasma-Clearance von Di-
126 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Selektive Serotonin-
7 Gerinnungsfaktoren, Gesamt-Eiweiß, Leberwer-
te, Lipase, α-Amylase im Blut, Blutglukose] vor- Wiederaufnahmehemmer
genommen werden. Für eine günstige Beeinflussung impulsiver
8 Bei ambulanter Einstellung sollten Eltern und Aggressivität durch selektive Serotonin-Wie-
behandelnder Arzt engen persönlichen sowie deraufnahme-Hemmer, eventuell über eine Ver-
9 telefonischen Kontakt halten. Vier Wochen nach minderung der Impulsivität, gibt es Hinweise. So
Behandlungsbeginn sollte eine erneute klinische führte Citalopram bei Kindern und Jugendlichen
10 und laborchemische Untersuchung durchge- mit Störungen des Sozialverhaltens und ADHS
führt werden, in den darauffolgenden 3 Mona- zu einer deutlichen Verminderung von Reizbar-
11 ten monatlich, danach zweimal mit 6 Wochen keit und impulsiv-aggressivem Verhalten, wäh-
Abstand und zweimal mit 12 Wochen Abstand; rend proaktiv-aggressives Verhalten nicht ver-
12 zusätzlich sollte in jedem der genannten Zeitin-
tervalle jeweils ein telefonischer Kontakt erfol-
mindert wurde; hierbei handelte es sich jedoch
nicht um eine kontrollierte Studie (Armente-
gen, der erste 2 Wochen nach Behandlungsbe- ros u. Lewis 2002). Ähnliche Effekte wurden bei
13 ginn. Wenn das Kind klinisch unauffällig ist, Erwachsenen für Fluoxetin (Coccaro u. Kavoussi
sollten bei jeder ärztlichen Untersuchung Dif- 1997) und Paroxetin (Cherek et al. 2002) gefun-
14 ferenzialblutbild mit Thrombozyten und die den.
Transaminasen bestimmt werden, bei jeder zwei-
15 ten Untersuchung auch die Gerinnungsparame- ! Wenn eine signifikante depressive oder Angst-
ter. Die Eltern müssen dazu angehalten werden, störung komorbid zu einer Störung des Sozial-
16 sich bei klinischen Auffälligkeiten unabhängig verhaltens besteht und einer medikamentösen
von diesem Zeitplan sofort an den behandeln- Behandlung bedarf, sind die selektiven Sero-
als die von Noradrenalin und Dopamin und Behandlung häufig auftreten. Sexuelle Funkti-
wirken damit deutlich selektiver als die trizyk- onsstörungen können die Compliance Jugendli-
lischen Antidepressiva. Da die SSRI sich generell cher vermindern. Im Gegensatz zu den trizyk-
wenig voneinander unterscheiden, werden sie lischen Antidepressiva treten unter SSRI keine
zunächst als Substanzgruppe beschrieben und autonomen oder kardiovaskulären Nebenwir-
im Anschluss daran für die Einzelsubstanzen die kungen auf, so dass Intoxikationen deutlich
relevanten Unterschiede, die sich vor allem auf weniger gefährlich sind als bei den Trizyklika.
Pharmakokinetik und Dosierung beziehen, dar-
gestellt. Kontraindikationen und Interaktionen. Bei Di-
abetikern kann eine Behandlung mit SSRI den
Wirkungsweise und Nebenwirkungen. Die re- Blutzuckerspiegel beeinflussen, so dass dessen
levanteste Nebenwirkung der SSRI im Kindes- medikamentöse Einstellung überprüft werden
und Jugendalter ist ihre aktivierende Wirkung muss. Bei Patienten mit nicht oder unzureichend
mit erhöhter Unruhe, Agitiertheit und Schlafstö- behandelter Epilepsie dürfen SSRI nicht einge-
rungen. Bei depressiven Patienten mit Suizidge- setzt werden, wohl aber – unter sorgfältiger ärzt-
fährdung ist zu berücksichtigen, dass es unter ei- licher Überwachung – bei Patienten mit medika-
ner Behandlung mit SSRI – wie bei allen Antide- mentös kontrollierter Epilepsie; sollte es jedoch
pressiva – in einem frühen Stadium der Symp- zu einem Anstieg der Anfallshäufigkeit kom-
tombesserung zu einer erhöhten Suizidgefähr- men, muss das Antidepressivum abgesetzt wer-
dung kommen kann. Eventuell muss kurzzeitig den. Da SSRI die Blutungsneigung erhöhen kön-
ein sedierendes Medikament, z. B. ein Benzodi- nen, müssen sie bei Patienten mit anamnestisch
azepin, zusätzlich gegeben werden. Hier ist das bekannten Blutungsanomalien mit Vorsicht ein-
Prinzip »start low, go slow, taper slow« beson- gesetzt werden, ebenso bei Patienten, die ande-
ders wichtig: Man sollte also mit einer niedrigen re Medikamente (z. B. atypische Neuroleptika,
Dosis beginnen und diese langsam erhöhen, ei- Phenothiazine) einnehmen, die das Blutungsri-
ne niedrige Zieldosis wählen und bei Beendi- siko erhöhen. Bei Kombination mit Neurolep-
gung der medikamentösen Behandlung die Do- tika treten vermehrt extrapyramidalmotorische
sis langsam abbauen, da es sonst zu Absetzsymp- Nebenwirkungen auf, und die Gefahr eines ma-
tomen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, lignen neuroleptischen Syndroms ist möglicher-
Reizbarkeit und Angst kommen kann. Mit dem weise erhöht.
Eintreten einer antidepressiven Wirkung kann Aufgrund der Gefahr eines potenziell lebens-
nicht vor Ablauf von mindestens 2 Wochen Be- bedrohlichen Serotonin-Syndroms dürfen SSRI
handlung mit einer ausreichenden Dosis gerech- niemals mit Monoaminooxidase(MAO)-Hem-
net werden. Die Resorption wird durch Nah- mern kombiniert werden, und beim Wech-
rungsaufnahme nicht beeinflusst. In der Regel ist sel von oder zu einem MAO-Hemmer muss
eine einmalige Gabe morgens ausreichend; falls ein ausreichender Zeitabstand eingehalten wer-
im Einzelfall Müdigkeit als Nebenwirkung auf- den, dessen Länge von den jeweiligen Substan-
tritt, abends. Da die SSRI überwiegend hepatisch zen abhängig ist. Ebenso sollten SSRI nicht mit
metabolisiert werden, sollte bei eingeschränkter anderen serotonerg wirkenden Medikamente,
Leberfunktion eine niedrigere Dosis gewählt z. B. Lithium, Tryptophan oder Johanniskraut,
werden; weiterhin sind dann engmaschige Kon- kombiniert werden. Ein Serotonin-Syndrom
trollen der Leberfunktion erforderlich. wird durch eine Überstimulation zentraler Sero-
Weitere Nebenwirkungen sind Kopf- tonin-Rezeptoren verursacht und ist durch die
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Trias aus Fieber, neuromuskulären Symptomen
Benommenheit, die vor allem zu Beginn der (Rigor, Hyperreflexie, Myoklonien, Tremor,
128 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
4 Diazepam
6.2.6 Komorbiditätsbezogene
5 Wirkungsweise. Diazepam (u.a. Valium) ist Komponenten
ebenfalls ein Benzodiazepin und verstärkt als
6 solches die GABAerge Hemmung. Komorbide klinisch-psychiatrische Störungen
der Achse I des Multiaxialen Klassifikationssys-
Jugendliche über kurz-, mittel- und langfristi- und schulzentrierten Interventionen zu berück-
ge Effekte der von ihm konsumierten Substan- sichtigen: bei Aufträgen und Instruktionen Auf-
zen informiert werden (American Academy of merksamkeit des Kindes sicherstellen, genügend
Child and Adolescent Psychiatry 1997). Eltern, Abwechslung in Themen und Tätigkeiten anbie-
Betreuer, Lehrer u. a. werden dahingehend bera- ten, eindeutige und unmittelbare (positive wie
ten, das Monitoring des Jugendlichen bezüg- negative) Konsequenzen etablieren, höhere
lich des Konsums von psychotropen Substanzen Ungeduld und Impulsivität des Kindes berück-
und des Umgangs mit substanzkonsumierenden sichtigen, Zwischenphasen mit motorischer
Gleichaltrigen zu erhöhen. Als kognitiv-ver- Aktivität einplanen; medikamentöse Behand-
haltenstherapeutische Interventionen können lung in Betracht ziehen.
Kontingenzmanagement und operante Verstär-
kung abstinenten Verhaltens eingesetzt werden. Komorbide emotionale oder andere
Die Vermittlung weiterführender Beratungs- Befindlichkeitsstörung
und Therapieangebote sowie Hinzuziehen des Eine komorbide emotionale (F3, F93) oder ande-
Jugendamts sollten erwogen werden. Eine medi- re Befindlichkeitsstörung (F4) erfordert eine adä-
kamentöse Behandlung einer kinder-/jugend- quate kinder- und jugendpsychiatrische Behand-
psychiatrischen Erkrankung sollte nur bei sehr lung mit psychotherapeutischen, ggf. auch phar-
guter Überwachung der Medikamenteneinnah- makologischen Interventionen, ohne jedoch
me durch die Betreuungspersonen durchgeführt als »Entschuldigung« für disruptives Verhalten
werden. funktionalisiert zu werden. Die Response auf Sti-
Primäres Ziel ist das Erreichen und Aufrecht- mulanzien kann schlechter sein, und eine Ver-
erhalten von Abstinenz. Dennoch kann eine rea- stärkung der emotionalen Symptomatik ist mög-
listische Sichtweise zum einen der Chronizität lich; andererseits kann aber eine Verbesserung
von Substanzgebrauch und -abusus bei einigen des Funktionsniveaus unter einer Stimulanzi-
Jugendlichen, zum anderen des selbstlimitie- enbehandlung zur Verminderung einer emotio-
renden Verlaufes dieser Problematik bei vielen nalen Symptomatik beitragen.
anderen Jugendlichen Schadenslimitierung als
ein Zwischenziel einer Behandlung erscheinen Komorbide Enkopresis
lassen, deren Langzeitziel Abstinenz ist. Scha- Bei Kindern mit einer ADHS kann aufgrund der
denslimitierung beinhaltet: Verringerung der Aufmerksamkeitsstörung, die sich auch auf die
konsumierten Menge und der negativen Konse- Propriozeption bezieht, die Wahrnehmung des
quenzen des Substanzgebrauchs sowie Erhöhung Füllungsdrucks im Rektum unzureichend sein,
des Funktionsniveaus des Jugendlichen in einem so dass die primäre Behandlung einer ADHS
oder mehreren Bereichen (z. B. Familie, Schu- sinnvoll erscheint; anderenfalls sollten Enkop-
le, Umgang mit nichtdevianten Gleichaltrigen). resis und Störung des Sozialverhaltens gleich-
»Kontrollierter Gebrauch« einer Substanz sollte zeitig therapeutisch angegangen werden (Leitli-
niemals Ziel einer Behandlung bei Jugendlichen nie »Enkopresis«, Deutsche Gesellschaft für Kin-
sein (American Academy of Child and Adoles- der- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
cent Psychiatry 1997). et al. 2003).
5 Immer Aufklärung und Beratung über die 5 Trennung des Kindes/Jugendlichen von
Störung des Sozialverhaltens wie auch ungünstigen Peer-Gruppen, Aufbau von
ggf. komorbide Störungen und mög- adäquaten Peer-Beziehungen mit Unter-
liche Zusammenhänge zwischen den Stö- stützung und Kontrolle durch die Eltern
rungen sowie über Risikofaktoren, Verlauf 5 Förderung der Lösung wichtiger elterlicher
und geeignete Behandlungsmöglichkeiten Probleme (ggf. Kontakt der Eltern zu Eltern-
(7 6.2.2) gruppen vermitteln, ergänzende Ehebera-
5 Durchführen von geeigneten psychosozi- tung, Beratung bei finanziellen Problemen,
alen Interventionen und – wenn erforder- Behandlung psychischer Störungen der
lich – pharmakotherapeutischen Interventi- Eltern usw.)
onen, auch bezüglich der komorbiden Stö- 5 Soziales Problemlösetraining einzeln oder
rung (unter Berücksichtigung der Spezifika in der Gruppe (7 6.2.2)
der Störung des Sozialverhaltens) 5 Wahl einer adäquate(re)n Schulform, Förde-
5 Elterntraining bei Kindern (7 6.2.2), ggf. rung der Zusammenarbeit von Eltern und
unter Berücksichtigung der Spezifika der Schule; evtl. berufsvorbereitende Maßnah-
komorbiden Störung, z. B. welche Modifika- men (7 6.2.3, 7 6.6)
tionen bei komorbider ADHS, depressiver 5 Geeignete pharmakotherapeutische Inter-
Störung oder Sprachstörung im Verhalten ventionen zur Behandlung der Störung des
der Eltern erforderlich sind Sozialverhaltens in Betracht ziehen (7 6.2.5)
5 Familientherapie bei Jugendlichen 5 Geeignete Jugendhilfemaßnahmen in
Betracht ziehen, z. B. Erziehungsberatung,
sozialpädagogische Familienhilfe, außer-
häusliche Unterbringung (7 6.6)
von Eltern und Patient voraus, kann jedoch auch auch auf den Abbau psychosozialer Belastungen
besonders geeignet sein, die Motivation einer und die Förderung von familiären Ressourcen
Familie zur Mitarbeit zu erhöhen. Durch Home zu fokussieren, da eine hohe familiäre psychoso-
Treatment konnte bei Kindern und Jugendlichen ziale Belastung prognostisch ungünstig für das
mit Störungen des Sozialverhaltens, auch bei Kind ist. Obwohl es sich beim Home Treatment
Komorbidität mit ADHS oder emotionalen Stö- um eine wirksame und vergleichsweise kosten-
rungen, die psychiatrische Symptomatik redu- günstige Behandlungsmethode für einen Teil der
ziert und eine Verbesserung der psychosozialen Patienten mit einer Störung des Sozialverhaltens
Anpassung erreicht werden (Lay et al. 2001), handelt, hat es dennoch keinen Eingang in die
wobei die Therapieeffekte auch nach mehre- etablierten kinder- und jugendpsychiatrischen
ren Jahren noch nachgewiesen werden konnten Behandlungsstrukturen gefunden.
(Mattejat et al. 2001).
Je ausgeprägter die psychosoziale Belastung Multisystemische Therapie
einer Familie ist, desto wichtiger ist es jedoch,
im Rahmen eines aufsuchenden Therapiean- Definition
gebotes nicht nur Elterntraining im häuslichen Die multisystemische Therapie (Henggeler et al.
Umfeld durchzuführen, sondern insbesondere 1996) ist ein innovativer, sehr erfolgreicher ambu-
134 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
umgeht, und suchen Kontakt zu seinen Freun- individuellen Stärken und Bedürfnisse jeder ein-
den. Die Modifikation des sozialen Netzes des zelnen Familie zugeschnitten und werden unter
Jugendlichen ist von großer Bedeutung für die strategischen Punkten ausgewählt und aufein-
Aufrechterhaltung und Generalisierung der ander abgestimmt, um synergistische Effekte zu
Behandlungseffekte. Unter Umständen arbeitet maximieren; die Auswahl und Reihenfolge der
der Therapeut auch mit dem Jugendlichen selbst, Interventionen kann also von Familie zu Familie
um seine sozialen Fertigkeiten zur Abgrenzung sehr unterschiedlich sein. Der Therapeut wen-
gegen sozialen Druck durch deviante Gleichalt- det eine Anzahl empirisch fundierter Behand-
rige zu erhöhen. Weiterhin werden die Eltern lungsansätze (u. a. Elterntraining, Familienthe-
beim Entwickeln und Implementieren von Stra- rapie und kognitiv-verhaltenstherapeutische
tegien unterstützt, um das Funktionieren des Interventionen für einzelne Familienmitglieder)
Jugendlichen in Schule oder Ausbildung zu för- an; auch pharmakotherapeutische Interventi-
dern, z. B. durch das Etablieren eines regelmä- onen werden in den Behandlungsplan einbezo-
ßigen, kooperativen Informationsaustausches gen. Die meisten familien- und einzeltherapeu-
zwischen Eltern und Schule über Anwesenheit tischen Interventionen führt er selbst durch und
und Mitarbeit des Jugendlichen und durch die koordiniert – im Sinne eines Case Managements
Implementierung einer Tagesstruktur, die auch – die Inanspruchnahme anderer wichtiger sozi-
eine feste Zeit für das Nacharbeiten von Schul- aler Dienste, auch unter Aspekten der Evalua-
stoff beinhaltet. Um ein soziales Netzwerk auf- tion des tatsächlichen Nutzens für den Jugend-
zubauen, das die Eltern dabei unterstützt, diese lichen und seine Familie. Die Therapiesitzungen
Veränderungen vorzunehmen und aufrechtzu- werden zu Hause bei der Familie durchgeführt,
erhalten, werden sie zu Kontakten mit Verwand- auch abends oder am Wochenende, wenn es für
ten, Nachbarn und Freunden ermutigt. Die die Familie günstig ist. Die Vorteile dieses Vor-
Familie soll möglichst aktiv an der Behandlung gehens bestehen darin, dass die Kooperation der
mitarbeiten, und der Behandlungsplan wird in Familie erhöht wird, eine validere Einschätzung
Zusammenarbeit von Therapeut und Familien- der anzugehenden Probleme und der diesbezüg-
mitgliedern entworfen. An jedes relevante Fami- lichen Ergebnisse gelingt und dass Generalisa-
lienmitglied werden Anforderungen hinsicht- tion und Stabilität der Behandlungsergebnisse
lich verantwortlichen Handelns gestellt, auch an leichter erreicht werden können. Der Therapeut
den Jugendlichen selbst, der bestimmte Aufga- geht auch zusammen mit den Eltern in die Schu-
ben erfüllen und bestimmten Verhaltensregeln le des Jugendlichen und auf Ämter, wenn erfor-
folgen muss, und die Interventionen werden so derlich. Die Intensität der Behandlung wird den
gewählt, dass sich alle Familienmitglieder täglich Erfordernissen angepasst, mit einer Vielzahl
oder wöchentlich dafür engagieren müssen. von Kontakten pro Woche zwischen Therapeut
und Familie zu Beginn der Behandlung. Dem-
Aufbau und praktische Umsetzung entsprechend arbeitet ein Therapeut nur mit
Die multisystemische Therapie besteht nicht einer geringen Anzahl von Familien gleichzei-
aus spezifischen, für die einzelnen Therapiesit- tig. Später im Verlauf der Behandlung, die etwa
zungen festgelegten Interventionen, sondern 3–5 Monate dauert, wird die Häufigkeit der Kon-
benennt allgemeine Richtlinien für die Fallkon- takte deutlich geringer.
zeptualisierung, Spezifizierung der Behandlung
und die Priorisierung von Interventionen. Die Effektivität
Interventionen sind gegenwarts-, handlungs- Die Langzeitwirksamkeit der multisystemischen
und ressourcenorientiert und beziehen sich auf Therapie bei Jugendlichen mit erheblicher Delin-
konkrete, spezifische Probleme. Sie sind auf die quenz ist gut belegt, auch für weibliche Jugend-
136 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
Time-out-Maßnahmen sind pädagogische Maß- mal erfordert die Akuität der Situation jedoch
nahmen, keine freiheitsentziehenden Maßnah- unmittelbares Eingreifen. Andere Patienten soll-
men, und bedürfen somit keiner richterlichen ten sich nicht in dem Stationsbereich aufhal-
Genehmigung. ten, in dem die Zwangsmaßnahme durchgeführt
wird.
Festhalten Elementare Voraussetzung dafür, dass eine
Diese Intervention wird vor allem bei jüngeren solche Intervention lege artis durchgeführt wer-
Patienten eingesetzt, in der Regel durch zwei den kann, ist die Verfügbarkeit von einer aus-
Mitarbeiter des Pflegeteams, die dabei versu- reichenden Anzahl von gut ausgebildeten Mit-
chen, den Patienten verbal zu beruhigen. Güns- arbeitern. Grundsätzlich sollte eine Klinik, die
tig dafür ist die Beherrschung spezieller Festhal- freiheitsentziehende Maßnahmen durchführt,
tetechniken, die mit geringem Verletzungsrisiko mit eigenen Mitteln die Behandlung auch hoch
für alle Beteiligten durchgeführt werden kön- aggressiver Patienten gewährleisten können.
nen. Es darf nicht zu viel Druck auf den Rücken Wenn jedoch abzusehen ist, dass eine notwen-
eines auf dem Bauch liegenden Patienten ausge- dige Fixierung nicht mehr adäquat durchgeführt
übt werden, da sonst Erstickungsgefahr besteht. werden kann und mit einer Gefährdung von Pati-
Diese Methode erreicht ihre Grenzen durch Grö- ent und Mitarbeitern einhergeht, sollte Amtshil-
ße und/oder Körperkraft des Patienten. Sie soll- fe durch die Polizei angefordert werden. Wenn in
te bei Patienten mit sexuellem Missbrauch in der einer Klinik mit einer gewissen Regelmäßigkeit
Vorgeschichte nicht eingesetzt werden, eben- solche Situationen auftreten, ist die pflegerische
so wenig bei Patienten, welche die körperliche Besetzung der Stationen zu gering.
Nähe während dieser Intervention als so positiv
erleben, dass es zu einer Zunahme ihres aggres- Fixierung. Vor Durchführung einer Fixierung
siven Verhaltens kommt. sollte ein geeignetes Bett durch Anbringen von
Fixierungsgurten – in der Regel 5-Punkt-Fixie-
Zwangsmaßnahmen rung mit Bauchgurt und Fixierung aller Extre-
Erst dann, wenn bei eigen- und/oder fremdge- mitäten – in der für den Patienten geeigneten
fährdendem aggressivem Verhalten alle geeig- Größe vorbereitet werden und eine geeignete se-
neten deeskalierenden Interventionen – ein- dierende Notfallmedikation in oraler sowie in-
schließlich des Anbietens einer sedierenden tramuskulärer Applikationsform bereitgestellt
Bedarfsmedikation – erfolglos waren, werden werden. Ein Notfallkoffer zur Durchführung ei-
zur Gewährleistung der Sicherheit des Jugend- ner kardiopulmonalen Reanimation sollte un-
lichen selbst und/oder der von Dritten (Mitpa- mittelbar verfügbar sein.
tienten, Mitarbeitern) Zwangsmaßnahmen ein- Derjenige, der die Zwangsmaßnahme koor-
gesetzt. diniert und leitet (falls uneindeutig, unbedingt
vorher klären!), gibt ruhig klare, für alle Betei-
! Selbstverständlich ist hier in jedem Fall die am ligten verständliche Anweisungen. Vor dem tat-
wenigsten restriktive Maßnahme zu wählen, sächlichen Durchführen einer Fixierung erklärt
mit der dieses Ziel erreicht werden kann. Würde er dem Patienten, dass die Fixierung nun unmit-
und Autonomie des Patienten müssen gewahrt telbar bevorstehe und der Patient jetzt die letz-
werden, so weitgehend, wie es in einer solchen te Möglichkeit habe, diese durch Einnehmen der
Situation möglich ist. Medikation zu vermeiden. Anderenfalls halten
alle Mitarbeiter auf Kommando den Patienten
Überlegen Sie, ob Sie Rücksprache mit dem gleichzeitig an Armen und Beinen fest, legen
zuständigen Oberarzt halten müssen – manch- ihn mit dem Rücken auf das Bett und bringen
140 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
19 Sedierung. Wenn ein Patient längere Zeit fixiert ! Die Eltern müssen umgehend über die Zwangs-
werden muss, weil der zur Fixierung führende maßnahme informiert werden. Sofern nicht
20 aggressive Erregungszustand weiterhin anhält, bereits vor Durchführung der Zwangsmaßnah-
ist eine medikamentöse Sedierung erforderlich. me (Fixierung und/oder Zwangsmedikation)
Es ist jedoch wenig sinnvoll und möglicherwei- ein Unterbringungsbeschluss bestand, ist diese
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
141 6
auch bei einmaligem Vorkommen nachträglich nes aggressiven Verhaltens zu verstehen. Die
einer richterlichen Prüfung zu unterziehen. Gewichtung dieser unterschiedlichen Aspekte
ist jeweils gut auszubalancieren und individuell
Wenn der Patient zur Ruhe gekommen ist und auf den Patienten abzustimmen. Das Verhalten
wieder Kontrolle über sein Verhalten hat, soll- des Behandlungsteams im Anschluss an einen
te der Vorfall mit ihm nachbesprochen und eine solchen Vorfall ist sehr entscheidend dafür, wie
Verhaltensanalyse durchgeführt werden, unter der Betroffene den Vorfall verarbeitet. Auch
Einnahme einer sachlichen und neutralen Hal- mit den anderen Patienten in der Station soll-
tung, so dass der Patient sich nicht (zusätzlich) ten grundsätzliche Aspekte solcher Situationen
gedemütigt fühlt. besprochen werden, um ihnen eine realitätsnahe
Wie bei allen aggressiven Vorfällen, die zur Sichtweise des Geschehenen zu ermöglichen.
Schädigung anderer Menschen oder zur Des- Im Team muss das Procedere, einschließlich der
truktion von Gegenständen führen, ist die Wie- vorausgehenden deeskalierenden Maßnahmen,
dergutmachung entstandener Schäden durch evaluiert werden.
den Patienten als natürliche Konsequenz sei-
Exkurs
Empfehlungen für das Procedere, falls ein 5 Auch Glas der höchsten Sicherheitsstufe
Patient sich in einem Raum verbarrika- (sog. »Panzerglas«) kann durch hoch erregte
diert Jugendliche, selbst wenn sie körperlich
5 Es sollte vermieden werden, dass es über- wenig kräftig sind, zerstört werden, wenn
haupt soweit kommt. In den Räumlich- sie oft genug immer wieder auf die glei-
keiten insbesondere einer geschlossenen che Stelle schlagen. Besteht Eigengefähr-
Station sollte sich kein Mobiliar befinden, dung (wenn das Zimmer oberhalb des Erd-
welches dazu eingesetzt werden kann, eine geschosses liegt, ist diese bei einem hoch
Zimmertür zu versperren. erregten Patienten wahrscheinlich gege-
5 Wenn mit hinreichender Wahrscheinlich- ben!), rufen Sie rechtzeitig die Feuerwehr,
keit davon ausgegangen werden kann, um die Tür aufbrechen zu lassen! Hat das
dass keine Eigengefährdung vorliegt, kann Glas erst einmal Sprünge, hält es höchstens
zunächst abgewartet werden. noch wenige Minuten. Bitten Sie darum,
5 Bei Hinweis auf Eigengefährdung muss ver- dass sich der Einsatzwagen ohne Martins-
sucht werden, den Patient dazu zu bringen, horn dem Einsatzort nähert, da sonst Angst
die Tür zu öffnen. Das Fenster sollte nach und Wut des Patienten noch verstärkt wer-
Möglichkeit von außen gesichert werden. den können!
5 Bestehen konkrete Hinweise auf Eigenge- 5 Veranlassen Sie, dass die anderen Patienten
fährdung, muss versucht werden, notfalls vom Einsatzort ferngehalten werden und
auch unter Anwendung von Gewalt, die Tür sich nicht von der Station entfernen, wenn
zu öffnen. die Einsatzkräfte in die Station hineingelas-
sen werden.
5 Seien Sie darauf vorbereitet, dass Sie es
nach Öffnen der Tür mit einem Patienten im
Ausnahmezustand zu tun haben, der maxi-
mal erregt und aggressiv oder körperlich
und psychisch völlig erschöpft ist.
142 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
5
bei der Elimination) arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der
5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungs- motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche,
zustand: 1 mg, möglichst oral Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kon-
6 5 Lyophilisierte Plättchen (Tavor expidet trolle der Vitalparameter
1 mg, 2,5 mg), lösen sich bei Kontakt mit 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit
7 Flüssigkeit auf, kein Zurückhalten des Medi- Angst, Agitiertheit und Erregungszustän-
kamentes im Mund möglich den auch unter üblichen Dosen möglich
8 5 Bei unzureichender Wirkung Wiederholung 5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen
nach 30 Minuten möglich (jedoch Vorsicht: zentral wirksamen Substanzen; Ausnahme:
9 maximale Plasmakonzentration erst nach Mittel der Wahl beim komplizierten Halluzi-
1–2 Stunden) nogenrausch (»Horrortrip«)
5 Bei akuter Überdosierung: Schwindel, Dys-
10 arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der Levomepromazin (Neurocil)
motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche, 5 Übliche Dosis bei aggressiven Erregungs-
11 Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kon- zuständen älterer Kinder und Jugendlicher:
trolle der Vitalparameter 25 mg oral oder i.m. (tiefe intramuskuläre
12 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit Gabe!)
Angst, Agitiertheit und Erregungszustän- 5 Maximale Plasmakonzentration: oral nach
13 den auch unter üblichen Dosen möglich 2–3 Stunden, i.m. nach 30–90 Minuten
5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen 5 Möglichst keine i.v.-Gabe (bei paravenöser
14 zentral wirksamen Substanzen oder intraarterieller Injektion Gewebeschä-
5 Anwendung auf Einzelgaben oder auf den bis zum Totalverlust der betreffenden
16
und nach Verdünnung auf 1:10 injizieren
5 Nebenwirkungen: orthostatische Hypotonie
Diazepam (Valium)
(kann sehr ausgeprägt sein, besonders nach
17 5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungs-
zustand: 5–10 mg oral, i.m. oder i.v.
parenteraler Gabe, evtl. stundenlang!), Tachy-
kardie, Verlängerung der QTc-Zeit, Obstipa-
5 Oral: schnelle Resorption, maximale Plas-
18 makonzentration nach etwa 1 Stunde; rek-
tion, Ileus, Harnverhalt, Akkommodations-
störung, Glaukomanfall, epileptische Anfälle,
tal: schnelle Resorption, aber unzuverläs-
19 siger; i.m.-Injektion: unsichere, stark vari-
cholestatische Hepatitis, Blutdyskrasien, aller-
gische Hautreaktionen; erst bei hohen Dosen
ierende Resorption; i.v.-Injektion: nur sehr
20 langsam durchführen, Gefahr von Blut-
extrapyramidalmotorische Symptome, Delir;
selten: malignes neuroleptisches Syndrom
druckabfall und Atemdepression
6
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
143 6
7 lichen derzeit nicht empfohlen werden. rung des Minderjährigen sowie des Jugend-
amtes und der richterliche Beschluss erfol-
Rechtliche Grundlagen gen. Auch wenn in Ausnahmefällen nach
8 freiheitsentziehender Maßnahmen § 1631b Satz 2 BGB die Unterbringung ohne
Eine Unterbringung Minderjähriger mit frei- richterliche Zustimmung gestattet ist – wel-
9 heitsentziehenden Maßnahmen, die sog. che jedoch unverzüglich, unter Heranzie-
geschlossene Unterbringung, greift massiv in hen der Fristenregelung nach Art. 104 Abs. 2
10 deren Persönlichkeitsrechte ein und darf somit GG spätestens nach 48 Stunden, einzuho-
ausschließlich dann durchgeführt werden, wenn len ist (Schlink u. Schattenfroh 2001) – kann
11 ausreichender Schutz sowie notwendige Hil- das vom Gesetzgeber in § 1631b BGB grund-
fe in einem offenen Setting nicht zu gewährleis- sätzlich vorgesehene Procedere der Dyna-
12 ten sind. Für die geschlossene Unterbringung in
einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik
mik einer Situation, die eine Kriseninter-
vention aufgrund von akuter Eigen- und/
gibt es zwei verschiedene gesetzliche Grundla- oder Fremdgefährdung erfordert, häufig
13 gen: nicht gerecht werden. Im Gegensatz zu einer
5 Nach den Landesunterbringungsgesetzen für Unterbringung nach den Landesunterbrin-
14 psychisch Kranke (UBG, PsychKG) ist das gungsgesetzen für psychisch Kranke ist für
Ziel der öffentlich-rechtlichen geschlossenen eine Unterbringung nach § 1631b BGB nicht
15 Unterbringung die Gefahrenabwendung relevant, ob diese überwiegend psychiatrisch
sowie die Behandlung des Betroffenen bei oder überwiegend pädagogisch begründet
16 konkreter Gefährdung der eigenen Person, wird, und sie kann auch in einer geschlos-
anderer Personen oder erheblicher Rechts- senen Einrichtung der Jugendhilfe durchge-
17 güter anderer aufgrund einer akuten psychia-
trischen Störung. Sie kann auch gegen den
führt werden.
jugendpsychiatrischen Erkrankung ist meist nen von Armen und Beinen lässt sich unauffällig
nur für einen Zeitraum von wenigen Wochen während der Exploration durchführen. Setzen
erforderlich; wenn dagegen bei Jugendlichen Sie sich nicht genau gegenüber dem Patienten
mit hochgradig stabilem aggressiv-dissozialem hin, sondern etwas seitlich versetzt, nehmen Sie
Verhalten und geringer Bindungsfähigkeit eine regelmäßig kurz Blickkontakt auf, aber sehen Sie
Unterbringung in einer geschlossenen Einrich- ihn nicht zu viel oder zu lange direkt an (»nicht
tung der Jugendhilfe notwendig erscheint, wird zu viel eigene Energie auf den Patienten rich-
dieses meist für einen deutlich längeren Zeit- ten!«). Vermeiden Sie schnelle und raumgrei-
raum (von in der Regel mehreren Monaten) fende Bewegungen. Erklären Sie dem Patienten
empfohlen. Dieses spiegelt sich auch in Ausführ- jeweils kurz, was Sie tun, auch wenn Sie banale
lichkeit und Detailliertheit der jeweiligen Unter- Handlungen ausführen (z. B. ein Formular
bringungsgutachten wider. holen, den Pieper beantworten usw.). Stellen Sie
Therapeutisch-pädagogisch begründete Ein- eine »Arbeitsbeziehung« her, seien Sie ruhig und
schränkungen wie Ausgangsregelungen oder sachlich. Vermeiden Sie bei einem sehr ange-
ein störungsbedingt eingeschränkter Zugang zu spannten Patienten nach Möglichkeit konfronta-
bestimmten Räumlichkeiten stellen keine frei- tive Themen, sobald Sie ausreichend Informati-
heitsentziehenden Maßnahmen dar. onen haben, um die aktuelle Situation zu bewäl-
tigen. Wenn Sie merken, dass der Patient unter
Umgang mit akut-aggressiven Patienten Spannung gerät, lenken Sie das Gespräch auf ein
anderes Thema. Falls Sie in der Situation beun-
! Beim Umgang mit aggressiven Patienten soll- ruhigt sind und der Patient Sie darauf anspricht,
ten Sie stets auch Ihre eigene Sicherheit streiten Sie es nicht ab, sondern räumen Sie es in
berücksichtigen! Wenn Sie sich in einer Situa- sachlichem Tonfall ein.
tion physisch gefährdet fühlen, sollten Sie die- Achten Sie darauf, dass Sie den Explorati-
se verändern! onsraum schnell verlassen können; setzen Sie
sich jedoch so hin, dass sich der Patient durch
Wenn der Arzt ein sicheres Setting herstellt, Sie nicht eingeengt fühlt. Der Explorations-
kann das auch zur Entspannung des Patienten raum sollte keine Gegenstände enthalten, die als
beitragen. Ängstliche – wie auch konfrontativ Wurfgeschoss oder Stichwaffe benutzt werden
auftretende – Ärzte werden mit einer höheren können. Der Raum sollte so gelegen sein, dass
Wahrscheinlichkeit angegriffen. Zu einem ange- andere Mitarbeiter Ihnen schnell zur Hilfe kom-
spannten und aggressiven Patienten sollte eine men können. Falls es ein Alarmsystem gibt, soll-
ausreichende körperliche Distanz gewahrt wer- ten Sie sich mit der Position des Knopfes so ver-
den, nicht nur im Interesse der eigenen Sicher- traut machen, dass Sie ihn ohne Hinsehen oder
heit, sondern vor allem deswegen, weil der Pati- gar Suchen betätigen können. Es sollten regel-
ent eine zu geringe körperliche Distanz als mäßige Übungen stattfinden, zur Überprüfung
bedrohlich erleben könnte. Man sollte sich sei- der technischen Funktionsfähigkeit und um zu
ner eigenen emotionalen Reaktionen und sei- gewährleisten, dass jeder Mitarbeiter weiß, was
ner Verhaltensweisen in einer solchen Situati- im Alarmfall zu tun ist.
on gewahr sein. Vorsicht ist gut, Angst eher hin- Es kann günstig sein, wenn der Patient
derlich. Eine entspannte Körperhaltung beruhigt Sie nicht nur als anonymen Funktionsträger
Sie selbst und den Patienten (jedoch so, dass wahrnimmt, aber bleiben Sie sachlich. Gera-
man beweglich bleibt und erforderlichenfalls de Jugendliche fühlen sich sonst eventuell nicht
schnell Distanz zwischen sich und den Patienten ernst genommen. Sie können beispielsweise
bringen kann). Bewusst ausatmen und Entspan- sagen, dass Sie etwas müde sind und sich einen
146 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
chen Sie, relevante Informationen der Daten- te des Erstkontaktes an möglichst genau (aber
bank oder der Akte zu entnehmen. unauffällig) anschauen und auf sich wirken las-
Versuchen Sie ebenso von den Personen, sen, weil Sie hieraus bereits wesentliche Hinwei-
die den Patienten in die Klinik bringen, mög- se auf eine mögliche organische Genese gewin-
lichst viel Information über die Umstände, die nen können. Sobald Sie denken, dass eine orga-
zur aktuellen Vorstellung bei Ihnen geführt nische Genese vorliegen könnte, haben Sie keine
haben, zu erhalten. Wenn ein Jugendlicher in Wahl! Erklären Sie, was Sie tun. Beschränken Sie
Begleitung seiner Betreuungspersonen kommt, sich auf das Erheben der körperlichen Untersu-
ist es unter Umständen günstiger, erst mit dem chungsbefunde, die für Sie unverzichtbar sind.
Jugendlichen allein zu sprechen. Im Nachtdienst geht es nur darum, den Pati-
Achten Sie aufmerksam auf den Patienten: enten sicher über die Nacht zu bringen – darü-
5 Äußeres, Kleidung, Zeichen von Verwahr- ber hinausgehender Ehrgeiz ist nicht nur unnö-
losung? tig, sondern manchmal auch schädlich. Wenn
5 Geruch nach Alkohol? der Patient aufgebracht verlangt, dass etwas jetzt
5 Schwitzen oder Frösteln? unbedingt geregelt werden müsse, oder er unbe-
5 Unsicherer Gang? dingt mit jemandem sprechen will, Sie jedoch
5 Ängstliches, misstrauisches Verhalten? den Eindruck haben, dass es ihn noch weiter
5 Achtet er auf seine Umgebung? aufbringen würde, erklären Sie sachlich, dass es
5 Wie nimmt er Kontakt zu Ihnen auf? Abend/Nacht ist und deswegen jetzt nicht geht,
5 Wie zeigt er sich im Gespräch? Abgelenkt, aber dass am nächsten Tag alles geklärt werden
perseverierend, verwirrt? Hat er Mühe, dem wird (jedoch nach Möglichkeit keine Verspre-
zu folgen? Ist er assoziativ gelockert oder chungen machen, die der Tagdienst nicht ein-
inkohärent im Gedankengang? lösen kann, es sei denn, Sie haben wirklich kei-
5 Wird wahnhaftes Erleben deutlich? Bejaht ne andere Wahl!). Natürlich müssen Sie die Sor-
er das Erleben von Halluzinationen, oder geberechtigten informieren, aber wenn Sie den
gewinnen Sie aus seinem Verhalten diesen Eindruck haben, dass es die Situation erschwe-
Eindruck? ren könnte, versuchen Sie, die Sorgeberechtigten
von einem Kontaktversuch abzubringen. Auch
Die wichtigsten Differenzialdiagnosen in einer hier gilt: Es kann alles am nächsten Tag geregelt
solchen klinischen Situation sind das Vorliegen werden.
einer hirnorganischen Störung, einer Intoxika-
tion sowie einer akuten Psychose. Hier ist kli-
nisches Wissen bezüglich psychiatrischer Dif-
ferenzialdiagnostik und somatischer Ursachen
aggressiven Verhaltens (z. B. zerebrale Infektion,
Intoxikation) unverzichtbar (7 5.3).
Die Frage, ob man bei einem akut-aggres-
siven Patienten eine körperliche Untersuchung
durchführt, ist ein Dilemma: Tut man es nicht,
kann man etwas Wichtiges übersehen, z. B.
Hinweise auf eine organische Genese des aktu-
ellen aggressiven Bildes, andererseits kann es
auch den Patienten provozieren und die Situa-
tion endgültig zum Eskalieren bringen. Deswe-
gen sollten Sie sich den Patienten von der Minu-
148 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
1 Allgemeine Empfehlungen für den Bereit- 5 Wenn Ihnen ein hochaggressiver Patient
schaftsdienst in Handfesseln von Polizeibeamten vorge-
2 5 Tragen Sie im Dienst keine Kleidung, stellt wird, prüfen Sie sehr kritisch, ob Sie
Schuhe oder Schmuck, die Sie unbeweg- die Handfesseln öffnen lassen, denn dieses
3 lich machen oder gefährden (Halstücher kann von den Polizeibeamten als Signal
können zum Würgen benutzt werden; interpretiert werden, dass ihr Einsatz erfolg-
5 Während der Exploration hochaggressiver bleiben. (Sollte der Patient erneut aggres-
Patienten kann es ratsam sein, für diesen siv werden und wiederum das Anlegen
Zeitraum keine Brille zu tragen. von Handfesseln erforderlich werden, neh-
6 5 Überschätzen Sie sich selbst nicht, ein auf- men Sie die kritischen Kommentare bezüg-
gebrachter Patient ist immer wacher und lich Ihrer Fehleinschätzung mit Gelassen-
7 energiegeladener als Sie selbst! heit hin.)
5 Hören Sie auf die Ratschläge von erfah- 5 Grundsätzlich ist es Aufgabe der Klinik, mit
8 renen Mitarbeitern des Pflegedienstes! Im eigenen Mitteln auch den Umgang mit
Nachtdienst gilt noch mehr als tagsüber, hochaggressiven Patienten zu gewährleis-
9 dass alle »an einem Strang ziehen« müssen. ten. Wenn jedoch abzusehen ist, dass auf-
grund besonderer Umstände (z. B. hocher-
16 ma, eine innere Blutung, eine noch zuneh- zeibeamten trennen sich nicht gern von
mende Intoxikation usw. haben. Die Prü- ihren Dienstwaffen, aber Sie werden noch
fung der Haftfähigkeit ist Aufgabe des Poli- weniger gern sehen, dass geladene Waf-
17 zeiarztes. fen in eine geschlossene Station mitgenom-
men werden, die sich in Ihrer Verantwortung
18 befindet!
6
19
20
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
149 6
5 Wenn ein Patient abgängig ist, bei dem 5 Seien Sie höflich und freundlich im Umgang
eine Eigengefährdung angenommen wer- mit den Polizeibeamten. »Nachts sitzen alle
den muss (nicht nur bei Suizidalität, sondern in einem Boot«, und die nächste Situation,
auch, wenn er »hilflos« ist, z. B. verwirrt, hoch- in der Sie Amtshilfe durch die Polizei benöti-
gradig erregt, oder auch bei sehr kalter Wit- gen, kommt bestimmt.
terung unzureichend bekleidet), zögern Sie
nicht, den Patienten durch die Polizei suchen
zu lassen. Sie sollten den Polizeibeamten eine
möglichst genaue Personenbeschreibung
geben, unter Angabe der aktuell getragenen
Kleidung, und möglichst genaue Anga-
ben, wo die Polizei suchen sollte. Ist der Pati-
ent wieder aufgetaucht (in der Klinik oder an
einem anderen Ort, z. B. zu Hause), informie-
ren Sie umgehend die Polizei!
6.6 Jugendhilfe und ale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen in die
Rehabilitationsmaßnahmen jeweilige Hilfe einbezogen werden soll. Neben
den im KJHG genannten, im Folgenden aufge-
Bei der Planung von Interventionen für Kinder führten Hilfen zur Erziehung sind auch andere
und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhal- Hilfen unter Gestaltung flexibler Hilfearrange-
tens sollte immer auch über geeignete Jugendhil- ments grundsätzlich möglich.
femaßnahmen nachgedacht werden. Eltern kön-
nen an das Jugendamt verwiesen werden bzw. Ambulante Maßnahmen
das Jugendamt kann durch die Kinder- und
Jugendpsychiatrie rechtzeitig hinzugezogen wer- Erziehungsberatung (§ 28 KJHG). 'LH Erzie-
den. Voraussetzung hierfür ist eine Schweige- hungsberatung ist eine Hilfe zur Erziehung, die
pflichtsentbindung durch die Erziehungsberech- von Erziehungsberatungsstellen und anderen Be-
tigten; davon darf (und muss) lediglich bei kon- ratungseinrichtungen, z. B. Familienberatungs-
kret drohender Gefährdung des Kindeswohls stellen, erbracht wird. Eltern und andere Erzie-
abgewichen werden. hungsberechtigte, aber auch Kinder und Jugend-
liche selbst, sollen bei der Klärung und Bewälti-
Hilfe zur Erziehung gung individueller und familienbezogener Pro-
Nach § 27 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) bleme und der zugrunde liegenden Faktoren un-
hat jeder Personensorgeberechtigte einen terstützt werden. Erziehungsberatung kann auch
Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, »wenn im Anschluss an eine kinder- und jugendpsychi-
eine dem Wohl des Kindes oder des Jugend- atrische Behandlung sinnvoll sein.
lichen entsprechende Erziehung nicht gewähr-
leistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 KJHG).
geeignet und notwendig ist«. Art und Umfang Sie soll durch intensive – in der Regel aufsu-
der Hilfe richten sich dabei nach dem jeweiligen chende und auf längere Dauer angelegte – Be-
erzieherischen Bedarf, wobei das engere sozi- treuung und Begleitung Familien in ihren Erzie-
150 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
miliären Rahmen beschränkten Störung des So- derholen. Ein solches Vorgehen wird dem Kind
zialverhaltens sinnvoll sein, wenn das Kind oder nicht gerecht und stellt eine Verschwendung von
der Jugendliche in anderen Settings ein deutlich Ressourcen dar. Gerade die ersten Interventi-
höheres Funktionsniveau als im Rahmen seiner onen sollten nicht unter kurzfristigen Kostenmi-
Herkunftsfamilie aufweist. nimierungsaspekten gewählt werden, denn die
langfristigen Kosten (nichtmateriell und materi-
Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform ell) einer unzureichenden Frühintervention sind
(§ 34 KJHG). Unter Heimerziehung, sonstige um ein Vielfaches höher.
betreute Wohnform werden verschiedene Hil-
fen zusammengefasst, bei denen Kinder bzw. Ju- Eingliederungshilfe für seelisch behinderte
gendliche außerhalb ihrer Familie in einer Ein- Kinder und Jugendliche
richtung über Tag und Nacht (Heimerziehung)
oder in einer sonstigen betreuten Wohnform ! »Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf
(z. B. Wohngruppe) leben. Die Minderjährigen Eingliederungshilfe, wenn
sollen durch eine Verbindung von Alltagserle- 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahr-
ben mit pädagogischen und therapeutischen An- scheinlichkeit länger als sechs Monate von
geboten in ihrer Entwicklung gefördert werden. dem für ihr Lebensalter typischen Zustand
Entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand abweicht und
des Kindes oder Jugendlichen und den Möglich- 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesell-
keiten zur Verbesserung der Erziehungsbedin- schaft beeinträchtigt ist oder eine solche
gungen in der Herkunftsfamilie kann eine sol- Beeinträchtigung zu erwarten ist« (aus § 35a
che Hilfe zum Ziel haben: Rückkehr in die Her- Abs. 1 KJHG).
kunftsfamilie, Vorbereitung der Erziehung in ei-
ner anderen Familie, Bieten einer auf längere Hier wird also eine zweigliedrige Anspruchsre-
Zeit angelegten Lebensform und Vorbereitung gelung formuliert. Zum ersten muss festgestellt
auf ein selbstständiges Leben. werden, dass eine Abweichung der seelischen
Gesundheit vom lebensaltertypischen Zustand
! Das Prinzip »ambulante vor stationären Maß- (»seelische Störung«) bereits seit 6 Monaten
nahmen« darf nicht dazu führen, dass sich eine besteht oder nach fachlicher Erkenntnis mit
Kette von erfolglosen Maßnahmen aneinander- hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate
reiht, welche zwar zunehmend intensiver wer- andauern wird (was bei einer Störung des Sozi-
den, jedoch jeweils hinter der Eskalation der alverhaltens aufgrund der hohen Chronizität der
Probleme »hinterherhinken«. Verläufe meist sowieso gegeben ist). Zum zwei-
ten muss aus der Abweichung der seelischen
Eine zunehmende Schwere der Symptomatik, Gesundheit eine Beeinträchtigung der Teilha-
welche zunehmend mehr Lebensbereiche beein- be des Kindes oder Jugendlichen am Leben in
trächtigt, ist die Regel, nicht die Ausnahme. der Gesellschaft resultieren (»seelische Behin-
Durch die wiederholten Beziehungsabbrüche derung«) bzw. dann, wenn die Beeinträchtigung
und das von allen Beteiligten, einschließlich des der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft noch
Kindes bzw. Jugendlichen selbst erlebte Schei- nicht eingetreten ist, nach fachlicher Erkenntnis
tern werden die Erfolgschancen der jeweils nach- als Folge zu erwarten sein (»drohende seelische
folgenden Intervention durch die vorausgegan- Behinderung«).
genen fehlgeschlagenen Interventionen geringer. Nicht die Sorgeberechtigten, sondern der
Es erscheint auch nicht sinnvoll, bereits geschei- Minderjährige selbst hat ggf. einen Rechtsan-
terte Interventionen immer noch einmal zu wie- spruch auf Eingliederungshilfe; ab dem Alter
152 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen
sollte möglichst gut an den Möglichkeiten und quentem Verhalten und Substanzmissbrauch
Grenzen (Impulsivität, geringe Frustrationsto- erhöht, selbst bei direktiver Steuerung der Grup-
leranz, geringe Ausdauer, geringe Fertigkeit im penprozesse durch den Therapeuten (Dishion et
Umgang mit sozialen Konflikten) des jeweiligen al. 1999).
Jugendlichen ausgerichtet sein und eine flexible Zur Wirksamkeit von tiefenpsychologisch
Anpassung des Vorgehens an die Entwicklung fundierter oder psychoanalytischer Psychothera-
des einzelnen Jugendlichen erlauben. pie bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen
Soweit die Träger der öffentlichen Jugend- des Sozialverhaltens liegen keine kontrollierten
hilfe Rehabilitationsträger sind, also bei Einglie- Studien vor. Non-direktive Spieltherapie ist auch
derungshilfen nach § 35a KJHG, unterliegen sie bei jüngeren Kindern unwirksam.
den Verfahrensvorschriften des SGB IX, auch
wenn die Leistungen – wie bisher auch – auf
der Grundlage des KJHG erbracht werden, und
sie sind an die im SGB IX vorgegebenen Fris-
ten gebunden. Danach muss ein Rehabilitations-
träger innerhalb von 2 Wochen nach Eingang
eines Antrages bei ihm feststellen, ob er für die
beantragte Leistung zuständig ist. Erklärt er sich
zuständig, muss er den individuellen Hilfebedarf
innerhalb von 3 Wochen feststellen. Hält er sich
für nicht zuständig, muss er den Antrag unver-
züglich an den nach seiner Auffassung zustän-
digen Rehabilitationsträger weiterleiten. Der
zweite befasste Rehabilitationsträger hat dann –
unabhängig von seiner Zuständigkeit – über den
Rehabilitationsbedarf zu entscheiden. Besteht
ein Dissenz zwischen den Leistungsträgern über
die Zuständigkeit, ist dieser ohne die Einbezie-
hung des Antragstellers zu klären. Wenn zur
Feststellung des Rehabilitationsbedarfes ein Gut-
achten erforderlich ist, so muss ein beauftragter
Gutachter dieses innerhalb von 14 Tagen vorle-
gen und der Rehabilitationsträger innerhalb wei-
terer 3 Wochen entscheiden.
6.7 Entbehrliche
Therapiemaßnahmen
Häufig wird zwischen offen (»overt«) und gemischtes reaktiv-proaktives Bild zu beobach-
verdeckt (»covert«) auftretenden Symptomen ten.
einer aggressiv-dissozialen Störung unterschie- Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/
den. Hyperaktivitätsstörung haben gegenüber unauf-
fälligen Kindern ein mehrfach erhöhtes Risi-
Definition ko, eine aggressiv-dissoziale Störung zu entwi-
Offen auftretende Symptome sind Wutausbrüche, ckeln, in der Regel jedoch vermittelt durch eine
Drohungen, offen gezeigte verbale oder physische oppositionelle Störung, während eine Aufmerk-
Aggression, verdeckt auftretende Symptome dage- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ohne
gen Lügen, Stehlen, Betrügen, heimliche Rache, eine komorbide oppositionelle Störung nur ein
verstecktes Provozieren. schwacher Prädiktor für das Auftreten einer
aggressiv-dissozialen Störung ist (Biederman et
Wenn sowohl offene als auch verdeckte Ver- al. 1996).
haltensweisen auftreten, weist dieses auf eine Eine ADHS ist insbesondere für das Auftre-
schwerere und stabilere Störung des Sozialver- ten einer aggressiv-dissozialen Störung mit frü-
haltens hin (Loeber u. Schmaling 1985). hem Beginn von hoher Relevanz (Loeber et al.
Eine weitere klinisch relevante Untertei- 1995). Fast alle Patienten mit ADHS und komor-
lung ist die zwischen reaktiver und proaktiver bider aggressiv-dissozialer Störung entwickel-
Aggression. ten diese bereits vor dem 12. Lebensjahr (Bie-
derman et al. 1996), während aggressiv-dissozi-
Definition ale Störungen ohne eine komorbide ADHS sich
Impulsiv-reaktives Verhalten erfolgt »explosiv« bei in der Regel später manifestieren (Moffitt 1990).
geringen Anlässen als Reaktion auf das Erleben von Wenn Kinder mit einer ADHS von einer aggres-
Bedrohung oder Herabsetzung durch andere Men- siv-dissozialen Störung betroffen sind, dann
schen. Dagegen wird proaktiv-aggressives Ver- ausgeprägter, stabiler und mit mehr physischer
halten zielgerichtet und funktional eingesetzt, um Aggression, als es ohne komorbide ADHS der
durch die Verletzung der Rechte anderer Menschen Fall wäre (Hinshaw et al. 1993). Von den Kern-
persönliche Vorteile – materielle Vorteile oder auch symptomen der ADHS ist hier insbesondere die
soziale Dominanz – zu erreichen. hyperaktiv-impulsive Komponente von Bedeu-
tung (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999).
Kinder mit stärker reaktiv-aggressiver Kompo- Häufige Vorläufer früh beginnender aggres-
nente zeigen von einem früheren Lebensalter siv-dissozialer Störungen sind persistieren-
an aggressives Verhalten, stärker beeinträchti- de oppositionelle Symptome; diese bestehen oft
gte Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie Vikti- auch über den Beginn des aggressiv-dissozialen
misierung durch Gleichaltrige, inadäquate Pro- Verhaltens hinaus fort, wobei aber die Diagno-
blemlösefertigkeiten und sind häufiger von einer se einer oppositionellen Störung bei Vorliegen
komorbiden ADHS betroffen. Dagegen ist proak- einer aggressiv-dissozialen Störung nicht mehr
tiv-aggressives Verhalten stärker mit der Erwar- separat gestellt werden darf, sondern in der Dia-
tung eines positiven Ergebnisses für solches Ver- gnose der aggressiv-dissozialen Störung aufgeht.
halten verbunden (Dodge et al. 1997; Schwartz Insbesondere die im Kindesalter begin-
et al. 1998) und geht häufiger mit Delinquenz nenden aggressiv-dissozialen Störungen gehen
im Adoleszentenalter einher (Vitaro et al. 1998). mit körperlich-aggressiven Verhaltensweisen
Hierbei handelt es sich jedoch um Prototypen einher, während dies für die im Jugendalter
aggressiven Verhaltens; klinisch ist häufig ein beginnenden Störungen weit weniger gilt (Lah-
ey et al. 1998).
162 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
mäßig die Schule, verbrachte seine Zeit mit anderen altrigen an, mit denen er Alkohol trank, Canna-
dissozialen Gleichaltrigen, beging Ladendiebstähle bis rauchte und gelegentlich Ecstasy einnahm. Mit
und stahl auch seinen Eltern Geld. Im Alter von 13 Jah- 14 Jahren wurde er bei einem Ladendiebstahl gestellt,
ren wurde Ronny in einer vollstationären Einrichtung und es wurde Strafanzeige gegen ihn erstattet. Nach-
der Jugendhilfe platziert, begleitet von ambulanter dem er nach der zweiten Wiederholung der 9. Klas-
kinder- bzw. jugendpsychiatrischer Behandlung sowie se wiederum das Klassenziel nicht erreichte, besuchte
mehrfachen stationären Kriseninterventionen und er im Anschluss an seine Schulzeit das Berufsvorberei-
einer längeren stationären Behandlung in einer Kli- tende Jahr. Hier konnte er einen guten Abschluss errei-
nik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zwei Jahre spä- chen und im Anschluss daran eine dreijährige Ausbil-
ter wurde er aufgrund seines ausgeprägten aggres- dung in einem Bildungs- und Rehabilitationszentrum
siv-dissozialen Verhaltens aus der Einrichtung wie- erfolgreich abschließen, wodurch er den erweiterten
der nach Hause entlassen. Mit 16 Jahren wurde Ronny Realschulabschluss erwarb. Drogen konsumierte er
wegen gefährlicher Körperverletzung und wiederhol- nur noch sporadisch. Polizeilich wurde er nicht mehr
ten Fahrens ohne Führerschein, auch unter dem Ein- auffällig.
fluss von Alkohol, zu einer zweijährigen Jugendstrafe
auf Bewährung verurteilt. In der Follow-up-Untersuchung im Alter von
26 Jahren (Moffitt et al. 2002) konnte jedoch
Bei Störungsbeginn in der Adoleszenz spielt die noch eine dritte Gruppe unterschieden werden,
Imitation von dissozialen Gleichaltrigen eine die durch ein hohes Ausmaß aggressiv-dissozi-
wichtige Rolle bei der Pathogenese, aber auch alen Verhaltens im Kindesalter gekennzeichnet
ungünstige familiäre Bedingungen und aktu- war, welches jedoch während der Adoleszenz
elle belastende Lebensereignisse erwiesen sich deutlich abnahm. Dennoch zeigten die Betrof-
als signifikante Prädiktoren (Lay et al. 2005). fenen im Erwachsenenalter anhaltend delin-
Im Vordergrund der Problematik stehen delin- quentes Verhalten, wenn auch auf niedrigem
quente Verhaltensweisen. Die Folgen für die Niveau, mehr Angst und Depression, soziale
Entwicklung des Jugendlichen sind viel weniger Isolation, ein geringes Ausbildungsniveau sowie
ausgeprägt als bei der ersten Gruppe, aber auch berufliche und finanzielle Probleme.
hier sind im jungen Erwachsenenalter mehr
Angst und Depression, Substanzabhängigkeit, Prädiktoren von Stabilität und
finanzielle Schwierigkeiten und Partnerschafts- Veränderbarkeit
probleme festzustellen als bei jungen Erwachse- Verschiedene, zum Teil miteinander hoch kor-
nen, die nie dissoziales Verhalten gezeigt haben relierte Faktoren, sind prädiktiv für die Stabili-
(Moffitt et al. 2002). tät aggressiv-dissozialer Störungen: Schweregrad
der Störung, Störungsbeginn in der Kindheit,
Beispiel komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperakti-
Svens Entwicklung verlief zunächst unauffällig. vitätsstörung, ausgeprägte oppositionelle Symp-
Er wurde altersgerecht eingeschult und besuchte tomatik, früh beginnende und persistierende
nach der Grundschule zunächst die Realschule. Als körperliche Aggressivität, emotionale Unbetei-
er 12 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern schei- ligtheit, komorbider Substanzgebrauch, nied-
den. Sven zog mit seiner Mutter in eine andere Stadt rige Intelligenz, schulisches Leistungsversagen
und wechselte die Schule. Seine schulischen Leistun- und dissoziale Persönlichkeitsstörung der bio-
gen verschlechterten sich deutlich, es kam regelmä- logischen Eltern (Christian et al. 1997; Lahey et
ßig zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen sei- al. 1995; Biederman et al. 2001). Umgekehrt sind
ner Mutter und ihm, er schwänzte häufiger die Schu- Prädiktoren für eine höhere Veränderbarkeit:
le und schloss sich einer Clique von dissozialen Gleich- geringerer Schweregrad der aggressiv-dissozi-
166 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
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