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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen

Lioba Baving

Störungen des
Sozialverhaltens

1 23
Prof. Dr. Dr. Lioba Baving
Lehrstuhlinhaberin für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie
Zentrum für Integrative Psychiatrie gGmbH
Niemannsweg 147
24105 Kiel

ISBN-10 3-540-20934-4
ISBN-13 978-3-540-20934-8
Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Planung: Renate Scheddin


Projektmanagement: Renate Schulz
Lektorat: Annette Allée, Dinslaken
Design: deblik Berlin
SPIN 10980842
Satz: medionet AG, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
Vorwort
aus
Max und Moritz
(Wilhelm Busch)

Ach, was muss man oft von bösen


Kindern hören oder lesen!
Wie zum Beispiel hier von diesen,
Welche Max und Moritz hießen;
Die, anstatt durch weise Lehren
Sich zum Guten zu bekehren,
Oftmals noch darüber lachten
Und sich heimlich lustig machten.
Ja, zur Übeltätigkeit,
Ja, dazu ist man bereit!
Menschen necken, Tiere quälen,
Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen,
Das ist freilich angenehmer
Und dazu auch viel bequemer,
Als in Kirche oder Schule
Festzusitzen auf dem Stuhle.
Aber wehe, wehe, wehe!
Wenn ich auf das Ende sehe!!
Ach, das war ein schlimmes Ding,
Wie es Max und Moritz ging.
Drum ist hier, was sie getrieben,
Abgemalt und aufgeschrieben.
Allen Kindern und Jugendlichen
mit einer Störung des Sozialverhaltens gewidmet.
IX

Vorwort

Aggressiv-dissoziale Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verursachen


sowohl erhebliches individuelles Leid als auch gesamtgesellschaftliche Belastungen. Diese
Kinder und Jugendlichen stellen nicht nur ihre Eltern und Lehrer vor besondere Anfor-
derungen, sondern auch die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe täti-
gen Fachkräfte.
Ziel des vorliegenden Buches ist es, das für erfolgreiche Therapien und Hilfen bei
oppositionellen und aggressiv-dissozialen Kindern bzw. Jugendlichen relevante Wissen
kompakt und praxisnah darzustellen. Der Schwerpunkt liegt – neben der Diagnostik – auf
der Therapie; für das Verständnis der Störungen des Sozialverhaltens erforderliche theo-
retische Konzepte werden bewusst knapp dargestellt.
Die ersten drei Kapitel widmen sich der Geschichte der Störung, ihrer Definition und
Klassifikation und verschiedenen Aspekten ihrer Entstehung. 7 Kapitel 4 und 5 behan-
deln die Diagnose und Differenzialdiagnose der Störungen des Sozialverhaltens. Geführt
wird der Leser hier durch „diagnostische Leitfragen“, die ihn dazu anleiten sollen, den ein-
zelnen Jugendlichen mit seiner individuellen Problematik einzuordnen sowie begleitende
Störungen und Probleme zu identifizieren.
7 Kapitel 6 bildet mit dem Thema Therapie den Schwerpunkt des Buches. Hier werden
die Interventionsmöglichkeiten umfassend vorgestellt und ihre Anwendung in der Praxis
beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Umgang mit akut-aggres-
siven Kindern und Jugendlichen in Notfallsituationen; Fachkräfte erhalten hier konkrete
Handlungsvorschläge für diese schwierigen Situationen.
Der letzte Teil (7 Kap. 7 und 8) befasst sich mit Verlauf und Prognose der Störungen
des Sozialverhaltens sowie mit den Schwerpunkten zukünftig zu leistender Forschung.
Das Buch richtet sich an Mediziner, Psychologen und Pädagogen, die an der ambu-
lanten oder (teil-)stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen
des Sozialverhaltens mitwirken, aber auch an die in Jugendämtern und Einrichtungen der
Jugendhilfe tätigen Fachkräfte; darüber hinaus an alle Leser, die mehr über diese spezielle
Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit ihren vielfältigen Eigenschaften und Schwie-
rigkeiten wissen möchten.

Kiel, im Frühjahr 2006


Lioba Baving
XI

Inhaltsverzeichnis

1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte 4.5.4 Drogenscreening . . . . . . . . . . . . . . . 55


der Störung. . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4.6 Weitergehende Diagnostik. . . . . . . . . 57
4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . . 57
2 Worum es geht: Definition und
Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . . 5 5 Unterscheiden ist wichtig:
2.1 Definition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Differenzialdiagnose und
2.2 Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . 7 multiaxiale Bewertung . . . . . . . . . 59
2.3 Schweregradeinteilung . . . . . . . . . . . 7 5.1 Weitere diagnostische Leitfragen. . . . . 60
2.4 Untergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 5.2 Identifizierung weiterer Störungen
2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 . . . . . . . . 8 und Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV . . . . . . . . 12 5.2.1 Achse II des MAS: Umschriebene
2.5 Ausschlussdiagnosen . . . . . . . . . . . . 13 Entwicklungsstörungen. . . . . . . . . . . 61
5.2.2 Achse III des MAS: Intelligenzniveau . . . 66
3 Was erklärbar ist: Ätiologie und 5.2.3 Achse IV des MAS: Körperliche
Entwicklungspsychopathologie. . . . 17 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.1 Biologische Perspektive. . . . . . . . . . . 19 5.2.4 Achse V des MAS: Assoziierte aktuelle
3.2 Psychosoziale Perspektive . . . . . . . . . 21 abnorme psychosoziale Umstände . . . 68
3.2.1 Kind/Jugendlicher in seiner Familie . . . 21 5.2.5 Achse VI des MAS: Globale Beurteilung
3.2.2 Kind/Jugendlicher und die des psychosozialen Funktionsniveaus. . 68
Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie
3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule . . . . 27 des diagnostischen Vorgehens . . . . . . 68
3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine Familie 5.3.1 Hierarchie des diagnostischen
im psychosozialen Umfeld . . . . . . . . . 27 Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
3.3 Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . . 28 5.3.2 Differenzialdiagnose. . . . . . . . . . . . . 71

4 Der Blick auf das Besondere: 6 Was zu tun ist: Interventionen . . . . . 87


Störungsspezifische Diagnostik. . . . 31 6.1 Auswahl des Interventionssettings. . . . 88
4.1 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 6.2 Behandlungsprogramme und ihre
4.1.1 Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . 90
4.1.2 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6.2.1 Krankheitsstadienbezogene
4.1.3 Psychischer Status des Kindes/ Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 6.2.2 Psychoedukative Maßnahmen und
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des Kindes/ Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6.2.3 Schulbezogene Interventionen . . . . . . 103
4.2 Störungsspezifische 6.2.4 Therapieprogramme. . . . . . . . . . . . . 105
Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . 42 6.2.5 Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . 107
4.3 Komorbide Störungen . . . . . . . . . . . 43 6.2.6 Komorbiditätsbezogene Komponenten 130
4.4 Störungsrelevante 6.3 Besonderheiten bei ambulanter
Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . 48 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
4.5 Testpsychologische und somatische 6.4 Besonderheiten bei teilstationärer
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
4.5.1 Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen . 50 6.5 Besonderheiten bei stationärer
4.5.2 Altersbezogene Testdiagnostik . . . . . . 51 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
4.5.3 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . 54
XII Inhaltsverzeichnis

6.6 Jugendhilfe und Rehabilitations-


maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.7 Entbehrliche Therapiemaßnahmen . . . 157

7 Der Blick voraus: Verlauf und


Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

8 Was wir nicht wissen: Offene Fragen . . 167

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
2

Worum es geht: Definition


und Klassifikation

2.1 Definition – 6

2.2 Leitsymptome –7

2.3 Schweregradeinteilung – 7

2.4 Untergruppen – 8
2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 – 8
2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV – 12

2.5 Ausschlussdiagnosen – 13
6 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation

Definition
1 2.1 aggressives Verhalten jedoch, das in einem gege-
benen sozialen Kontext deutlich unangemessen
Kennzeichnend für die Störungen des Sozialver- ist, erschwert oder verunmöglicht das Zusam-
2 haltens (F91) ist nach der Internationalen Klas- menleben mit anderen Menschen und ist mit
sifikation psychischer Störungen ICD-10 (Welt- grundsätzlichen gesellschaftlichen Regeln nicht
3 gesundheitsorganisation 2000) »ein sich wieder- vereinbar. Auch oppositionelles Verhalten, also
holendes und andauerndes Muster dissozialen, trotziges und ungehorsames Verhalten, ist kei-
4 aggressiven oder aufsässigen Verhaltens«, wel- neswegs immer deviant, sondern in bestimm-
ches die Grundrechte anderer oder dem jewei- ten Entwicklungsphasen als beinahe norma-
5 ligen Lebensalter entsprechende soziale Normen tiv zu betrachten (»terrible two«). Ein andau-
und Regeln verletzt und seit 6 Monaten oder erndes Muster von erheblich ausgeprägtem und
6 länger besteht. Für die Diagnose einer Störung
des Sozialverhaltens ist also ein Verhaltensmus-
altersinadäquatem oppositionellem Verhalten ist
jedoch insofern dissozial, als es ebenfalls mit den

7 ter gefordert, einzelne dissoziale Handlungen


rechtfertigen diese Diagnose nicht. Oft liegen
grundsätzlichen Regeln des Zusammenlebens
nicht vereinbar ist. Da aber die ICD-10 zwischen
bei Störungen des Sozialverhaltens ungünstige oppositionellen, aggressiven und dissozialen
8 psychosoziale Bedingungen vor. Eine Störung Verhaltensweisen trennt, wird dieser seman-
des Sozialverhaltens kann zusammen mit einer tischen Abgrenzung auch in der vorliegenden
9 hyperkinetischen Störung (hyperkinetische Stö- Monographie gefolgt.
rung des Sozialverhaltens F90.1) oder mit einer Einige dissoziale Verhaltensweisen sind
10 emotionalen Störung wie Depression oder Angst gleichzeitig auch delinquente Verhaltensweisen.
(kombinierte Störung des Sozialverhaltens und
11 der Emotionen F92) auftreten. Gegenstand die- Definition
ser Monographie sind alle Störungen des Sozi- Der Begriff der »Delinquenz« bezieht sich auf die

12 alverhaltens entsprechend der ICD-10, also die


diagnostischen Kategorien F91, F90.1 und F92.
Verletzung oder Missachtung von strafrechtlichen
Normen, unabhängig davon, ob der Handelnde
Unter dem diagnostischen Begriff »Störung dafür strafrechtlich belangt werden kann. Als »kri-
13 des Sozialverhaltens« wird ein Cluster von dis- minell« wird ein Handeln hingegen dann bezeich-
sozialen, aggressiven und/oder oppositionellen net, wenn das normverletzende Verhalten straf-
14 Verhaltensweisen subsumiert und aus psychia- rechtlich sanktioniert werden kann, der Handelnde
trischer Sicht beschrieben. also strafmündig ist (in Deutschland derzeit ab dem
15 Alter von 14 Jahren).
Definition
16 Dissoziales Verhalten verletzt die sozialen Regeln Ein Kind oder Jugendlicher kann also als delin-
und Prinzipien der Gesellschaft, das Verhalten wird quent bezeichnet werden, wenn er als gesetzwid-
17 jedoch nicht notwendigerweise in einem gesetz-
lichen Zusammenhang beurteilt. Bei aggressivem
rig definiertes Verhalten zeigt, das gleiche Ver-
halten kann aber auch als »Störung des Sozial-

18 Verhalten handelt es sich um gegen Personen


oder Objekte gerichtetes Verhalten, das einen phy-
verhaltens« einer psychiatrischen Beschreibung
zugänglich gemacht werden. Zu bedenken ist
sischen oder emotionalen Schaden verursachen jedoch, dass eine Störung der sozialen Rolle
19 kann. allein kein diagnostisches Kriterium einer psy-
chischen Störung darstellt und soziale Abwei-
20 Nicht jedes aggressive Verhalten ist dissozial – chungen oder soziale Konflikte ohne persönliche
dann beispielsweise nicht, wenn es der Verteidi- Beeinträchtigung nicht als psychische Störung
gung der eigenen Person dient. Wiederkehrendes betrachtet werden sollten (Weltgesundheitsorga-
2.3 Schweregradeinteilung
7 2

nisation 2000). Streng genommen dürfte also die 2.2 Leitsymptome


Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens nur
dann gestellt werden, wenn von dem zu beob-
achtenden aggressiven oder dissozialen Ver- Verhaltensweisen, welche die Diagno-
halten angenommen wird, dass es sich um die se einer Störung des Sozialverhaltens
Manifestation einer psychischen Störung han- begründen
delt, wobei jedoch der kinder- und jugendpsych- 5 Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten
iatrische Sprachgebrauch an dieser Stelle so kon- oder Tyrannisieren
sequent nicht ist. Der konzeptuelle Unterschied 5 Ungewöhnlich häufige oder schwere Wut-
wird aber spätestens bei der Frage von Behand- ausbrüche
lungsentscheidungen deutlich, wo wir dann von 5 Grausamkeit gegenüber anderen Men-
Störungen des Sozialverhaltens mit überwiegend schen oder gegenüber Tieren
psychiatrischem bzw. überwiegend pädagogisch- 5 Erhebliche Destruktivität gegen Eigentum
psychosozialem Interventionsbedarf sprechen. 5 Feuerlegen
5 Stehlen
! Nicht jedes dissoziale Verhalten ist ein Anzei- 5 Häufiges Lügen
chen für Psychopathologie oder erfordert 5 Schulschwänzen
psychiatrische Behandlung. 5 Weglaufen von zu Hause (außer zur Ver-
meidung körperlicher oder sexueller Miss-
Im Gegensatz zur kategorialen Definition einer handlung)
Störung des Sozialverhaltens, bei der eine Person
die entsprechenden diagnostischen Kriterien
erfüllt und somit die Diagnose gestellt werden Jede einzelne der genannten Verhaltensweisen
kann, oder aber nicht erfüllt und die Diagnose genügt bei erheblicher Ausprägung über einen
verworfen wird, kann das Ausmaß an oppositi- Zeitraum von mehr als 6 Monaten für die Dia-
onellem, aggressivem und/oder dissozialem Ver- gnose einer Störung des Sozialverhaltens, nicht
halten auch als eine kontinuierliche oder dimen- jedoch einzelne solcher Handlungen.
sionale Variable betrachtet werden. Bei einer
solchen dimensionalen Betrachtung können
sowohl Verhaltensweisen, welche die Schwelle 2.3 Schweregradeinteilung
für die Diagnose einer Störung des Sozialverhal-
tens noch nicht erreichen, als auch unterschied- Entsprechend den ICD-10-Forschungskrite-
liche Schweregrade einer Störung des Sozialver- rien kann der Schweregrad einer Störung des
haltens differenzierter beschrieben werden. Sozialverhaltens in den folgenden Abstufungen
beschrieben werden:
5 Leicht: keine oder nur wenige Symptome
neben denen, die für die Diagnose einer Stö-
rung des Sozialverhaltens gefordert wer-
den; das disruptive Verhalten verursacht nur
geringen Schaden für andere.
5 Mittelgradig: die Zahl der Symptome und
der Schaden für andere liegt zwischen leicht
und schwer.
5 Schwer: viele Symptome neben den für die
Diagnose geforderten und/oder nennens-
8 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation

1 werter Schaden für andere, z. B. bei Dieb-


stahl, Vandalismus oder schwerer körper-
Entsprechend ihrer allgemeinen Systematik ent-
hält die ICD-10 auch die Untergruppen »Sons-
licher Gewalt. tige Störungen des Sozialverhaltens« (F91.8),
2 »Nicht näher bezeichnete Störung des Sozial-
Zwischen der Vielfalt delinquenter Handlungen, verhaltens« (F91.9) und »Nicht näher bezeich-
3 die von einer Person begangen werden, und dem nete kombinierte Störung des Sozialverhal-
Schweregrad der schwersten von ihr begangenen tens und der Emotionen« (F92.9). Die »Nicht
4 delinquenten Handlung besteht ein positiver sta- näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens«
tistischer Zusammenhang. (F91.9) wird als eine Restkategorie bezeichnet,
5 Weiterhin kann nach den ICD-10-For- deren Verwendung nicht empfohlen wird, und
schungskriterien im Fall einer komorbiden Auf- zu »Sonstige Störungen des Sozialverhaltens«
6 merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(F90.1) oder einer komorbiden emotionalen Stö-
(F91.8) und »Nicht näher bezeichnete kombi-
nierte Störung des Sozialverhaltens und der

7 rung (F92) deren Schweregrad zur Beschreibung


des Schweregrades des Störungsbildes insgesamt
Emotionen« (F92.9) enthält die ICD-10 keinerlei
Ausführungen. Dementsprechend wird hier auf
herangezogen werden. diese diagnostischen Untergruppen nicht weiter
8 eingegangen.

9 2.4 Untergruppen F91.0 Auf den familiären Rahmen


beschränkte Störung des
10 2.4.1 Untergruppen nach ICD-10 Sozialverhaltens
Über diese Störung liegen kaum empirische
11 In der ICD-10 werden mehrere Untergruppen der Befunde vor. Eventuell handelt es sich um eine
Störungen des Sozialverhaltens unterschieden, leichter ausgeprägte Störung des Sozialverhal-
12 die therapeutisch sowie prognostisch bedeutsam
sind.
tens, bei der vergleichbare Mechanismen wie
bei den übrigen Störungen des Sozialverhaltens
wirksam sind, jedoch in weniger starker Ausprä-
13 gung. Auch außerfamiliäre protektive Faktoren
Störungen des Sozialverhaltens: könnten dazu beitragen, dass außerhalb der
14 Untergruppen nach ICD-10 Familie keine Symptomatik von Störungswert
F91.0 Auf den familiären Rahmen be- entsteht, z. B. ein hoch strukturiertes und tragfä-
15 schränkte Störung des Sozialverhal- higes außerfamiliäres Milieu oder soziale Ängste
tens beim Kind, so dass es außerhalb der Familie sein
16 F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei feh- Verhalten soweit kontrolliert, dass die Sympto-
lenden sozialen Bindungen matik nur im sicheren Rahmen der Familie Stö-
17 F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vor-
handenen sozialen Bindungen
rungswert erreicht. Andererseits können in der
Familie spezifische Bedingungen vorliegen, vor
F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit op-
18 positionellem, aufsässigem Verhalten
allem eine bedeutsame Beziehungsstörung des
Kindes zu einem oder mehreren Mitgliedern
F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozial- der Kernfamilie (z. B. neu hinzugekommenes
19 verhaltens Elternteil), so dass oppositionelles Verhalten
F92.0 Störung des Sozialverhaltens mit dort und nur dort positiv verstärkt wird. Wel-
20 depressiver Störung che Bedingungen bei einem Patienten jeweils
F92.8 Sonstige kombinierte Störung des relevant sind, sollte diagnostisch gut herausgear-
Sozialverhaltens und der Emotionen beitet werden und in die Therapieplanung ein-
2.4 Untergruppen
9 2

gehen. Aufgrund der oft hohen Kontextspezifi- F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit
tät der Störung ist die Prognose möglicherweise oppositionellem, aufsässigem
günstiger, als wenn oppositionelles oder aggres- Verhalten
sives Verhalten in verschiedenen sozialen Kon- Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch
texten auftritt. trotziges, provokatives, negativistisches und
feindseliges Verhalten, aktive Missachtung von
F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei Regeln und Anforderungen Erwachsener, geringe
fehlenden sozialen Bindungen Frustrationstoleranz und häufige Wutausbrü-
Hier liegt eine deutliche und umfassende Beein- che sowie gezieltes Ärgern von Erwachsenen und
trächtigung der Beziehungen des betroffenen Gleichaltrigen. Die Kinder sind oft zornig, ver-
Kindes zu anderen Menschen vor, wobei haupt- ärgert und nachtragend und schreiben anderen
sächliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber Menschen die Verantwortung für eigene Fehler
den »sozialisierten« Störungen des Sozialver- zu. Es kommen jedoch keine schweren aggres-
haltens gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen siven oder dissozialen Handlungen vor; ande-
sind, die sich als Isolation, Zurückweisung oder renfalls ist eine der anderen Störungen des Sozial-
Unbeliebtsein bei anderen Kindern oder Jugend- verhaltens zu diagnostizieren. Diese Störung tritt
lichen sowie durch das Fehlen länger dauernder in der Regel bei Kindern unter 9–10 Jahren auf.
Freundschaften mit Gleichaltrigen zeigen. Gele- Oft liegt eine komorbide Aufmerksamkeitsde-
gentlich bestehen gute – jedoch keine engen oder fizit-/Hyperaktivitätsstörung vor (August et al.
vertrauensvollen – Beziehungen zu Erwachse- 1999). Von einer oppositionellen Störung sind
nen, oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betrof-
Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärge- fen, während aggressiv-dissoziale Störungen bei
rung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Häu- Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen auftre-
fig findet sich eine begleitende emotionale Pro- ten. Eine oppositionelle Störung geht mit erheb-
blematik. lichen negativen psychosozialen Konsequenzen
einher, vor allem Konflikten zwischen Kind und
F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei Eltern sowie beeinträchtigten Beziehungen zu
vorhandenen sozialen Bindungen Gleichaltrigen. Dadurch wird ein Kind mit einer
Das wesentliche Differenzierungsmerkmal gegen- oppositionellen Störung wichtiger sozialer Erfah-
über der Störung des Sozialverhaltens bei fehlen- rungen und Lernmöglichkeiten beraubt, auch
den sozialen Bindungen besteht in der guten Ein- dann, wenn keine weiteren psychiatrischen Stö-
bindung in die Gruppe der Gleichaltrigen mit rungen vorliegen.
angemessenen, andauernden Freundschaften, Ein Teil der Jungen mit einer oppositionellen
während die Beziehungen zu Erwachsenen häu- Störung entwickelt eine Störung des Sozialver-
fig schlecht sind. Oft besteht die Bezugsgruppe haltens mit aggressivem oder dissozialem Ver-
aus dissozialen Kindern/Jugendlichen, wodurch halten (F91.0–F91.2), vor allem vom Subtypus
dann das sozial unerwünschte Verhalten des mit Störungsbeginn im Kindesalter (August et
Betroffenen reguliert und verstärkt wird; er kann al. 1999). Umgekehrt geht eine aggressiv-disso-
jedoch auch einer nichtdissozialen Peer-Gruppe ziale Störung häufig mit oppositionellen Symp-
angehören und sein dissoziales Verhalten außer- tomen begleitend oder in der Vorgeschichte ein-
halb dieses Rahmens zeigen. her. Der enge Zusammenhang zwischen oppo-
sitioneller Störung und aggressiv-dissozialer
Störung gilt vor allem für Jungen, während nur
wenige oppositionelle Mädchen aus Nicht-Inan-
spruchnahme-Stichproben eine aggressiv-disso-
10 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation

1 ziale Störung entwickeln. Bei Mädchen hingegen


ist das Vorliegen einer oppositionellen Störung
tuationsspezifisch auftretende Unaufmerksam-
keit oder Hyperaktivität, die bei Kindern und Ju-
ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwick- gendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens
2 lung einer Angststörung oder einer depressiven häufig zu beobachten sind, rechtfertigen jedoch
Störung (Rowe et al. 2002). die Diagnose einer hyperkinetischen Störung
3 des Sozialverhaltens nicht.
F90.1 Hyperkinetische Störung des Diese Kombinationsdiagnose ist zum einen
4 Sozialverhaltens in der Häufigkeit begründet, mit der die beiden
Sind neben den Kriterien einer Störung des Sozi- Störungen gemeinsam auftreten, zum anderen in
5 alverhaltens auch die Kriterien für eine einfache der ausgeprägteren Dysfunktion und ungünsti-
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90) geren Prognose gegenüber der einfachen Akti-
6 erfüllt – Letztere wird auch als Aufmerksam-
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) be-
vitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
wie auch gegenüber den Störungen des Sozial-

7 zeichnet –, liegt nach der ICD-10 eine hyperki-


netische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
verhaltens (F91). Sowohl das Auftreten einer
oppositionellen Störung als auch der Übergang
vor (. Abb. 2.1). Gering ausgeprägte oder si- von einer oppositionellen in eine aggressiv-dis-
8
9 Leitsymptom(e) gesichert
für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens«
10 (mit Schweregrad und Dauer)

11
zusätzlich

12 Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung?

13 nein ja

zusätzlich zusätzlich
14 Emotionale Störung? Emotionale Störung?

15 nein ja nein ja

Hyperkinetische Störung Sonstige


16
Störungen des
Depressive
Sozialverhaltens des Sozialverhaltens Hyperkinetische Störung
Störung?
(F91) (F90.1) (F90.8)
17 nein ja

18
Sonstige
Sonstigekombinierte
kombinierteStörung
Störung Störung
Störungdes
desSozialverhaltens
Sozialverhaltens

19 desSozialverhaltens
des Sozialverhaltensund
derEmotionen
der
und
Emotionen(F92.8)
(F92.8)
mitdepressiver
mit depressiverStörung
(F92.0)
(F92.0)
Störung

20 . Abb. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens mit komorbider ADHS und/oder emotionaler Störung.
(Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie et al. 2003)
2.4 Untergruppen
11 2

soziale Störung – vor allem einer solchen mit gnostiziert, wenn neben einer Störung des Sozi-
Beginn im Kindesalter – wird durch das Vorlie- alverhaltens gleichzeitig auch eine emotionale
gen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi- Störung des Kindesalters (F93) oder eine neuro-
tätsstörung begünstigt (Loeber et al. 1995). Hier- tische Störung (F4) vorliegt, also anhaltende, ein-
bei erhöhen die hyperaktiv-impulsiven Symp- deutige Symptome wie Angst, Furcht, Phobien,
tome die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Zwangsgedanken oder -handlungen, Deperso-
Sozialverhaltens mehr als die inattentiven Symp- nalisations- oder Derealisationsphänomene oder
tome (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999). Hypochondrie bestehen (. Abb. 2.1). Ein nied-
Eine aggressiv-dissoziale Störung mit komorbi- riges Selbstwertgefühl, leichtere emotionale Ver-
der ADHS beginnt nicht nur früher, sondern ist stimmungen sowie Zorn und Ärger, die bei Kin-
auch – verglichen mit einer aggressiv-dissozi- dern und Jugendlichen mit Störungen des Sozi-
alen Störung ohne ADHS – von ausgeprägterer alverhaltens häufig vorkommen, rechtfertigen
Symptomatik und höherer Persistenz gekenn- die Diagnose einer kombinierten Störung des
zeichnet. Sozialverhaltens und der Emotionen nicht.
In unselektierten Inanspruchnahme-Popu-
F92 Kombinierte Störungen des lationen zeigte sich eine klinisch signifikante
Sozialverhaltens und der Emotionen Komorbidität von Zwangsstörungen mit Stö-
Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer kom- rungen des Sozialverhaltens (Geller et al. 1996).
binierten Störung des Sozialverhaltens und der Möglicherweise wird der Zusammenhang u. a.
Emotionen (F92) dann zu stellen, wenn neben über eine komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-
der Störung des Sozialverhaltens auch eine /Hyperaktivitätsstörung vermittelt, die mit bei-
depressive Störung oder eine andere emotionale den Störungen überzufällig häufig assoziiert ist.
oder Befindlichkeitsstörung besteht. Nicht selten tritt eine posttraumatische Belas-
Beim gleichzeitigen Vorliegen einer depres- tungsstörung komorbid zu einer Störung des
siven Störung aus dem Kapitel F3 mit anhalten- Sozialverhaltens auf (Steiner et al. 1997; Ruch-
den, eindeutigen depressiven Symptomen, wie kin et al. 2002), meist im zeitlichen Verlauf nach
ausgeprägter Traurigkeit, Interessenverlust und der Störung des Sozialverhaltens (Cauffman et
Freudlosigkeit, sind die diagnostischen Krite- al. 1998; Reebye et al. 2000). Bei Mädchen sind
rien für eine Störung des Sozialverhaltens mit vor allem sexuelle Übergriffe relevant, bei Jun-
depressiver Störung (F92.0) erfüllt (. Abb. 2.1). gen eher körperliche Übergriffe oder Unfälle.
Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhal- Bei Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens
tens mit depressiver Störung ist gegenüber besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, trau-
einer Störung des Sozialverhaltens sowie gegen- matisierenden Ereignissen ausgesetzt zu werden;
über einer depressiven Störung ohne das Vorlie- möglich ist aber auch, dass ungünstige psychoso-
gen der jeweils anderen Störung das Risiko für ziale Bedingungen sowohl die Entwicklung einer
schulisches Versagen, Substanzmissbrauch und Störung des Sozialverhaltens als auch einer post-
–abhängigkeit erhöht (Marmorstein u. Iacono traumatischen Belastungsstörung begünstigen.
2003). Ein beträchtlicher Anteil der Kovariati- Vergleichsweise wenig ist über den Zusam-
on zwischen beiden Störungen ist auf gemein- menhang zwischen somatoformen Störungen
same Faktoren zurückzuführen, die das Risiko und Störungen des Sozialverhaltens bekannt.
beider Störungen erhöhen, wie Dissozialität in Bei jugendlichen Delinquenten ging ein höherer
der Familie oder Zugehörigkeit zu einer delin- Schweregrad der Störung des Sozialverhaltens
quenten Peer-Gruppe (Fergusson et al. 1996). mit einer stärker ausgeprägten Somatisierung
Eine sonstige kombinierte Störung des Sozial- einher (Vermeiren et al. 2002), und das DSM-IV
verhaltens und der Emotionen (F92.8) wird dia- benennt das Vorliegen einer aggressiv-dissozi-
12 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation

1 alen Störung als einen Risikofaktor für eine spä-


tere somatoforme Störung.
fen. Oft bestanden vorher oder zeitgleich oppo-
sitionelle Symptome und eine komorbide Auf-
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
2 F90.8 Sonstige hyperkinetische Störung ist wesentlich häufiger als bei einer Störung des
Wenn gleichzeitig eine Störung des Sozialverhal- Sozialverhaltens mit Beginn in der Adoleszenz.
3 tens, eine emotionale Störung und eine hyper- Bei statistischer Berücksichtigung von Lebensal-
kinetische Störung vorliegen, kann die Diagno- ter und Geschlecht zeigen Kinder und Jugend-
4 se einer sonstigen hyperkinetischen Störung liche mit frühem Störungsbeginn eine höhere
(F90.8) gestellt werden (. Abb. 2.1). Anzahl aggressiv-dissozialer Verhaltenswei-
5 sen, mehr physische Aggression, gestörte Bezie-
Problematik der Kombinationsdiagnosen hungen zu Gleichaltrigen und früher begin-
6 Wie aus . Abb. 2.1 ersichtlich, ist bei den Kom-
binationsdiagnosen F90.1 und F92 die Art der
nenden sowie schneller ansteigenden Substanz-
abusus (Lahey et al. 1999a; Taylor et al. 2002).

7 Störung des Sozialverhaltens aus der Diagno-


se nicht mehr zu entnehmen, bei F92.8 darü-
Auch die Wahrscheinlichkeit eines chronischen
Verlaufes und des Übergangs in eine dissoziale
ber hinaus die Art der anderen emotionalen Stö- Persönlichkeitsstörung ist größer (Ridenour et
8 rung nicht mehr, bei F90.8 auch nicht mehr, ob al. 2002).
eine depressive Störung oder eine andere emo- Bei Störungen des Sozialverhaltens mit
9 tionale Störung vorliegt. Deswegen wird in den Beginn in der Adoleszenz tritt keines der Symp-
Forschungskriterien empfohlen, für Forschungs- tome einer Störung des Sozialverhaltens bis zum
10 zwecke – zusätzlich zu der Verwendung einer 10. Lebensjahr auf. Dieser Subtyp ist weniger
kombinierten Kategorie als übergreifender Dia- deutlich jungenlastig als der Subtyp mit Beginn
11 gnose – die drei Dimensionen Störung des Sozi- in der Kindheit, weniger mit ADHS und oppo-
alverhaltens, hyperkinetische Störung und emo- sitioneller Störung assoziiert und von weni-
12 tionale Störung einzeln zu beschreiben. ger schwerem aggressiv-dissozialem Verhalten
gekennzeichnet, das in höherem Maße durch
Störungen des Sozialverhaltens mit deviante Gleichaltrige beeinflusst wird. Aber
13 Beginn in der Kindheit vs. Beginn in der auch diese Jugendlichen können in ihrer Ent-
Adoleszenz wicklung gefährdet sein und sind als Erwach-
14 Nach den ICD-10-Forschungskriterien kann sene in höherem Ausmaß von psychischen Stö-
man – in Anlehnung an die entsprechenden rungen, Substanzabhängigkeit, finanziellen
15 Subtypen der »conduct disorder« nach DSM-IV Schwierigkeiten und Eigentumsdelikten betrof-
– Störungen des Sozialverhaltens mit Beginn in fen, als dieses bei Jugendlichen ohne Störung des
16 der Kindheit von Störungen des Sozialverhaltens Sozialverhaltens der Fall ist (Moffitt et al. 2002).
mit Beginn in der Adoleszenz abgrenzen. Die
17 beiden Subtypen unterscheiden sich in Symp-
tomatik, Geschlechterverhältnis, Entwicklungs- 2.4.2 Untergruppen nach DSM-IV

18 verlauf und Prognose (Moffitt et al. 2002). Beide


Subtypen können in leichter, mittelgradiger und Im DSM-IV lauten die diagnostischen Katego-
schwerer Ausprägung auftreten. rien der Störungen des Sozialverhaltens »con-
19 Bei Störungen des Sozialverhaltens mit duct disorder« und »oppositional-defiant disor-
Beginn in der Kindheit tritt (mindestens) ein der«, die unter dem Oberbegriff der »disruptive
20 Symptom einer Störung des Sozialverhaltens bis behavior disorders« zusammengefasst und von
spätestens zum 10. Lebensjahr auf. Hiervon sind der »attention-deficit/hyperactivity disorder«
wesentlich mehr Jungen als Mädchen betrof- abgegrenzt werden. Nach dem DSM-IV müssen
2.5 Ausschlussdiagnosen
13 2

für die Diagnose einer »conduct disorder« drei sprechend der DSM-IV-Klassifikation der Begriff
Symptome vorhanden sein. Somit ist beim Vor- »disruptives Verhalten« verwendet. Hiervon
liegen von ein oder zwei Symptomen – auch in abzugrenzen ist der Begriff »externalisierendes
erheblicher Ausprägung – nach dem DSM-IV Verhalten«, also – entsprechend der Wortbedeu-
die diagnostische Schwelle noch nicht erreicht, tung – nach außen gerichtetes Verhalten, wel-
während nach der ICD-10 bereits die Diagnose ches disruptive und hyperkinetische Verhaltens-
einer Störung des Sozialverhaltens gestellt wür- weisen zusammenfasst und diese dem »inter-
de, für welche ja lediglich ein Symptom in erheb- nalisierenden Verhalten«, also gehemmtem,
licher Ausprägung über einen Zeitraum von ängstlichem, zurückgezogenem und depres-
mindestens 6 Monaten erforderlich ist. Wäh- sivem Verhalten, gegenüberstellt (Achenbach u.
rend die ICD-10-Forschungskriterien den DSM- Edelbrock 1978).
IV-Kriterien sehr ähnlich sind, ist die Sinnhaf-
tigkeit der klinischen ICD-10-Kriterien in dem
linearen Zusammenhang zwischen der – auch 2.5 Ausschlussdiagnosen
geringen – Anzahl der Symptome einer Störung
des Sozialverhaltens und dem negativen Out- Die folgenden Diagnosen müssen ausgeschlos-
come begründet (Satterfield u. Schell 1997; Fer- sen worden sein, um die Diagnose einer Störung
gusson u. Woodward 2000). des Sozialverhaltens stellen zu können.

Verwendete Begrifflichkeit Schizophrenie (F20)


. Tabelle 2.1 gibt eine Übersicht über die im Aggressives oder dissoziales Verhalten im Rah-
Text verwendeten Begriffe, jeweils bei kategori- men einer Schizophrenie kann u. a. wahnhaft
aler wie auch dimensionaler Beschreibung. oder durch Halluzinationen motiviert sein. Auch
Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden im in der Prodromalphase schizophrener Störungen
Text die Störungen des Sozialverhaltens, auf den können soziale Regelübertretungen und aggres-
familiären Rahmen beschränkt (F91.0), bei feh- sive Verhaltensweisen das klinische Bild prägen.
lenden sozialen Bindungen (F91.1) und bei vor-
handenen sozialen Bindungen (F91.2) als aggres- Manische Episode (F30), bipolare affektive
siv-dissoziale Störungen zusammengefasst. Die Störung (F31)
Störung des Sozialverhaltens, mit oppositio- Soziale Regelübertretungen, erhöhte Reizbarkeit
nellem, aufsässigen Verhalten (F91.3) wird kurz und aggressives Verhalten bis hin zu aggressiven
als oppositionelle Störung bezeichnet. Statt der Erregungszuständen können im Rahmen einer
sehr umständlichen Formulierung »oppositio- manischen Episode auftreten.
nell-aggressiv-dissoziales Verhalten« wird ent-

. Tab. 2.1. Störungen des Sozialverhaltens: kategorial (ICD-10 und DSM-IV) und dimensional

ICD-10 DSM-IV Dimensionale Beschreibung

Störungen des Sozialverhaltens Disruptive behavior disorders Disruptives Verhalten


(F91)
– Aggressiv-dissoziale Störungen – Conduct disorder – Aggressiv-dissoziales Verhalten
(F91.0–F91.2) – Oppositional-defiant disorder – Oppositionelles Verhalten
– Oppositionelle Störung (F91.3)
14 Kapitel 2 · Worum es geht: Definition und Klassifikation

5 Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbe-


1 Anpassungsstörung mit vorwiegender
Störung des Sozialverhaltens (F43.24), wusstsein und zum Lernen aus negativen
Anpassungsstörung mit gemischter Störung Erfahrungen, einschließlich Bestrafung;
2 von Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) 5 deutliche Neigung, andere zu beschuldigen
Hier ist z. B. die Trauerreaktion eines Jugend- oder vordergründige Rationalisierungen für
3 lichen auf ein belastendes Lebensereignis ein- das eigene Verhalten anzubieten.
zuordnen, die sich in (u. a.) aggressivem oder
4 dissozialem Verhalten manifestiert. Halten die Anhaltende Reizbarkeit sowie eine vorausge-
Symptome länger als 6 Monate an, sollte nach hende Störung des Sozialverhaltens im Kindes-
5 der ICD-10 im Allgemeinen nicht mehr die Dia- und Jugendalter vervollständigen das klinische
gnose einer Anpassungsstörung gestellt werden, Bild, sind aber keine Voraussetzungen für die
6 sondern die Diagnose in Übereinstimmung mit
dem gegenwärtigen klinischen Bild geändert
Diagnose.
Aufgrund der größeren Verhaltensvariabilität

7 werden. und -plastizität bei Kindern und Jugendlichen im


Vergleich zu Erwachsenen ist die Diagnose einer
Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16 Jah-
8 Die dissoziale Persönlichkeitsstörung gehört ren wahrscheinlich unangemessen. Bei Jugend-
zu den spezifischen Persönlichkeitsstörungen lichen ist der Diagnose einer Störung des Sozi-
9 (F60), bei denen laut ICD-10 »eine schwere Stö- alverhaltens der Vorzug vor der Diagnose einer
rung der charakterlichen Konstitution und des dissozialen Persönlichkeitsstörung zu geben, um
10 Verhaltens« vorliegt, die mehrere Bereiche der den Entwicklungsaspekt der Störung und damit
Persönlichkeit betrifft; das auffällige Verhaltens- die Notwendigkeit pädagogischer und psychia-
11 muster ist tiefgreifend und in vielen persön- trisch-psychotherapeutischer Interventionen zu
lichen und sozialen Situationen eindeutig unpas- betonen.
12 send. Das Zustandsbild ist nicht direkt auf signi-
fikante Hirnerkrankungen oder -schädigungen Schwere bzw. schwerste
zurückzuführen. Neben diesen allgemeinen Kri- Intelligenzminderung (F72, F73)
13 terien einer Persönlichkeitsstörung müssen für Treten bei Vorliegen einer Intelligenzminderung
die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeits- aggressive oder dissoziale Verhaltensweisen auf,
14 störung nach der ICD-10 mindestens drei der so können diese mit F7x.1 (Intelligenzminderung
folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobach-
15 vorliegen: tung oder Behandlung erfordert) kodiert wer-
5 mangelnde Empathie und Gefühlskälte den. Für das x ist eine Ziffer zwischen 0 und 3
16 gegenüber anderen; je nach dem vorliegenden Intelligenzniveau ein-
5 deutliche und durchgängige verantwor- zusetzen. Grundsätzlich schließt das Vorliegen
17 tungslose Haltung sowie tiefgreifende Miss-
achtung und Verletzung sozialer Normen,
einer Intelligenzminderung zusätzliche Diagno-
sen anderer Abschnitte des Kapitels V (F) nicht

18 Regeln und Verpflichtungen;


5 Unvermögen zur Aufrechterhaltung länger-
aus. Treten bei einer leichten Intelligenzminde-
rung (F70; IQ 50–69) oder einer mittelgradigen
fristiger Beziehungen, aber keine Schwierig- Intelligenzminderung (F71, IQ 35–49) Symptome
19 keiten, Beziehungen einzugehen; einer Störung des Sozialverhaltens auf, sind die-
5 sehr geringe Frustrationstoleranz und nied- se nach der ICD-10 gesondert zu kodieren. Da
20 rige Schwelle für aggressives einschließlich jedoch für die Diagnose einer Störung des Sozial-
gewalttätigem Verhalten; verhaltens von einem wenigstens grundlegenden
Verständnis der Rechte anderer Menschen sowie
2.5 Ausschlussdiagnosen
15 2

altersentsprechender sozialer Normen ausgegan-


gen werden muss, ist diese Diagnose mit einer so
niedrigen Intelligenz, wie sie bei einer schweren
Intelligenzminderung (F72; IQ 20–34) oder gar
schwersten Intelligenzminderung (F73; IQ <20)
vorliegt, nicht mehr vereinbar.

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)


Auch bei sehr vielen Kindern und Jugendlichen
mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung
kann aufgrund der Beeinträchtigungen in der
sozialen Interaktion und Kommunikation sowie
der häufig bestehenden allgemeinen kognitiven
Beeinträchtigung nicht davon ausgegangen wer-
den, dass ein Grundverständnis der Rechte ande-
rer Menschen sowie altersentsprechender sozi-
aler Normen besteht; dementsprechend schlie-
ßen die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen
(F84) nach der ICD-10 die Diagnose einer Stö-
rung des Sozialverhaltens aus. Dennoch stellt
sich die Frage, ob nicht Kinder bzw. Jugend-
liche mit einem hohen Funktionsniveau, z. B.
bei Asperger-Syndrom, die keine kognitive und
sprachliche Entwicklungsstörung aufweisen,
zumindest intellektuell soziale Normen verste-
hen und befolgen können, so dass im Einzelfall
bei Auftreten signifikanten aggressiv-dissozialen
Verhaltens auch die Diagnose einer Störung des
Sozialverhaltens gerechtfertigt wäre.
1

Ein Blick zurück: Zur Geschichte


der Störung
2 Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung

1 Dissoziales Verhalten wurde historisch aus


zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet
by beschrieb in seinen frühen Untersuchungen
delinquenter Jugendlicher (Bowlby 1944) den
(Earls 1994). Der Vorstellung, dass bei Straftä- »gefühllosen Charakter«, den er als besonders
2 tern ein »Defekt in der Charakterbildung« oder gefährdet für das Begehen wiederholter Straf-
eine »Psychopathie« vorliege, stand der Ansatz taten betrachtete; er fokussierte jedoch insbe-
3 gegenüber, dass dissoziales Verhalten eine Reak- sondere auf die Entwicklungsbedingungen die-
tion auf widrige familiäre und gesellschaftliche ser Jugendlichen, deren Vorgeschichte durch
4 Bedingungen darstelle, also nicht primär auf längere Trennungen von Mutter oder Pflegemut-
ein intrapsychisches Defizit zurückzuführen sei, ter gekennzeichnet sei.
5 sondern als eine Form der Anpassung an abwei- Stärker soziologisch orientierte Theorien
chende Lebensbedingungen verstanden werden betonten die Bedeutsamkeit sozialer Faktoren
6 müsse.
William Healy (1869‒1963), der in Chicago
für die Entstehung und Aufrechterhaltung von
Dissozialität, zum einen den Einfluss ungünsti-

7 und Boston die ersten an Jugendgerichte ange-


schlossenen Kliniken gründete, ging von einem
ger Vorbilder, der zu dissozialem Verhalten ver-
leitet (»Zugtheorien«), zum anderen ungünsti-
»konstitutionellen psychischen Defekt« aus, der ge soziale oder ökonomische Verhältnisse, wel-
8 auf mentalen wie physischen, überwiegend erb- che die unter diesen Bedingungen lebenden
lich bedingten Defiziten beruhe. Zeitgleich ver- Menschen zu dissozialem Verhalten nötigen
9 öffentlichte der englische Psychologe Cyril Burt (»Drucktheorien«).
die Abhandlung »The young delinquent« (Burt Eine bahnbrechende empirische Untersu-
10 1925), in der er neben vielfältigen biologischen chung wurde von Sheldon und Eleanor Glueck
Einflüssen auch soziale Faktoren in ihrer Bedeu- (Glueck u. Glueck 1950) durchgeführt. Sie ver-
11 tung für delinquentes Verhalten würdigte. Her- glichen 500 dissoziale Jugendliche mit einer
vey Cleckley beschrieb in seiner Monographie ebenso großen, sehr sorgfältig gematchten
12 The mask of sanity (Cleckley 1941) Merkmale
seiner ‒ teilweise durchaus angepassten ‒ Pati-
Gruppe nichtdissozialer Jugendlicher und fan-
den sowohl konstitutionelle Unterschiede als
enten, die sich auch in aktuellen Psychopathie- auch eine überzufällige Häufung von psychso-
13 Konzepten wiederfinden, nämlich Affektarmut, zialen Belastungsfaktoren, insbesondere gestör-
Mangel an Einfühlungsvermögen und Schuld- te Eltern-Kind-Beziehung und Anschluss an dis-
14 gefühl, Unvermögen aus Erfahrung zu lernen, soziale Gleichaltrige.
ausgeprägte Egozentrik und Verantwortungs-
15 losigkeit. Er nahm an, dass diesen Merkmalen ! Auch aus aktueller Sicht ist ein komplexes
ein tiefgreifender Defekt, eine Art »emotionaler Wechselspiel biologischer, psychischer und
16 Demenz«, zugrunde liege. sozialer Faktoren an der Entstehung und Auf-
Zunehmend trat jedoch die Vorstellung eines rechterhaltung dissozialen Verhaltens betei-

17 konstitutionellen Defektes in den Hintergrund,


u. a. mit der Rezeption psychoanalytischer Ideen,
ligt, wobei die im Einzelfall relevanten Faktoren
und deren relative Bedeutung interindividuelle

18 zugunsten der Betrachtung der Entwicklungsbe-


dingungen dissozialen Verhaltens. August Aich-
Unterschiede aufweisen (7 Kap. 4).

horn wies in Verwahrloste Jugend ‒ Die Psy- Bezüglich der Entwicklung und Prognose dis-
19 choanalyse in der Fürsorgeerziehung (Aichhorn sozialen Verhaltens konnte Lee Robins in ihren
1925) auf den Zusammenhang zwischen emo- umfangreichen Längsschnittuntersuchungen zei-
20 tionalen Entbehrungen in der frühen Kindheit gen, dass dissoziale Erwachsene meist auch dis-
‒ aber auch einem Mangel an Erziehung ‒ und soziale Kinder und Jugendliche waren, dass sich
späterer dissozialer Entwicklung hin. John Bowl- aber keineswegs jedes im Kindes- und Jugendal-
Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung
3 1

ter auftretende dissoziale Verhalten ins Erwach- tens, nicht jedoch die der oppositionellen Stö-
senenalter fortsetzt (Robins 1978). rung, die erst in die ICD-10 Eingang fand. Die
Ein ebenfalls relevanter Begriff, der auch in aktuellen Versionen der beiden international
die Gesetzgebung Eingang gefunden hat, lau- gebräuchlichen psychiatrischen Diagnosesyste-
tet »Verwahrlosung«. Hermann Stutte (Stutte me, DSM-IV (American Psychiatric Associati-
u. von Bracken 1967) fasste darunter sowohl die on 2001) und ICD-10 (Weltgesundheitsorganisa-
Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen tion 2000), haben sich in ihrer Konzeption der
als auch das potenziell daraus resultierende Ver- Störungen des Sozialverhaltens einander ange-
halten: Ein »Zustand mangelnden Bewahrt- nähert (7 Kap. 2).
seins«, der durch Mängel in der familiären, sozi-
alen oder epochalen Situation bedingt sei, kön-
ne bei entsprechender Disposition des Kindes
zu seinem Versagen in Bezug auf die Anforde-
rungen des Gemeinschaftslebens führen. Hart-
mann definierte Verwahrlosung als »persisten-
tes und generalisiertes Sozialversagen« (Hart-
mann 1977). Wegen seiner negativen Besetzung
und potenziell stigmatisierenden Wirkung ist
der Begriff der Verwahrlosung, insbesondere in
der Sozialpädagogik, sehr umstritten, ist aber
nach Meinung anderer Autoren auch heute noch
relevant, weil er eine spezifische Personengrup-
pe mit einer konkreten sozialen Realität bezeich-
net, während die Begriffe »Dissozialität« oder
»Störung des Sozialverhaltens« eine weit größere
Personengruppe einschließen.
Im DSM-II, der zweiten Version des Dia-
gnosesystems der US-amerikanischen psychia-
trischen Fachgesellschaft (Diagnostisches und
Statistisches Manual, American Psychiatric
Association 1952), wurde die Störung des Sozi-
alverhaltens (»conduct disorder«) als diagnosti-
sche Kategorie etabliert, die unabhängig von der
legalen Einordnung des entsprechenden Verhal-
tens als delinquent oder nichtdelinquent zu seh-
en ist. Die oppositionelle Störung, bei der trot-
ziges, aufsässiges und negativistisches Verhalten
im Vordergrund steht – nicht aber aggressives
oder dissoziales Verhalten wie bei der »con-
duct disorder« – wurde im DSM-III (American
Psychiatric Association 1980) als diagnostische
Kategorie aufgeführt. Die Internationale Klassi-
fikation psychischer Störungen ICD-9 der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO 1978) enthielt
zwar die Diagnose der Störung des Sozialverhal-
3

Was erklärbar ist: Ätiologie und


Entwicklungspsychopathologie

3.1 Biologische Perspektive – 19

3.2 Psychosoziale Perspektive – 21


3.2.1 Kind/Jugendlicher in seiner Familie – 21
3.2.2 Kind/Jugendlicher und die Gleichaltrigen – 25
3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule – 27
3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine Familie im psychosozialen Umfeld – 27

3.3 Modellvorstellungen – 28
18 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 »Puzzleteile« zum Verständnis von Störungen


des Sozialverhaltens finden sich auf unterschied-
der Familie und damit des Kindes, unabhängig von
Merkmalen der Mutter, zu berücksichtigen.
lichen Betrachtungsebenen, die jedoch unterein-
2 ander in einem engen Zusammenhang stehen. Ein »Risikofaktor« erhöht die Wahrscheinlichkeit
Grundsätzlich – wie auch bei anderen kinder- des Auftretens einer Störung bei einer Person,
3 und jugendpsychiatrischen Störungsbildern – die von diesem Faktor betroffen ist, verglichen
geht man für die Störungen des Sozialverhaltens mit einer Person, die von diesem Faktor nicht
4 von einem biopsychosozialen Modell aus. Gene- betroffen ist. Unterschiedliche Risikofaktoren
tische und frühe psychosoziale Faktoren beein- liefern eigenständige Beiträge zum Verständnis
5 flussen die Neurobiologie des Gehirns und damit der Entwicklung von Störungen des Sozialver-
die Erlebens- und Verhaltensweisen des Indivi- haltens (Dodge 2001), und die Heterogenität der
6 duums. Biologische und psychosoziale Faktoren
der Eltern interagieren mit biologischen und
Störungen des Sozialverhaltens beruht u. a. auf
interindividuellen Unterschieden in den Risiko-

7 psychosozialen Faktoren des Kindes.


Oft ist es schwierig, die einzelnen Ebenen
faktoren wie auch Entwicklungswegen. Ande-
rerseits können verschiedene Risikofaktoren
voneinander zu trennen. Die folgenden Beispiele das gleiche Problemverhalten oder die gleiche
8 sollen die Komplexität der Wechselwirkungen Störung verursachen (Äquifinalität). So wiesen
zwischen biologischen und psychosozialen Fak- – bei etwa gleich hohem Gesamtrisiko für die
9 toren verdeutlichen. Entwicklung einer Störung des Sozialverhaltens
– unterschiedliche Gruppen von Kindern mit
10 Beispiele unterschiedlichen Risikofaktoren dennoch ein
Der Befund, dass in Familien, die aus einer sozioöko- vergleichbares Ausmaß aggressiven Verhaltens
11 nomisch benachteiligten Gegend wegzogen, weniger auf; dieses war aber bei manchen Kindern eher
Störungen des Sozialverhaltens auftraten, kann einer- auf ungünstiges elterliches Erziehungsverhalten
12 seits als Beleg für die Bedeutung von Umgebungs-
einflüssen interpretiert werden. Andererseits können
zurückzuführen, bei anderen Kindern dagegen
eher auf negative Interaktionen mit Gleichalt-
aber auch Merkmale – biologische wie psychosoziale rigen (Deater-Deckard et al. 1998).
13 – einer Familie dazu beitragen, dass sie überhaupt in
der Lage ist, eine Gegend mit ungünstigen Lebensbe- ! Jeder genetische wie auch psychosoziale Risi-
14 dingungen zu verlassen (Simonoff 2001). kofaktor für sich betrachtet hat in der Regel kei-
nen bedeutsamen Effekt auf disruptives Verhal-
15 Kinder von sehr jungen Müttern weisen ein erhöhtes ten, wichtig ist vielmehr die Kumulation meh-
Risiko von externalisierenden Verhaltensweisen im rerer Risikofaktoren. Die Wahrscheinlichkeit dis-
16 Kindesalter und von dissozialen Verhaltensweisen in ruptiven Verhaltens nimmt also mit dem Auftre-
der Adoleszenz auf (Jaffee et al. 2001). Hierfür kön- ten und Wirksamwerden von Risikofaktoren zu,

17 nen – biologisch wie psychosozial bestimmte – Eigen-


schaften der Mutter bedeutsam sein, die sowohl die
die ihrerseits wiederum weitere Risikofaktoren
begünstigen können.

18 Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft im Teen-


ager-Alter als auch die Wahrscheinlichkeit dissozialen Präventive Bemühungen streben somit eine
Verhaltens ihres Kindes erhöhen; die Mütter geben Abnahme von Risikofaktoren und Zunahme von
19 also ihre eigenen »Risikofaktoren« an ihre Kinder wei- protektiven Faktoren an. Wichtig ist, dass die
ter. Andererseits sind auch die ungünstigen psychoso- wissenschaftliche Untersuchung von Risikofak-
20 zialen Folgen einer frühen Mutterschaft (z. B. für Aus- toren ursächliche Faktoren erfassen sollte, die
bildungsniveau, sozioökonomischen Status, Belas- auslösend und aufrechterhaltend für Störungen
tung als Alleinerziehende) für die Lebensumstände des Sozialverhaltens sind, nicht dagegen solche
3.1 Biologische Perspektive
19 3

Variablen, die lediglich Begleiterscheinungen lich eine Vielzahl von einzelnen Genen beteiligt,
von Störungen des Sozialverhaltens darstellen. die in der Regel jeweils nur einen kleinen Effekt
haben und untereinander wie auch mit Umwelt-
faktoren interagieren (7 3.3). Als relevant wer-
3.1 Biologische Perspektive den u. a. Gene des serotonergen und des dopa-
minergen Systems betrachtet. Die Zusammen-
In diesem Abschnitt sollen die beteiligten Per- hänge zwischen bestimmten Polymorphismen
sonen, vor allem das Kind bzw. der Jugendliche und ihren Auswirkungen auf das Verhalten des
und seine Eltern, primär auf der biologischen Individuums sind komplex und von vielfältigen
Ebene betrachtet werden. Denn nicht nur das anderen Variablen abhängig.
Kind oder der Jugendliche weisen bestimm-
te biologische Merkmale auf, die sein Verhalten Organische Risikofaktoren
und seine Interaktionen beeinflussen, sondern Organische Risikofaktoren, wie prä-, peri- oder
oft sind es auch die Eltern, die ihrerseits sowohl postnatale medizinische Komplikationen und
ihre eigene – unter Umständen schwierige – psy- Zigaretten- oder Alkoholkonsum während der
chosoziale Entwicklung in die Interaktion mit Schwangerschaft, können die Wahrscheinlich-
ihrem Kind einbringen als auch bestimmte bio- keit einer Störung des Sozialverhaltens direkt
logische Risikofaktoren aufweisen. erhöhen, oder indirekt über die erhöhte Wahr-
Solche biologischen Unterschiede zwischen scheinlichkeit der Entwicklung einer Aufmerk-
Kindern und Jugendlichen mit disruptiven Stö- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die
rungen und unauffälligen Kindern und Jugend- ihrerseits ein bedeutsamer Risikofaktor für die
lichen beruhen nicht nur auf genetischen Unter- Entwicklung einer – insbesondere im Kindes-
schieden, sondern sie können auch mit dem alter beginnenden – Störung des Sozialverhal-
schädigenden Einfluss biologischer Faktoren tens ist. Neben den direkten pharmakologischen
(z. B. Geburtskomplikationen, Toxine) zusam- Effekten des Rauchens auf den Fetus sind wahr-
menhängen oder Auswirkungen früher gravie- scheinlich auch mütterliche Merkmale relevant,
render Erfahrungen sein, die im (neuro-)biolo- die mit fortgesetztem Rauchen trotz Bestehens
gischen Substrat des Denkens und Fühlens, also einer Schwangerschaft in Zusammenhang stehen.
in Körper und insbesondere Gehirn, bleibende In ähnlicher Weise ging mäßiger mütterlicher
»Spuren« hinterlassen haben. Alkoholkonsum, der jedoch über die gesamte
Schwangerschaft hinweg fortgesetzt wurde, mit
Genetische Faktoren ausgeprägterem aggressivem Verhalten der Kin-
In Zwillings- und Adoptionsstudien wurde gefun- der einher, als wenn die Mütter zumindest im
den, dass – in Abhängigkeit von der untersuchten letzten Drittel der Schwangerschaft keinen Alko-
Stichprobe und der Art des Verhaltens – etwa hol mehr tranken (Brown et al. 1991). Auch die
40–80% der Varianz aggressiv-dissozialen Ver- prä- oder postnatale Exposition mit Neurotoxi-
haltens genetisch beeinflusst werden (Arseneault nen, wie Blei oder organischen Lösungsmitteln,
et al. 2003; Rhee u. Waldman 2002). Genetische erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiver Symp-
Faktoren sind vor allem für früh beginnendes, tome (Dietrich et al. 2001; Till et al. 2001).
pervasives und stabiles aggressives Verhalten
bedeutsam; dagegen ist das genetische Risiko Neuroanatomische strukturelle und
für aggressiv-dissoziales Verhalten, welches im funktionelle Befunde
Jugendalter auftritt, weniger hoch (Arseneault et Bei verschiedenen Probandengruppen mit
al. 2003; Eley et al. 2003; Lyons et al. 1995). An erhöhter Aggressivität wurden strukturelle Defi-
dieser genetischen Disposition ist wahrschein- zite gefunden, vor allem im frontalen Kortex
20 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 sowie in Amygdala und Hypothalamus. Lie-


gen umschriebene zerebrale Läsionen vor, so
dopaminerge System wurde im Zusammen-
hang mit Aggressivität weitaus weniger unter-
sind die entsprechenden Störungsbilder jedoch sucht, ist aber auch durch seinen relativ engen
2 grundsätzlich eher den organischen Störungen Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsdefi-
zuzuordnen. Untersuchungen an Erwachse- zit-/Hyperaktivitätsstörung relevant.
3 nen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstö- Da zwischen den verschiedenen Neurotrans-
rung weisen auf eine Dysfunktion des frontolim- mittersystemen enge Interaktionen bestehen,
4 bischen Systems hin (Soderstrom et al. 2002; Veit darf man nicht aus Befunden über Abweichungen
et al. 2002), die mit einer verminderten Beein- in einem bestimmten Neurotransmittersys-
5 flussbarkeit durch emotionale Reize einhergehen tem ableiten, dass hier die höchste pharmakolo-
könnte. gische Beeinflussbarkeit bestünde. Weiterhin ist
6 Neuroendokrinologische Befunde
im Kindes- und Jugendalter die Entwicklungs-
abhängigkeit der Befunde in Betracht zu zie-

7 Bei Jugendlichen und Erwachsenen ging erhöhte


Aggressivität mit einem höheren Testosteron-
hen. Zum einen wird eine genetische Regulati-
on der Entwicklung von Neurotransmittersys-
spiegel einher, während sich für Kinder kein temen angenommen, zum anderen wirken sich
8 deutlicher Zusammenhang nachweisen ließ. Tes- auch die Erfahrungen eines Individuums auf sei-
tosteron wird weniger mit impulsiver Aggressi- ne Neurotransmittersysteme aus. Im Tiermodell
9 vität als mit aggressivem Verhalten, das auf sozi- konnte gezeigt werden, dass frühkindliche Sepa-
ale Dominanz ausgerichtet ist, in Verbindung ration von der Mutter zu bleibenden Verände-
10 gebracht. rungen in verschiedenen Neurotransmittersys-
Bezüglich des Stresshormons Cortisol wurde temen führen kann (Braun et al. 2000).
11 gefunden, dass der Cortisolspiegel in Ruhe bzw.
Psychophysiologische Befunde
der Cortisolanstieg unter Stress bei Kindern mit
12 früh beginnendem bzw. stabilem disruptiven
Verhalten geringer war als bei Kontrollkindern
Bei Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens
wurde eine im Vergleich zu unauffälligen Kin-
(McBurnett et al. 2000; van Goozen et al. 2000). dern niedrigere Herzfrequenz gefunden (Raine
13 2002), welche auch ein Prädiktor für zukünftiges
Neurochemische Befunde aggressives Verhalten ist (Raine et al. 1997). Auch
14 Obwohl erhöhte Aggressivität nicht spezifisch die elektrodermale Hautreaktion unter Baseline-
mit einem bestimmten Neurotransmittersystem Bedingungen (van Goozen et al. 2000) und in
15 gekoppelt ist, wurden am häufigsten im seroton- Reaktion auf aversive Stimuli war bei Jungen mit
ergen System Abweichungen gefunden. Die an Störungen des Sozialverhaltens vergleichswei-
16 Kindern und Jugendlichen erhobenen Befunde se klein und habituierte schnell (Herpertz et al.
sind jedoch hinsichtlich der Richtung der 2001). Umgekehrt verringerte ein hohes Akti-
17 Abweichung von gesunden Probanden unein-
heitlich, selbst bei Untersuchung von Proban-
vierungsniveau des autonomen Nervensystems
während der Adoleszenz die Wahrscheinlich-

18 den ähnlichen Lebensalters unter Verwendung


der gleichen Methode. Auch wenn wahrschein-
keit gewalttätigen Verhaltens im Erwachsenenal-
ter (Raine et al. 1995). Möglicherweise erschwert
lich eine Dysfunktion des serotonergen Systems eine geringe Reaktivität des autonomen Nerven-
19 bei erhöhter impulsiver Aggressivität eine Rolle systems das Erlernen des Zusammenhanges zwi-
spielt, so ist dieser Zusammenhang nicht spezi- schen bestimmten Verhaltensweisen und einer
20 fisch, denn Abweichungen im serotonergen Sys- darauf folgenden Strafe.
tem finden sich unter anderem auch bei depres-
siven Störungen und Zwangsstörungen. Das
3.2 Psychosoziale Perspektive
21 3

3.2 Psychosoziale Perspektive Versuchen kommen, das Verhalten ihres Kindes


zu kontrollieren.
Hier sollen alle Beteiligten auf der psychosozi-
alen Ebene betrachtet werden, wohl wissend, ! Bei komorbidem Auftreten von ADHS und dis-
dass an psychosozialen Unterschieden auch bio- ruptiver Störung erhöht sich das Risiko emoti-
logische Faktoren beteiligt sein können und dass onal negativer und koersiver Eltern-Kind-Inter-
psychosoziale Faktoren wiederum auf die biolo- aktionen.
gische Ebene zurückwirken können. Kind bzw.
Jugendlicher selbst, Eltern und Geschwister, Denkbar ist aber auch, dass bei diesen Kindern
Gleichaltrige, Schule und das sozioökonomische und Jugendlichen ein höheres biologisches Risi-
Umfeld spielen eine Rolle bei der Entwicklung ko vorliegt.
von Störungen des Sozialverhaltens und liefern ADHS ist insbesondere für das Auftreten
spezifische Beiträge zu deren Vorhersage, ande- einer Störung des Sozialverhaltens mit frühem
rerseits können jedoch unterschiedliche Clus- Beginn von hoher Relevanz: Bei fast allen Pati-
ter von Risikofaktoren zu einem vergleichbaren enten mit ADHS und komorbider aggressiv-dis-
Outcome führen (Deater-Deckard et al. 1998). sozialer Störung entwickelte sich die aggressiv-
dissoziale Störung vor dem zwölften Lebensjahr
(Biederman et al. 1996).
3.2.1 Kind/Jugendlicher in seiner Patienten mit komorbidem Auftreten von
Familie ADHS und disruptiver Störung zeigen eine viel-
fältigere, schwerere und stabilere disruptive
Kindfaktoren mit Einfluss auf elterliches Symptomatik mit ausgeprägterer körperlicher
Erziehungsverhalten Aggressivität und sind stärker von elterlicher
Nachfolgend wird dargestellt, welche Eigen- Psychopathologie, konflikthaften Interaktionen
schaften eines Kindes oder Jugendlichen – seien mit Eltern und Gleichaltrigen, Schwierigkeiten
sie nun primär biologisch oder primär psycho- in der Schule und einer schlechteren Prognose
sozial verursacht – zu ungünstigem Erziehungs- betroffen als solche Patienten, die ausschließlich
verhalten der Eltern beitragen, oder anders for- eine disruptive Störung aufweisen (Moffitt 1990;
muliert: was macht ein Kind zu einem »schwie- Angold et al. 1999). Von den Kernsymptomen
rigen« Kind? der ADHS ist hier insbesondere die hyperaktiv-
impulsive Komponente von Bedeutung (Lalonde
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- et al. 1998; Babinski et al. 1999).
störung
Kinder und Jugendliche mit einer Aufmerksam- Impulsivität
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind auf- Erhöhte Impulsivität ist auch ohne das Vorlie-
grund ihrer Symptomatik von Aufmerksam- gen einer ADHS ein Risikofaktor für die Ent-
keits- und Konzentrationsdefizit, Impulsivität, wicklung aggressiv-dissozialer Verhaltenswei-
motorischer Unruhe, eventuell erhöhter Reiz- sen (Vitacco u. Rogers 2001), u. a. deswegen,
barkeit und Irritierbarkeit sowie Lern- und weil Impulsivität die Anfälligkeit von Kindern
Gedächtnisdefiziten für ihre Eltern oft deut- und Jugendlichen für negative Umgebungsein-
lich anstrengender und schwieriger zu steuern, flüsse, z. B. in einem Stadtteil mit hoher Krimi-
als dieses bei Kindern oder Jugendlichen ohne nalität, vergrößert (Lynam et al. 2000). Hierbei
ADHS der Fall ist. So kann es bei den Eltern zu ist die behaviorale Impulsivität, nicht jedoch die
zunehmend häufigeren und nachdrücklicheren kognitive, relevant (White et al. 1994). Das Vor-
liegen von erhöhter Impulsivität bei Patienten
22 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 mit Störungen des Sozialverhaltens rechtfertigt


auch ohne eine komorbide Aufmerksamkeits-
Erhöhtes Angstniveau
Bezüglich der Frage, ob ein erhöhtes Angstni-
defizit-/Hyperaktivitätsstörung eine Behand- veau das Risiko aggressiv-dissozialen Verhaltens
2 lung mit Methylphenidat (s. Leitlinie »Störungen vermindert oder erhöht, liegen sehr divergieren-
des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für de Befunde vor. Möglicherweise muss stärker
3 Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe- nach unterschiedlichen Aspekten ängstlichen
rapie et al. 2003). Verhaltens, wie behaviorale Inhibition, Schüch-
4 ternheit, soziale Ängstlichkeit, erhöhte Reakti-
Irritierbarkeit vität des autonomen Nervensystems auf poten-
5 Irritierbarkeit bezeichnet eine durch relativ ziell Angst auslösende Stimuli usw. unterschie-
geringe Reize auslösbare Veränderbarkeit der den werden
6 Stimmung hin zu Gereiztheit, Ungeduld und
Ärger. Mit den Stimmungsveränderungen gehen Verbale und visuell-räumliche Defizite

7 charakteristische Kognitionen einher, dass ande-


re Menschen absichtlich zu Frustration und
Vorschulkinder mit einer oppositionellen Stö-
rung wiesen geringere verbale Fertigkeiten als
Ärger der betroffenen Person beitrügen (Dono- gesunde Kinder auf, selbst unter Berücksichti-
8 van et al. 2000, 2003) gung externalisierenden Verhaltens während der
Testdurchführung, welches potenziell zu einer
9 Emotionale Unbeteiligtheit Unterschätzung der tatsächlichen verbalen Fer-
Eine Untergruppe von Kindern und Jugend- tigkeiten geführt haben könnte (Speltz et al.
10 lichen mit Störung des Sozialverhaltens ist durch 1999). Ebenso zeigten Jugendliche mit einer Stö-
emotionale Unbeteiligtheit (»callous-unemotio- rung des Sozialverhaltens signifikant niedrigere
11 nal traits«; Frick et al. 1994) gekennzeichnet, also Leistungen in Sprachtests, unabhängig vom Vor-
eine Einschränkung von affektivem Mitschwin- liegen einer komorbiden Aufmerksamkeits-
12 gen, Empathie und Reue- und Schuldempfinden.
Dieses Merkmal ist nicht sehr hoch mit aggres-
defizit-/Hyperaktivitätsstörung oder erhöhter
Aggressivität (Dery et al. 1999). Auch Sprach-
siv-dissozialem Verhalten korreliert, geht jedoch störungen (7 5.2.1) liegen bei Kindern mit Stö-
13 dann, wenn eine aggressiv-dissoziale Störung rungen des Sozialverhaltens überzufällig häu-
vorliegt, mit ausgeprägteren und vielfältigeren fig vor (Hinshaw et al. 1993). Umgekehrt zeigten
14 oppositionellen und aggressiv-dissozialen Symp- Kinder mit einer Sprachstörung vermehrt Symp-
tomen, mehr Polizeikontakten sowie höherer tome einer Störung des Sozialverhaltens (Beitch-
15 Dissozialität der Eltern einher (Christian et al. man et al. 1996). Der Zusammenhang zwischen
1997). Empathie, Sicheinfühlen in die Emoti- eingeschränkten verbalen Fertigkeiten bzw.
16 onen des Gegenübers, hemmt aggressives Ver- Sprachstörungen und Störungen des Sozialver-
halten, insbesondere dann, wenn dieser Angst haltens kann auf unterschiedliche Weise ver-
17 hat. Die Wahrnehmung spezifischer Emotionen,
vor allem von Angst und Traurigkeit, scheint bei
mittelt werden. Beide Problembereiche kön-
nen durch gemeinsame zugrunde liegende bio-

18 Kindern mit emotionaler Unbeteiligtheit abge-


schwächt zu sein (Blair et al. 2001). Emotional
logische oder psychosoziale Faktoren beeinflusst
werden. Sprachliche Defizite schränken ein Kind
unbeteiligte Kinder mit Störung des Sozialver- in seinen Möglichkeiten ein, komplexe soziale
19 haltens sind auch durch hohe Furchtlosigkeit Situationen zu verstehen und seinen Befindlich-
gekennzeichnet (Frick et al. 1999), die ihrerseits keiten und Wünschen Ausdruck zu verleihen.
20 wiederum einen Prädiktor für ausgeprägtes und Auch das Erkennen, Benennen und damit auch
stabiles aggressiv-dissoziales Verhalten darstellt Regulieren von Emotionen wird durch sprach-
(Shaw et al. 2003). liche Defizite beeinträchtigt. Schulisches Versa-
3.2 Psychosoziale Perspektive
23 3

gen aufgrund von sprachlichen Defiziten kann aktionen« – u. a. mit aggressivem Verhalten –
die Entwicklung einer Störung des Sozialverhal- durchzusetzen. Situativ wechselnd kann also das
tens begünstigen. Andererseits kann auch eine Kind sich durch oppositionelles Verhalten einer
Störung des Sozialverhaltens durch die damit unangenehmen elterlichen Anforderung entzie-
einhergehende Beeinträchtigung vieler schu- hen, was lerntheoretisch einer negativen Ver-
lischer und außerschulischer Lernsituationen zu stärkung entspricht, die zudem noch intermit-
verbalen Defiziten führen. So bestanden bei Pro- tierend und unvorhersehbar eintritt, wodurch
banden mit stabilem aggressiv-dissozialen Ver- die Auftretenswahrscheinlichkeit und Stabilität
halten im Kindes- sowie Jugendalter im Alter oppositionellen Verhaltens noch weiter erhöht
von drei Jahren Defizite in der räumlichen Verar- wird. Wenn die Eltern ihre Aufforderung mit
beitung, jedoch keine verbalen Defizite, woge- unangemessenen Mitteln durchsetzen, lernt das
gen im Alter von elf Jahren sowohl räumliche als Kind am Modell der Eltern seinerseits den Ein-
auch verbale Defizite gefunden wurden. Frühe satz aggressiver Verhaltensweisen. So kann es
Defizite in der räumlichen Verarbeitung könnten zu einer Eskalation negativen und aggressiven
also zu persistierendem aggressiv-dissozialem Verhaltens zwischen Eltern und Kind (»coerci-
Verhalten beitragen und von später hinzukom- ve cycle«) und zu einem Lerndefizit prosozialer
menden verbalen Defiziten überlagert werden Fertigkeiten kommen.
(Raine et al. 2002).
! Ungünstig sind also sowohl permissives Erzie-
Elterliches Erziehungsverhalten hungsverhalten, z. B. Inkonsistenz, willkürliche
Elterlichem Erziehungsverhalten kommt eine Reaktionen und unzureichende Aufsicht und
große Bedeutung bei Entstehung und Aufrecht- Steuerung, als auch rigides, harsches und von
erhaltung von Symptomen einer Störung des Ärger dominiertes Erziehungsverhalten.
Sozialverhaltens zu, wobei aber das Verhalten
der Eltern und das Verhalten des Kindes nicht Diese beiden Verhaltensmuster gehen überzufäl-
voneinander unabhängig sind, sondern sich in lig häufig miteinander einher (DeVito u. Hop-
hohem Maß gegenseitig beeinflussen. So erlaubt kins 2001). Diesen innerhalb der Familie erlern-
beispielsweise ein hoher statistischer Zusam- ten Interaktionsstil zeigt das Kind dann auch in
menhang zwischen familiärer Disharmonie und der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen.
disruptivem Verhalten eines Kindes nicht ohne Nach Patterson (1982) ist es bei einem »schwie-
Weiteres den Schluss, dass die familiäre Dishar- rigen« Kind wahrscheinlicher, dass es zu einem
monie für das disruptive Verhalten des Kindes koersiven Erziehungsstil der Eltern kommt.
kausal verantwortlich sei, sondern umgekehrt
kann auch das Verhalten des Kindes zu famili- Monitoring
ärer Disharmonie führen. Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird
Monitoring zunehmend wichtiger, dass Eltern
Koersiver Erziehungsstil also wissen, wann ihr Kind was in Begleitung
Nach Patterson (1982) ist der primäre Mechanis- welcher Personen tut, und dass das Kind bzw.
mus für die Entwicklung oppositioneller Verhal- der Jugendliche seine Eltern in dieser Kontroll-
tensweisen im Kindesalter ein koersiver Erzie- funktion geistig präsent hat.
hungsstil. Für die Eltern aversive Reaktionen Zwischen geringem elterlichen Monitoring
des Kindes auf Anforderungen (z. B. Schimp- und dissozialem Verhalten Jugendlicher besteht
fen, Schreien, Wutanfälle) führen dazu, dass ein wechselseitiger Zusammenhang. Einerseits
die Eltern entweder ihre Anforderung zurück- erhöht geringes elterliches Monitoring von Akti-
nehmen oder aber versuchen, mit »Überre- vitäten und sozialem Umgang eines Jugend-
24 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 lichen die Wahrscheinlichkeit, dass er sich an


dissozialen Aktivitäten beteiligt (Frick et al.
Weitere familiäre Faktoren
Wenn weitere familiäre Faktoren mit potenzi-
1999; Laird et al. 2003). Andererseits führt ein ell aufrechterhaltender Wirkung für die Störung
2 höheres Niveau an dissozialem Verhalten dazu, des Sozialverhaltens vorliegen, können diese
dass das Wissen der Eltern um die Aktivitäten Variablen zu zusätzlichen eltern- bzw. familien-
3 des Jugendlichen abnimmt, weil die Eltern ihr bezogenen Interventionen Anlass geben.
Bemühen um Monitoring reduzieren oder mehr Anhaltende Disharmonie in der Familie zwi-
4 Schwierigkeiten haben, von dem Jugendlichen schen Erwachsenen kann zu einer direkten Expo-
Informationen über seine dissozialen Aktivi- sition des Kindes mit feindseligen Interaktionen
5 täten zu bekommen (Laird et al. 2003). Neben zwischen den Familienmitgliedern führen oder
geringem elterlichen Monitoring sind auch ein- sich indirekt über eine Verschlechterung des
6 geschränktes Interesse und geringe positive Ver-
stärkung für den Jugendlichen durch seine Eltern
elterlichen Erziehungsverhaltens auswirken.
Auch ein Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-

7 sowie eine geringe Beteiligung des Jugendlichen


an familiären Aktivitäten wichtige Bedingungs-
Beziehung oder Ablehnung gegenüber dem Kind
werden zum Teil durch harsches Erziehungs-
faktoren für dissoziales Verhalten Jugendlicher verhalten wirksam (Nix et al. 1999). Körperliche
8 (Farrington et al. 2002). Misshandlung und sexueller Missbrauch erhöhen
die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Sozial-
9 Ethnische Zugehörigkeit verhaltens (Flisher et al. 1997; Kaplan et al. 1998;
Elterliches Erziehungsverhalten und dessen Trickett u. Putnam 1998). Misshandlung, aber
10 Auswirkungen auf das Kind werden auch von auch Vernachlässigung im frühen Lebensalter
der ethnischen Zugehörigkeit signifikant beein- können zu bleibenden neurobiologischen Verän-
11 flusst (Ferrari 2002). Für afroamerikanische Kin- derungen des Gehirns führen, aber auch später
der erhöhten bestimmte Merkmale des Erzie- in der Entwicklung kann ein Kind durch Miss-
12 hungsverhaltens, die für europäisch-amerika-
nische Kinder Risikofaktoren darstellen, die
handlung habituelle Wahrnehmungen, Inter-
pretationen und emotionale Reaktionen bezüg-
Wahrscheinlichkeit externalisierenden Verhal- lich sozialer Stimuli erwerben, welche die Wahr-
13 tens nicht (Deater-Deckard et al. 1998). So setzen scheinlichkeit aggressiver Handlungen erhöhen
afroamerikanische Eltern ein höheres Ausmaß (Dodge et al. 1990).
14 an mäßiger körperlicher Bestrafung ein, was Psychische Störung oder abweichendes Ver-
aber nicht zu einem vergleichbaren negativen halten eines Elternteils stellt einen weiteren Risi-
15 Outcome führt, möglicherweise deswegen, weil kofaktor dar. Mütterliche Depression ist wenig
die körperliche Bestrafung von den Kindern als spezifisch für die Pathogenese einer Störung des
16 weniger bedrohlich erlebt wird. Die Bedeutung Sozialverhaltens, sondern kann auch mit vielen
von Risikofaktoren ist also auch von dem sozi- anderen psychischen Störungen des Kindes ein-
17 okulturellen (z. B. ethnischen) Kontext abhän-
gig. Die ethnische Zugehörigkeit stellt jedoch
hergehen. Bislang in der Literatur wenig beachtet
ist das mögliche Vorliegen einer elterlichen Auf-

18 lediglich einen Aspekt kultureller Unterschied-


lichkeit dar und erlaubt ohne darüber hinausge-
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.
Eine ADHS ist bei Erwachsenen häufig schwie-
hende Informationen über die jeweilige kultu- riger zu diagnostizieren als bei Kindern und
19 relle Identität (u. a. Erziehung, Weltanschauung, Jugendlichen, u.a. deswegen, weil im Erwachse-
Werte und Normen) kaum generelle Schlussfol- nenalter die motorische Hyperaktivität im Ver-
20 gerungen. gleich zu Aufmerksamkeitsdefizit und Impul-
sivität weniger imponiert; die Störung ist im
Erwachsenenalter jedoch ähnlich wie im Kindes-
3.2 Psychosoziale Perspektive
25 3

und Jugendalter einer medikamentösen Behand- oder somatische Krankheit bzw. Behinderung
lung zugänglich. Dissozialität der Eltern kann eines Geschwisters wie auch ein chronischer
aus mehreren Gründen relevant sein: aufgrund Geschwisterkonflikt können die Eltern erheblich
der höheren genetischen Belastung des Kindes, belasten und ihr Erziehungsverhalten ungüns-
als ungünstiges Modell für aggressiv-dissoziales tig beeinflussen. Aggressive Kinder verhalten
Verhalten und durch Beeinträchtigung des fami- sich auch im Umgang mit ihren Geschwistern
liären Funktionsniveaus bis hin zu Vernachlässi- aggressiv (Aguilar et al. 2001) und können jün-
gung oder Misshandlung, was durch elterlichen gere Geschwister viktimisieren, als Rollenmodell
Substanzabusus noch verstärkt werden kann. für aggressiv-dissoziales Verhalten dienen oder
Eine abweichende Elternsituation bzw. Fami- den Anschluss von Geschwistern an dissoziale
lienstruktur kann in unterschiedlichen Kons- Gleichaltrige vermitteln. Enge Geschwister-Koa-
tellationen einen Risikofaktor für Störungen litionen können dazu beitragen, dass die Erzie-
des Sozialverhaltens darstellen. Alleinerziehen- hungsbemühungen der Eltern unterlaufen wer-
de Mütter sind überdurchschnittlich häufig von den und deviantes Verhalten – auch noch über
einem niedrigeren Schul- und Ausbildungsab- den Einfluss einer devianten Gleichaltrigen-
schluss und Einkommen, von geringerer sozi- gruppe hinausgehend – gefördert wird (Bullock
aler Einbindung und Unterstützung und einem u. Dishion 2002). Somit müssen bei familienbe-
geringeren psychischen Wohlbefinden betrof- zogenen Interventionen auch die Beziehungen
fen. Ob sich dieses auf das Verhalten des Kindes zwischen den Geschwistern und ihr Einfluss auf
oder Jugendlichen auswirkt, ist wesentlich von die Störung des Sozialverhaltens des Indexpati-
der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung abhän- enten berücksichtigt werden.
gig, u. a. von der kognitiven Anregung, emoti-
onalen Unterstützung und dem Interesse und
Monitoring bezüglich der Aktivitäten des Kindes 3.2.2 Kind/Jugendlicher und die
oder Jugendlichen. Die Abwesenheit des Vaters Gleichaltrigen
erhöht die Wahrscheinlichkeit disruptiven Ver-
haltens nur bei geringer väterlicher Dissoziali- Die folgenden sozial-kognitiven Mechanismen
tät; bei dissozialen Vätern dagegen entwickeln werden mit Bezug auf die Gruppe der Gleich-
die Kinder um so mehr disruptives Verhalten, je altrigen dargestellt, weil sie vor allem in diesem
mehr Zeit sie mit ihren Vätern verbringen (Jaffee Zusammenhang empirisch untersucht wurden,
et al. 2003). Instabilität der häuslichen Verhält- sie sind natürlich aber auch im Kontakt des Kin-
nisse durch Umzüge der Familie, Trennung der des oder Jugendlichen zu Erwachsenen relevant.
Eltern oder Hineinkommen eines neuen Part- Aggressive Kinder und Jugendliche nehmen
ners in die Familie ist ein weiterer Risikofak- die Absichten anderer Menschen als aggres-
tor. Dabei bringt eine erneute Eheschließung des siver und bedrohlicher wahr, als sie tatsächlich
erziehenden Elternteils potenziell mehr Schwie- sind (»negative attributional bias«), besonders
rigkeiten mit sich als allein eine Scheidung, u. a. in uneindeutigen sozialen Situationen, und rea-
durch eine Verminderung von Eltern-Kind- gieren dann ihrerseits mit aggressivem Verhal-
Kommunikation und elterlichem Monitoring ten, das sie als begründet und berechtigt emp-
(Pagani et al. 1998). finden (Crick u. Dodge 1996). Sie achten auch
selektiv auf Anzeichen von Feindseligkeit bei
Geschwister anderen Menschen (Gouze 1987), insbesondere
Auch Geschwister können eine Rolle bei der dann, wenn sie aufgeregt sind oder soziales Ver-
Entwicklung von Störungen des Sozialver- sagen erleben (Dodge u. Somberg 1987), und sie
haltens spielen. Eine chronische psychische überschätzen das Ausmaß an Ärger und Aggres-
26 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 sion bei anderen und unterschätzen ihre eigene


Aggression (Lochman u. Dodge 1998).
erhöht (Pope et al. 1989). Die Zurückweisung
durch Gleichaltrige erhöht wiederum – unab-
hängig von und zusätzlich zu anderen Risiko-
2 ! Dieser soziale Wahrnehmungsfehler erhöht faktoren – das Risiko, bereits vor dem zehnten
die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens Lebensjahr eine Störung des Sozialverhaltens
3 des Kindes oder Jugendlichen, was wiederum zu entwickeln (Miller-Johnson et al. 2002), und
die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens führt bei bereits aggressiven Kindern zu einer
4 seitens des Interaktionspartners erhöht. Zunahme der Aggressivität (Dodge et al. 2003).

5 Hierbei ist allerdings die Frage der Kausalität ! Auch verbale und/oder physische Viktimisie-
nicht so eindeutig zu beantworten, denn aggres- rung durch andere Kinder oder Jugendliche

6 sive Kinder erfahren ja tatsächlich mehr Zurück-


weisung und Viktimisierung durch Gleichaltrige,
erhöht die Wahrscheinlichkeit aggressiven Ver-
haltens.

7 so dass auch hierdurch eine Zunahme von feind-


seligen Attributionen erklärbar wäre, welche ja Nicht alle viktimisierten Kinder werden durch
dann auch nicht völlig realitätsinadäquat wären. die Gruppe der Gleichaltrigen abgelehnt, und
8 Ebenso relevant ist jedoch, dass Kinder und nicht alle durch Gleichaltrige abgelehnten Kin-
Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens der erfahren eine Viktimisierung. Viktimisie-
9 auch eine höhere Erfolgserwartung für aggres- rung weist einen über die Ablehnung durch
sives Verhalten haben und davon ausgehen, dass Gleichaltrige hinausgehenden Erklärungswert
10 von ihnen gezeigtes aggressives Verhalten wahr- für aggressiv-dissoziales Verhalten auf (Schwartz
scheinlich zur Durchsetzung ihrer Ziele führt. et al. 1998). Eine Viktimisierung durch Gleich-
11 Bereits im Vorschulalter benannten Jungen mit altrige kann als Stressor oder Trauma relevant
einer oppositionellen Störung mehr aggressive sein, eine Zunahme aggressiven Verhaltens zur
12 Lösungen für soziale Konfliktsituationen (Coy et
al. 2001). Auch für aggressives oder dissoziales
Verteidigung gegen die Übergriffe anderer Kin-
der oder Jugendlicher bewirken und die Wahr-
Verhalten können diesbezügliche Erfolgserwar- scheinlichkeit erhöhen, dass ein Kind oder
13 tungen, einhergehend mit Kompetenzvertrauen Jugendlicher Anschluss an deviante Gleichalt-
für eigenes aggressives bzw. dissoziales Verhal- rige sucht, was wiederum ein starker Prädiktor
14 ten, ein bedeutsamer aufrechterhaltender Fak- für zunehmendes dissoziales Verhalten sowie für
tor sein. Es ist also wichtig, nicht nur verzerrte Substanzgebrauch ist.
15 soziale Wahrnehmungen, sondern auch positive Umgekehrt kann ein hohes Ausmaß positiver
Kontingenzen für aggressiv-dissoziales Verhal- Beziehungen zu Gleichaltrigen davor schützen,
16 ten und diesbezügliche Erwartungen des Kindes dass ungünstige familiäre Bedingungen zu ver-
oder Jugendlichen zu betrachten. mehrtem Problemverhalten führen, unabhän-
17 Wenn ein Kind im häuslichen Rahmen viele
negative Interaktionen erlebt hat, verfügt es im
gig von der Aggressivität der Freunde (Criss et
al. 2002). Auch prosoziales Verhalten eines Kin-

18 Kontakt mit Gleichaltrigen nicht über die erfor-


derlichen prosozialen Verhaltensweisen, um
des liefert unabhängig von dem Ausmaß seines
aggressiven Verhaltens zusätzliche Informati-
positive Interaktionen zu initiieren, sondern onen zur Vorhersage seiner sozialen Anpassung
19 wird zum Erreichen von Zielen eher die disrup- (Crick 1996). Sofern diesbezüglich tatsächlich
tiven Verhaltensweisen einsetzen, die es auch ein Kompetenzdefizit vorliegt, kann ein Training
20 zu Hause zeigt. Die Wahrscheinlichkeit einer sozialer Fertigkeiten hilfreich sein.
Zurückweisung durch Gleichaltrige wird durch
eine komorbide hyperkinetische Störung noch
3.2 Psychosoziale Perspektive
27 3

3.2.3 Kind/Jugendlicher und die Schule Für diesen Zusammenhang ist auch die
Bedeutung einer komorbiden ADHS, die ja in
Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwi- erheblichem Ausmaß sowohl mit Dyslexie als
schen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens auch mit den Störungen des Sozialverhaltens
und Symptomen einer Störung des Sozialver- assoziiert ist, bislang ungeklärt. Noch weniger
haltens, dessen Art jedoch bislang nicht geklärt ist über den Zusammenhang zwischen Schwie-
ist. Aggressiv-dissoziales Verhalten während rigkeiten beim Erlernen des Rechnens bzw. Dys-
der Grundschulzeit ging mit einer schlechten kalkulie und den Störungen des Sozialverhaltens
Leseleistung im Jugendalter einher (Williams u. bekannt.
McGee 1994). Umgekehrt zeigte sich auch ein
Zusammenhang zwischen schlechten Leseleis- ! Schulisches Leistungsversagen, aus welchen
tungen im frühen Kindesalter und Symptomen Gründen auch immer, kann in der Pathogene-
einer Störung des Sozialverhaltens im Jugend- se von Störungen des Sozialverhaltens eine Rol-
alter, der jedoch durch gemeinsame Variab- le spielen.
len, wie z. B. frühe Symptome einer Störung des
Sozialverhaltens, die bereits vor dem Erlernen Insbesondere bei Kindern aus benachteiligten
des Lesens bestanden hatten, erklärt wurde, so psychosozialen Verhältnissen kann früh auftre-
dass nach statistischer Kontrolle dieser Variab- tendes disruptives Verhalten in Kombination mit
len kein signifikanter Zusammenhang mehr zwi- frühen schulischen Leistungsschwierigkeiten zu
schen früher Leseleistung und späterer Störung einem kumulativen Motivations- und Fertigkei-
des Sozialverhaltens gefunden wurde (Fergus- tendefizit führen (Ackerman et al. 2003), wel-
son u. Lynskey 1997). Im Gegensatz dazu zeigten ches durch die Zuweisung einer Sündenbock-
Kinder mit geringer Leseleistung und unauffäl- rolle durch Lehrer noch verstärkt werden kann.
ligem Verhalten zu Schulbeginn nach 2 ½ Jahren Wenn es zu Schulschwänzen kommt, steigt die
deutlich mehr disruptives Verhalten, auch nach Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind oder Jugend-
statistischer Kontrolle möglicher konfundieren- licher sich devianten Gleichaltrigen anschließt.
der Variablen (Bennett et al. 2003). Möglicher- Umgekehrt führt es bei Schülern zu einer Ver-
weise ist der Zusammenhang zwischen Lesefer- minderung dissozialen Verhaltens, wenn sie sich
tigkeit und Störung des Sozialverhaltens alters- als sozial unterstützt erleben und im Unterricht
und kontextabhängig, so dass Schwierigkeiten mitarbeiten (Morrison et al. 2002); hierin kann
beim Erlernen des Lesens für die Prädiktion dis- also ein möglicher Ansatzpunkt für präventive
ruptiven Verhaltens im Grundschulalter rele- Maßnahmen bestehen.
vant sein können, während bis zur Adoleszenz
so viele andere Problembereiche hinzugekom-
men sind, dass die Lesefertigkeit relativ zu den 3.2.4 Kind/Jugendlicher und seine
anderen Faktoren nur noch eine geringe Bedeu- Familie im psychosozialen
tung hat. Darüber hinaus gibt es hier Hinweise Umfeld
auf einen Geschlechtsunterschied: Für Jungen
war disruptives Verhalten prädiktiv für spätere Niedriges elterliches Ausbildungsniveau und
defizitäre Lesefertigkeiten, aber nicht umge- Einkommen, niedriger sozioökonomischer Sta-
kehrt; dagegen erwiesen sich frühe Schwierig- tus sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen
keiten beim Lesen bei Mädchen als ein Risiko- Minderheit sind soziodemographische Faktoren,
faktor für disruptives Verhalten in der Adoles- die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für
zenz (Maughan et al. 1996). Störungen des Sozialverhaltens einhergehen.
Welche ethnischen Gruppen die höchsten Raten
28 Kapitel 3 ·Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie

1 aggressiv-dissozialen Verhaltens aufweisen, ist


von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich,
halten. Weitere Risikofaktoren wie psychische
Störungen des Jugendlichen, Vernachlässigung
u.a. weil der Einfluss von Ethnie und Rasse auf durch seine Eltern, Aufwachsen in einer benach-
2 aggressiv-dissoziales Verhalten durch begleiten- teiligten Gegend, niedriges elterliches Ausbil-
de Faktoren wie Minderheitenstatus, Migration dungsniveau oder geringes Einkommen der
3 und Merkmale von Familie, Schule und Nach- Familie erhöhten sowohl tägliche Fernsehdauer
barschaft bestimmt wird. Störungen des Sozial- als auch aggressives Verhalten signifikant. Aber
4 verhaltens treten häufiger in Stadtteilen mit sozi- auch unter statistischer Berücksichtigung dieser
aler Desorganisation und hoher Kriminalität Risikofaktoren wurden Jugendliche, die mehr
5 auf, auch bei Mädchen, und in der Regel in städ- fernsahen, im Laufe ihrer Entwicklung aggres-
tischen häufiger als in ländlichen Gebieten (Hip- siver, und zwar unabhängig von ihrem Aus-
6 well et al. 2002).
Begleiterscheinung eines niedrigen sozioö-
gangsniveau an aggressivem Verhalten. Dagegen
zeigte sich zwischen Fernsehdauer und Eigen-

7 konomischen Status kann eine erhöhte famili-


äre Instabilität sein, z. B. durch häufigere Umzü-
tumsdelikten kein Zusammenhang (Johnson et
al. 2002).
ge, aber auch dadurch, dass beim Eingehen
8 einer neuen Beziehung schneller aus finanziel- ! Unabhängig von weiteren Risikofaktoren kann
len Gründen erwogen wird, zusammenzuzie- die Vielzahl der im Fernsehen dargestellten
9 hen. Solche Veränderungen der familiären Situa- aggressiven Handlungen die Wahrscheinlich-
tion stellen belastende Lebensereignisse für Kin- keit aggressiven Verhaltens durch Lernen am
10 der wie Eltern dar. Bei jüngeren Kindern hängen Modell erhöhen.
die Auswirkungen wesentlich davon ab, ob es zu
11 einer Störung des elterlichen Erziehungsverhal-
tens kommt. Dagegen werden bei Jugendlichen 3.3 Modellvorstellungen
12 zwar einige Effekte ungünstiger Kontextvari-
ablen durch die Störung des elterlichen Erzie- Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren kann
hungsverhaltens vermittelt, aber soziale Benach- durch vielfältige Wirkmechanismen die Wahr-
13 teiligung und familiäre Instabilität erhöhen auch scheinlichkeit der Entwicklung einer Störung
unabhängig vom elterlichen Verhalten die Wahr- des Sozialverhaltens beeinflussen. Der rela-
14 scheinlichkeit einer dissozialen Entwicklung tive Einfluss einzelner kausaler Faktoren vari-
(Patterson et al. 1998). In Stadtteilen mit höherer iert mit dem Lebensalter bei Störungsbeginn.
15 sozialer Desorganisation ist elterliches Monito- Bei Störungsbeginn in der Kindheit sind gene-
ring besonders wichtig (Beyers et al. 2003), und tische Faktoren, die u. a. verschiedene Tempe-
16 aus aggressiven Kindern, die in solchen Gebieten ramentsaspekte und kognitive Merkmale beein-
leben und wenig elterliches Monitoring erfah- flussen, von größerer Bedeutung, während bei
17 ren, werden noch stärker aggressive Jugendliche
(Pettit et al. 1999).
später beginnenden Störungen des Sozialver-
haltens die Bedeutung psychosozialer Variablen

18 Aggressives Verhalten wird auch durch Ler-


nen am Modell verstärkt, nicht nur durch unmit-
größer ist (Lahey et al. 1999b).
Die (biologischen) Eltern geben zum einen
telbare Beobachtung solchen Verhaltens bei ihre genetische Ausstattung an ihr Kind weiter,
19 Eltern, Geschwistern oder Gleichaltrigen, son- zum anderen sind sie – mit ihrer eigenen gene-
dern auch durch Gewaltdarstellungen in den tischen und biologischen Ausstattung wie auch
20 Medien. Je mehr Zeit 14-jährige Jugendliche täg- ihren vielfältigen individuellen psychosozi-
lich mit Fernsehen verbrachten, desto wahr- alen Erfahrungen – für die Gestaltung der frü-
scheinlicher zeigten sie später aggressives Ver- hen Umgebung ihres Kindes von hoher Bedeu-
3.3 Modellvorstellungen
29 3

tung. Andererseits beeinflusst auch ein Kind von jedoch bei einem Adoptivkind ein genetisches Risiko
sehr frühem Lebensalter an seine Eltern und mit vor, wirkten sich solche ungünstigen psychosozialen
zunehmendem Lebensalter auch seine weitere Bedingungen erheblich auf das Verhalten des Kindes
psychosoziale Umgebung. Diese Zusammen- aus (Cadoret et al. 1995).
hänge werden mit dem Begriff der Gen-Umwelt-
Korrelationen beschrieben (Rutter u. Silberg Umgekehrt können günstige psychosoziale
2002). Bedingungen als protektive Faktoren wirken,
also dazu beitragen, dass genetische Risikofak-
Definition toren in geringerem Ausmaß wirksam werden.
Passive Gen-Umwelt-Korrelationen beruhen dar-
auf, dass Eltern ihren Kindern sowohl ihre Gene
weitergeben als auch aufgrund ihrer eigenen gene-
tisch beeinflussten Merkmale die Umweltbedin-
gungen ihrer Kinder gestalten. Unter aktiven Gen-
Umwelt-Korrelationen wird verstanden, dass ein
Kind auf der Basis seines Genotyps aktiv seine spe-
zifischen Umgebungsbedingungen aufsucht oder
gestaltet. Evokative Gen-Umwelt-Korrelationen
beziehen sich auf die Reaktionen anderer Men-
schen auf das Kind, die dieses durch sein – zum Teil
genetisch bedingtes – Verhalten evoziert.

Bei Letzteren handelt es sich insofern um eine


Unterform der aktiven Gen-Umwelt-Korrelati-
onen, als die Reaktionen anderer Personen auf
das Individuum auch als Umgebungsfaktoren
aufgefasst werden können.

Definition
Der Begriff der Gen-Umwelt-Interaktionen
bezeichnet dagegen genetisch bedingte interindi-
viduelle Unterschiede in der Vulnerabilität für spe-
zifische Umweltfaktoren (Rutter u. Silberg 2002).

Genetische Risikofaktoren können also die Wahr-


scheinlichkeit erhöhen, dass psychosoziale Risi-
kofaktoren zu aggressivem Verhalten führen.

Beispiel
Adoptivkinder, die in ihren Adoptivfamilien unter
ungünstigen Bedingungen aufwuchsen (Ehekon-
flikt, Trennung oder Scheidung, psychische Störung
oder Substanzabusus der Adoptiveltern), zeigten kein
erhöhtes aggressiv-dissoziales Verhalten, wenn sie
selbst kein erhöhtes genetisches Risiko aufwiesen; lag
4

Der Blick auf das Besondere:


Störungsspezifische Diagnostik

4.1 Symptomatik – 32
4.1.1 Leitsymptome – 32
4.1.2 Klassifikation – 36
4.1.3 Psychischer Status des Kindes/Jugendlichen – 41
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des Kindes/Jugendlichen – 42

4.2 Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte – 42

4.3 Komorbide Störungen – 43

4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen – 48

4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik – 50


4.5.1 Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen – 50
4.5.2 Altersbezogene Testdiagnostik – 51
4.5.3 Körperliche Untersuchung – 54
4.5.4 Drogenscreening – 55

4.6 Weitergehende Diagnostik – 57

4.7 Entbehrliche Diagnostik – 57


32 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Bei Kindern oder Jugendlichen mit signifikanten


und anhaltenden oppositionellen, aggressiven Diagnostische Kriterien für eine Stö-
und/oder dissozialen Verhaltensweisen sollte rung des Sozialverhaltens
2 eine sorgfältige diagnostische Abklärung erfol- 5 Sind ein oder mehrere Leitsymptome
einer Störung des Sozialverhaltens vor-
gen, die meist ambulant durchgeführt werden
3 kann. Relevante Informationen beziehen sich handen?
5 Treten ein oder mehrere Leitsymptome
darauf, ob und welche Symptome einer Störung
4 des Sozialverhaltens vorliegen, sowie auf den einer Störung des Sozialverhaltens seit
wenigstens 6 Monaten wiederholt auf?
psychischen Status und die aktuelle Lebenssi-
5 Ist die Ausprägung oppositioneller,
5 tuation des Betroffenen (7 4.1), seine Entwick-
aggressiver oder dissozialer Verhaltens-
lung unter besonderer Berücksichtigung der
weisen deutlich kontext-, alters- oder
6 störungsspezifischen Aspekte (7 4.2), eventuell
vorliegende komorbide Störungen (7 4.3) sowie geschlechtsabweichend?
störungsrelevante Rahmenbedingungen (7 4.4).
7 Grundsätzlich sollten für jeden Patienten die
in 7 4.1–4.4 genannten Punkte exploriert wer- Sind ein oder mehrere Leitsymptome einer
8 den, natürlich mit unterschiedlicher Gewich- Störung des Sozialverhaltens vorhanden?
tung in Abhängigkeit von dem jeweiligen Pati- Welche Symptome einer Störung des Sozialver-
9 enten, anderen für eine Befragung verfügbaren haltens über welchen Zeitraum hinweg aufgetre-
Personen und der diagnostischen Situation; die ten sind bzw. aktuell bestehen, ist zum einen für
10 Aufteilung in die Unterkapitel dient der Syste- die genaue Diagnose bedeutsam, aber zum ande-
matisierung und ist letztendlich künstlich. ren natürlich auch für die Behandlungsplanung
11 relevant. Nebenstehend werden die Symptome
der Störungen des Sozialverhaltens entspre-
Symptomatik
12 4.1 chend den ICD-10-Forschungskriterien aufge-
listet, da sie dort mit größerer Detailliertheit als
4.1.1 Leitsymptome in den klinisch-diagnostischen Leitlinien darge-
13 stellt sind.

14 ? Diagnostische Leitfrage Treten ein oder mehrere Leitsymptome


Sind die diagnostischen Kriterien für eine Stö- einer Störung des Sozialverhaltens seit
15 rung des Sozialverhaltens erfüllt? wenigstens 6 Monaten wiederholt auf?
Für die tatsächlich vorliegenden Symptome
16 Diese diagnostische Leitfrage kann in die fol- einer Störung des Sozialverhaltens sollte erfragt
genden Teilfragestellungen untergliedert wer- werden:
17 den: 5 Wie häufig tritt das Verhalten auf (pro Tag,
Woche oder Monat)?
5 In welcher Situation tritt das Verhalten auf?
18 5 In Interaktion mit welcher Person tritt das
Verhalten auf?
19 5 Unter welchen Bedingungen tritt das Ver-
halten nicht auf?
20 5 Wie ist der genaue Ablauf des Verhaltens in
spezifischen Situationen?
4.1 Symptomatik
33 4

Symptome der Störungen des Sozialverhaltens nach den ICD-10-Forschungskriterien

1. Für das Entwicklungsalter des Kindes unge- 14. Tierquälerei


wöhnlich häufige und schwere Wutausbrü- 15. Absichtliche Destruktivität gegenüber dem
che Eigentum anderer (außer Brandstiftung)
2. Häufiges Streiten mit Erwachsenen 16. Absichtliches Feuerlegen mit dem Risi-
3. Häufige aktive Ablehnung und Zurück- ko oder der Absicht, ernsthaften Schaden
weisung von Wünschen und Vorschriften anzurichten
Erwachsener 17. Stehlen von Wertgegenständen ohne Kon-
4. Häufiges, offensichtlich wohl überlegtes frontation mit dem Opfer, zu Hause oder
Ärgern anderer außerhalb (z. B. Ladendiebstahl, Einbruch,
5. Häufiges Verantwortlichmachen anderer Unterschriftenfälschung);
für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhal- 18. Häufiges Schuleschwänzen, beginnend vor
ten dem 13. Lebensjahr
6. Häufige Empfindlichkeit oder Sich-beläs- 19. Weglaufen von den Eltern oder elterlichen
tigt-fühlen durch andere Ersatzpersonen, mindestens zweimal oder
7. Häufiger Ärger oder Groll einmal länger als eine Nacht (außer, wenn
8. Häufige Gehässigkeit oder Rachsucht dies zur Vermeidung körperlicher oder
9. Häufiges Lügen oder Brechen von Verspre- sexueller Misshandlung geschieht)
chen, um materielle Vorteile oder Begüns- 20. Jede kriminelle Handlung, bei der ein
tigungen zu erhalten oder um Verpflich- Opfer direkt angegriffen wird (einschließ-
tungen zu vermeiden lich Handtaschenraub, Erpressung, Straßen-
10. Häufiges Beginnen von körperlichen Aus- raub)
einandersetzungen 21. Zwingen einer anderen Person zu sexuellen
11. Gebrauch von gefährlichen Waffen (z. B. Aktivitäten
Schlagholz, Ziegelstein, zerbrochene Fla- 22. Häufiges Tyrannisieren anderer (z. B.
sche, Messer, Gewehr) absichtliches Zufügen von Schmerzen oder
12. Häufiges Draußenbleiben in der Dunkelheit Verletzungen, einschließlich andauernder
entgegen dem Verbot der Eltern (begin- Einschüchterung, Quälen oder Belästigung)
nend vor dem 13. Lebensjahr) 23. Einbruch in Häuser, Gebäude oder Autos
13. Körperliche Grausamkeit gegenüber ande-
ren Menschen (z. B. ein Opfer mit einem
Messer oder mit Feuer verletzen)

Nach Möglichkeit sollte man sich prägnante initiiert wirkt, denn mit Fortschreiten einer
Situationen so genau beschreiben lassen, dass aggressiven Auseinandersetzung wird fast
man sie sich als »Film« vorstellen kann. jeder Mensch irgendwann wütend.
5 Wie sehr wirkt oppositionelles, aggressives 5 Wie lange dauert ein Wutanfall? Wodurch
oder dissoziales Verhalten impulsiv-reaktiv kann er unterbrochen werden? Treten vege-
oder proaktiv? tative Begleiterscheinungen auf? Zerstört
Wichtig ist vor allem, ob der Beginn einer ein Kind nur Gegenstände von anderen und
solchen Verhaltenssequenz unüberlegt und eigene ungeliebte Gegenstände oder auch
»hitzig« oder geplant, »mit kühlem Kopf«
34 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 eigene geliebte Gegenstände? Bereut es hin-


terher sein Verhalten?
muss (z. B. aggressiv-dissoziales Verhalten zum
Selbstschutz in einem Milieu mit hoher Krimi-
5 Welche kurz-, mittel- und langfristigen posi- nalität).
2 tiven und negativen Konsequenzen hat das Weiterhin muss bei der Beurteilung, ob eine
Verhalten für den Betroffenen? Störung des Sozialverhaltens vorliegt, Lebensalter
3 Kann er sich durch sein Verhalten Anfor- und Entwicklungsniveau sowie das Geschlecht des
derungen und Verpflichtungen entziehen, Kindes oder Jugendlichen berücksichtigt werden.
4 materielle Vorteile erlangen, höhere soziale Diesbezügliche deutlich atypische Verhaltenswei-
Dominanz in der Familie oder in der Gruppe sen sind Anzeichen einer stärkeren Dysfunktion.
5 der Gleichaltrigen erreichen oder sichern? Es gibt jedoch keine alters- und geschlechtsbezo-
genen Standardwerte, um die relative Normab-
6 Wichtig ist es, sich möglichst konkrete Situati-
onen berichten zu lassen, um einen Eindruck
weichung disruptiven Verhaltens bestimmen zu
können, so dass man sich lediglich an der »nor-

7 vom tatsächlichen Geschehen zu bekommen,


sowie möglichst zeitnahe Situationen, da diese
malen« alters- und geschlechtsbezogenen Ent-
wicklung orientieren kann, die nachfolgend im
am besten erinnert werden. Überblick dargestellt wird.
8
Ist die Ausprägung oppositionellen, Altersabhängigkeit disruptiven Verhaltens
9 aggressiven oder dissozialen Verhaltens Physisch aggressives Verhalten ist etwa im
deutlich kontext-, alters- oder 2. Lebensjahr am stärksten ausgeprägt und
10 geschlechtsabweichend? nimmt danach bei Jungen und Mädchen bis in
Nicht jedes oppositionelle, aggressive oder dis- die Adoleszenz hinein ab. Jungen sind ab dem
11 soziale Verhalten ist pathologisch oder erfordert Kleinkindalter über die ganze Alterspanne hin-
gar psychiatrische Behandlung. Erforderlich ist weg im Durchschnitt körperlich aggressiver
12 eine sorgfältige Unterscheidung zwischen alters-
typischem Verhalten, vereinzelt auftretenden
(Lahey et al. 1998; Loeber u. Hay 1997), während
Mädchen ein höheres Ausmaß an relationaler
oppositionellen, aggressiven oder dissozialen Aggression als Jungen zeigen (Crick u. Grotpeter
13 Verhaltensweisen und dem Auftreten solchen 1995; Crick 1997). Für dissoziales Verhalten fin-
Verhaltens in Form eines sich wiederholenden det sich zwischen früher Kindheit und Spätado-
14 und andauernden Musters. leszenz ein starker Anstieg (Stanger et al. 1997).
Nach ICD-10 wie auch DSM-IV sollte für Im Kleinkind- und Vorschulalter entwickeln
15 die Entscheidung, ob die Diagnose einer Stö- Kinder ihre motorischen und verbalen Fähig-
rung des Sozialverhaltens zu stellen ist, auch der keiten, zeigen zunehmend mehr exploratives und
16 soziale und ökonomische Kontext berücksichtigt zielgerichtetes Verhalten und Autonomiebestre-
werden, in dem das Verhalten auftritt (7 2.1). ben, während Eltern ihren Kindern zunehmend
17 Relevant ist beispielsweise, ob das Kind oder der
Jugendliche einer ethnischen, kulturellen oder
Grenzen setzen und Regeln etablieren. Dieses
führt zu häufigen Episoden von Aufregung,

18 gesellschaftlichen Minderheit mit eigenen Wert-


normen angehört oder unzureichenden oder
Wutausbrüchen und Frustration beim Kind, am
ausgeprägtesten im Alter von 2–3 Jahren; in die-
gefährdenden Lebensbedingungen ausgesetzt sem Alter ist also regelhaft oppositionelles wie
19 ist. Hier geht es also um die Frage, ob das dis- auch körperlich aggressives Verhalten gegenüber
ruptive Verhalten auch im Zusammenhang mit Erwachsenen und anderen Kindern zu beob-
20 einer Funktionsstörung der Person selbst zu seh- achten. Gegen Ende des Vorschulalters lernen
en ist oder weitgehend als eine Reaktion auf das Kinder jedoch, direkte körperliche Aggression
unmittelbare soziale Umfeld verstanden werden zu inhibieren, Ärger und Wut auf andere Wei-
4.1 Symptomatik
35 4

se Ausdruck zu verleihen sowie andere Strate- Auch im Kleinkind- und Vorschulalter ist
gien zum Erreichen ihrer Ziele zu entwickeln stabil und situationsübergreifend auftretendes
(Loeber u. Hay 1997). Wegen des häufigen Auf- hoch-intensives oppositionelles und aufsässiges
tretens solcher Verhaltensweisen in diesem Alter Verhalten pathologisch (Keenan u. Wakschlag
müssen quantitative und qualitative Aspekte, 2002) und erfordert eine Behandlung, erst recht
wie die Intensität, Rigidität und Situationsinad- dann, wenn auch eine ADHS und/oder aggres-
äquatheit dieses Verhaltens herangezogen wer- sives Verhalten bestehen. Gelegentlich kann auch
den, um alterstypische Autonomiebestrebun- bei Vorschulkindern die Diagnose einer aggres-
gen und Frustrationsäußerungen von Vorläufer- siv-dissozialen Störung gerechtfertigt sein, ins-
symptomen einer Störung des Sozialverhaltens besondere dann, wenn sie erhebliches körper-
abgrenzen zu können. lich-aggressives Verhalten zeigen. Auch wenn
Für aggressives Verhalten kann die genaue Kinder in diesem Alter mögliche Langzeitfolgen
Betrachtung der Art und Weise, wie ein Kind sol- ihres Verhaltens nur teilweise überschauen kön-
ches Verhalten einsetzt, Anhaltspunkte liefern. nen, sind doch die meisten Vorschulkinder in
der Lage, das Konzept von sozialen Regeln und
Beispiel Regelverletzungen zu verstehen und ihr Ver-
Kleinkinder nehmen anderen Kindern Spielzeug häu- halten daran auszurichten. Trotz der genann-
figer durch Entwinden oder Wegreißen weg, als dass ten diagnostischen Schwierigkeiten können also
sie stoßen, schlagen oder treten. Weiterhin stehen sol- deutliche Symptome einer oppositionellen oder
che direkten physisch aggressiven Handlungen sel- aggressiv-dissozialen Störung auch bei jüngeren
ten am Anfang eines Konfliktes, sondern treten eher in Kindern grundsätzlich zuverlässig diagnostiziert
dessen Verlauf auf. werden.
An Kinder im Schulalter werden höhere
Bedeutsam im Sinne eines auffäliigen Verhaltens Anforderungen als im Vorschulalter gestellt.
ist also ein direkter physischer Angriff, insbe- Im häuslichen Rahmen wird von ihnen erwar-
sondere dann, wenn er unprovoziert zu Beginn tet, mehr Verantwortung zu übernehmen sowie
eines Konfliktes auftritt. zeitweise ohne elterliche Aufsicht funktionieren
Wichtig für die Bestimmung einer Normab- zu können. Beim Übergang in die Schule müs-
weichung ist grundsätzlich die Klärung der Fra- sen Kinder lernen, außerhalb des häuslichen
ge, ob das Verhalten eine klinisch bedeutsame Rahmens den Aufforderungen von Autoritäts-
Belastung sowie Beeinträchtigung der sozialen personen nachzukommen, sich an die Routine
Beziehungen oder anderer wichtiger Funktions- des Schulalltages anzupassen, adäquate Bezie-
bereiche verursacht und mit der Bewältigung hungen zu Mitschülern aufzubauen und die
der alterstypischen Entwicklungsaufgaben inter- Anforderungen des Lernstoffes zu bewältigen.
feriert. In diesem Lebensalter ist relevant: Kann Da die zur Bewältigung des Schulalltages erfor-
ein Kind bei der Bewältigung von Alltagsrou- derliche Anpassung und Kooperation bezüg-
tinen mit Erwachsenen kooperieren? Kann es lich der schulischen Regeln und Abläufe vielen
einvernehmlich zusammen mit Gleichaltrigen Kindern grundsätzlich gelingt, ist das Auftreten
spielen oder wird es aufgrund der Destruktivi- deutlicher oppositioneller und aggressiv-disso-
tät seines Spielverhaltens ausgeschlossen? Kann zialer Verhaltensweisen per se normabweichend
ein Kind mit anderen Kindern zusammen sein, (Keenan u. Wakschlag 2002).
ohne dass kontinuierliche Aufsicht erforderlich Im Jugendalter sind ein gewisses Maß an
ist, um die körperliche Sicherheit der Kinder zu Non-Compliance mit den An- und Aufforde-
gewährleisten? rungen Erwachsener sowie an Risikoverhalten
normativ, nicht jedoch ein Muster erheblicher,
36 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 situationsübergreifend auftretender und stabiler


Aufsässigkeit, ebenso wenig deutliches aggres-
keit solchen Verhaltens wider (Doyle et al. 2003).
Praktisch ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei
sives oder dissoziales Verhalten. Mädchen möglicherweise bereits eine weniger
2 schwer ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens
Beispiel zu einem deutlich negativeren Outcome führen
3 Quälen von Tieren ist eines der am frühesten auftre- kann (Fergusson u. Woodward 2000).
tenden Symptome einer aggressiv-dissozialen Stö-
4 rung (Frick et al. 1993), kommt aber auch bei Kin-
dern ohne aggressiv-dissoziale Störung vor. Rele- 4.1.2 Klassifikation
5 vante Merkmale sind hier u. a. das wiederholte Auf-
treten solcher Verhaltensweisen (Miller 2001), ob die-

6 se an sozial hoch bewerteten Tieren (z. B. Haustie-


ren) im Vergleich zu sozial niedriger bewerteten Tie-
? Diagnostische Leitfrage
Welche Störung des Sozialverhaltens liegt vor?

7 ren durchgeführt werden, der Kontext des Verhaltens


(z. B. Gruppensituation mit Beeinflussung durch ande- Zur Klärung der diagnostischen Leitfrage, wel-
re vs. allein) sowie Art und Ausmaß der durchgeführ- che spezifische Störung aus der Gruppe der Stö-
8 ten Handlungen. rungen des Sozialverhaltens vorliegt, sind die in
der Übersicht «Identifizierung der Störung des
9 Geschlechtsunterschiede bei disruptivem Sozialverhaltens« aufgeführten Fragen zu beant-
Verhalten worten.
10 Bezüglich oppositionellen Verhaltens bestehen Nach Möglichkeit sollten Kind bzw. Jugendli-
keine bedeutsamen Geschlechtsunterschiede. cher und Eltern zusammen und getrennt befragt
11 Physisch-aggressives und offen-dissoziales Ver- werden und dabei auch ihr Verhalten beobachtet
halten tritt häufiger bei Jungen und männlichen werden. Ist oppositionelles, aggressives, unauf-
12 Jugendlichen auf, während Mädchen und weib-
liche Jugendliche mehr verdeckt-dissoziales Ver-
merksames, impulsives, hyperkinetisches Ver-
halten zu sehen? Bestehen Anzeichen für eine
halten und verbale Aggression zeigen sowie rela- emotionale Störung? Welche Interaktionen zwi-
13 tionale Aggression, die darauf ausgerichtet ist, schen den Familienmitgliedern sind zu beobach-
die sozialen Beziehungen des Opfers zu beschä- ten? Bei Jugendlichen kann es für deren Koope-
14 digen. Wenn bei Mädchen überwiegend offen- ration günstiger sein, sie zeitlich vor den Eltern
aggressives Verhalten und bei Jungen überwie- zu befragen. Ergänzend können andere Famili-
15 gend relational-aggressives Verhalten auftritt, enmitglieder befragt werden. Wichtig ist es, auch
geht dieses mit einer signifikant schlechteren psy- Informationen aus dem außerfamiliären Bereich
16 chosozialen Anpassung einher als geschlechts- einzuholen, wobei hier die Frage der ärztlichen
konformes aggressives Verhalten (Crick 1997). Schweigepflicht zu beachten ist.
17 Weil aggressiv-dissoziales Verhalten bei Mäd-
chen also anders aussieht als bei Jungen, wurde in Informationen aus Spielgruppe, Kindergarten

18 der Literatur die Frage diskutiert, ob geschlechts-


spezifische Diagnosekriterien erforderlich seien,
oder Schule sind zur Klärung der folgenden Fra-
gen relevant:
um die für Mädchen typischeren Verhaltens- 5 Wie verhält sich das Kind bzw. der Jugendli-
19 weisen besser zu erfassen. Wahrscheinlich stel- che in diesem außerfamiliären Setting (sen-
len aber die unterschiedlichen Prävalenzraten sorisches, motorisches und kognitives Funk-
20 aggressiv-dissozialer Störungen nicht ein dia- tionieren, soziales Verhalten, Verhalten
gnostisches Artefakt dar, sondern spiegeln tat- während des Unterrichtes, schulische Leis-
sächliche Geschlechtsunterschiede in der Häufig- tungen)?
4.1 Symptomatik
37 4

Identifizierung der Störung des Sozialverhaltens

5 Treten signifikante aggressive oder dissozi- 5 Bestehen komorbid zu der Störung des
ale Handlungen auf? Sozialverhaltens Symptome einer Aufmerk-
Liegt eine Störung des Sozialverhaltens samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
mit oppositionellem, aufsässigem Verhal- (die – vor allem bei Jugendlichen – zeitlich
ten (F91.3) oder eine Störung des Sozial- vor der Störung des Sozialverhaltens auf-
verhaltens mit offensichtlich aggressivem getreten sein können), deren Schweregrad
oder dissozialem Verhalten (F91.0, F91.1 eine eigenständige Diagnose rechtfertigen
oder F91.2) vor? würde?
5 Treten signifikante aggressive oder disso- Liegt eine hyperkinetische Störung des
ziale Handlungen lediglich im Rahmen der Sozialverhaltens (F90.1) vor?
Familie auf? 5 Bestehen komorbid zu der Störung des
Liegt eine auf den familiären Rahmen Sozialverhaltens Symptome einer emotio-
beschränkte Störung des Sozialverhaltens nalen oder anderen Befindlichkeitsstörung,
(F91.0) vor? deren Schweregrad eine eigenständige
5 Bestehen gute soziale Beziehungen zu Diagnose rechtfertigen würde?
Gleichaltrigen? Liegt eine kombinierte Störung des Sozi-
Liegt eine Störung des Sozialverhaltens alverhaltens und der Emotionen (F92)
bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) vor?
oder eine Störung des Sozialverhaltens
bei vorhandenen sozialen Bindungen Da bei den letzten beiden Fragestellungen die
(F91.2) vor? spezifische Störung des Sozialverhaltens durch
das Vorliegen einer komorbiden Störung defi-
niert ist, wird hierauf erst in 7 4.3 (»Komorbide
Störungen«) eingegangen.

5 Tritt disruptives Verhalten auch in außerfa- ten, dass Jugendliche ihr Verhalten in struk-
miliären Kontexten auf? turierten Situationen besser steuern können,
5 Sind Symptome einer Aufmerksamkeits- so dass die Diagnose einer ADHS schwie-
defizit-/Hyperaktivitätsstörung oder einer riger als bei Kindern zu stellen ist.
Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperak- 5 Treten Symptome einer emotionalen Stö-
tivität auch außerhalb des häuslichen Rah- rung (übermäßige Angst, depressive Ver-
mens festzustellen? Zur Sicherung einer stimmung) auf?
solchen Diagnose ist die Pervasivität der 5 Sofern eine Psychopharmakotherapie
Symptomatik, also ein durchgehendes Mus- erfolgt: Werden Medikamenteneffekte und/
ter der Symptomatik mit Auftreten in min- oder -nebenwirkungen festgestellt?
destens zwei Lebensbereichen/Situationen,
z. B. Schule, Familie, Untersuchungssituati- Solche Informationen können im direkten
on, erforderlich (s. Leitlinien »Hyperkine- Gespräch, telefonisch, durch schriftliche Berichte
tische Störungen«, Deutsche Gesellschaft für in freier Form oder durch Ausfüllen geeigneter
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psycho- standardisierter Beurteilungsskalen gewonnen
therapie et al. 2003). Hierbei ist zu beach- werden.
38 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

Exkurs
1 Schweigepflicht und Schweigepflichts-
die von anderen Personen (z. B. Eltern, Schule)
genannten Symptome einer Störung des Sozial-
entbindung
verhaltens nicht angegeben bzw. treten nicht auf.
2 Nach § 203 Abs. 1 des Strafgesetzbuches
Im Durchschnitt berichten Eltern und Lehrer
(StGB) ist es Angehörigen verschiedener
eine höhere Prävalenz von Störungen des Sozi-
3 Berufsgruppen (u. a. Ärzten und Psycho-
alverhaltens als die Kinder bzw. Jugendlichen
therapeuten) untersagt, Geheimnisse, die
selbst, die jedoch andere wichtige Informationen
4 ihnen bei der Berufsausübung anvertraut
wurden, unbefugt zu offenbaren. Eine Ver-
beitragen können (z. B. verdeckte aggressiv-dis-
soziale Handlungen, Substanzkonsum, Dunkel-
letzung der Schweigepflicht kann eine
5 Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe nach
felddelinquenz, Beziehungen zu Gleichaltrigen,
psychosoziales Funktionsniveau). Die Angaben
sich ziehen. Als schutzwürdig gelten alle
6 gesundheitlichen, familiären und finanziel-
von unterschiedlichen Informanten, auch wenn
diese in dem gleichen Lebensbereich mit dem
len Tatsachen, so auch, dass sich jemand
7 in ärztlicher Behandlung befindet. Nur das
Kind oder Jugendlichen Kontakt haben, können
divergieren. Da viele relevante Verhaltensweisen
unbefugte Offenbaren eines Geheimnisses
versteckt auftreten können, berichten Dritte häu-
8 ist strafbar, wenn also die Weitergabe des
fig nicht alle Symptome und schätzen das Alter
Geheimnisses ohne Zustimmung des Verfü-
bei Störungsbeginn zu hoch ein. Das Alter bei
9 gungsberechtigten und ohne ein Recht zur
Mitteilung erfolgt. Durch eine Entbindung
Beginn einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperak-
tivitätsstörung, die ja vor dem 6. Lebensjahr auf-
10 von der Schweigepflicht kann jedoch ein
Arzt oder Psychotherapeut zum Offenbaren
getreten sein muss, kann zuverlässig nur anhand
von Informationen Dritter (Eltern, Kindergar-
eines geschützten Geheimnisses berech-
11 tigt werden.
ten/Vorschule) bestimmt werden.

12 Informationsquellen
Auch Informationen über Vorbehandlungen 5 Kind/Jugendlicher
13 (psychiatrische oder psychotherapeutische 5 Erziehungsberechtigte
Behandlung, Logopädie, Ergotherapie usw.), aber 5 evtl. andere Familienmitglieder
14 auch allgemeine medizinisch relevante Informati- 5 Spielgruppe/Kindergarten/Schule
onen (z. B. über Unfälle, somatische Krankheiten, 5 evtl. »Vorbehandler«
15 sonstige medikamentöse Behandlungen) sind 5 evtl. Jugendamt, Einrichtungen der
einzuholen. Jugendhilfe, Jugendgerichtshilfe
16 Wenn bereits Kontakt zum Jugendamt
bestand, sollte nach Möglichkeit versucht wer- Die Reihenfolge des Einholen von Informa-

17 den, diesbezügliche Informationen zu bekom-


men. Dieses kann allerdings auf erhebliche Vor-
tionen kann variieren.
Beachte: Ist eine Schweigepflichtsentbin-

18 behalte der Eltern stoßen. Sofern keine kon- dung erforderlich, liegt sie ggf. vor?
krete Gefährdung des Kindeswohls droht, ist es
oft ratsam, nicht zu drängen, sondern zunächst
19 abzuwarten, um die Kooperation der Eltern und Treten signifikante aggressive oder
damit die Behandlung des Kindes nicht zu ris- dissoziale Handlungen auf?
20 kieren. Liegt eine Störung des Sozialverhaltens mit oppo-
Bei Exploration und psychiatrischer Unter- sitionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) oder
suchung des Patienten werden möglicherweise eine Störung des Sozialverhaltens mit offen-
4.1 Symptomatik
39 4

sichtlich aggressivem oder dissozialem Verhalten schnell wütend, sind oft verärgert und schrei-
(F91.0, F91.1 oder F91.2) vor (. Abb. 4.1)? ben anderen Menschen die Verantwortung für
Typische Verhaltensweisen aggressiv-disso- eigene Schwierigkeiten oder Fehler zu. Für die
zialer Störungen sind Tyrannisieren, exzessives Diagnose einer oppositionellen Störung muss
Streiten und – bei älteren Kindern oder Jugend- die Symptomatik auch außerhalb des häuslichen
lichen – Erpressung oder Gewalttätigkeit, ausge- Rahmens vorhanden sein, auch wenn meist das
prägte und unkontrollierte Wutausbrüche, Zer- Verhalten bei Interaktionen mit Erwachsenen
stören von Gegenständen, Feuerlegen, Grausam- oder Gleichaltrigen, die das Kind gut kennt, viel
keit gegenüber anderen Kindern und gegenüber offensichtlicher ist; während einer klinischen
Tieren, Stehlen. Diese Störungen treten in der Untersuchung können Hinweise auf die Störung
Regel situationsübergreifend auf, häufig in der gänzlich fehlen. Dieses Störungsbild ist charak-
Schule am offensichtlichsten. Auch situations- teristischerweise bei Kindern unter 10 Jahren
spezifisches Auftreten ist mit der Diagnose ver- zu finden; bei älteren Kindern tritt oppositio-
einbar, sofern das Verhalten nicht ausschließlich nelles Verhalten meist nicht isoliert auf, sondern
im familiären Rahmen zu beobachten ist – dann geht mit aggressivem und/oder dissozialem Ver-
ist die Diagnose einer auf den familiären Rah- halten einher, so dass dann die Diagnose einer
men beschränkten Störung des Sozialverhaltens aggressiv-dissozialen Störung des Sozialverhal-
(ICD-10 F91.0) zu stellen. Wenn deutlich aggres- tens (F91.0–F91.2) zu stellen ist.
siv-dissoziale Symptome auftreten, darf die Dia-
gnose einer Störung des Sozialverhaltens mit Treten signifikante aggressive oder
oppositionellem, aufsässigem Verhalten nicht dissoziale Handlungen lediglich im
mehr gestellt werden, auch wenn – was relativ Rahmen der Familie auf?
häufig der Fall ist – eine aggressiv-dissoziale Stö- Liegt eine auf den familiären Rahmen beschränkte
rung mit oppositionellen Symptomen oder auch Störung des Sozialverhaltens (F91.0) vor?
einer voll ausgebildeten oppositionellen Störung (. Abb. 4.1)
einhergehen kann. Die auf den familiären Rahmen beschränkte
Die Störung des Sozialverhaltens mit oppo- Störung des Sozialverhaltens (F91.0) ist nach der
sitionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) ist ICD-10 durch aggressives oder dissoziales Ver-
gekennzeichnet durch ein Muster durchgehend halten – nicht nur oppositionelles, aufsässiges
negativistischen, feindseligen, aufsässigen, pro- oder trotziges Verhalten – gekennzeichnet, wel-
vokativen und trotzigen Verhaltens. Dieses liegt ches völlig oder fast völlig auf den häuslichen
deutlich außerhalb der Grenzen des normalen Rahmen oder auf Interaktionen mit Mitgliedern
Verhaltens, verglichen mit gleichaltrigen Kin- der Kernfamilie oder der unmittelbaren Lebens-
dern; hierbei ist zu berücksichtigen, dass gele- gemeinschaft beschränkt ist. Diese Diagnose
gentliches mutwilliges oder ungezogenes Verhal- darf nur dann gestellt werden, wenn außerhalb
ten Teil der normalen Entwicklung von Kindern des familiären Rahmens keine bedeutsamen
ist. Kinder mit einer oppositionellen Störung Symptome einer Störung des Sozialverhaltens
missachten häufig und aktiv Anforderungen oder auftreten und sich die sozialen Beziehungen des
Regeln Erwachsener und zeigen exzessive Grob- Kindes oder Jugendlichen außerhalb der Familie
heit, Unkooperativität und Widerstand gegen im normalen Rahmen bewegen. Zu beachten ist,
Autorität. Typischerweise hat ihr Trotz eine dass die allgemeinen Kriterien einer Störung des
deutlich provokative Qualität, so dass sie Kon- Sozialverhaltens erfüllt sein müssen; auch eine
frontationen hervorrufen. Sie ärgern gezielt und schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehung allein
überlegt Erwachsene und Gleichaltrige, haben rechtfertigt die Diagnose nicht.
eine geringe Frustrationstoleranz und werden
40 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Leitsymptom(e) gesichert für Diagnose


»Störung des Sozialverhaltens«

2
(mit Schweregrad und Dauer)

3 Deutliche Aggressivität
und/oder Dissozialität?
4
nein ja
5 Störung des Sozialverhaltens
Disruptives Verhalten
6
mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
auch außerhalb der Familie?
(F91.3)

7 nein ja

Störung des Sozialverhaltens,


8 auf den familiären Rahmen beschränkt
Freunde
vorhanden?
(F91.0)
9 nein ja

10 Störung des Sozialverhaltens Störung des Sozialverhaltens


bei fehlenden sozialen Bindungen bei vorhandenen sozialen Bindungen
11 (F91.1) (F91.2)

12 . Abb. 4.1. Störungen des Sozialverhaltens (F91). (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«, Deutsche Ge-
sellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
13
14 Beispiel Bestehen gute soziale Beziehungen zu
Auftreten können: Stehlen zu Hause, oft auf Geld Gleichaltrigen?
15 oder Gegenstände von ein oder zwei bestimmten Per- Liegt eine Störung des Sozialverhaltens bei feh-
sonen beschränkt; vorsätzlich destruktives Verhalten, lenden sozialen Bindungen (F91.1) oder eine Stö-
16 meist beschränkt auf bestimmte Familienmitglieder, rung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozi-
z. B. Zerstören von Spielzeug oder Schmuck, Zerrei- alen Bindungen (F91.2) vor? (. Abb. 4.1)

17 ßen von Kleidungsstücken; Schnitzen an Möbeln oder


Zerstören teurer Gegenstände; auf den häuslichen
Bei einer Störung des Sozialverhaltens bei
vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) ist das

18 Rahmen begrenztes Feuerlegen; Gewaltanwendung


gegen Familienmitglieder.
wesentliche Unterscheidungskriterium, dass die
Einbindung in die Gruppe der Gleichaltrigen
gut ist und angemessene, andauernde Freund-
19 Relevant ist auch, welche Faktoren dazu beitra- schaften bestehen, während die Beziehungen zu
gen, dass außerhalb der Familie keine deutlichen Erwachsenen häufig schlecht sind. Die Bezie-
20 Symptome einer Störung des Sozialverhaltens hungen zu Gleichaltrigen sind oft durch gemein-
auftreten. same dissoziale Handlungen und aggressives
Verhalten gegenüber anderen, nicht zur Bezugs-
4.1 Symptomatik
41 4

gruppe gehörenden Personen gekennzeichnet, prognostisch bedeutsam, denn aggressive Kin-


und solche gemeinschaftlichen Handlungen der mit beeinträchtigten sozialen Bindungen
stellen eine wichtige Quelle des Zusammenge- begehen im Erwachsenenalter mehr Gewaltde-
hörigkeitsgefühls dar (Grotpeter u. Crick 1996). likte als besser sozialisierte Kinder (Henn et al.
Wenn das aggressiv-dissoziale Verhalten auch 1980). Häufig findet sich eine gewisse begleiten-
das Tyrannisieren von anderen Kindern oder de emotionale Symptomatik; falls diese so aus-
Jugendlichen umfasst, können natürlich gestör- geprägt ist, dass die Kriterien einer emotionalen
te Beziehungen zu den Opfern oder zu einigen Störung erfüllt sind, ist die Diagnose einer kom-
anderen Gleichaltrigen bestehen; dieses schließt binierten Störung des Sozialverhaltens und der
jedoch die Diagnose nicht aus, wenn das Kind Emotionen (F92) zu stellen (7 2.4).
oder der Jugendliche sich zu irgendeiner Grup- Neben der Beantwortung der diagnostischen
pe Gleichaltriger loyal verhält und anhaltende Leitfragen sind der aktuelle psychische Status
Freundschaften hat. Der Betroffene kann auch des Kindes/Jugendlichen sowie Informationen
einer nichtdevianten Peer-Gruppe angehören zu seiner aktuellen Lebenssituation relevant.
und sein eigenes aggressiv-dissoziales Verhalten
außerhalb dieses Rahmens ausüben. Emotionale
Symptome bestehen kaum. Oft ist die Störung 4.1.3 Psychischer Status des Kindes/
außerhalb des familiären Rahmens am deut- Jugendlichen
lichsten sichtbar.
Bei einer Störung des Sozialverhaltens bei Diesbezügliche Informationen (einschließlich
fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) liegt Eigen-/Fremdgefährdung, Substanzmissbrauch)
eine deutliche und umfassende Beeinträchti- werden vor allem über die Beobachtung und
gung der Beziehungen des betroffenen Kindes Exploration des Kindes/Jugendlichen, aber auch
oder Jugendlichen zu anderen Menschen vor, durch Angaben von Eltern, Lehrern u. a. gewon-
wobei das wesentliche Unterscheidungsmerk- nen.
mal gegenüber den »sozialisierten« Störungen Weitere relevante Merkmale sind:
des Sozialverhaltens das Fehlen einer wirksamen 5 Temperamentsfaktoren (u. a. »sensation see-
Einbindung in eine Peer-Gruppe ist. Sofern kon- king«, Irritierbarkeit)
fliktfreie Beziehungen zu Erwachsenen beste- 5 Impulsivität (auch dann, wenn keine wei-
hen, die jedoch meist keine enge, vertrauensvolle teren Symptome einer ADHS vorliegen),
Qualität haben, schließen sie die Diagnose nicht Umgang mit und Ausleben von Impulsen,
aus. Oft sind jedoch auch die Beziehungen zu Frustrationstoleranz
Erwachsenen durch Unstimmigkeiten, Verärge- 5 Emotionsregulation, Umgang mit Ärger
rung und Feindseligkeit gekennzeichnet. Gestör- 5 Kognitives Funktionsniveau (Wahrneh-
te Beziehungen zu Gleichaltrigen zeigen sich als mung, Aufmerksamkeit, Konzentration,
soziale Isolation, Zurückweisung oder Unbe- Gedächtnis, Intelligenz)
liebtsein bei anderen Kindern oder Jugendlichen 5 Soziale Wahrnehmungs- und Attributions-
und Fehlen länger dauernder Freundschaften mit fehler
Gleichaltrigen. Aggressive Übergriffe und disso- 5 Fähigkeit zu Selbstreflexion und Übernahme
ziale Handlungen werden charakteristischerwei- von Verantwortung für eigene Handlungen
se allein begangen, aber manchmal kommt es 5 Fähigkeit zu Perspektivübernahme und
trotz der sozialen Isolation zu einer Verwicklung Empathie
in Gruppenvergehen, so dass für die Diagno- 5 Bindungsfähgkeit
se die Art der Übergriffe weniger wichtig ist als 5 Soziale Ansprechbarkeit (Reagieren auf Lob/
die Qualität der Beziehungen. Letzteres ist auch Kritik)
42 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

5 Kontrollüberzeugungen
1 5 Selbstbild.
derlich, Schweigepflichtsentbindung einholen!).
Relevant sind:
5 Prä-, peri- und postnatale Anamnese: u. a.
2 mütterlicher Alkohol- und/oder Drogen-
4.1.4 Aktuelle Lebenssituation des missbrauch, Medikamenteneinnahme,
3 Kindes/Jugendlichen Infektionskrankheiten, prä-, peri- und post-
natale Komplikationen
4 Diesbezügliche Informationen werden über die 5 Entwicklungsanamnese (u. a. Meilensteine
Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen selbst, der Entwicklung: motorische Entwicklung,
5 durch Befragung Dritter sowie gegebenenfalls Sprachentwicklung, Sauberkeitsentwicklung;
durch die Sichtung von Unterlagen (Zeugnisse, motorische, sensorische und/oder kognitive
6 Akten) gewonnen. Relevant sind:
5 Beziehungen zwischen den Familienmitglie-
Entwicklungsprobleme)
5 Medizinische Anamnese, insbesondere hirn-

7 dern
5 Beziehungen zu Gleichaltrigen (soziale
organische Beeinträchtigungen (u. a. Schä-
del-Hirn-Trauma, zerebrale Infektionen,
Akzeptanz, Isolation oder Zurückweisung, Epilepsie, systemische Erkrankungen mit
8 Viktimisierung, Freundschaften, Partnerbe- Auswirkungen auf das Gehirn), aber auch
ziehungen, Anschluss an eine deviante Peer- andere Krankheiten und Behinderungen
9 Gruppe, Einbindung in Gruppen mit proso- 5 Bezugspersonenwechsel und Bindung in
zialen Aktivitäten) den ersten Lebensjahren
10 5 Schulische bzw. berufliche Situation (aktu- 5 Vorgeschichte bezüglich des Status als Stief-
eller Leistungsstand, Leistungsentwicklung, kind, Adoptionen, Platzierung in Pflegefa-
11 Fehlzeiten, soziales Verhalten; Übermüdung, milien oder Heimen (auch hinsichtlich Bin-
Verlangsamung oder ungewöhnliche Affekt- dungsentwicklung und Beziehungsabbrü-
12 ausbrüche als Hinweis auf Substanzabusus)
5 Lebensstil (auch Risikoverhalten), vorherr-
chen)
5 Entwicklung in Kindergarten und Schu-
schende Motive le (intellektuelle Leistungsfähigkeit, Spra-
13 5 Ressourcen und Defizite, bezogen auf Fami- che, Aufmerksamkeit und Konzentration,
lie, Schule, Gleichaltrige, Freizeitverhalten Impulsivität, motorische Unruhe, Verhalten
14 5 Aktuelle psychosoziale Belastungsfaktoren im Umgang mit Gleichaltrigen und Erwach-
5 Delinquenz (Gefährdung Dritter?), anhän- senen, soziale Beziehungen, Verhalten im
15 gige Gerichtsverfahren Unterricht, schulische Leistungsschwierig-
keiten, spezifische Störungen schulischer
16 Fertigkeiten, Beziehungsabbrüche durch
4.2 Störungsspezifische Klassen-/Schulwechsel oder Schulverweis,
17 Entwicklungsgeschichte Viktimisierung durch Mitschüler, Sünden-
bockposition bei Lehrern, Schulschwänzen,

18 Diesbezügliche Informationen werden vor allem


über die Befragung der Eltern, zum Teil auch
Schulverweigerung); evtl. bisherige Schulab-
schlüsse, evtl. Berufsausbildung
des Kindes bzw. Jugendlichen selbst, sowie gege- 5 Soziale Entwicklung: Vorgeschichte bezüg-
19 benenfalls durch die Befragung weiterer Per- lich der Beziehungen zu Eltern und
sonen (z. B. Lehrer, Vorbehandler, Mitarbeiter Geschwistern, anderen Erwachsenen im
20 der Jugendhilfe) und die Sichtung von Unterla- nahen Umfeld und Gleichaltrigen; Art der
gen (Zeugnisse, Akten) gewonnen (falls erfor- Beziehungsgestaltung, soziales Netzwerk,
Zurückweisung durch Gleichaltrige, Vikti-
4.3 Komorbide Störungen
43 4

misierung (auch Viktimisierung Dritter), gleichzeitig (Begleitstörung) oder sukzessiv (Fol-


Freundschaften, Partnerbeziehungen, Ein- gestörung) auftreten kann. Komorbide Störungen
bindung in prosoziale Gruppen, Zugehörig- können – müssen aber nicht – in einem kausalen
keit zu einer devianten Peer-Gruppe Zusammenhang zueinander stehen.
5 Sexuelle Entwicklung allgemein
5 Vorgeschichte bezüglich körperlicher/sexu- Bei ungefähr der Hälfte der Kinder und Jugend-
eller Misshandlung (einschließlich körper- lichen mit einer Störung des Sozialverhaltens
licher/sexueller Misshandlung Dritter) liegen komorbide Störungen vor, am häufigs-
5 Andauernde psychosoziale Stressoren ten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
5 Verlauf psychiatrischer Vorerkrankungen störung, depressive und Angststörungen sowie
und etwaige Behandlungen Substanzmissbrauch. Von Bedeutung sind auch
5 Suizidversuche in der eigenen Vorgeschich- komorbide psychiatrische Symptome, welche die
te, von Familienmitgliedern oder Peers? diagnostische Schwelle für die Diagnose der ent-
5 Verlauf von Alkohol- und Substanzkonsum sprechenden Störung nicht erreichen.
(Beginn, Substanzwechsel, Konsummus- Nachfolgend werden klinisch-psychiatrische
ter; Auswirkungen auf die Beziehungen zu Störungen der Achse I des Multiaxialen Klas-
Familienmitgliedern und Gleichaltrigen, auf sifikationssystems (MAS; Remschmidt et al.
schulische bzw. berufliche Leistungen und 2001) dargestellt, die komorbid zu einer Stö-
Freizeitverhalten) rung des Sozialverhaltens auftreten können und
5 Verlauf von Symptomen einer Störung des für die Behandlungsplanung relevant sein kön-
Sozialverhaltens (einschließlich der Auswir- nen (7 6.2.6). Mit der Frage, ob die bei einem
kungen auf die Beziehungen zu Familien- Patienten festgestellten disruptiven Symptome
mitgliedern und Gleichaltrigen, auf schu- nicht ausschließlich im Rahmen einer anderen
lische bzw. berufliche Leistungen und Frei- psychischen Störung zu erklären sind, beschäf-
zeitverhalten) tigt sich ▶Abschn. 5.3. Ausschlussdiagnosen für
5 Bestrafte Delinquenz und Dunkelfelddelin- Störungen des Sozialverhaltens kommen in die-
quenz, also die von den Strafverfolgungs- sem Kapitel nicht vor, da diese Diagnosen defi-
behörden nicht registrierten Taten, sowie nitionsgemäß gerade nicht zusammen mit der
anhängige Verfahren Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens
5 Höchstes erreichtes Funktionsniveau gestellt werden dürfen (7 2.5).

4.3 Komorbide Störungen

? Diagnostische Leitfrage
Bestehen weitere komorbide psychiatrische
Störungen auf der Achse I des Multiaxialen
Klassifikationssystems?

Definition
Mit Komorbidität wird das Auftreten von mehr
als einer spezifisch diagnostizierbaren Störung
bei einer Person in einem definierten Zeitinter-
vall bezeichnet, wobei eine komorbide Störung
44 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Komorbide Achse I-Störungen


Regel als die Ausnahme. Weitere Risikofaktoren
für Substanzabusus sind Impulsivität, »sensati-
5 Psychische und Verhaltensstörungen
on seeking«, psychosoziale Belastungen, Trau-
2 durch psychotrope Substanzen (F1)
matisierung in der Vorgeschichte, Zugehörigkeit
5 Depressive Störung
zu einer delinquenten und vor allem substanz-
3 → Dann zu stellende Diagnose: Störung
konsumierenden Peer-Gruppe. Meist tritt die
des Sozialverhaltens mit depressiver
Störung des Sozialverhaltens zeitlich vor dem
4 Störung (F92.0)
5 Neurotische, Belastungs- und soma-
Beginn regelmäßigen Substanzgebrauches auf,
der wiederum die dissoziale Entwicklung ver-
5 toforme Störungen; Emotionale Stö-
rungen des Kindesalters
stärkt, aber auch die Wahrscheinlichkeit interna-
lisierender Störungen wird durch ausgeprägten
→ Dann zu stellende Diagnose: Sonstige
6 kombinierte Störung des Sozialverhal-
Substanzabusus erhöht. Bei häufigem Konsum
von Cannabis steigt die Wahrscheinlichkeit, dass
tens und der Emotionen (F92.8)
7 5 Bulimia nervosa (F50.2)
später andere illegale Drogen konsumiert wer-
den. In diesem Sinn ist Cannabis tatsächlich
5 Nichtorganische Schlafstörungen (F51)
eine »Einstiegsdroge«, wobei dieser Effekt nicht
8 5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-
(allein) als pharmakologischer Effekt zu erklä-
tätsstörung
ren ist, sondern vor allem durch psychosozi-
9 → Dann zu stellende Diagnose: Hyper-
ale Risikofaktoren vermittelt wird. Bei Jugend-
kinetische Störung des Sozialverhal-
lichen mit Substanzkonsum und -abusus ist die
10 tens (F90.1)
5 Ticstörungen (F95)
Wahrscheinlichkeit risikoreichen Sexualverhal-
tens erhöht, u. a. aufgrund ihrer häufig ohnehin
5 Enuresis (F98.0)
11 5 Enkopresis (F98.1)
schon erhöhten Impulsivität, aber auch aufgrund
der intoxikationsbedingten Einschränkung von
5 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyper-
12 aktivität (F98.8)
Urteils- und Kontrollfähigkeit.

Explorationspunkte
13 Substanzkonsum wird häufig von Jugendlichen
Psychische und Verhaltensstörungen durch nicht ohne Weiteres eingeräumt, noch weni-
14 psychotrope Substanzen (F1) ger von sich aus genannt. Es sollte also direkt
Dass disruptives Verhalten ausschließlich im und spezifisch danach gefragt werden. Folgende
15 Rahmen von Substanzgebrauch – z. B. als Punkte sind bei der Exploration bezüglich Subs-
Beschaffungskriminalität bei Drogenabhängig- tanzgebrauchs relevant (s. auch Leitlinie »Psy-
16 keit oder als wiederkehrendes aggressives Ver- chische und Verhaltensstörungen durch psycho-
halten unter Alkoholintoxikation – auftritt, ist trope Substanzen«, Deutsche Gesellschaft für
17 selten; in der Regel besteht im Jugendalter eine
Störung durch psychotrope Substanzen komor-
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe-
rapie et al. 2003):
5 Suchtmittelanamnese:
18 bid mit einer Störung des Sozialverhaltens. Ins-
besondere früh beginnender, ausgeprägter und – Zigarettenrauchen
anhaltender Substanzabusus (Nikotin, Alko- – Alkohol: wann erster Konsum, erster
19 hol, illegale Drogen) ist mit aggressiv-dissozi- Vollrausch, Beginn eines regelmäßigen
alen Störungen mit Beginn in der Kindheit sowie Konsums, in welcher Menge?
20 dem Vorliegen einer komorbiden Aufmerksam- – Welche illegalen Substanzen?
keitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung assoziiert; – Für jede genannte illegale Substanz:
hierbei ist multipler Substanzkonsum eher die wann erster Konsum, Beginn eines regel-
4.3 Komorbide Störungen
45 4

mäßigen Konsums, Dauer und Intensität Kodierung jeweils die relevante Substanz(klasse)
des Konsums im zeitlichen Verlauf? einzusetzen.
– i.v.-Konsum von Drogen? Körperliche Um Gewissheit über die konsumierten Subs-
Entgiftungen, Entwöhnungen, Absti- tanzen zu bekommen, ist es ratsam, Bestätigung
nenzphasen? aus mehreren Quellen zu suchen (eigene Anga-
5 Ausmaß des aktuellen Substanzgebrauches ben des Patienten, klinische Symptome, Analy-
5 Subjektiv erlebte Drogenwirkungen (Stim- se von Urin- oder Blutproben, Substanzbesitz,
mungsänderungen vor, während und nach fremdanamnestische Angaben). Auch wenn viele
dem Konsum, als unangenehm erlebte Into- Betroffene mehrere Substanzen zu sich nehmen,
xikations- oder Entzugssymptome) sollte die Diagnose möglichst entsprechend der
5 Bisherige negative Konsequenzen des Subs- am häufigsten gebrauchten Substanz oder Subs-
tanzgebrauchs im schulischen Bereich (z. B. tanzklasse gestellt werden oder aber entspre-
schlechte Leistungen, Fehlen in der Schu- chend derjenigen, welche die gegenwärtige Stö-
le), familiären und weiteren psychosozialen rung hervorgerufen hat. Nur wenn die Substanz-
Umfeld aufnahme chaotisch und wahllos verläuft, sollte
5 Intensität der Beschäftigung mit dem Subs- die Kategorie Störungen durch multiplen Subs-
tanzgebrauch, Vernachlässigung früherer tanzgebrauch (F19) gewählt werden.
Freunde und Hobbys zugunsten von Subs- Substanzspezifische Intoxikationssymptome
tanzbeschaffung und -konsum? werden in 7 Abschn. 5.3 dargestellt. Angaben
5 Tagesablauf (Aktivitäten mit Bezug vs. ohne zum Nachweis der einzelnen Substanzen finden
Bezug zum Substanzgebrauch) sich in 7 Abschn. 4.5.4.
5 Zugehörigkeit zu devianter Peer-Gruppe?
5 Kontext des Substanzgebrauches, diesbezüg- Klinische Erscheinungsbilder
liche Einstellungen und tatsächlicher Subs- Die klinischen Erscheinungsbilder werden durch
tanzgebrauch in der Peer-Gruppe die Stellen nach dem Punkt, also ab der vierten
5 Riskantes Sexualverhalten (im intoxikierten Stelle der ICD-10-Kodierung, gekennzeichnet,
und nichtintoxikierten Zustand)? wobei nicht alle Kodierungen für alle Substan-
5 Finanzierung des Substanzgebrauches: Dieb- zen sinnvoll anzuwenden sind.
stähle, Einbrüche, Dealen, Prostitution
(gelegentlich auch bei männlichen Jugend- Akute Intoxikation. Eine akute Intoxikati-
lichen!), Schulden? on (F1x.0) ist ein vorübergehendes Zustands-
5 Bisherige Strafen aufgrund von Verstößen bild nach Aufnahme psychotroper Substanzen
gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), mit Veränderungen oder Störungen von kör-
Eigentumsdelikten oder aggressiven Hand- perlichen Funktionen, psychischen Funktionen
lungen im Zusammenhang mit dem Subs- (Bewusstsein, Wahrnehmung, Kognition, Af-
tanzkonsum? fekt) oder Verhalten. Mit Abnahme der Intoxi-
5 Aktuelle aufrechterhaltende Faktoren für kation verschwinden die Symptome ohne erneu-
den Substanzgebrauch te Substanzzufuhr nach einiger Zeit vollständig.
5 Wichtigste Bezugsperson des Jugendlichen, Diese Diagnose darf nur dann als Hauptdiagno-
die sein Vertrauen genießt und durch die er se gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der In-
eventuell erreicht werden kann. toxikation keine länger dauernden Probleme mit
psychotropen Substanzen bestehen; anderen-
Bei der Klassifikation der psychischen und Ver- falls haben die Diagnosen schädlicher Gebrauch
haltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1x.1), Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) oder psy-
(F1) ist für das x an der dritten Stelle der ICD-10- chotische Störung (F1x.5) Vorrang.
46 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Schädlicher Gebrauch. Ein schädlicher Ge-


brauch (F1x.1) ist dann zu diagnostizieren, wenn
ten des Substanzkonsums, erhöhter Zeit-
aufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu
das Konsumverhalten zu einer Gesundheitsschä- konsumieren oder sich von den Folgen des
2 digung führt. Hierbei kann es sich um eine kör- Konsums zu erholen
perliche Störung (z. B. Hepatitis durch i.v.-Kon- 5 Anhaltender Substanzkonsum trotz Nach-
3 sum von Substanzen, toxische Organschäden weis eindeutiger schädlicher körperlicher,
durch Inhalation von organischen Lösungsmit- psychischer oder sozialer Folgen
4 teln) oder um eine psychische Störung (z. B. de- 5 Körperliches Entzugssyndrom (s. F1x.3 und
pressive Episode infolge massiven Alkoholkon- F1x.4) bei Reduktion oder Beendigung des
5 sums) handeln. Auch wenn bei Jugendlichen Konsums, erkennbar an den substanzspezi-
durch den Substanzgebrauch deutliche negati- fischen Entzugssymptomen oder der Auf-
6 ve psychosoziale Konsequenzen auftreten, wie
schädliche impulsive Handlungen unter Subs-
nahme der gleichen oder einer nahe ver-
wandten Substanz, um Entzugssymptome zu

7 tanzeinfluss, Schulversagen oder Beeinträchti-


gung der sozialen Beziehungen, ist diese Dia-
vermindern oder zu vermeiden.

gnose zu stellen (Leitlinie »Psychische und Ver- Entzugssyndrom. Ein Entzugssyndrom (F1x.3)
8 haltensstörungen durch psychotrope Substan- verläuft bei Jugendlichen aufgrund des kürze-
zen«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Ju- ren Zeitraumes des Substanzmissbrauches meist
9 gendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003; milder als bei Erwachsenen. Häufige Symptome
American Academy of Child and Adolescent sind Gespanntheit, Gereiztheit, Unruhe, Schlaf-
10 Psychiatry 1997). Häufig werden neben dem Be- störungen und vegetative Beschwerden wie
griff »schädlicher Gebrauch« auch die Begriffe Schweißausbrüche und gelegentlich Kreislauf-
11 »Missbrauch« oder »Abusus« verwendet. beschwerden; auch ein Einbruch der Stimmung
im Sinne einer depressiven oder sogar suizidalen
12 Abhängigkeitssyndrom. Bei einem Abhän-
gigkeitssyndrom (F1x.2) besteht der starke, ge-
Krise ist möglich. Beginn und Verlauf der Ent-
zugssymptome sind zeitlich limitiert und abhän-
legentlich übermächtige Wunsch, Substanzen gig von der Substanz und Dosis, die vor dem Ab-
13 oder Medikamente zu konsumieren. Diese Dia- setzen verwendet wurde. Jugendliche reagieren
gnose sollte nur dann gestellt werden, wenn drei auf mögliche Entzugserscheinungen oft ängstli-
14 oder mehr der nachfolgend genannten Kriterien cher als Erwachsene, was zu einer ausgeprägten
gleichzeitig mindestens einen Monat lang oder Aggravierung der Symptomatik führen kann.
15 innerhalb von 12 Monaten wiederholt aufgetre- Ein Entzugssyndrom kann jedoch auch bei Ju-
ten sind: gendlichen durch Krampfanfälle kompliziert
16 5 Starker Wunsch oder eine Art subjektiver werden. Die Entzugssymptomatik kann in sehr
Zwang, die psychotrope Substanz zu konsu- abgeschwächter Form noch etwa 3–4 Monate
17 mieren (»Craving«)
5 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des
fortbestehen, z. B. in Form von innerer Unruhe
und leichten Schlafstörungen.

18 Beginns, der Beendigung und der Menge


des Konsums Psychotische Störung. Der Gebrauch psycho-
5 Toleranzentwicklung: um die ursprüng- troper Substanzen kann mit einer psychotischen
19 lich durch niedrigere Dosen erreichten psy- Störung (F1x.5) einhergehen, deren Sympto-
chotropen Wirkungen hervorzurufen, sind matik einer nichtsubstanzinduzierten psycho-
20 zunehmend höhere Dosen erforderlich tischen Störung ähneln oder gleichen kann, je-
5 Fortschreitende Vernachlässigung ande- doch gewöhnlich während oder unmittelbar
rer Interessen oder Vergnügungen zuguns- nach dem Substanzgebrauch auftritt und typi-
4.3 Komorbide Störungen
47 4

scherweise innerhalb eines Monats zumindest Bulimia nervosa (F50.2)


teilweise, innerhalb von 6 Monaten vollständig Von den Essstörungen kann vor allem eine Buli-
zurückgeht. Diesbezüglich relevante Substan- mie komorbid mit einer Störung des Sozialver-
zen sind Cannabis, Amphetamin, LSD, Ecstasy, haltens auftreten, mit erhöhter Impulsivität als
Alkohol, psychotrope Alkaloide, organische Lö- einem möglichen gemeinsamen Faktor. Das
sungsmittel, Alkohol und Kokain; insbesondere Stehlen von Nahrungsmitteln im Rahmen einer
bei multiplem Substanzkonsum ist die Gefahr ei- Bulimie sollte jedoch nicht als Störung des Sozi-
ner psychotischen Störung erhöht. alverhaltens klassifiziert werden, wenn sonstige
Kinder- und jugendpsychiatrisch relevant dissoziale oder aggressive Handlungen fehlen.
aus der diagnostischen Kategorie F1x.7 (Rest-
zustand und verzögert auftretende psychotische Nicht-organische Schlafstörungen (F51)
Störung) sind die Flashbacks oder Nachhallzu- Ausgeprägte Schlafstörungen, z. B. in Form mul-
stände (F1x.70), die u. a. nach LSD-Konsum tipler Apnoe-Episoden im Schlaf, können oppo-
auftreten können, sowie die durch psychotrope sitionelles und aggressives Verhalten klinisch
Substanzen induzierte Persönlichkeits- oder Ver- signifikant verstärken (Chervin et al. 2003).
haltensstörung (F1x.71), z. B. nach chronischem Dementsprechend kann eine effektive Behand-
Lösungsmittelabusus. lung einer komorbiden Schlafstörung eine deut-
liche Verminderung aggressiven Verhaltens
Depressive Störung → Störung des bewirken (Pakyurek et al. 2002).
Sozialverhaltens mit depressiver Störung
(F92.0) Aufmerksamkeitsdefizit-/
Nach der ICD-10 ist die Diagnose einer Störung Hyperaktivitätsstörung → Hyperkinetische
des Sozialverhaltens mit depressiver Störung Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
(F92.0) dann zu stellen, wenn neben einer Stö- Sind neben den Kriterien einer Störung des Sozi-
rung des Sozialverhaltens gleichzeitig auch eine alverhaltens auch die Kriterien für eine einfache
depressive Störung aus dem Kapitel F3 besteht Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung oder
(7 2.4). Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö-
rung (F90.0) erfüllt, liegt nach der ICD-10 eine
Neurotische, Belastungs- und somatoforme hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
Störungen; Emotionale Störungen des (F90.1) vor (7 2.4).
Kindesalters → Sonstige kombinierte
Störung des Sozialverhaltens und der Ticstörungen (F95)
Emotionen (F92.8) Im Rahmen von Ticstörungen treten motorische
Eine sonstige kombinierte Störung des Sozialver- Tics (z. B. Blinzeln, Kopfrucken, Schulterzucken,
haltens und der Emotionen wird diagnostiziert, bis hin zum Auftreten komplexer Bewegungsab-
wenn neben einer Störung des Sozialverhaltens läufe) und/oder vokale Tics (z. B. Räuspern, Bel-
gleichzeitig auch eine emotionale Störung des len, Quieken, Ausstoßen von Worten bis hin zur
Kindesalters (F93) oder eine neurotische, Belas- Koprolalie, dem zwanghaften Gebrauch obszöner
tungs- oder somatoforme Störung (F4) vor- Worte) auf. Tics sind dadurch gekennzeichnet,
liegt, also anhaltende, eindeutige Symptome wie dass sie plötzlich auftreten, rasch ablaufen und
Angst, Furcht, Phobien, Zwangsgedanken oder - weitgehend unwillkürlich sind, auch wenn sie
handlungen, Depersonalisations- oder Dereali- vorübergehend unterdrückt werden können.
sationsphänomene oder Hypochondrie (7 2.4). Bei einer vorübergehenden Ticstörung (F95.0)
treten einzelne oder multiple motorische oder
vokale Tics für einen Zeitraum von nicht mehr
48 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 als 12 Monaten auf, bei der chronischen moto-


rischen oder vokalen Ticstörung (F95.1) länger
Zusammenhang, der größer für die sekundäre
Enkopresis – bei der das Einkoten nach Erlangen
als ein Jahr. Beim Tourette-Syndrom (F95.2) tre- der Darmkontrolle erneut auftritt – als für die
2 ten kombinierte vokale und multiple motorische primäre Enkopresis ist. Zu bedenken ist jedoch,
Tics auf, die in ihrer Anzahl, Lokalisation, Häu- dass eine sekundäre Enkopresis häufiger als eine
3 figkeit, Intensität und Komplexität zeitlich vari- primäre Enkopresis mit ungünstigen psycho-
ieren. Wenn Patienten mit Störungen des Sozial- sozialen Bedingungen einhergeht (Foreman u.
4 verhaltens zusätzlich eine Ticstörung aufweisen, Thambirajah 1996), die für die Entstehung und
könnte auch eine komorbide Aufmerksamkeits- Aufrechterhaltung sowohl der Störung des Sozi-
5 defizit-/Hyperaktivitätsstörung vorliegen, die alverhaltens als auch der sekundären Enkopresis
mit beiden Störungen überzufällig häufig asso- relevant sein können. Erfolgreiche Behandlung
6 ziiert ist. einer Enkopresis vermindert disruptives Verhal-
ten; umgekehrt erschwert ein hohes Ausmaß dis-
Enuresis (F98.0)
7 Unter einer Enuresis wird die normale, voll-
ruptiven Verhaltens die Behandlung einer Enko-
presis (Young et al. 1995). Ein relevanter patho-
ständige Blasenentleerung zur falschen Zeit am genetischer Faktor für eine Enkopresis kann ein
8 falschen Ort verstanden, während eine Harnin- komorbides Aufmerksamkeitsdefizit sein, wel-
kontinenz durch unwillkürlichen Harnab- ches sich auch auf die Propriozeption bezieht,
9 gang mit strukturell, neurogen oder funktionell so dass der Füllungsdruck im Rektum unzurei-
bedingter Blasendysfunktion gekennzeichnet ist. chend wahrgenommen wird.
10 Verschiedene Risikofaktoren erhöhen sowohl
die Wahrscheinlichkeit einer Enuresis nocturna Aufmerksamkeitsstörung ohne
11 als auch die Wahrscheinlichkeit disruptiven Ver- Hyperaktivität (F98.8)
haltens, u. a. niedriger sozioökonomischer Sta- Wenn eine Aufmerksamkeitsstörung ohne
12 tus, männliches Geschlecht, größere psychosozi-
ale Belastung der Familie, chronischer Konflikt
Hyperaktivität komorbid zu einer Störung des
Sozialverhaltens auftritt, sind beide Störungen
der Eltern. Auch unter statistischer Berücksich- separat zu kodieren (nicht die Kombinations-
13 tigung solcher Variablen zeigt sich im Jugendal- diagnose F90.1, für die neben einer Störung des
ter jedoch ein Zusammenhang zwischen Enure- Sozialverhaltens eine ADHS mit Aufmerksam-
14 sis nocturna und ADHS, während ein Zusam- keitsdefizit und Hyperaktivität erforderlich ist!).
menhang zwischen Enuresis nocturna und Eine reine Aufmerksamkeitsstörung kann leicht
15 disruptivem Verhalten nicht eindeutig belegt übersehen werden, ist jedoch ebenfalls für die
ist (Fergusson u. Horwood 1994; Rey et al. 1995) Behandlungsplanung relevant.
16 und eventuell durch komorbides Vorliegen einer
ADHS vermittelt wird. Eine Harninkontinenz bei
17 Miktionsaufschub geht dagegen häufiger nicht
nur mit einer ADHS, sondern auch mit einer
4.4 Störungsrelevante
Rahmenbedingungen
18 oppositionellen Störung einher (Leitlinie »Enu-
resis und funktionelle Harninkontinenz«, Deut- Hier geht es sowohl um auslösende Bedingungen,
sche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychi- die in der Vorgeschichte zur Entstehung der Stö-
19 atrie und Psychotherapie et al. 2003). rung des Sozialverhaltens beigetragen haben,
aber möglicherweise keine aktuelle Bedeutung
20 Enkopresis (F98.1) mehr haben, als auch um aufrechterhaltende
Zwischen den Störungen des Sozialverhaltens Bedingungen, die in der aktuellen Situation zum
und der Enkopresis besteht ein statistischer Fortbestehen der Störung beitragen, aber nicht
4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen
49 4

Störungsrelevante Rahmenbedingungen

Elterliches Erziehungsverhalten Intrafamiliäre Beziehungen


5 Elterliche Anforderungen: mangelnde 5 Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre
Übereinstimmung zwischen Eigenschaften Kommunikation (z. B. widersprüchliche Bot-
des Kindes und elterlichen Erwartungen, schaften, Nichteingehen auf Mitteilungen
Überforderung oder Unterforderung des von anderen, fruchtlose Auseinanderset-
Kindes? zungen, regelmäßige Verleugnung fami-
5 Mangelnde Struktur, Gewährenlassen, liärer Schwierigkeiten oder Zurückweisen
ungenügende und inkonsistente Handha- von Versuchen zur Problemlösung)? Strate-
bung von Regeln und Absprachen? gien für den Umgang mit interpersonellen
5 Wie werden Aufträge erteilt? Konflikten?
5 Art der Grenzsetzungen? 5 Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Bezie-
5 Willkürliche, für das Kind unvorhersehbare hung?
Reaktionen und Sanktionen? 5 Feindliche Ablehnung des Kindes oder
5 Art von Belohnungen (sozial, materiell), Zuweisung einer »Sündenbockposition«?
werden versprochene Belohnungen auch 5 Körperliche und/oder sexuelle Misshand-
realisiert? lung des Kindes oder anderer Familienmit-
5 Art der Strafe (mild, direkt nach dem Fehl- glieder (Lernen am Modell, Viktimisierung)?
verhalten des Kindes, mit für das Kind ver- 5 Anhaltende Disharmonie zwischen erwach-
ständlicher Erklärung, häufiges ärgergelei- senen Familienmitgliedern? Negativ ver-
tetes und/oder hartes Bestrafen?) änderte intrafamiliäre Beziehungen durch
5 Verhältnis zwischen Belohnung und Bestra- neue Familienmitglieder?
fung? Wenig Bekräftigung oder gar Bestra-
fung sozial erwünschten Verhaltens?
Psychische Störung, abweichendes Verhal-
5 Koersive Interaktionen zwischen Eltern und
ten oder Behinderung in der Familie
Kind, welche Non-Compliance beim Kind
5 Psychische Störung/abweichendes Verhal-
verstärken?
ten oder Behinderung eines Elternteils?
5 Umgang mit aggressivem Verhalten des
Dadurch Beeinträchtigung des Erziehungs-
Kindes
verhaltens oder soziale Einschränkung des
5 Positive Beziehungsgestaltung: Erfährt das
Kindes?
Kind Aufmerksamkeit, Interesse und Unter-
5 Elterlicher Gebrauch psychotroper Substan-
stützung? Durchführung gemeinsamer
zen (Alkohol, Medikamente, illegale Dro-
Aktivitäten?
gen)? Einstellung der Eltern bezüglich des
5 Kontrolle und Betreuung des Kindes? Über-
Gebrauchs psychotroper Substanzen durch
blick der Eltern über Tagesgestaltung, Akti-
ihr Kind?
vitäten und Beziehungen des Kindes?
5 Hohe Impulsivität, Risikoverhalten der
5 Dysfunktionaler elterlicher Erziehungs-
Eltern?
stil als Folge von Überforderung bzw. man-
5 Aggressives, dissoziales und delinquentes
gelnder Kompetenz?
Verhalten (inkl. Verurteilungen) in der Fami-
lie?
5 Abweichendes Verhalten/Behinderung
eines Geschwisters?
6
50 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Psychosoziale Bedingungen 5 Armut, unzureichende Lebensbedin-


5 Schulische und berufliche Ausbildung der gungen, Lebensbedingungen mit mög-
2 Eltern, Berufstätigkeit, Einkommen? licher psychosozialer Gefährdung, Migra-
5 Familiäre Belastungen (z. B. Arbeitslosig- tion, soziale Verpflanzung, Diskriminierung?
3 keit, Schulden, Krankheit, häufige Wohn-
ortwechsel) und familiäre Ressourcen (z. B.
Belastende Lebensereignisse
4 soziale Integration, soziale Unterstützung
und Entlastung durch Dritte)?
5 Verlust einer liebevollen Beziehung?
5 Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbst-
5 Abweichende Elternsituation: alleinerzie-
5 hender Elternteil, wiederholter Wechsel der
achtung führen?
5 Zurückweisung und/oder Viktimisierung
Elternfiguren, Zusammensetzung und Vor-
6 geschichte der Familie (vor allem bei Stief-
durch Gleichaltrige?
5 Zuweisung einer Sündenbockposition
familien und »Patchwork-Familien«)?
7 5 Erziehung in einer Institution?
durch Lehrer oder Ausbilder?
5 Sexueller Missbrauch außerhalb der Fami-
5 Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgrup-
lie?
8 pe (u. U. mit eigenen Wertnormen)?

9
10 notwendigerweise für ihre Entstehung bedeut- 4.5 Testpsychologische und
sam waren. Es soll also der kausale und – noch somatische Diagnostik
11 wichtiger – der funktionale Zusammenhang
zwischen dem disruptiven Verhalten und seinem 4.5.1 Fremd- und
12 systemischen Kontext erfasst werden.
Falls die sozialen Eltern nicht auch die bio-
Selbstbeurteilungsskalen

logischen Eltern sind, sollten nach Möglichkeit Fremdbeurteilungsskalen dienen zur standar-
13 Informationen über beide Familien erhoben disierten Einschätzung des Verhaltens des Kin-
werden. Auch das Kind oder der Jugendliche des oder Jugendlichen durch Eltern, Lehrer
14 sollte befragt werden, weil sein subjektives Erle- und Erzieher; bei älteren Kindern und Jugend-
ben bedeutsam ist und weil manche Informati- lichen können auch Selbstbeurteilungsskalen
15 onen möglicherweise eher von ihm selbst als von eingesetzt werden. Die durch solche Instrumen-
anderen Familienmitgliedern berichtet werden. te gewonnenen Informationen können Explo-
16 In der vorstehenden Übersicht werden für ration bzw. Befragung und Verhaltensbeobach-
jede Kategorie störungsrelevanter Rahmenbe- tung nicht ersetzen, jedoch ergänzende Informa-
17 dingungen spezifische Aspekte aufgeführt.
Hierbei ist zu beachten, dass die genannten
tionen liefern und zu gezielten weiterführenden
Fragen genutzt werden. Breitband-Verfahren

18 Punkte nicht nur diagnostisch wichtig sind, weil


sie ein besseres Verständnis der Störungsgenese
sind jedoch wenig geeignet, spezifische Muster
disruptiven Verhaltens zu erfassen oder Thera-
ermöglichen, sondern dass die Kenntnis der im pieeffekte zu messen.
19 konkreten Fall relevanten Punkte insbesondere Die Child Behavior Checklist (CBCL; Achen-
auch für die Therapieplanung von hoher Rele- bach 1991) stellt ein Breitband-Verfahren zur
20 vanz ist. Erfassung verschiedener Verhaltensdimensi-
onen (u. a. disruptives und hyperkinetisches
Verhalten) dar. Die Elternfragebögen über das
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
51 4

Verhalten von Kleinkindern (2–3 Jahre) und von 4.5.2 Altersbezogene Testdiagnostik
Kindern und Jugendlichen (4–18 Jahre) werden
durch einen Fragebogen für Lehrer (Teacher Eine orientierende Intelligenzdiagnostik soll-
Report Form) über das Verhalten von Kindern te nicht nur bei jedem Schüler durchgeführt
und Jugendlichen (4–18 Jahre) und einen Frage- werden, sondern ist auch für Fragen von Früh-
bogen zur Selbstbeurteilung (Youth Self Report) förderung und Ausbildung jenseits der Schu-
für ältere Kinder und Jugendliche (11–18 Jahre) le relevant. Eine ausführliche testpsychologische
ergänzt. Diese Instrumente liegen in deutschen Untersuchung von Intelligenz und schulischen
Versionen vor (Arbeitsgruppe Deutsche Child Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) soll-
Behavior Checklist 1993a,b, 1998a,b). te dann erfolgen, wenn Hinweise auf Schulleis-
Mit dem Diagnostik-System für Psychische tungsprobleme (schlechte Noten, Wiederho-
Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD- lung einer Klasse, Besuch einer Sonderschule)
10 und DSM-IV (DISYPS-KJ; Döpfner u. Lehm- oder schulische Unterforderung vorliegen. Ein
kuhl 2000) können verschiedene psychische Stö- grundsätzliches Problem bei der testpsycholo-
rungen bei Kindern und Jugendlichen (u. a. Stö- gischen Untersuchung der spezifischen Ent-
rungen des Sozialverhaltens, ADHS, Angst- und wicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
depressive Störungen, autistische Störungen, Tic- besteht darin, dass die Lese-, Rechtschreib- und
störungen und Bindungsstörungen) erfasst wer- Rechenleistungen eines Probanden auch von Art
den. Zur klinischen Beurteilung dienen Diagno- und Inhalt seines bisherigen Schulunterrichtes
se-Checklisten, die Einschätzung durch Eltern abhängen. Darum ist auch die qualitative Unter-
und Erzieher/Lehrer erfolgt durch Fremdbeur- suchung der spezifischen individuellen Beein-
teilungsbögen, und ältere Kinder und Jugendli- trächtigungen und Fehler für die Diagnose wich-
che können sich selbst anhand von Selbstbeur- tig (für weitere Erläuterungen 7 5.2). Auch bei
teilungsbögen einschätzen. Unter anderem lie- Hinweisen auf eine Sprachentwicklungsstörung
gen der FBB-HKS (Fremdbeurteilungsbogen (7 5.2) kommt der klinischen Untersuchung der
Hyperkinetische Störung), FBB-HKS/3–6 für Sprache und der Exploration der Bezugsper-
Vorschulkinder mit hyperkinetischen Störungen sonen eine hohe Bedeutung zu. Viele Sprachtests
und FBB-SVV sowie SBB-SVV (Fremd- und sind unzureichend normiert und können ledig-
Selbstbeurteilungsbogen für Störungen des Sozi- lich zur klinischen Einschätzung, nicht jedoch
alverhaltens) vor. zu einer quantitativen Einordnung herangezo-
Der Erfassungsbogen für aggressives Ver- gen werden.
halten in konkreten Situationen (EAS; Peter-
mann u. Petermann 2000) liegt in zwei verschie- Entwicklungsdiagnostik
denen Versionen, für Jungen und für Mädchen, Bei Vorschulkindern ist die Durchführung einer
im Alter von 9–13 Jahren vor. Hierbei handelt zumindest orientierenden Entwicklungsdi-
es sich um einen normierten Test zur Erfassung agnostik ratsam.
des Merkmals Aggression in verschiedenen kon- Der Entwicklungstest von 6 Monaten bis
kret dargestellten Alltagssituationen, die sich auf 6 Jahren (ET 6–6; Petermann u. Stein 2000)
Konflikte unter Kindern, Aggressionen gegen erlaubt die Erfassung von kindlichem Entwick-
Gegenstände und Autoaggression beziehen. lungsstand und bedeutsamen Entwicklungsre-
tardierungen über eine relativ breite Altersspan-
ne. Erfasst werden Körpermotorik, Handmoto-
rik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung,
Sozialentwicklung und emotionale Entwick-
lung.
52 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 Die Münchner Funktionelle Entwicklungs-


diagnostik (Hellbrügge 1994) ermöglicht eine
reinen Power-Test handelt, bei dem also die
Bearbeitungsgeschwindigkeit nicht in das Tes-
differenzierte Erfassung des kindlichen Ent- tergebnis eingeht. Dieses kann bei bestimmten
2 wicklungsstandes in verschiedenen Bereichen Personengruppen (s. unten) für die Validität des
(1. Lebensjahr: Krabbeln, Sitzen, Laufen, Grei- Testergebnisses wichtig sein. Die Coloured Pro-
3 fen, Perzeption; 2./3. Lebensjahr: Statomoto- gressive Matrices (CPM; Raven 2002) sind für den
rik, Handmotorik, Wahrnehmungsverarbeitung, Altersbereich von 4 bis 11 Jahren normiert. Die
4 Selbstständigkeit; für beide Altersbereiche: Spre- Standard Progressive Matrices (SPM; Heller et
chen, Sprachverständnis, Sozialverhalten). al. 1998) können ab 6 Jahren eingesetzt werden.
5 Hier liegen eine nonverbale Instruktion sowie
Intelligenzdiagnostik Normen für hörgeschädigte Schüler (14–16 Jah-
6 Der Grundintelligenztest (Culture Fair Test)
erfasst anhand non-verbalen Testmaterials unter
re) vor. Bei älteren Jugendlichen ist die Normie-
rung jedoch wenig differenziert.

7 Verwendung unterschiedlicher Aufgabentypen


die Fähigkeit, Merkmale rasch zu identifizieren
Die Kaufman-Assessment Battery for Children
(K-ABC; Melchers u. Preuß 1994) kann von 2½ bis
und Regeln zu erkennen. Die Speed-Komponen- 12 Jahren eingesetzt werden, wobei die durchzu-
8 te, bei der auch die Bearbeitungsgeschwindigkeit führenden Tests vom Alter des Kindes abhän-
in das Testergebnis eingeht, benachteiligt kör- gen. Die K-ABC enthält die Skala einzelheit-
9 perlich behinderte Probanden. Der Grundintel- lichen Denkens (serielle Aufgaben), die Ska-
ligenztest Skala 1 (CFT 1; Cattell et al. 1997), der la ganzheitlichen Denkens (Analogieschlüsse,
10 zwischen 5 und 9 Jahren eingesetzt werden kann, räumlich-gestalthaftes Denken) sowie die Fertig-
erlaubt eine gute Differenzierung im unteren keiten-Skala (z. B. Lesen, Rechnen, allgemeines
11 Leistungsbereich, führt jedoch im oberen Leis- Wissen). Der Test bietet mehrere Vorteile: Die
tungsbereich zu Deckeneffekten. Beim Grundin- Aufgaben- und Materialvielfalt trägt zur Unter-
12 telligenztest Skala 2 (CFT 20; Weiß 1997), der für
den Altersbereich zwischen 8 und 60 Jahren ein-
suchung verschiedener Intelligenzaspekte bei.
An den Probanden werden wenig verbale Anfor-
gesetzt werden kann, sind die erste und zweite derungen gestellt, und er wird während der Bear-
13 Testhälfte sehr ähnlich aufgebaut. Somit kann beitung der ersten Items angeleitet, wodurch die
die erste Testhälfte bei Probanden, die mit sol- Kulturfairness des Tests erhöht wird. Da der Test
14 chen Aufgaben und Materialien wenig vertraut relativ große Bilder und Objekte verwendet und
sind (z. B. aufgrund geringer schulischer Bildung überwiegend als Power-Test durchgeführt wird,
15 oder Herkunft aus einem anderen Kulturkreis), ist er für Probanden mit visuellen und moto-
als Lernphase eingesetzt werden, so dass in die- rischen Defiziten günstig. Die non-verbale Ska-
16 sem Fall nur die zweite Testhälfte in die Auswer- la der K-ABC enthält sechs Untertests aus den
tung einbezogen wird. Im oberen Leistungsbe- Skalen einzelheitlichen und ganzheitlichen Den-
17 reich führt der CFT 20 ebenfalls zu Deckeneffek-
ten. Mittlerweile liegt mit dem CFT 20-R (Weiß
kens, ist für den Altersbereich von 4 bis 12 Jah-
ren normiert und ohne Verwendung von Spra-

18 2006) eine revidierte Fassung vor.


Auch die »Progressive Matrizen-Tests« mes-
che durchführbar.
Der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für
sen die allgemeine intellektuelle Leistungsfähig- Kinder III (HAWIK-III; Tewes et al. 1999) ist für den
19 keit mit non-verbalem Material. Gegenüber dem Einsatz von 6 bis 16 Jahren normiert und lie-
Grundintelligenztest ist nachteilig, dass der Test fert als Testergebnis einen Gesamt-Intelligenz-
20 ausschließlich einen Aufgabentyp enthält, näm- quotienten, der aus einem Verbal-IQ und einem
lich Matrizen unterschiedlichen Schweregrades. Handlungs-IQ besteht. Auch der Handlungs-
Ein Vorteil besteht darin, dass es sich um einen teil ist kulturabhängig, und hier gehen in erheb-
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
53 4

lichem Maß Zeitfaktoren in die Bewertung ein. Non-verbale Intelligenztests für Kinder im
Daneben können vier weitere Indizes bestimmt Vorschulalter:
werden: sprachliches Verständnis (ähnlich Ver- 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest
bal-IQ), Wahrnehmungsorganisation (ähn- (SON-R 2½–7)
lich Handlungs-IQ), Unablenkbarkeit (Subtests 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment
Rechnerisches Denken und Zahlennachspre- Battery for Children (K-ABC)
chen) und Arbeitsgeschwindigkeit (Subtests Diese enthält jedoch viele Untertests mit
Zahlen-Symbol-Test und Symbolsuche). Anforderungen an das Kurzzeitgedächtnis,
Das Adaptive Intelligenz Diagnostikum 2 und bei sprachentwicklungsgestörten Kin-
(AID 2; Kubinger u. Wurst 2001) ermöglicht die dern liegen häufig Störungen des auditiven
Erfassung verschiedener verbal-akustischer und Kurzzeitgedächtnisses vor.
manuell-visueller Fähigkeiten im Altersbereich 5 Grundintelligenztest Skala 1 (CFT 1)
von 6 bis 15 Jahren. Durch die Rasch-Skalierung, 5 Coloured Progressive Matrices (CPM)
also strenge Eindimensionalität der Items inner-
halb eines Subtests, ist eine adaptive Itemvorgabe Non-verbale Intelligenztests für Kinder im
möglich. Dass die Probanden also nur die Items Schulalter:
bearbeiten, die ihrem Leistungsniveau entspre- 5 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest
chen, fördert ihre Testmotivation und macht die (SON-R 5½−17)
Testdurchführung ökonomisch. Zu mehreren 5 Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kin-
Subtests liegt eine sprachfreie Instruktion vor. der III (HAWIK-III), Handlungsteil
Der Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenz- 5 Adaptives Intelligenzdiagnostikum 2 (AID-
test für jüngere Kinder (SON-R 2½–7; Tellegen et 2)
al. 1996) und ältere Kinder (SON-R 5½–17; Snij- 5 Non-verbale Skala der Kaufman Assessment
ders et al. 1997) misst die allgemeine intellektu- Battery for Children (K-ABC)
elle Leistungsfähigkeit mit Mehrfachwahl- und 5 Grundintelligenztest Skala 1 und 2 (CFT 1,
Handlungstests und ist ohne die Verwendung CFT 20, CFT 20-R)
gesprochener oder geschriebener Sprache durch- 5 Coloured Progressive Matrices (CPM), Stan-
führbar. Bei den Beispiel-Items erhält der Pro- dard Progressive Matrices (SPM)
band Hilfen zum Verständnis der Aufgabenstel-
lung, darüber hinaus auch bei der Testführung Probanden mit Intelligenzminderung
die Rückmeldung, ob das Item richtig beantwor- Wenn bei einem Probanden eine Intelligenz-
tet wurde oder nicht. Der Test weist eine rela- minderung vorliegt, sind testpsychologische
tiv hohe Kulturfairness auf, die Item-Vorgabe Untersuchung und Interpretation der Testergeb-
erfolgt adaptiv, und überwiegend handelt es sich nisse schwieriger als bei Probanden mit durch-
um einen Power-Test, so dass dieser Test insbe- schnittlicher Intelligenz. Bei der Auswahl der
sondere zur Untersuchung behinderter Proban- Untersuchungsinstrumente und der Interpreta-
den sehr gut geeignet ist. tion der Ergebnisse müssen die Kooperationsbe-
reitschaft des Probanden, sein soziokultureller
Probanden mit verzögerter Hintergrund, bisherige Bildungsmöglichkeiten
Sprachentwicklung oder Sprachstörung und sensorische, motorische und kommuni-
Bei Kindern mit verzögerter Sprachentwick- kative Beeinträchtigungen berücksichtigt wer-
lung oder Sprachstörung muss zur Einschätzung den. Es sollten möglichst mehrere standardi-
der Intelligenz auf sog. non-verbale Verfahren sierte Intelligenztests eingesetzt werden (z. B.
zurückgegriffen werden. Kaufman Assessment Battery for Children, Sni-
54 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 jders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest, Test-


batterie für geistig behinderte Kinder).
Ausbildung sowie alltägliche Schwankungen der
kognitiven Leistungsfähigkeit (»Tagesform«).
Wenn eine Intelligenztestung aufgrund gerin- Bei Vorliegen einer deutlichen psychiatrischen
2 ger Kooperationsfähigkeit des Probanden oder Symptomatik kann es sinnvoll sein, vor Durch-
auch aufgrund seines Alters (Kleinkind, mentales führung einer testpsychologischen Untersu-
3 Alter <3) nicht möglich ist, können eventuell ori- chung zuerst eine (wenigstens partielle) Remis-
entierend Verfahren zur Erfassung des Entwick- sion der Störung abzuwarten bzw. die Unter-
4 lungsstandes eingesetzt werden. Auch Arbeits- suchung unter adäquater medikamentöser
proben (z. B. Malen, Spielen, Alltagsfertigkeiten Behandlung (z. B. Methylphenidat bei ADHS)
5 wie Anziehen oder Essen, Kulturtechniken) lie- durchzuführen. Dagegen kann eine Testwieder-
fern wichtige Informationen. Darüber hinaus holung zu einer Überschätzung des Intelligenz-
6 muss nicht nur das Niveau der kognitiven Fähig-
keiten, sondern auch das Niveau der gegenwär-
niveaus führen.
Die Validität von Speed-Tests kann besonders

7 tigen sozialen und adaptiven Fertigkeiten beur-


teilt und berücksichtigt werden (Leitlinie »Intel-
bei Probanden mit Sehstörungen, motorischer
Behinderung oder feinmotorischen Defiziten
ligenzminderung und grenzwertige Intelligenz«, sowie im Rahmen einer kinder-/jugendpsychi-
8 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugend- atrischen Erkrankung (z. B. Nichteinhalten von
psychiatrie und Psychotherapie et al. 2003). Zeitlimits bei Asperger-Syndrom, kognitive Ver-
9 Die Vineland Social Maturity Scale, die in langsamung bei Depression, wiederholtes Kont-
einer deutschen Kurzversion in der Testbatterie rollieren im Rahmen einer Zwangsstörung, deut-
10 für geistig behinderte Kinder (Bondy et al. 1992) liches Aufmerksamkeits- bzw. Konzentrations-
enthalten ist, erlaubt die Erfassung alltagsprak- defizit) eingeschränkt sein.
11 tischer, motorischer, kommunikativer, sozialer Bei der Durchführung von testpsycholo-
und adaptiver Fertigkeiten und kann auch zur gischen Untersuchungen sind also vielfältige
12 Interventionsplanung eingesetzt werden.
Das Heidelberger Kompetenzinventar für geis-
Einschränkungen der Validität möglich, und
die kritische Reflexion des Testanwenders hin-
tig Behinderte (Holtz et al. 1984) ist ein Beobach- sichtlich der in einer spezifischen testpsycholo-
13 tungsverfahren zur Erfassung individueller prak- gischen Untersuchung möglichen Validitätsein-
tischer, kognitiver und sozialer Kompetenzen, schränkungen ist unverzichtbar.
14 die den Verhaltensspielraum einer Person erwei-
tern und damit ihre Abhängigkeit von besonde-
15 ren Versorgungsmaßnahmen vermindern. Ziel- 4.5.3 Körperliche Untersuchung
gruppe sind 7–16jährige Schüler von Schulen für
16 geistig Behinderte. Eine orientierende internistisch-neurologische
Untersuchung sollte unter besonderer Berück-
17 Validität einer testpsychologischen
Untersuchung der Intelligenz
sichtigung der folgenden Punkte durchgeführt
werden:
5 Bestehen Anzeichen für eine akute Intoxika-
18 Mögliche Einschränkungen der Validität einer
Intelligenztestung, in der Regel in Form einer tion? (7 5.3)
Unterschätzung der »wahren« Intelligenz, erge- – Quantitative oder qualitative Bewusst-
19 ben sich durch ausgeprägte Testangst des Pro- seinsstörung
banden, klinisch-psychiatrische Symptoma- – Eingeschränkte motorische Koordinati-
20 tik (z. B. Psychose, Depression, Zwangsstörung, on: Gangunsicherheit, undeutliche Arti-
ADHS), sedierende Medikation, Herkunft aus kulation, auffälliger Finger-Nase-Versuch
einem anderen Kulturkreis, geringe schulische
4.5 Testpsychologische und somatische Diagnostik
55 4

– Alkoholgeruch (Beachte: Alkoholgeruch – Vegetative Symptome (Blässe, Übelkeit,


in der Atemluft schließt eine Intoxika- Erbrechen, Schwindel, Kopfschmerzen)
tion mit anderen Substanzen nicht aus, – Neurologische Herdzeichen (bei subs-
denn nicht selten werden mehrere Subs- tanziellen Hirnverletzungen)
tanzen gleichzeitig konsumiert!) 5 Bestehen Anzeichen für körperliche oder
– Geruch von Farbe oder Lösungsmitteln sexuelle Misshandlung?
in Atemluft oder Kleidung bei Inhalan-
zienabusus ! Akute hirnorganische Störungen (Intoxikation,
– Augenrötung bei Cannabis- oder Alko- zerebrale Infektion, Schädel-Hirn-Trauma, Delir
holintoxikation jeder Genese) – ebenso wie der begründe-
– Pupillen: eng (Miosis) bei Intoxikation te Verdacht auf eine solche Störung – stellen
mit Opiaten, z. B. Heroin, Kodein; weit medizinische Notfälle dar!
(Mydriasis) bei Amphetaminen, Ecstasy, Unverzüglich erfahrene Kollegen hinzuzie-
LSD, Pflanzenalkaloiden, Kokain hen! (evtl. Neurologe, Pädiater, Internisten! Wel-
– Herzfrequenz: hoch (Tachykardie) bei che weitere Diagnostik und Therapie? Ist der
Intoxikation mit Cannabis, Amphetami- Patient intensivpflichtig?)
nen, Ecstasy, LSD, Pflanzenalkaloiden,
Kokain; niedrig (Bradykardie) bei Opi-
aten 4.5.4 Drogenscreening
5 Bestehen Anzeichen für einen chronischen
Substanzgebrauch? Bei Verdacht auf eine akute Intoxikation oder auf
– Einstichstellen (auch Beine und Füße), rezidivierenden Substanzkonsum sollte ein Dro-
Spritzenabszesse, Thrombophlebitis (bei genscreening durchgeführt werden. Die Kon-
i.v.-Konsum z. B. von Heroin) sequenzen eines positiven Testergebnisses soll-
– Gewichtsverlust, Hautkolorit, Haaraus- ten vor der Probengewinnung besprochen wer-
fall (Dystrophiezeichen) den. Für ein Drogenscreening ist die Gewinnung
– Ulzerationen im Bereich der Nase (intra- einer Urinprobe – möglichst Morgenurin, da am
nasaler Konsum von Kokain) höchsten konzentriert – in der Regel einer Blut-
5 Bestehen Anzeichen für eine Infektion des probe vorzuziehen. Denn im Urin sind Subs-
zentralen Nervensystems? (7 5.3) tanzen länger nachweisbar (über Tage), im Blut
– Fieber, Kopfschmerzen, Bewusstseins- dagegen nur einige Stunden lang; die Substanz-
störung konzentration vor allem von basischen Stoffen
– Akute Auffälligkeiten in Verhalten oder ist höher, und Urin enthält weniger Bestandtei-
Sprechen, delirantes Bild le, die mit der Bestimmung der Substanz inter-
– Fokale oder generalisierte neurologische ferieren könnten. Nachteilig ist dagegen, dass die
Symptome, z. B. Hemiparese oder epi- Substanzkonzentration höchstens semiquantita-
leptische Anfälle tiv bestimmt werden kann.
5 Bestehen Anzeichen für ein Schädel-Hirn- Ein positives Ergebnis weist auf einen Kon-
Trauma? (7 5.3) sum der entsprechenden Substanz hin, erlaubt
– Anamnestische Hinweise auf ein Schä- jedoch keine Aussage über einen schädlichen
del-Hirn-Trauma Gebrauch oder gar eine Abhängigkeit. Ein nega-
– Bewusstseinsstörung tives Ergebnis schließt weder Konsum, schäd-
– Retrograde Amnesie, evtl. zusätzlich lichen Gebrauch noch Substanzabhängigkeit
anterograde Amnesie aus. Designerdrogen sowie pflanzliche Substan-
zen lassen sich unter Umständen mit den ver-
56 Kapitel 4 · Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik

1 fügbaren Methoden gar nicht nachweisen. Der


Zeitraum der Nachweisbarkeit ist von Substanz Nachweisbarkeit von psychotropen
zu Substanz sehr unterschiedlich, hängt u. a. von Substanzen
2 der konsumierten Menge, aber auch vom Labor 5 Heroin: mit Immunassay bis zu etwa
2 Tagen nachweisbar; gelegentlich
und den verwendeten Methoden ab (Parnefjord
3 2000). falsch-positiv nach Essen von Mohnge-
bäck!

4 ! Beachte: Verfälschung der Probe durch den Pro-


5 Cannabis: mit Immunassay in der Regel
zuverlässig nachweisbar; infolge Spei-
banden möglich (Austauschen, Verdünnen,
5 auch durch vermehrtes Trinken und/oder Ein-
cherung der Metaboliten im Fettgewe-
be nach einmaligem Konsum mehrere
nahme eines Diuretikums)
Tage positiv, bei hohem Konsum meh-
6 Immunassays ermöglichen ein leicht hantier-
rere Wochen, evtl. am Ende positive
und negative Befunde wechselnd
7 bares, schnelles und kostengünstiges Screening
auf eine Anzahl von Substanzen bzw. Substanz- 5 Sedativa/Hypnotika: Immunassay,
Nachweisbarkeit im Urin sehr variabel,
klassen. Das Prinzip des Immunassays besteht
8 darin, dass die Substanzen in der Probe um eine Woche und länger für lang wirk-
same Benzodiazepine (z. B. Diazepam)
Bindungsstellen an den substanzspezifischen
9 Antikörpern konkurrieren. Fehlerquellen sind 5 Amphetamine: mit Immunassay bis
zu etwa 3 Tagen nachweisbar; bei zu
– neben einem Vertauschen der Urinprobe –
10 Kreuzreaktionen der Antikörper mit chemisch langer Probenlagerung falsch-posi-
tiv durch Fäulnisamine, falsch-negativ
ähnlichen Substanzen, die je nach Hersteller
durch Resorption von Amphetaminen
11 des Immunassays unterschiedlich sein können.
durch Probengefäße; beachte: auch
Die zur Überprüfung eines positiven Immun-
Methylphenidat kann zu einem falsch-
12 assays eingesetzte Gaschromatographie-Massen-
spektrometrie (GC-MS) erlaubt den Nachweis
positiven Befund führen!
5 Ecstasy: Sensitivität und Spezifität der
sehr geringer Substanzmengen mit hoher Spe-
13 zifität. Durch die Gaschromatographie wird die Immunassays geringer als für Amphet-
amine; durch GC-MS 3–4 Tage nach-
Probe in gasförmigem Zustand zunächst anhand
14 ihrer physikalischen Eigenschaften aufgetrennt weisbar
5 Kokain: Immunassay für Metaboliten, in
und analysiert, danach wird durch die Massen-
15 spektrometrie jede einzelne Komponente durch der Regel zuverlässig, Nachweis ca. 2–
4 Tage möglich
Ionisierung in ein spezifisches Muster geladener
5 LSD: mit Immunassay Nachweis 1–
16 Fragmente zerlegt.
4 Tage, aber aufgrund der geringen
Konzentration (im µg-Bereich) Stör-
17 barkeit durch Kreuzreaktivität, z. B. mit
Medikamenten
18 5 Atropin (Pflanzenalkaloid): Immunas-
say, GC-MS; aber nur geringe Korrela-
19 tion zwischen Atropinspiegel und kli-
nischem Bild
20
4.7 Entbehrliche Diagnostik
57 4

4.6 Weitergehende Diagnostik 5 Bei Hinweisen auf eine umschriebene Ent-


wicklungsstörung der Sprache oder der
Unter bestimmten Fragestellungen kann eine schulischen Fertigkeiten: augenärztliche
weiterführende Diagnostik sinnvoll sein, wobei bzw. pädaudiologische Untersuchung
die diesbezügliche Indikation in Abhängigkeit 5 Neuropsychologische Untersuchung für
von der konkreten Symptomatik und Problem- Informationen über individuelle Stärken
konstellation zu stellen ist: und Schwächen der Informationsverarbei-
5 Bei Verdacht/Hinweis auf Drogenkonsum: tung.
Drogenscreening (7 4.5.4)
5 Bei begründetem Verdacht auf i.v.-Drogen-
konsum und/oder riskantes Sexualverhal- 4.7 Entbehrliche Diagnostik
ten: evtl. Hepatitis-Serologie, HIV-Serologie
(nach Rücksprache mit dem Jugendlichen Nach dem derzeitigen Kenntnisstand können
und seinen Eltern) die folgendenden diagnostischen Maßnahmen
5 Bei Verdacht/Hinweis auf eine akute Alko- als entbehrlich betrachtet werden:
holintoxikation: Bestimmung der Atem- 5 Apparative Diagnostik bezüglich hirnorga-
oder Blutalkoholkonzentration (Letztere lie- nischer Störungen, wenn keine diesbezüg-
fert genauere Werte!) lichen Hinweise vorliegen (7 5.3)
5 Bei längerfristigem Alkoholkonsum: evtl. 5 Projektive Testdiagnostik ohne spezifische
Erhöhung von γ-Glutamyltransferase (gGT), Hypothesen
carbohydratdefizientes Transferrin (CDT), 5 Haaranalyse bei Drogenkonsum, außer für
mittlerem korpuskulärem Volumen (MCV); forensische Fragestellungen.
diese Parameter können jedoch auch bei
erheblichem längerfristigem Alkoholabusus
unauffällig sein, vor allem im Jugendalter
5 Bei Verdacht/Hinweis auf eine chronische
hirnorganische Störung: EEG, evtl. weitere
Diagnostik mit bildgebenden Verfahren (vor
allem MRI; ggf. PET, SPECT)
5 Bei Hinweis auf eine akute oder chronische
zerebrale Infektion: Neurologen hinzuzie-
hen! Eine akute Enzephalitis ist ein medizi-
nischer Notfall! Blutkultur bei Verdacht auf
bakterielle Infektion, C-reaktives Protein
(CRP) kann früh im Verlauf einer Infektion
niedrig oder normal sein! Eventuell mikro-
biologische und serologische Diagnostik in
Serum und Liquor, PCR (»polymerase chain
reaction«) zum Nachweis von Erreger-DNA
oder -RNA, EEG, bildgebende Verfahren
5 Bei ausgeprägter Sprachverständnisstörung
oder Hinweis auf Sprachverlust: Durchfüh-
rung eines Schlaf-EEG, um eine erworbene
Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-
Syndrom, F80.3) auszuschließen
5

Unterscheiden ist wichtig:


Differenzialdiagnose und multiaxiale
Bewertung

5.1 Weitere diagnostische Leitfragen – 60

5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen – 60


5.2.1 Achse II des MAS: Umschriebene Entwicklungsstörungen – 61
5.2.2 Achse III des MAS: Intelligenzniveau – 66
5.2.3 Achse IV des MAS: Körperliche Symptomatik – 67
5.2.4 Achse V des MAS: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale
Umstände – 68
5.2.5 Achse VI des MAS: Globale Beurteilung des psychosozialen
Funktionsniveaus – 68

5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen


Vorgehens – 68
5.3.1 Hierarchie des diagnostischen Vorgehens – 68
5.3.2 Differenzialdiagnose – 71
60 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

Weitere diagnostische
1 5.1
Leitfragen
des Sozialverhaltens erfüllen, um welche
Störung des Sozialverhaltens es sich han-
delt und welche komorbiden Störungen und
2 Die ersten drei diagnostischen Leitfragen sind Belastungen darüber hinaus bestehen. Mit
in Kap. 4 (7 4.1.1, 4.1.2 und 4.3) behandelt wor- dieser diagnostischen Leitfrage tritt man
3 den. Wenn sie beantwortet wurden, ist geklärt, gleichsam einen Schritt zurück und betrach-
ob eine Störung des Sozialverhaltens und even- tet die vorliegenden diagnostischen Infor-
4 tuell weitere klinisch-psychiatrische Störungs- mationen unter der Frage, ob die gegebenen
bilder (Achse I des MAS) vorliegen. Weitere ent- Symptome, die man bislang unter der Über-
5 scheidende diagnostische Schritte sind Diffe- schrift »Störung des Sozialverhaltens« ein-
renzialdiagnose und multiaxiale Bewertung, zu geordnet hatte, nicht sinnvoller und zutref-
6 deren Klärung zwei weitere diagnostische Leit-
fragen dienen.
fender im Rahmen einer anderen psych-
iatrischen Störung zu erklären sind; hier

7 5 Diagnostische Leitfrage: Bestehen weitere


geht es also um die Frage der Differenzial-
diagnostik, die in 7 5.3 ausführlich behan-
Störungen und Belastungen entsprechend delt wird.
8 den Achsen II–V des Multiaxialen Klassifi-
kationssystems? Die diagnostischen Leitfragen wurden in erster
9 Das Multiaxiale Klassifikationssystem Linie aus didaktischen Gründen in der vorlie-
(MAS; Remschmidt et al. 2001) beschreibt – genden Reihenfolge dargestellt. Ein erfahrener
10 neben der klinisch-psychiatrischen Sympto- Diagnostiker geht viel weniger schematisch und
matik des Patienten auf Achse I – auf Ach- sequenziell vor, sondern orientiert sich während
11 se II spezifische Entwicklungsstörungen des laufenden diagnostischen Prozesses an den
(falls vorliegend), auf Achse III das Intelli- bislang vorliegenden Informationen und rich-
12 genzniveau, auf Achse IV somatische Bedin-
gungen/Erkrankungen (falls vorliegend),
tet sein weiteres diagnostisches Vorgehen jeweils
danach aus. Gerade eine hohe Vertrautheit mit
unter Verwendung der diagnostischen Kri- den diagnostischen Kategorien und Algorith-
13 terien der ICD-10, sowie auf Achse V derzeit men verleiht jedoch die Sicherheit, um sehr fle-
relevante abnorme psychosoziale Umstän- xibel und situationsangepasst mit der jeweiligen
14 de, darüber hinaus auf Achse VI das aktu- diagnostischen Fragestellung umgehen zu kön-
ell bestehende allgemeine Niveau der psy- nen.
15 chosozialen Anpassung. Für Patienten mit
Störungen des Sozialverhaltens potenziell
16 relevante weitere Störungen und Belastun- 5.2 Identifizierung weiterer
gen entsprechend den Achsen II–V des Mul- Störungen und Belastungen
17 tiaxialen Klassifikationssystems werden in
7 5.2 erläutert.
? Diagnostische Leitfrage
18 5 Diagnostische Leitfrage: Bestehen die disrup- Bestehen weitere Störungen und Belastungen
tiven Symptome nicht nur im Rahmen einer entsprechend den Achsen II–V des Multiaxialen
19 anderen psychiatrischen Störung? Klassifikationssystems?
Bis jetzt ging es um die Fragen, ob die vor-
20 liegenden disruptiven Symptome hinsicht- In diesem Kapitel sollen für Patienten mit Stö-
lich Schweregrad und Dauer ihres Bestehens rungen des Sozialverhaltens potenziell relevante
die diagnostischen Kriterien einer Störung weitere Störungen und Belastungen entspre-
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
61 5

chend den Achsen II–V des Multiaxialen Klassi-


fikationssystems dargestellt werden. Relevante umschriebene Entwicklungs-
störungen (Achse II des MAS)
5 Umschriebene Entwicklungsstörungen
der Sprache (F80)
5.2.1 Achse II des MAS: Umschriebene
– Expressive Sprachstörung (F80.0)
Entwicklungsstörungen
– Rezeptive Sprachstörung (F80.1)
5 Umschriebene Entwicklungsstörungen
Die MAS-Achse II »Umschriebene Entwick-
schulischer Fertigkeiten (F81)
lungsstörungen« entspricht dem Kapitel F8 der
– Lese- und Rechtschreibstörung
ICD-10, mit Ausnahme der tiefgreifenden Ent-
(F81.0)
wicklungsstörungen (F84), die der Achse I des
– Isolierte Rechtschreibstörung (F81.1)
MAS zugeordnet sind. Auf Achse II werden Ein-
– Rechenstörung (F81.2)
schränkungen oder Verzögerungen in der Ent-
– Kombinierte Störung schulischer
wicklung verschiedener Funktionen (Sprache,
Fertigkeiten (F81.3)
visuell-räumliche Fertigkeiten, schulische Fer-
tigkeiten, Bewegungskoordination) kodiert, die
wesentlich einer biologischen Fehlfunktion des
Gehirns zugeschrieben werden, auch wenn die Umschriebene Entwicklungsstörungen der
Ätiologie in den meisten Fällen unbekannt ist. In Sprache (F80)
der Regel hat die Verzögerung oder Einschrän-
kung vom frühestmöglichen Erkennungszeit- Definition
punkt an vorgelegen. Charakteristisch ist eine Bei den umschriebenen Entwicklungsstörungen
familiäre Häufung solcher Störungen, und wahr- der Sprache sind die normalen Entwicklungsmus-
scheinlich spielen genetische Faktoren eine wich- ter der Sprache von frühen Entwicklungsstufen an
tige Rolle, während Umweltfaktoren von gerin- beeinträchtigt, ohne dass die Störung direkt neuro-
gerer Bedeutung sind. logischen Störungen, Störungen des Sprechablau-
Kinder mit Störungen des Sozialverhal- fes, sensorischen Beeinträchtigungen, einer Intelli-
tens sind überzufällig häufig von Sprachstörun- genzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet
gen und umschriebenen Entwicklungsstörun- werden kann.
gen schulischer Fertigkeiten betroffen (Hinshaw
et al. 1993). In einer kinder- und jugendpsych- Bei der expressiven Sprachstörung (F80.1)
iatrischen Inanspruchnahme-Population wie- ist die gesprochene Sprache des Kindes, also
sen mehr als 20% der Kinder und Jugendlichen aktiver Wortschatz, Grammatik und die Fähig-
mit einer oppositionellen Störung eine Sprach- keit, Inhalte sprachlich auszudrücken, in ihrem
störung auf (Greene et al. 2002). Es muss also bei Niveau deutlich unterhalb des Intelligenzni-
Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des veaus des Kindes. Das Sprachverständnis ist
Sozialverhaltens untersucht werden, ob eine spe- dagegen weniger deutlich beeinträchtigt. Arti-
zifische Entwicklungsstörung vorliegt. kulationsstörungen können vorhanden sein. Bei
der rezeptiven Sprachstörung (F80.2) liegt das
Sprachverständnis des Kindes, also die Fähig-
keit, gesprochene Sprache zu entschlüsseln,
deutlich unterhalb seines Intelligenzniveaus. In
fast allen Fällen ist auch die expressive Sprache
deutlich gestört. Artikulationsstörungen treten
häufig auf. Anfangs steht autistisch oder zwang-
62 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 Leitsymptome einer expressiven Sprach- Leitsymptome einer rezeptiven Sprachstö-


störung rung
2 5 Später Beginn des Sprechens 5 Kein altersentsprechendes Verständnis der
5 Zu geringer Wortschatz für das Lebensalter gesprochenen Sprache, auch einfache Fra-
3 5 Eingeschränkte Verständlichkeit des gen werden nicht korrekt oder sehr vage
Gesprochenen beantwortet

4 5 Äußerungslänge zu kurz für das Lebens-


alter (mit 2 Jahren keine Zwei-Wort-Äuße-
5 Unvermögen, einfachen ausschließlich
verbalen Anweisungen zu folgen, jedoch

5 rungen, mit 3 Jahren keine Drei-Wort-Äuße-


rungen)
promptes Befolgen von Anweisungen, die
von Gestik begleitet werden
5 Dysgrammatische Sätze (falsche Wortstel- 5 Unfähigkeit, grammatikalische Strukturen
6 lung im Satz, falsche Artikel, inkorrekte zu verstehen (z. B. Verneinungen, Fragen,
Wortendungen) Vergleiche)
7 5 Schwierigkeiten beim Gebrauch der gram- 5 Jüngere Kinder sprechen gar nicht oder
matikalischen Wortformen (z. B. Plural, nur einzelne Wörter, wiederholen echoar-
8 Imperfekt) tig sprachliche Äußerungen, die sie nicht
5 Kein Gebrauch von Nebensätzen bei Schul- verstehen, oder sprechen in einem unver-
9 kindern ständlichen Kauderwelsch mit angemes-
5 Häufig ausgeprägte Wortfindungsstörun- sener Intonation
5 Meist normaler sozialer Austausch, norma-
10 gen (bei Worten, die das Kind sicher kennt)
5 Ausgedehntere Sachverhalte können auch les »So-tun-als-ob-Spiel«, lediglich leich-
von älteren Kindern nur unzureichend ver- te Einschränkungen der nichtsprachlichen
11 bal dargestellt werden, zum Teil wird bei Kommunikation (im Gegensatz zu autisti-
der Darstellung auf nonverbale Mittel schen Kindern).
12 zurückgegriffen.

13
14 haft wirkendes Verhalten im Vordergrund, spä- 5 Macht es Wortstellungs- oder Endungsfeh-
ter sozialer Rückzug, Depressivität, Schulver- ler?
15 weigerung oder Aggressivität. Liegt bei einem 5 Kann das Kind Erlebnisse oder Geschichten
Kind mit einer Störung des Sozialverhaltens eine verständlich berichten?
16 Sprachstörung vor, so ist deren korrekte Dia- 5 Ist der Wortschatz etwa altersgemäß?
gnose und adäquate Therapie im Rahmen der 5 Fallen dem Kind Wörter, die es sicher kennt,
17 Behandlungsplanung von hoher Bedeutung.
Vor allem bezüglich einer expressiven Sprach-
häufig nicht ein?
5 Versteht das Kind Sprache altersentspre-

18 störung sind die Angaben der Bezugspersonen


meist relativ zuverlässig, während das Sprach-
chend, oder vereinfachen die Bezugsper-
sonen ihre Sprache im Umgang mit dem
verständnis eines Kindes oft deutlich überschätzt Kind, verglichen mit Gleichaltrigen?
19 wird (Leitlinie »Umschriebene Entwicklungsstö- 5 Setzen die Bezugspersonen verstärkt non-
rungen der Sprache«, Deutsche Gesellschaft für verbale Mittel zur Verständigung ein?
20 Kinder- und Jugendpsychiatrie et al. 2003). 5 Achten die Bezugspersonen darauf, dass sie
Von den Bezugspersonen wird erfragt: immer wieder die gleichen Worte benutzen,
5 Wie lang sind die Äußerungen des Kindes? damit das Kind sie versteht?
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
63 5

5 Antwortet das Kind auffallend häufig mit Umschriebene Entwicklungsstörungen


»ja« auf Fragen? schulischer Fertigkeiten (F81)
5 Versteht das Kind beim Lesen altersentspre-
chende Texte? Läßt es sich ungern altersge- Definition
mäße Texte vorlesen? Die umschriebenen Entwicklungsstörungen schu-
lischer Fertigkeiten umfassen als Obergriff die spe-
Für die Diagnosestellung wird nach der ICD- zifischen und deutlichen Beeinträchtigungen des
10 eine Diskrepanz zwischen dem Niveau der Erlernens von Lesen, Rechtschreiben und/oder
gesprochenen Sprache bzw. dem Sprachver- Rechnen, die nicht durch unkorrigierte Seh- oder
ständnis und dem Intelligenzniveau gefordert. Hörstörungen oder neurologische Erkrankungen
Dennoch unterscheiden sich Kinder, welche die (z. B. Zerebralparese) erklärbar sind und keine
geforderte Diskrepanz aufweisen, hinsichtlich direkte Folge mangelnder Lerngelegenheit, wie
Phänotyp der Sprachstörungen und Ansprech- z. B. von Schulversäumnis, häufigem Schulwechsel
barkeit auf Behandlung nicht von sprachgestör- oder unangemessenem Unterricht, darstellen.
ten Kindern ohne Diskrepanz von Sprachleis-
tung und kognitiven Fähigkeiten. Zudem sind Für die Diagnose ist Voraussetzung, dass klinisch
viele Sprachtests so unzureichend normiert, eine eindeutige Beeinträchtigung einer oder
dass sie zwar zur klinischen Einschätzung, nicht mehrerer spezieller schulischer Fertigkeiten vor-
jedoch als quantitativer Test herangezogen wer- liegt und dass der diesbezügliche Leistungsstand
den können. des Kindes deutlich unterhalb seines Intelligenz-
niveaus liegt und nicht durch eine Intelligenz-
! Eine komorbide Sprachstörung, insbesonde- minderung erklärbar ist. Bei jüngeren Kindern
re eine rezeptive Sprachstörung, ist von erheb- kann eine deutliche Diskrepanz zwischen den
licher prognostischer Bedeutung, keines- Noten in Deutsch (Lesen und Rechtschreiben)
wegs nur für den schulischen Bereich, denn bzw. Mathematik (Rechnen) und den übrigen
der Erwerb abstrakter Konzepte ist generell Fächern bestehen, bei älteren Kindern ist nicht
erschwert. selten eine Generalisierung des Lern- bzw. Leis-
tungsversagens festzustellen. Zum einen können
Auch das Benennen, Kategorisieren sowie Kom- die wiederholten Misserfolgserlebnisse zu einem
munizieren von Bedürfnissen und Gefühlen Motivationsdefizit führen, das auch die sonsti-
sowie das Anwenden geeigneter Strategien zur gen schulischen Leistungen beeinträchtigt, zum
Emotionsregulation werden durch Sprache ver- anderen können sich unmittelbare Folgen einer
mittelt. Durch verbales Feedback bezüglich sei- umschriebenen Entwicklungsstörung schu-
nes Verhaltens gelingt es einem Kind besser, sein lischer Fertigkeiten auch in anderen Fächern zei-
eigenes Verhalten zu reflektieren und zu modifi- gen. Eine (Lese- und) Rechtschreibstörung kann
zieren. Auch soziale Interaktionen sind in hohem mit Beeinträchtigungen bei allen schulischen
Maß sprachabhängig. Somit kann eine Sprach- Anforderungen einhergehen, für welche Schrift-
störung die Entwicklung eines Kindes erheblich sprache relevant ist, z. B. Textaufgaben in Mathe-
beeinträchtigen. matik und Fremdsprachen. Beeinträchtigungen
durch eine Rechenstörung können sich auch in
den naturwissenschaftlichen Fächern zeigen. Die
Entwicklungsstörung muss spätestens bis zum
5. Schuljahr in Erscheinung getreten sein, in der
Regel zeigt sie sich von Beginn der Schulzeit an.
In den Vorschuljahren sind meist in den Berei-
64 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 chen Sprechen oder Sprache, seltener bei Moto-


rik und Visuomotorik Entwicklungsstörungen
dann zu diagnostizieren, wenn die Lese-, Recht-
schreib- und Rechenfertigkeiten beeinträchti-
aufgetreten (Leitlinie »Umschriebene Entwick- gt sind, ohne dass dieses durch eine allgemei-
2 lungsstörungen schulischer Fertigkeiten«, Deut- ne Intelligenzminderung oder unangemessene
sche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsych- schulische Förderung erklärbar wäre.
3 iatrie et al. 2003). Rechtschreibfehler treten vor allem beim Dik-
Definierendes Merkmal der Lese- und Recht- tat und beim spontanen Schreiben auf, während
4 schreibstörung (F81.0) ist eine umschriebene Abschreiben von Anfang an oder in höheren
Beeinträchtigung der Entwicklung der Lese- Klassen weitgehend fehlerfrei sein kann. Kinder
5 fertigkeiten, und damit sehr häufig einherge- mit gutem Gedächtnis und/oder höherer Intel-
hend der Rechtschreibung. Ab der späten Kind- ligenz kompensieren unter Umständen in den
6 heit ist oft die Lesefertigkeit verbessert, während
beim Rechtschreiben das größere Defizit liegt.
ersten Schulklassen ihre (Lese-)Rechtschreibstö-
rung und versagen erst in einer höheren Schul-

7 Dagegen ist bei der isolierten Rechtschreibstö-


rung (F81.1) keine umschriebene Lesestörung in
klasse, wenn ungeübte Schriftsprachleistun-
gen und ein höheres Leistungsniveau und Tem-
der Vorgeschichte festzustellen. Die Rechenstö- po verlangt werden. Schwerer betroffene Kinder
8 rung (F81.2) zeigt sich vor allem bei den Grund- sind meist nicht fähig, ihre Fehler beim Lesen
rechenarten (Addition, Subtraktion, Multipli- und Rechtschreiben selbst zu erkennen und zu
9 kation und Division), weniger bei den höheren korrigieren. Bereits im Vorschulalter haben die
mathematischen Fertigkeiten. Eine kombi- betroffenen Kindern Schwierigkeiten, trotz nor-
10 nierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3) ist maler peripherer Hörfähigkeit Laute zu unter-

11
12 Lesestörung
Die Lesestörung (Vorkommen bei F81.0 und
Rechtschreibstörung
Bei Vorliegen einer Rechtschreibstörung (Vor-
F81.3) ist gekennzeichnet durch: kommen bei F81.0, F81.1 und F81.3) zeigen sich
13 5 Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzu- bei Verwendung der deutschen Schriftsprache
fügen von Worten oder Wortteilen folgende Fehler:
14 5 Vertauschen von Buchstaben in Wörtern 5 Reversionen (Verdrehungen von Buchsta-
oder Wörtern im Satz ben im Wort: b-d, p-q)
15 5 Niedrige Lesegeschwindigkeit 5 Reihenfolgefehler (Umstellungen von
5 Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Buchstaben im Wort)
16 Zögern oder Verlieren der Zeile 5 Auslassungen von Buchstaben oder Wort-
5 Defizite im Leseverständnis: Gelesenes teilen

17 kann schlecht wiedergegeben werden; die


Fähigkeit, im Gelesenen Zusammenhän-
5 Einfügungen von falschen Buchstaben oder
Wortteilen
ge zu erkennen und daraus Schlüsse zu zie- 5 Regelfehler als Verstöße gegen die regel-
18 hen, ist beeinträchtigt. haften Abweichungen von der lautge-
treuen Schreibung (z. B. Dehnungsfehler,
19 Groß- und Kleinschreibung)
5 Fehlerinkonstanz: Dieselben Wörter wer-
20 den auch nach langer Übung immer wieder
unterschiedlich fehlerhaft geschrieben.
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
65 5

scheiden, einfache Wortreime zu bilden, das und nehmen dazu unter Umständen äußere visu-
Alphabet aufzusagen und die Buchstaben kor- elle Reize zur Hilfe. Beim Subtrahieren im Kopf
rekt zu benennen. zählen die Kinder häufig rückwärts ab, wodurch
sie dann oft nicht die richtige Zahl, sondern die
nächstgrößere Zahl als Lösung angeben.
Rechenstörung
Bei Vorliegen einer Rechenstörung (Vor- Beispiel
kommen bei F81.2 und F81.3) können in fol- »Wieviel sind 17 minus 6?« Antwort: »12«. Lösungs-
genden Bereichen Schwierigkeiten beste- weg des Kindes: 17 – 16 – 15 – 14 – 13 – 12 (also 6 Zahlen
hen: zurückgezählt, ausgehend von 17).
5 Erfassen der Größe einer Menge und
Vergleichen mit einer anderen Menge Besonders schwer fällt den Kindern das Über-
5 Verstehen von Rechenoperationen und schreiten der Zehnergrenzen (z. B. 26 minus
der ihnen zugrunde liegenden Kon- 9). Manche Kinder wenden komplizierte Zerle-
zepte (z. B. mehr-weniger, Teil-Ganzes, gungen der einzelnen Zahlen und etliche dazwi-
Vielfaches) schen liegende Rechenschritte an und kommen
5 Aufbau von Zahlenstrahl- oder Zahlen- so unter Umständen zum richtigen Ergebnis,
raumvorstellungen, Abschätzen von wenn auch aufgrund der hohen Belastung des
Rechenergebnissen Arbeitsgedächtnis deutlich störanfälliger, benö-
5 Erwerb des arabischen Stellenwertsys- tigen aber hierfür sehr viel Zeit. Beim Multipli-
tems und seiner syntaktischen Regeln zieren kann ein Kind eventuell das Einmaleins
sowie der hierauf aufbauenden Rechen- als Faktenwissen aus dem Gedächtnis abrufen,
prozeduren ohne aber das Prinzip verstanden zu haben oder
5 Sprachliche Zahlenverarbeitung anwenden zu können. So kann es vielleicht aus
(Erwerb der Zahlwortsequenz und der dem Kopf 1×8, 2×8 usw. bis 10×8 aufsagen, aber
Zählfertigkeiten, Speichern von Fakten- – selbst mit visueller Unterstützung – außer-
wissen, z. B. Einmaleins) stande sein, für 11×8 die richtige Lösung zu fin-
5 Übertragen von Zahlen aus einer Kodie- den. Dividieren fällt selbst Jugendlichen mit
rung in eine andere (Zahlwort – ara- einer Rechenstörung, denen es gelungen ist, in
bische Ziffer – analoge Repräsentation). den anderen drei Grundrechenarten Kompen-
sationsstrategien zu entwickeln ist, sehr schwer.
Für mündliche wie schriftliche Rechenopera-
Wie bei der (Lese-)Rechtschreibstörung kön- tionen konstruieren Kinder mit einer Rechen-
nen auch Kinder mit einer Rechenstörung, die störung ihre eigenen Algorithmen, die gelegent-
über eine höhere Intelligenz und/oder ein gutes lich zufällig zu einem richtigen Ergebnis führen
Gedächtnis verfügen, in den unteren Grund- können. Somit ist es bei der klinischen Unter-
schulklassen ihre Störung unter Umständen suchung sehr wichtig, sich erklären zu lassen,
noch kompensieren. Bei der klinischen Unter- wie das Kind jeweils zu dem von ihm genannten
suchung der Rechenfertigkeiten kann ein Kind Ergebnis gelangt ist.
bei einfachen Additionen im Kopf möglicher- Bei Vorliegen einer Rechenstörung ist auch
weise zum richtigen Ergebnis gelangen, benötigt das Erlernen bestimmter alltagspraktischer Fer-
jedoch meist deutlich länger als andere Kinder tigkeiten erschwert, wie z. B. das Berechnen des
seines schulischen Niveaus. Jüngere Kinder kom- Wechselgeldes beim Einkaufen oder das Uhrle-
men ohne Abzählen an den Fingern kaum zum sen bei Uhren mit Zifferblättern. Selbst wenn die-
richtigen Ergebnis, ältere Kinder zählen im Kopf se Fertigkeiten grundsätzlich erworben werden,
66 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 wird in Alltagssituationen viel Zeit dafür benö-


tigt. Detaillierte Hinweise zur Durchführung
störung zu erfassen. Bei Vorliegen einer (Lese-
und) Rechtschreibstörung sind z. B. HAWIK-III,
der klinischen Prüfung bei Verdacht auf eine K-ABC, AID 2, SON-R, CFT20 und SPM geeig-
2 Rechenstörung können der Leitlinie »Umschrie- nete Intelligenztests; CFT1 und CPM können bei
bene Entwicklungsstörungen schulischer Fertig- Kindern im oberen Altersbereich der Normie-
3 keiten« (Deutsche Gesellschaft für Kinderpsych- rungsstichprobe zu Überschätzungen des Intel-
iatrie und Psychotherapie et al. 2003) entnom- ligenzniveaus führen. Bei der Untersuchung hin-
4 men werden. sichtlich des Vorliegens einer Rechenstörung ist
zu beachten, dass K-ABC und HAWIK-III stark
5 ! Bei der klinischen Untersuchung einer Rechen- rechenabhängige Subtests enthalten, die bei der
störung ist nicht in erster Linie relevant, ob das Bestimmung des allgemeinen Intelligenzni-
6 Kind eine Rechenaufgabe richtig oder falsch
gelöst hat, sondern wie es zur (richtigen oder
veaus unberücksichtigt bleiben und durch den
Mittelwert der übrigen Subtests ersetzt werden

7 falschen) Lösung gelangt ist. Zum Teil kön-


nen die Kinder über ihre Vorgehensweisen und
sollten. Die Tests schulischer Fertigkeiten sind
nach dem Klassenniveau des Schülers auszu-
Algorithmen Auskunft geben, zum Teil muss wählen, wodurch das Ergebnis stark vom schu-
8 der Untersucher sich diese durch Verhaltensbe- lischen Curriculum des Schülers abhängt. Viele
obachtung in der Untersuchungssituation und der Schulleistungstests sind unzureichend nor-
9 die Art der Fehler des Kindes selbst erschließen. miert, weswegen eine klinische Untersuchung
unverzichtbar ist (7 4.5.2).
10 Zur Diagnose einer umschriebenen Störung
schulischer Fertigkeiten sind neben der Explo- ! Bei Vorliegen einer umschriebenen Störung
11 ration und klinischen Untersuchung des betrof- schulischer Fertigkeiten ist zu prüfen, inwieweit
fenen Schülers und der Befragung seiner Eltern diese bei dem jeweiligen Patienten eine auf-

12 auch Informationen vom Deutsch- bzw. Mathe-


matiklehrer sowie die Einsichtnahme in die
rechterhaltende Bedingung für seine Störung
des Sozialverhaltens darstellt.
Schulzeugnisse und Schulhefte wichtig. Es soll-
13 te eine quantitative testpsychologische Untersu- Ein solcher Zusammenhang ist bei jüngeren Kin-
chung des allgemeinen Intelligenzniveaus und dern plausibler als bei älteren Kindern oder gar
14 der betroffenen schulischen Fertigkeiten mit Jugendlichen, ebenso dann, wenn disruptives
standardisierten Lese-, Rechtschreib- und/oder Verhalten spezifisch und regelhaft im Zusam-
15 Rechentests durchgeführt werden. Die Diagno- menhang mit schulischen Anforderungen auf-
se sollte nur dann gestellt werden, wenn der im tritt.
16 Lese-, Rechtschreib- bzw. Rechentest erreichte
Prozentrang nicht signifikant größer als 10 ist.
17 Darüber hinaus darf keine Intelligenzminde-
rung (IQ <70) vorliegen, und es ist eine Diskre-
5.2.2 Achse III des MAS:
Intelligenzniveau
18 panz zwischen der allgemeinen intellektuellen
Leistungsfähigkeit und dem Versagen im Lesen, Die Achse III des MAS enthält u. a. die Katego-
Schreiben oder Rechnen aufzuzeigen, etwa als rien der Intelligenzminderung nach der ICD-10
19 T-Wert-Diskrepanz >12 oder als Diskrepanz von (F70–F79).
mindestens 1,5 Standardabweichungen zwischen
20 den beiden Testergebnissen. Dabei ist es wichtig, Definition
das allgemeine Intelligenzniveau unabhängig von Während bei einer Demenz bereits erworbene
der fraglichen umschriebenen Entwicklungs- kognitive und soziale Fähigkeiten in Folge eines
5.2 Identifizierung weiterer Störungen und Belastungen
67 5

Krankheitsprozesses verloren gehen, ist für eine metrischen Tests, u. a. auch in standardisierten
Intelligenzminderung (= geistige Behinderung) Intelligenztests, soweit diese bei der betroffenen
eine unvollständige Entwicklung der geistigen Person durchführbar sind. Der jeweilige Test
Fähigkeiten sowie der psychosozialen Anpassung sollte unter Berücksichtigung des individuellen
kennzeichnend. Leistungsniveaus sowie zusätzlicher spezifischer
Behinderungen, wie sensorischen oder moto-
Letzteres gilt in geringerem Maße auch für die rischen Beeinträchtigungen, ausgewählt werden.
Lernbehinderung (= unterdurchschnittliche Die angegebenen IQ-Werte sind nicht als starre
Intelligenz, oder niedrige Intelligenz entspre- Grenzen, sondern eher als Richtlinien zu verste-
chend dem Multiaxialen Klassifikationssystem), hen, da die mit einem Intelligenztest gemessenen
welche nicht als separate Kategorie in der ICD- Werte auch von vielen anderen intelligenzunab-
10 aufgeführt wird; nach der üblichen Termino- hängigen Faktoren beeinflusst werden können
logie liegt bei einer Lernbehinderung der Intelli- (7 4.5.2).
genzquotient zwischen 70 und 84.
Die in der ICD-10 angegebenen Intelligenz- ! Ein über dem Durchschnitt liegendes Intel-
werte basieren auf Testergebnissen mit einem ligenzniveau stellt einen protektiven Faktor
Mittelwert von 100 und einer Standardabwei- bezüglich der Entwicklung einer Störung des
chung von 15, in Übereinstimmung mit vielen Sozialverhaltens dar.
gebräuchlichen Intelligenztests. Eine Lernbehin-
derung, eine leichte Intelligenzminderung (F70:
IQ 50–69) sowie eine mittelgradige Intelligenz- 5.2.3 Achse IV des MAS: Körperliche
minderung (F71: IQ 35–49) begünstigen die Ent- Symptomatik
wicklung einer Störung des Sozialverhaltens,
wobei mit der vierten Stelle der ICD-10-Kodie- Auf der Achse IV werden aktuelle körper-
rung das Ausmaß der Verhaltensstörung klassi- liche (zerebrale und nichtzerebrale) Störungen
fiziert werden kann (also F70.1 bzw. F71.1: leich- kodiert, unabhängig davon, ob angenommen
te bzw. mäßige Intelligenzminderung mit deut- werden kann, dass sie in einem ursächlichen
licher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Zusammenhang mit einer psychischen Störung
Behandlung erfordert). Eine schwere Intelligenz- stehen oder nicht. Das Vorliegen einer chro-
minderung (F72: IQ 20–34) oder schwerste Intel- nischen körperlichen (nichtzerebralen) Krank-
ligenzminderung (F73: IQ <20) stellt jedoch eine heit stellt erhöhte Anforderungen an die Res-
Ausschlussdiagnose für eine Störung des Sozial- sourcen eines Kindes oder Jugendlichen wie
verhaltens dar, da man bei einem so niedrigen auch seiner psychosozialen Umgebung, so dass
Intelligenzniveau nicht mehr von einem Ver- die Betroffenen häufiger Symptome einer Stö-
ständnis selbst einfachster Regeln des Zusam- rung des Sozialverhaltens entwickeln, als dieses
menlebens ausgehen kann (7 2.5). bei gesunden Gleichaltrigen der Fall ist. Dieses
Die Einschätzung der Intelligenz sollte auf gilt um so mehr für zerebrale Störungen. So wur-
allen verfügbaren Informationen beruhen. Dazu den im Verlauf mehrerer Jahre nach einer bakte-
gehören der klinische Eindruck (Kontaktverhal- riellen Meningitis die Defizite von Aufmerksam-
ten, affektive Reaktionen, Aufmerksamkeit, Kon- keit und Kurzzeitgedächtnis zwar kleiner, Defizi-
zentration, Reaktionsfähigkeit, Sprachverständ- te hinsichtlich gemessener Intelligenz, exekutiver
nis und -produktion), das Anpassungsverhalten Funktionen und schulischer Fertigkeiten waren
der Person an die Anforderungen des alltäglichen jedoch weiterhin festzustellen (Grimwood et al.
Lebens, gemessen an ihrem kulturellen Hinter- 2000). Solche Kinder und Jugendlichen sind in
grund, sowie ihre Leistungsfähigkeit in psycho- höherem Ausmaß von schulischem Leistungs-
68 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

Differenzialdiagnose und
1 versagen und disruptivem Verhalten betroffen
(Koomen et al. 2003). Ein höheres Ausmaß an
5.3
Hierarchie des diagnostischen
disruptivem Verhalten nach einer Enzephalitis Vorgehens
2 kann jedoch auch eine unmittelbare Folge der
zerebralen Störung sein; in diesem Fall wäre auf
3 Achse I die Diagnose »postenzephalitisches Syn- ? Diagnostische Leitfrage
drom« zu kodieren (7 5.3). Bestehen die disruptiven Symptome nicht nur
4 im Rahmen einer anderen psychiatrischen Stö-
rung?
5 5.2.4 Achse V des MAS: Assoziierte
aktuelle abnorme psychosoziale Unter »Differenzialdiagnostik« wird die Abwä-
6 Umstände gung der verschiedenen Symptome eines Pati-
enten hinsichtlich der möglichen zugrunde lie-

7 Hier geht es um psychosoziale Belastungsfak-


toren mit aktueller Relevanz für das dissozi-
genden Krankheiten verstanden. Dieses kann
die Auswahl einer von mehreren möglichen Dia-
ale Verhalten. Diesbezüglich relevante Katego- gnosen, das Stellen von komorbiden Diagnosen
8 rien wurden in Kap. 4 (7 4.4) bereits aufgeführt, oder von Ausschlussdiagnosen beinhalten.
in welchem sie sich jedoch – über die aktuellen Ausschlussdiagnosen für die Diagnose einer
9 abnormen psychosozialen Umstände hinaus – Störung des Sozialverhaltens werden in 7 2.5
auch auf psychosoziale Belastungen in der Vor- erörtert, die Differenzialdiagnostik zwischen ver-
10 geschichte bezogen, die für die Genese der Stö- schiedenen Untergruppen der Störungen des Sozi-
rung des Sozialverhaltens relevant gewesen sein alverhaltens in 7 4.1, komorbide Diagnosen auf
11 könnten. Achse I des MAS werden unter 7 2.4 und 7 4.3
dargestellt, komorbide Diagnosen auf den Ach-
12 5.2.5 Achse VI des MAS: Globale
sen II–IV des MAS unter 7 5.2. Im vorliegenden
Abschnitt geht es vor allem um die Frage, ob die
Beurteilung des psychosozialen festgestellten disruptiven Symptome nicht ledig-
13 Funktionsniveaus lich im Rahmen einer anderen psychiatrischen
Störung der Achse I des MAS bestehen.
14 Diese Achse bildet das globale Funktionsniveau
unter Berücksichtigung des psychischen, sozi- ! Nach der ICD-10 gilt: »Merkmale der Störungen
15 alen und schulisch-beruflichen Funktionierens des Sozialverhaltens können symptomatisch
ab. Die Kodierung bezieht sich auf das niedrigste auch bei anderen psychiatrischen Erkran-
16 Funktionsniveau innerhalb der letzten 3 Monate kungen auftreten, dann ist die zugrunde lie-
(oder einen entsprechend der Akuität der Stö- gende Diagnose zu kodieren.«

17 rung kürzeren Zeitraum) vor der aktuellen


psychiatrischen Untersuchung. Die Skala reicht
5.3.1 Hierarchie des diagnostischen
18 von einer Kodierung von 1 für das höchste Funk-
tionsniveau bis 9 für das niedrigste Funktions- Vorgehens
niveau. Achse VI ist auch deswegen bedeutsam,
19 weil sie die erforderliche Intensität der Interven- Je akuter disruptive Symptome auftreten, des-
tionen bestimmt (7 6.1) to vordringlicher ist die differenzialdiagnosti-
20 sche Abklärung bezüglich der Störungen aus den
Kapiteln F0 »Organische, einschließlich sympto-
matischer Störungen« und F1 »Psychische und
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
69 5

Verhaltensstörungen durch psychotrope Subs- so dass er in einer Klinik behandelt worden sei. Bei der
tanzen« der ICD-10, da es sich um potenziell somatischen Untersuchung zeigt sich Fieber und ein
lebensbedrohliche Zustände handeln kann. In leicht erhöhter Blutdruck.
Akutsituationen müssen weiterhin die Differen- Mögliche Differenzialdiagnosen, die sich gegenseitig
zialdiagnosen einer akuten Psychose und einer nicht ausschließen, sind:
manischen Episode vordringlich abgeklärt wer- 5 Störung des Sozialverhaltens, evtl. mit komorbider
den. Gerade bei Patienten mit einer bekannten ADHS (Patient folgt aufgrund eines Aufmerksam-
Störung des Sozialverhaltens oder schwierigen keitsdefizites dem Gespräch unzureichend)
psychosozialen Bedingungen ist die Wahrschein- 5 Intoxikation mit Alkohol, evtl. auch mit anderen
lichkeit größer, dass disruptives Verhalten in die- Substanzen (Biergeruch; erhöhter Blutdruck infolge
sem Zusammenhang gesehen wird und andere – von u. a. Amphetaminkonsum)
u. a. auch organische – Faktoren als Erklärungs- 5 Psychotische Störung (familiäre Belastung)
möglichkeit für akut auftretendes aggressives 5 Schädel-Hirn-Trauma, z. B. durch körperliche Aus-
Verhalten zu wenig in Betracht gezogen werden. einandersetzung oder Sturz im Rahmen des Stadi-
onbesuches

Wichtige Ursachen akuter aggressiver Hier lieferte das Vorliegen von Fieber mit erhöhtem
Erregungszustände Blutdruck und der eingeschränkten Fähigkeit des Pati-
5 Enzephalitis enten, seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zu rich-
5 Substanzintoxikation (vor allem Alko- ten, den entscheidenden differenzialdiagnostischen
hol, Amphetamine, Kokain, Inhalan- Hinweis auf das Vorliegen einer zerebralen Infektion
zien; besonders unberechenbar sind mit einem deliranten Bild.
Mischintoxikationen)
5 Schädel-Hirn-Trauma
5 Delir jeglicher Pathogenese Diagnostisches und differenzialdi-
5 Akute Psychose agnostisches Vorgehen bei aggressiven
5 Manische Episode Erregungszuständen (angelehnt an
Guerrero 2003)
5 Identifizieren des (der) aktuell wichtigs-
Beispiel ten Symptoms (Symptome)
Ein 16-jähriger männlicher Jugendlicher, ein Auslän- 5 Identifizieren möglicher Differenzial-
der, der nicht gut deutsch spricht, wird von der Polizei diagnosen anhand der Ergebnisse von
in Begleitung seines Cousins gebracht, weil er auf der Exploration, psychiatrischer Untersu-
Straße durch lautes und aggressives Verhalten aufge- chung und ggf. fremdanamnestischen
fallen war. Dieses Verhalten zeigt er auch gegenüber Informationen
dem untersuchenden Arzt. Der Cousin gibt an, dass 5 Erhebung der Vitalparameter (ziehen Sie
der Patient schon immer schnell wütend geworden sei spezifisch Störungen mit hoher Gefähr-
und Angst vor Ärzten habe. Sie seien im Fußballstadi- dung für den Patienten in Betracht!)
on bei einem Spiel gewesen und hätten Bier getrun- 5 »Warum jetzt«? Welche Hypothese er-
ken. Trotz des Heranziehens eines Übersetzers wird klärt am besten, warum gerade jetzt ein
die psychiatrische Untersuchung durch die Sprach- aggressiver Erregungszustand auftritt?
barriere erschwert, und der Patient scheint Schwierig- 5 Überprüfen der Differenzialdiagnosen
keiten zu haben, dem Gespräch zu folgen. Der Cousin anhand aller vorliegenden Informati-
gibt an, dass ein Onkel früher mal einen Nervenzusam- onen.
menbruch hatte und sehr durcheinander gewesen sei,
70 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

Exkurs
1 Zerebrale Infektionen als Ursachen ag- Die klinische Diagnose kann oft nur wenig
gressiven Verhaltens zuverlässig gestellt werden. HSV-spezifische
2 Antikörper im Serum haben für die Diagnose
Symptome einer akuten Virusenzephalitis einer Herpes-simplex-Enzephalitis keine hohe
3 Bei einer akuten Virusenzephalitis können Bedeutung (Sauerbrei et al. 2000), denn etwa
neben der Triade aus Fieber, Kopfschmerzen 90% der Bevölkerung sind seropositiv für HSV-

4 und Bewusstseinsstörung auch Desorientiert-


heit, Auffälligkeiten im Verhalten oder Spre-
1, und eine Titer-Erhöhung tritt unter Umstän-
den erst 10 Tage nach Beginn der Erkrankung
chen, fokale oder generalisierte neurologische auf. Die diagnostische Methode der Wahl bei
5 Symptome, z. B. Hemiparese oder epilep- Verdacht auf eine Herpes-simplex-Enzephali-
tische Anfälle, sowie gelegentlich ein delirantes tis ist die MRI-Untersuchung (Chaudhuri u. Ken-
6 Zustandsbild auftreten. Mittels einer Kernspin- nedy 2002). Gesichert wird die Diagnose durch
untersuchung lassen sich frühe Zeichen einer Nachweis der Viren-DNA im Liquor durch PCR
7 akuten Virusenzephalitis mit hoher Sensitivität (»polymerase chain reaction«). Es muss jedoch
erkennen. Die Laboruntersuchungen des Blutes bereits bei dem begründeten klinischen Ver-
8 hingegen erbringen bei viralen ZNS-Infek- dacht einer Herpes-simplex-Enzephalitis
tionen entweder einen Normalbefund oder schnellstmöglich eine Behandlung mit Aciclovir

9 geringfügig erhöhte Entzündungsparameter.


Herpes-simplex-Enzephalitis. Das Herpes-sim-
begonnen werden, da die Prognose von einem
möglichst zügigen Behandlungsbeginn ent-

10 plex-Virus (HSV) ist der häufigste Erreger einer scheidend abhängt.


nichtepidemischen akuten viralen Enzephali-
tis in den westlichen Ländern. Die HSV-Enze- Symptome einer akuten bakteriellen Enze-
11 phalitis ist eine der schwerwiegendsten zere- phalitis
bralen Infektionen, assoziiert mit hohen Morta- Das klinische Bild einer akuten bakteriellen (eit-
12 litätsraten und erheblichen bleibenden Beein- rigen) Meningoenzephalitis ist gekennzeich-
trächtigungen. Etwa ein Drittel der Patienten net durch hohes Fieber, starken Kopfschmerz,
13 sind Kinder und Jugendliche. Fokale Nekrosen schweres Krankheitsgefühl, Schüttelfrost, Übel-
des Gehirnparenchyms treten vor allem tempo- keit und Erbrechen, Lichtscheu, Gereiztheit,
14 ral und orbitofrontal auf, besonders bei Kindern Verwirrtheit, Bewusstseinsstörung (in schweren
jedoch auch parietal und okzipital (De Tiège et Fällen Koma), zerebrale Krampfanfälle. Menin-

15 al. 2003).
Die ersten Symptome einer HSV-Infektion kön-
gismus, Brudzinski-Zeichen (reflektorische
Beugung im Kniegelenk bei passiver Anhe-
nen völlig unspezifisch sein. Das klinische Bild bung des Kopfes) sowie Kernig-Zeichen (im Sit-
16 einer HSV-Enzephalitis fluktuiert charakteristi- zen kann keine Kniestreckung ausgeführt wer-
scherweise und kann sich über einen Zeitraum den) sind im Kindes- und Jugendalter oft nur
17 von mehreren Tagen entwickeln. Als Symptome mäßig ausgeprägt oder fehlen ganz. Bei aku-
können auftreten: Fieber, Kopfschmerzen, tem Beginn ist in der Regel deutlich, dass die
18 Bewusstseinsstörung (bis hin zum Koma), Ver- psychopathologischen Veränderungen im Rah-
wirrung, Lethargie, verändertes Verhalten, men einer somatischen Erkrankung zu sehen
19 delirantes Bild, fokale neurologische Zeichen, sind. Die häufigsten Erreger einer bakteriellen
zerebrale Krampfanfälle (bei etwa der Hälfte Meningoenzephalitis im Kindesalter sind Neis-

20 der Patienten), Beeinträchtigungen der Spra-


che (bis hin zur Aphasie), Gedächtnisstörungen,
seria meningitidis und Streptococcus pneumo-
niae, bei Jugendlichen Meningokokken.
Aggressivität. 6
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
71 5

Vor Beginn einer antibiotischen Therapie sollte ! Eine akute Enzephalitis ist ein medizi-
eine Blutkultur abgenommen werden. Im Blut- nischer Notfall!
bild zeigt sich eine Leukozytose, und es kommt
zu einer Erhöhung des C-reaktiven Proteins, die Nach Ablauf einer Enzephalitis kann es im Rah-
jedoch ganz früh im Verlauf der Infektion noch men eines postenzephalitischen Syndroms
fehlen kann. Die definitive Diagnose einer bak- (F07.1) zu erhöhter Aggressivität kommen.
teriellen Meningoenzephalitis erfolgt durch
Erregernachweis im Liquor.

5.3.2 Differenzialdiagnose
klinisch-psychiatrische Störungsbilder aufge-
Nachfolgend werden für die Störungen des Sozi- führt. Der zugehörige differenzialdiagnostische
alverhaltens differenzialdiagnostisch relevante Entscheidungsbaum ist in . Abb. 5. 1 gestellt.

Differenzialdiagnostisch relevante klinisch-psychiatrische Störungsbilder (Achse I des MAS)

5 Organische, einschließlich symptoma- 5 Schizophrenie (F20): Ausschlussdiagnose!


tischer psychischer Störungen (F0) 5 Manische Episode (F30), bipolare affektive
– Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige Störung (F31): Ausschlussdiagnose!
psychotrope Substanzen bedingt (F05) 5 Depressive Episoden (F32), rezidivierende
– Nicht näher bezeichnete organische depressive Störung (F33), Dysthymia (F34.1)
psychische Störung aufgrund einer Wenn komorbid mit einer Störung des Sozi-
Schädigung des Gehirns oder einer kör- alverhaltens → Störung des Sozialverhaltens
perlichen Krankheit (F06.9) mit depressiver Störung
– Organische Persönlichkeitsstörung 5 Neurotische, Belastungs- und somatoforme
(F07.0) Störungen (F4), emotionale Störungen des
– Postenzephalitisches Syndrom (F07.1) Kindesalters (F93)
– Organisches Psychosyndrom nach Wenn komorbid mit einer Störung des Sozi-
Schädel-Hirn-Trauma (F07.2) alverhaltens → Sonstige kombinierte Stö-
5 Psychische und Verhaltensstörungen durch rung des Sozialverhaltens und der Emoti-
psychotrope Substanzen (F1) onen
– Intoxikation mit psychotropen Substan- 5 Essstörungen (F50)
zen (F1x.0) 5 Nichtorganische Schlafstörungen (F51)
– Delir im Rahmen einer akuten Intoxika- 5 Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2):
tion (F1x.03) Ausschlussdiagnose!
– Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) 5 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
– Substanzinduzierte psychotische Stö- (F60.3)
rung (F1x.5) – Impulsiver Typus (F60.30)
– Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung – Borderline-Typus (F60.31)
durch psychotrope Substanzen (F1x.71) 6
72 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 5 Abnorme Gewohnheiten und Störungen 5 Emotionale Störung mit Geschwisterrivali-


der Impulskontrolle (F63) tät (F93.3)
2 – Pathologisches Glücksspiel (F63.0) 5 Elektiver Mutismus (F94.0)
– Pathologische Brandstiftung (F63.1) 5 Reaktive Bindungsstörung des Kindesal-
3 – Pathologisches Stehlen (F63.2) ters (94.1)
– Störung mit intermittierend auftre- 5 Bindungsstörung des Kindesalters mit Ent-

4 tender explosiver Reizbarkeit (F63.8)


5 Tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84):
hemmung (F94.2)
5 Ticstörungen (F95)

5
Ausschlussdiagnose! – Vorübergehende Ticstörung (F95.0)
5 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeits- – Chronische motorische oder vokale Tic-
störung (F90.0) störung (F95.1)
6 Wenn komorbid mit einer Störung des Sozi- – Kombinierte vokale und multiple moto-
alverhaltens → Hyperkinetische Störung des rische Tics (Tourette-Syndrom; F95.2)
7 Sozialverhaltens 5 Enuresis (F98.0), Enkopresis (F98.1)
5 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperakti-
8 vität (F98.8)

9
10 Organische, einschließlich weist lediglich daraufhin, dass das zu beob-
symptomatischer psychischer Störungen achtende psychopathologische Syndrom auf
11 (F0) jeden Fall einer unabhängig davon diagnosti-
Das Kapitel F0 der ICD-10 umfasst psychische zierbaren zerebralen oder systemischen Krank-
12 Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer
zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder
heit oder Störung zugeordnet werden kann. Der
Begriff »symptomatisch« wird dann verwen-
einer anderen Störung, die zu einer Hirnfunk- det, wenn eine organische psychische Störung
13 tionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann auf einer mittelbaren zerebralen Beteiligung bei
primär sein, bei Krankheiten, Verletzungen oder einer systemischen, extrazerebralen Krankheit
14 Störungen, die das Gehirn direkt oder in beson- oder Störung beruht. In der Regel erfordert also
derem Maße betreffen; oder sekundär, z. B. bei die Diagnosestellung bei Störungen aus diesem
15 Systemerkrankungen oder Störungen, die das Abschnitt die Verwendung zweier Kodierungen,
Gehirn nur als eines von vielen Organen oder eine Kodierung für das psychopathologische
16 Körpersystemen betreffen. Durch Alkohol und Syndrom, die andere für die zugrunde liegende
andere psychotrope Substanzen verursach- somatische Störung.
17 te Störungen der Hirnfunktion werden jedoch
unter F1 klassifiziert, damit alle durch psycho-
Die psychopathologischen Symptome der
unter F0 aufgeführten Zustandsbilder kön-

18 trope Substanzen bedingten Störungen in einem


Abschnitt zusammengefasst sind. Fast alle orga-
nen sehr vielfältig sein, lassen sich aber in zwei
Hauptgruppen unterteilen. Einerseits gibt es
nischen Störungen können in jedem Lebensalter, Syndrome, bei denen die auffallendsten, immer
19 mit Ausnahme der frühen Kindheit, beginnen. vorhandenen Merkmale Störungen der kogni-
Die Verwendung des Begriffes »organisch« tiven Funktionen (Gedächtnis, Lernen, Pla-
20 impliziert nicht, dass die Störungen in ande- nungsfähigkeit) oder Störungen des Sensoriums
ren Kapiteln der ICD-10 nicht auf einer Abwei- (Bewusstsein, Aufmerksamkeit) sind, also z. B.
chung der Gehirnfunktion beruhen, sondern Demenz oder Delir. Aber auch im Rahmen die-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
73 5

ser Störungsbilder kann es zu akutem agitiertem talle; Insektizide, die Acetylcholinesterase-Hem-


und aggressivem Verhalten kommen, und das mer enthalten) sein oder durch Intoxikation oder
Delir stellt eine wichtige Differenzialdiagno- Entzug im Rahmen eines Substanzmissbrauches
se bei akut auftretenden aggressiven Erregungs- hervorgerufen werden.
zuständen dar. Andererseits gibt es Syndrome, Ein Delir infolge einer zerebralen oder sys-
bei denen kognitive Störungen oder Störungen temischen Krankheit oder Störung kann unter
des Sensoriums nur in geringem Maß beste- Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psycho-
hen und die sich überwiegend auf den emotio- trope Substanzen bedingt (F05) verschlüsselt
nalen Bereich bzw. das gesamte Persönlichkeits- werden. Daneben ist ebenfalls die zugrunde lie-
und Verhaltensmuster beziehen. Bei Kindern ist gende somatische Störung entsprechend der
weniger eine Veränderung von stabilen Merkma- ICD-10 zu kodieren. Auch delirante Zustands-
len als eine deutliche Abweichung von der nor- bilder aufgrund ärztlich verordneter Medikation
malen Entwicklung festzustellen. Hierbei auftre- sollten hierunter verschlüsselt werden, z. B. anti-
tende Symptome sind emotionale Labilität, Reiz- cholinerges Delir bei Einnahme von Biperiden
barkeit, mangelnde Impulskontrolle, plötzliche (Akineton), Trizyklika oder Clozapin (Leponex),
Aggression oder Wutausbrüche, die im Verhält- wobei die entsprechende Medikation mit einer
nis zum auslösenden psychosozialen Faktor völ- zusätzlichen Kodierung aus dem Kapitel XIX,
lig unangemessen erscheinen, deutliche Apathie, Abschnitt T der ICD-10 zu verschlüsseln ist.
Misstrauen oder paranoide Vorstellungen. Dagegen werden delirante Zustandsbilder
infolge des Konsums psychotroper Substanzen
Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige unter Abschnitt F1 der ICD-10 »Psychische und
psychotrope Substanzen bedingt (F05) Verhaltensstörungen durch psychotrope Subs-
Bei einem Delir – in dessen Rahmen es zu aggres- tanzen« klassifiziert, u. a. als akute Intoxikation
sivem Verhalten kommen kann – handelt es sich mit Delir (F1x.03), z. B. als anticholinerges Delir
um ein akut auftretendes, ätiologisch unspezi- durch Ingestion von Pflanzenalkaloiden (F19.03),
fisches Syndrom, welches auf eine globale Dys- sowie als Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) z. B.
funktion kortikaler Zentren hinweist. bei Alkohol- oder Benzodiazepinentzug, das bei
Kennzeichnend sind gleichzeitig bestehende Jugendlichen jedoch kaum vorkommt.
Störungen des Bewusstseins und der Aufmerk- Ein delirantes Zustandsbild kann in jedem
samkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Lebensalter auftreten. Die Symptomatik beginnt
Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotio- in der Regel plötzlich und fluktuiert situativ wie
nalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus. auch innerhalb einer 24-Stunden-Periode. In
Die Differenzialdiagnose hinsichtlich der den meisten Fällen bildet ein Delir sich inner-
möglichen Ursachen eines Delirs ist sehr breit, halb von 4 Wochen wieder zurück, kann jedoch
von relativ benigne bis potenziell fatal. Ein im Rahmen bestimmter internistischer Erkran-
Delir kann eine direkte physiologische Konse- kungen, z. B. chronische Lebererkrankung, Kar-
quenz einer systemischen Krankheit oder Funk- zinom oder subakute bakterielle Endokarditis,
tionsstörung (systemische Infektionen, Hypo- mit fluktuierendem Verlauf bis zu einem Zeit-
xie, Hypoglykämie, Störungen des Wasser- oder raum von mehreren Monaten bestehen.
Elektrolythaushalts, hormonelle Störungen, Bei einem Delir bestehen Auffälligkeiten in
hepatische oder renale Erkrankungen, Thiami- den folgenden Bereichen, wobei nicht jeder Pati-
nmangel, postoperativer Zustand, postiktaler ent in jedem Bereich gleichermaßen Auffällig-
Zustand, Schädel-Hirn-Trauma, zerebrale Infek- keiten zeigt:
tionen) sein, eines Medikamentes (z. B. Anticho- 5 Bewusstsein: quantitative oder qualitative
linergika, Lithium) oder Toxins (z. B. Schwerme- Bewusstseinsstörung (s. Übersicht)
74 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

5 Aufmerksamkeit: reduzierte Fähigkeit, die


1 Aufmerksamkeit auszurichten, zu fokussie- Bewusstseinsstörungen
ren, aufrechtzuerhalten und umzustellen; Quantitative Bewusstseinsstörungen:
2 erhöhte Ablenkbarkeit, Fragen müssen wie- Bewusstseinsminderung (durch eine Ver-
derholt werden, Probleme, dem Gespräch zu minderung der Vigilanz)
3 folgen 5 Benommenheit: leichteste Ausprägung
5 Orientierung: zeitliche Desorientiertheit, in einer Bewusstseinsstörung mit Auffas-
4 schweren Fällen auch Desorientiertheit zu sungsstörungen und Denkverlangsa-
Ort und Person mung
5 5 Gedächtnis: Beeinträchtigung des Imme- 5 Somnolenz: abnorme Schläfrigkeit,
diatgedächtnisses, also der unmittelbaren stark verlangsamt, aber weckbar

6 Wiedergabe, und des Kurzzeitgedächtnisses


(der Patient wird gebeten, sich an mehre-
5 Sopor: nur stärkere Reize lösen noch
Reaktionen aus, adäquate Schmerzre-

7 re Gegenstände zu erinnern, und soll die-


se nach Fortsetzung des Gesprächs für eini-
aktion, für kurze Zeit weckbar
5 Koma: Bewusstlosigkeit, nicht weckbar;
ge Minuten wiederholen); das Langzeitge- evtl. auf Schmerzreize noch unkoordi-
8 dächtnis ist relativ intakt nierte Abwehrbewegungen
5 Denken: Beeinträchtigung des abstrakten
9 Denkens und der Auffassung, typischerwei- Qualitative Bewusstseinsstörungen:
se mit einem gewissen Grad an Inkohärenz Bewusstseinsveränderung
10 (im Gespräch weitschweifig, am Thema vor- 5 Bewusstseinstrübung: Verwirrtheit von
bei, Gedankengang nicht gut nachvollzieh- Denken und Handeln; z. B. Delir
11 bar, unvermitteltes Springen von einem The- 5 Bewusstseinseinengung: Traumhafte
ma zum anderen) Veränderung des Bewusstseins, vermin-
5 Psychomotorik: Hypo- oder Hyperaktivität
12 und nicht vorhersagbarer Wechsel zwischen
derte Ansprechbarkeit auf Außenreize
bei erhaltener Handlungsfähigkeit; z. B.
beiden Extremen; verminderter oder ver- bei Epilepsie, Intoxikation
13 mehrter Redefluss; verlängerte Reaktions- 5 Bewusstseinsverschiebung: Bewusst-
zeit; verstärkte Schreckreaktion seinssteigerung mit Gefühl der Intensi-
14 5 Schlaf-Wach-Rhythmus: Schlafstörung, in täts- und Helligkeitssteigerung gegen-
schweren Fällen völlige Schlaflosigkeit oder über dem Tagesbewusstsein; z. B. bei
15 Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus mit Intoxikation (u. a. Ecstasy, LSD)
Schläfrigkeit am Tage; nächtliche Verschlim-
16 merung der Symptome; unangenehme Träu-
me oder Albträume, die nach dem Erwa- Die frühen Anzeichen eines Delirs können auf-
17 chen als Illusionen oder Halluzinationen
fortbestehen können
grund des fluktuierenden Bildes übersehen wer-
den, insbesondere dann, wenn man den norma-
5 Affekt: Depression, Apathie, staunende Rat-
18 losigkeit, Euphorie, Angst oder Furcht, Reiz-
len psychischen Status des Patienten nicht kennt.
Kulturelle und sprachliche Barrieren können die
barkeit, Wut, aggressives Verhalten diagnostische Unsicherheit noch weiter erhö-
19 5 Wahrnehmung: Wahrnehmungsverzerrung, hen (Muench et al. 2001). Deswegen sind fremd-
Illusionen und (meist optische) Halluzina- anamnestische Informationen von Personen, die
20 tionen mit dem Patienten vertraut sind, äußerst wichtig,
zum einen hinsichtlich der relevanten medizi-
nischen und psychiatrischen Vorgeschichte, ein-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
75 5

schließlich Medikation und Substanzkonsum, Voraussetzung für die Diagnose einer orga-
sowie um Angaben über Vorgeschichte und Ent- nischen psychischen Störung nach diesen bei-
wicklung des aktuellen Bildes sowie Art und den diagnostischen Kategorien ist der objek-
Ausmaß der Abweichung vom Normalzustand tive Nachweis anhand körperlicher, neurolo-
zu erhalten. Die Fluktuationen in der Symp- gischer oder laborchemischer Untersuchungen
tomatik können jedoch zu widersprüchlichen und/oder Anamnese einer zerebralen Krank-
fremdanamnestischen Angaben über die Symp- heit, Schädigung oder Funktionsstörung oder
tomatik des Patienten führen. Neben Explorati- einer systemischen Krankheit in der Vorge-
on, psychiatrischer Untersuchung und Anam- schichte, die bekanntermaßen eine zerebrale
nese sind körperliche Untersuchung, Laborun- Funktionsstörung verursachen kann. Solche
tersuchungen sowie EEG (meist verlangsamte zugrunde liegenden somatischen Störungen
Hintergrundaktivität) und MRI für die Differen- sind u. a.: Infektionskrankheiten mit zentral-
zialdiagnose der zugrunde liegenden Ätiologie nervöser Beteiligung, Schädel-Hirn-Traumata,
des Delirs relevant. zerebrale Tumoren, Epilepsie, endokrine und
Das anticholinerge Delir geht aufgrund seiner metabolische Störungen und Autoimmunpro-
spezifischen Pathogenese mit einer spezifischen zesse mit zentralnervöser Beteiligung. Weiterhin
Symptomatik einher. wird ein zeitlicher Zusammenhang (Wochen bis
einige Monate) zwischen der Entwicklung der
zugrunde liegenden Krankheit und dem Auf-
Symptome eines anticholinergen Delirs treten des psychischen Syndroms gefordert. Ein
(F05) deutlicherer Hinweis auf eine ätiologische Bezie-
5 Agitiertheit und Aggressivität hung ergibt sich, wenn es nach Rückbildung
5 Optische Halluzinationen oder Besserung der zugrunde liegenden vermu-
5 Mydriasis teten Ursache auch zu einer Besserung der psy-
5 Rote, trockene Haut chischen Störung kommt.
5 Fieber
5 Tachykardie
5 Dysarthrie
5 Harnverhalt

! Ein Delir kann lebensgefährlich sein. Neben


psychiatrischer Behandlung ist eine sorgfältige
organische Diagnostik und Überwachung erfor-
derlich.

Nicht näher bezeichnete organische


psychische Störung aufgrund einer
Schädigung oder Funktionsstörung des
Gehirns oder einer körperlichen Krankheit
(F06.9)
Wenn deutliche disruptive Symptome als orga-
nisch bedingt aufgefasst werden, können sie als
nicht näher bezeichnete organische psychische
Störung eingeordnet werden.
76 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1
Kind/Jugendlicher
mit disruptiven Symptomen

2 Störung von Bewusstsein oder Orientierung?


Wahrnehmungsstörungen?
Formale oder inhaltliche Denkstörungen?
3 ja
Gehobene Stimmung oder gesteigerter Antrieb?
nein

4 Richtungsweisende pathologische Befunde:


Somatisch-neurologische Untersuchung
Abgrenzbarer Beginn der Symptomatik,
besonderes Ereignis vorausgehend,
EEG, bildgebende Verfahren
5
Symptomatik ≤ 6 Monate bestehend?
Labor (Drogenscreening, Toxikologie)
ja nein ja nein

6 F0 Organische Störungen F20 Schizophrenie


(Ausschluss)
F43.24, F43.25 Anpassungsstörung Selbstinduzierte
(auch komorbid) mit vorwiegender/gemischter Gewichtsabnahme,
F1 Störungen durch F30 Manische Episode Essattacken,
7
Störung des Sozialverhaltens
psychotrope Substanzen (Ausschluss) (Ausschluss) pathologische Furcht,
(auch komorbid) F31 Bipolare affektive zu dick zu werden?
Störung (Ausschluss)
8 F50 Essstörungen
ja
Unvorhersehbare, launenhafte
nein

(auch komorbid) Stimmung, Ausagieren von Impulsen


9 ohne Rücksicht auf Konsequenzen,
Alter ≥16 Jahre?

10 F60.3 Emotional-instabile
ja nein
Wiederholte Handlungen ohne vernünftige Motivation,
Persönlichkeitsstörung die nicht kontrolliert werden können und die Interessen
11 (auch komorbid) der betroffenen Person oder anderer schädigen
ja nein

12 F63 Abnorme Gewohnheiten und Qualitative Beeinträchtigung in den wechselseitigen


Störungen der Impulskontrolle sozialen Beziehungen und Kommunikationsmustern,

13
(auch komorbid) eingeschränkte, stereotype Interessen und Aktivitäten?
ja nein
F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Intensive negative Gefühle gegenüber einem unmittelbar
14 (Ausschluss) jüngeren Geschwister?
ja nein

15 F93.3 Emotionale Störung mit Geschwister-


rivalität (auch komorbid, dann F92.8)
Abnormes Beziehungsmuster zu Bezugspersonen?

ja nein

16 F94 Bindungsstörungen Kombinierte vokale und multiple motorische Tics?


(auch komorbid, dann F91.1)
nein
17
ja
Ausgeprägte soziale Devianz mit Affektarmut, fehlendem
F95.2 Tourette-Syndrom (auch komorbid)
Schuldbewusstsein, allgemeine Kriterien einer Persönlich-

18 ja
keitsstörung erfüllt, Alter ≥16 Jahre?
nein
F60.2 dissoziale Persönlichkeitsstörung Mindestens ein disruptives Symptom in erheblicher
19 (Ausschluss) Ausprägung seit mindestens sechs Monaten
nein
ja

20
F91, F92, F90.1, F90.8 Störungen des Evaluation des bisherigen diagnostischen Prozesses,
Sozialverhaltens (s. Abb. 2.1, 4.1) Einholen von weiteren diagnostischen Informationen

. Abb. 5.1. Differenzialdiagnostik bei disruptiven Symptomen. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des Sozialverhaltens«,
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2003)
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
77 5
Exkurs
Hirntumoren als Ursache aggressiven Verhal- Epilepsie als Ursache aggressiven Verhaltens
tens Eine Epilepsie kann idiopathisch, d. h. ohne
Hirntumoren stellen im Kindesalter nach den eine erkennbare Ursache, auftreten oder Folge
Leukämien die zweitgrößte Gruppe maligner einer Enzephalitis, eines Schädel-Hirn-Traumas
Erkrankungen dar. Ein Hirntumor kann sich oder eines Gehirntumors sein. Bei den meisten
durch Lokalsymptome infolge der Irritation des Patienten mit Epilepsie besteht keine erhöhte
Hirngewebes am Tumorsitz sowie in unspe- Aggressivität, hiervon ist lediglich eine kleine
zifischen Fernsymptomen äußern, die durch Subgruppe betroffen, insbesondere bei Beteili-
intrakranielle Drucksteigerung (Tumormasse, gung temporolimbischer Regionen. Im Zusam-
peritumorales Ödem, Liquoraufstau) entstehen. menhang mit epileptischen Anfällen auftre-
Primäre Manifestation eines Großteils der Hirn- tendes aggressives Verhalten geht mit hohem
tumoren im Kindesalter sind Kopfschmerzen; Arousal, Angst oder Furcht einher. Während
eines der frühesten Anzeichen eines Hirntu- eines epileptischen Anfalls auftretendes, iktales
mors kann jedoch auch eine Verhaltensände- aggressives Verhalten ist selten, und in der
rung des betroffenen Kindes sein (van Koot Regel handelt es sich dann um einfaches, ste-
1992). Nicht selten treten Wutausbrüche und reotypes und ungezieltes aggressives Verhal-
impulsiv-aggressives Verhalten auf, vor allem ten. Auch postiktal, im Anschluss an einen epi-
dann, wenn temporale und hypothalamische leptischen Anfall, tritt äußerst selten eine kon-
Regionen – welche mit aggressivem Verhal- sekutive Abfolge zielgerichteter aggressiver
ten in Zusammenhang stehen – betroffen sind Handlungen auf. Interiktales, also im Intervall
(van Koot 1992; Nakaji et al. 2003; Weissenber- zwischen den epileptischen Anfällen auftre-
ger et al. 2001). Auch gutartige Tumoren und tendes impulsiv-aggressives Verhalten ist ein
andere intrakranielle Raumforderungen, z. B. bei Patienten mit Temporallappen-Epilepsie gut
Abszesse, umschriebene Blutungen und Zys- bekanntes, aber dennoch selten auftretendes
ten, können zu erhöhter Aggressivität füh- Phänomen; es kann auch Folge von interiktaler
ren, selbst dann, wenn im MRI kein Hinweis auf epileptiformer Aktivität sein. Vermehrtes impul-
einen Verdrängungseffekt oder erhöhten intra- siv-aggressives Verhalten im Rahmen einer Epi-
kraniellen Druck festzustellen ist, und psychia- lepsie kann nicht nur direkt auf die abnorme
trische Symptome mit deutlich erhöhter impul- elektrische Aktivität zurückzuführen sein, son-
siver Aggressivität können die einzige Mani- dern auch eine unerwünschte Nebenwirkung
festation sein – ohne begleitende neurolo- einer antiepileptischen Therapie darstellen. So
gische Befunde wie zerebrale Krampfanfäl- kam es vor allem bei Kindern mit Intelligenz-
le oder fokale Ausfälle (von Gontard u. Müller minderung unter antiepileptischer Behandlung
1991; Nakaji et al. 2003). Die chirurgische Ent- zu vermehrter Gereiztheit und aggressivem
fernung des Tumors kann eine kausale Thera- Verhalten (Harbord 2000). Grundsätzlich kann
pie des disruptiven Verhaltens darstellen (Naka- natürlich auch bei Patienten mit einer Epilepsie
ji et al. 2003). Auch wenn intrakranielle Tumo- vermehrt proaktiv-aggressives Verhalten auftre-
ren eine seltene Ursache disruptiven Verhaltens ten, welches dann nicht als unmittelbar orga-
sind, sollte man zumindest bei extremer oder nisch verursachtes Verhalten zu betrachten ist,
atypischer Ausgestaltung des aggressiven Ver- wohl aber mit den mit einer Epilepsie einherge-
haltens sowie bei zusätzlichem Vorliegen neu- henden kognitiven, emotionalen und psycho-
rologischer Symptome eine MRI-Untersuchung sozialen Schwierigkeiten in Zusammenhang
in Betracht ziehen. stehen kann.
6
78 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

! Bei Verdacht auf ein signifikantes akutes


1 Schädel-Hirn-Trauma als Ursache aggressiven
Verhaltens Schädel-Hirn-Trauma: Spezialisten hinzu-
Als akute Folge eines Schädel-Hirn-Traumas ziehen!
2 kann es zu erhöhter Aggressivität kommen,
u. a. während der posttraumatischen Bewusst- Weiterhin kann aggressives Verhalten im Rahmen
3 seinsstörung oder im Rahmen eines Delirs. eines organischen Psychosyndroms nach Schä-
5 Leitsymptom bei Schädel-Hirn-Traumata: del-Hirn-Trauma (F07.2) auftreten (s. unten), wel-
4 – Posttraumatische Bewusstseinsstörung ches 15–40% der Kinder mit einem schweren
(aber nicht notwendigerweise Bewusst- Schädel-Hirn-Trauma als Langzeitfolge entwi-
5 seinsverlust! der Patient kann relativ ckeln. Hierbei handelt es sich nicht um ein ein-
unauffällig erscheinen) heitliches Syndrom, sondern in Abhängigkeit

6 5 Weitere Symptome:
– Retrograde Amnesie für die das Schä-
von unterschiedlich schweren Läsionen in unter-
schiedlichen Hirnregionen können sich unter-

7
del-Hirn-Trauma bewirkende Kraftein- schiedliche Symptome manifestieren (McAllis-
wirkung selbst sowie einen variablen ter u. Arciniegas 2002). Bei einem geschlossenen
davor liegenden Zeitraum Schädel-Hirn-Trauma sind häufig vor allem fron-
8 – Evtl. anterograde Amnesie tale und temporale Regionen betroffen, so dass
– Evtl. vegetative Symptome (Blässe, es neben kognitiven Beeinträchtigungen (u. a.
9 Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kopf- von Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksam-
schmerzen) keit, Gedächtnis und Problemlösen) zu ausge-
10 – Bei substanziellen Hirnverletzungen: prägter Impulsivität, affektiver Labilität und Irrita-
neurologische Herdzeichen bilität sowie impulsiver Aggressivität bei gering-
11 – Bei schweren Schädel-Hirn-Traumata: fügigen Anlässen kommen kann (McAllister 1992;
gravierende Kreislauf- und Atemfunkti- Max et al. 2001). Bereits geringe fokale neurolo-

12 onsstörungen gische Symptome können auf eine substanzielle


Hirnschädigung mit oft massiven neuropsycholo-
Diagnostisch besonders problematisch sind gischen Defiziten hinweisen.
13 Kinder, meist mit mittelgradigem Schädel-Hirn- Auch ein leichtes bis mäßig ausgeprägtes Schä-
Trauma, die zunächst relativ unbeeinträchtigt del-Hirn-Trauma, das in der Regel nicht zu einem
14 wirken, aber dann rasch infolge intrakranieller anhaltenden organischen Psychosyndrom führt,
Komplikationen komatös werden und verster- kann vorübergehend deutliche Beeinträchti-
15 ben können (»talk and die«). gungen der Impulskontrolle verursachen oder
Relevante Informationen aus der Vorgeschich- prämorbid bestehende Beeinträchtigungen noch
16 te: verstärken. Für den Verlauf sind auch psychoso-
5 Liegt ein Unfallmechanismus vor, der ein ziale Faktoren von großer Bedeutung (Max et al.

17 Schädel-Hirn-Trauma nahelegt?
5 Sind Spuren einer Krafteinwirkung auf den
1998), in Wechselwirkung mit den durch orga-
nische Faktoren bedingten Schwierigkeiten. So

18
Gesichtsschädel festzustellen? zeigte sich bei Kindern nach einem Schädel-Hirn-
5 Kann der Patient sich an das Schädel-Hirn- Trauma eine Zunahme aggressiven Verhaltens
Trauma selbst erinnern? erst im Zusammenhang mit erhöhten schulischen
19 5 Trat eine posttraumatische Bewusstseins- Anforderungen (Feeney u. Ylvisaker 2003).
störung auf (die aber auch übersehen wor-
20 den sein kann)?
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
79 5

Organische Persönlichkeitsstörung (F07.0) Organisches Psychosyndrom nach Schädel-


Eine organische Persönlichkeitsstörung ist Hirn-Trauma (F07.2)
dadurch gekennzeichnet, dass über einen mehr- Ein organisches Psychosyndrom nach Schädel-
monatigen Zeitraum eine auffällige Verände- Hirn-Trauma, welches gewöhnlich so schwer
rung verglichen mit dem prämorbiden Verhal- war, dass es zur Bewusstlosigkeit führte, kann
ten besteht. Das Verhalten der Patienten wird in sich neben vegetativen Symptomen (Erschöpft-
hohem Maße von ihren aktuellen Bedürfnissen heit, Kopfschmerzen, Schwindel) und kognitiven
und Impulsen gesteuert, ohne Berücksichtigung Symptomen (Konzentrations- und Gedächtnis-
von Konsequenzen des Verhaltens oder sozialen störungen, kognitive Verlangsamung) auch in
Konventionen. Weiterhin sind affektive Verände- emotionalen Symptomen (Ängstlichkeit, depres-
rungen in Form von emotionaler Labilität, Reiz- sive Verstimmung, Reizbarkeit, aggressive Aus-
barkeit und Wutausbrüchen, aber auch Apathie brüche) äußern. Der objektive Nachweis für eine
oder gehobene Stimmung sowie kognitive Ver- Gehirnschädigung anhand eines EEG oder mit
änderungen mit eingeschränkter Planungs- und bildgebenden Verfahren kann fehlen, entschei-
Konzentrationsfähigkeit zu beobachten. dend ist die Anamnese eines Schädel-Hirn-
Eine organische Persönlichkeitsstörung kann Traumas mit Bewusstlosigkeit im Zeitraum von
sich also u. a. als enthemmtes, aggressives und bis zu 4 Wochen vor Beginn der Symptomatik.
dissoziales Bild darstellen, weiterhin auch mit Die emotionalen Symptome können bei reiz-
eingeschränkter Ausdauer einhergehen, die zur barer und aggressiver Tönung an eine Störung
Verwechslung mit einem Konzentrationsdefizit des Sozialverhaltens denken lassen.
im Rahmen einer ADHS Anlass geben kann.
Psychische und Verhaltensstörungen durch
Postenzephalitisches Syndrom (F07.1) psychotrope Substanzen (F1)
Das postenzephalitische Syndrom stellt eine län- Wenn bei Jugendlichen, welche die diagnosti-
ger anhaltende Verhaltensänderung nach einer schen Kriterien für eine solche Störung durch
viralen oder bakteriellen Enzephalitis dar. Die psychotrope Substanzen (F1) erfüllen, auch
Symptome sind unspezifisch und können, je signifikante Symptome einer Störung des Sozi-
nach Alter und Entwicklungsstand des Betrof- alverhaltens auftreten, liegt meist Komorbidität
fenen, interindividuell unterschiedlich sein und beider Störungen vor (7 4.3). Dass Symptome
– auch in Abhängigkeit vom jeweiligen Erre- einer Störung des Sozialverhaltens ausschließ-
ger der Enzephalitis – unterschiedlich verlaufen. lich im Rahmen eines Substanzkonsums – z. B.
Der Hauptunterschied zur organischen Persön- als Beschaffungskriminalität bei Abhängigkeit
lichkeitsstörung besteht darin, dass die Sympto- von illegalen Drogen oder als wiederkehrendes
matik oft teilweise oder vollständig reversibel ist aggressives Verhalten unter Alkoholintoxikation
und selten länger als 24 Monate andauert. Kenn- – zu beobachten sind, ist selten.
zeichnend ist das Auftreten mindestens eines
der folgenden residualen neurologischen Symp- Akutes aggressives Verhalten durch
tome: Lähmung, Taubheit, Aphasie, konstruktive psychotrope Substanzen
Apraxie oder Akalkulie. Die Symptome einer Intoxikation mit psychotro-
Auch hier können erhöhte Reizbarkeit mit pen Substanzen (F1x.0) sind nicht eindeutig vor-
aggressivem Verhalten und kognitive Defizite herzusagen; für das x ist die jeweils relevante
Anlass zur Verwechslung mit einer (hyperkine- psychotrope Substanz einzusetzen. So können
tischen) Störung des Sozialverhaltens geben. dämpfende Substanzen agitiertes, enthemmtes
und aggressives Verhalten hervorrufen, während
Stimulanzien zu sozialem Rückzug und intro-
80 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 vertiertem Verhalten führen können. Bei Hal-


luzinogenen können die Wirkungen besonders
Manische Episode (F30) und bipolare
affektive Störung (F31)
unvorhersehbar sein. Alkohol wirkt in niedriger Diese Diagnosen schließen nach der ICD-10 die
2 Dosierung eher anregend, in höherer Dosierung gleichzeitige Diagnosestellung einer Störung des
können Aggressivität und Erregungszustände Sozialverhaltens aus (7 2.5).
3 auftreten, bei sehr hohen Blutspiegeln Sedierung Die im Rahmen einer manischen Episo-
und Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma. de auftretenden Symptome von Ablenkbarkeit,
4 Auch der Konsum von Amphetaminen, Kokain, Gefühl von Gedankenrasen, Verlust normaler
Halluzinogenen, organischen Lösungsmitteln sozialer Hemmungen, leichtsinnigem Verhalten
5 und Pflanzenalkaloiden kann zu sehr aggres- ohne Gefahrenbewusstsein, motorischer Unru-
sivem Verhalten führen. Immer muss auch die he und Gesprächigkeit, vermindertem Schlafbe-
6 Möglichkeit einer Mischintoxikation berück-
sichtigt werden, deren Wirkungen besonders
dürfnis und Gereiztheit lassen sich auch im Rah-
men einer ADHS erklären, sind jedoch bei einer

7 unberechenbar sind.
Im Rahmen einer akuten Intoxikation kann
klassischen Manie aufgrund des episodischen
Verlaufes gut davon abgrenzbar.
es auch zu einem Delir (F1x.03) kommen, z. B. Bei jüngeren Kindern ergeben sich hier
8 als anticholinerges Delir durch Ingestion von jedoch differenzialdiagnostische Schwierig-
Pflanzenalkaloiden (F19.03). Weniger bedeut- keiten, und gerade bei Kindern mit ausgeprägter
9 sam ist im Jugendalter das Entzugssyndrom mit affektiver Instabilität, Irritabilität und Aggressi-
Delir (F1x.4), welches z. B. bei Alkohol- oder vität wird im US-amerikanischen Raum nicht
10 Benzodiazepinentzug auftreten kann. Erheb- selten eine bipolare Störung diagnostiziert.
liches aggressives Verhalten kann im Rahmen Begründet wird dieses u. a. damit, dass eine
11 einer substanzinduzierten psychotischen Stö- bipolare Störung mit Beginn im Kindesalter sehr
rung (F1x.5) auftreten. Diesbezüglich relevante selten einen klassischen episodischen Verlauf
12 Substanzen sind Cannabis, Amphetamine, LSD,
Ecstasy, Alkohol, psychotrope Alkaloide, orga-
zeige, wie er bei erwachsenen Patienten zu sehen
ist, sondern subkontinuierlich und unregelmä-
nische Lösungsmittel, Alkohol und Kokain; ins- ßig verlaufe, wobei das klinische Bild von Irri-
13 besondere bei multiplem Substanzkonsum ist tabilität, Dysphorie, Wutausbrüchen, Feindselig-
die Gefahr einer psychotischen Störung erhöht. keit und Aggressivität gekennzeichnet sei. Dage-
14 Weiterhin kann es, z. B. nach chronischem Abu- gen hat die Diagnose einer bipolaren Störung im
sus von organischen Lösungsmitteln, zu einer Kindesalter im Verbreitungsbereich der ICD-10
15 durch psychotrope Substanzen induzierten Per- Seltenheitswert. Diese Frage ist jedoch keines-
sönlichkeits- oder Verhaltensstörung (F1x.71) mit wegs akademisch, denn die klinische Erfahrung
16 erhöhter Aggressivität kommen. zeigt, dass bei einem Teil der Kinder mit dem
beschriebenen klinischen Bild tatsächlich die
17 Schizophrenie (F20)
Die Diagnose einer Schizophrenie schließt nach
Gabe eines stimmungsstabilisierenden Medika-
mentes (z. B. Valproat, Lithium) für eine suffizi-

18 der ICD-10 die gleichzeitige Diagnosestellung


einer Störung des Sozialverhaltens aus (7 2.5).
ente Behandlung notwendig sein kann.

Drogeninduzierte psychotische Bilder sind Depressive Episoden (F32), rezidivierende


19 unter F1x.5 zu kodieren. Aggressives Verhalten depressive Störung (F33) und Dysthymia
im Rahmen einer schizophrenen Störung kann (F34.1)
20 u. a. wahnhaft oder durch Halluzinationen moti- Wenn neben den diagnostischen Kriterien für
viert sein. eine Störung des Sozialverhaltens auch die dia-
gnostischen Kriterien für eine depressive Stö-
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
81 5

rung aus dem Kapitel F3 erfüllt sind, dann ist die ten; typisches Kennzeichen ist jedoch das wie-
Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens mit derholte Erleben des Traumas in sich aufdrän-
depressiver Störung (F92.0) zu stellen (7 2.4). genden Erinnerungen oder Albträumen. Wenn
Hierbei ist zu bedenken, dass insbesonde- nach einem belastenden Lebensereignis vorwie-
re Eltern, aber unter Umständen auch Kinder gend bzw. unter anderem Symptome einer Stö-
und Jugendliche selbst, zu einer Aggravierung rung des Sozialverhaltens auftreten, die nicht
der depressiven Symptomatik und einer Dissi- länger als 6 Monate andauern, ist die Diagno-
mulation aggressiv-dissozialen Verhaltens nei- se einer Anpassungsstörung mit vorwiegender
gen. Selbst wenn eine Störung des Sozialver- Störung des Sozialverhaltens (F43.24) bzw. einer
haltens zeitlich nach einer depressiven Störung Anpassungsstörung mit gemischter Störung von
aufgetreten ist, kann nicht vorausgesetzt wer- Gefühlen und Sozialverhalten (F43.25) zu stellen.
den, dass eine effektive Behandlung der depres- Dagegen sollte für die Diagnose einer Störung
siven Störung zu einer Remission der Störung des Sozialverhaltens die Symptomatik mindes-
des Sozialverhaltens führt. Hierbei ist u. a. rele- tens 6 Monate lang bestanden haben (7 2.5).
vant, wie lang die Störung des Sozialverhaltens
bereits besteht und in welchem Maß für die dis- Essstörungen (F50)
ruptiven Verhaltensweisen aktuelle aufrechter- Das Stehlen von Nahrungsmitteln im Rahmen
haltende Faktoren unabhängig von der depres- einer Essstörung (z. B. Heißhungerattacken bei
siven Störung vorliegen. Bulimia nervosa) sollte nicht als Störung des
Sozialverhaltens klassifiziert werden, wenn sons-
Neurotische, Belastungs- und somatoforme tige dissoziale oder aggressive Handlungen feh-
Störungen (F4) und emotionale Störungen len. Gleichwohl kann eine Störung des Sozial-
des Kindesalters (F93) verhaltens komorbid mit einer Bulimie auftreten
Wenn neben den diagnostischen Kriterien für (7 4.3), seltener mit einer Anorexie.
eine Störung des Sozialverhaltens auch die dia-
gnostischen Kriterien für eine Störung aus den Nichtorganische Schlafstörungen (F51)
Kapiteln F4 oder F93 erfüllt sind, dann ist laut Eine Schlafstörung kann als komorbide Störung
ICD-10 eine sonstige kombinierte Störung des zu einer Störung des Sozialverhaltens relevant
Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) zu sein (7 4.3).
diagnostizieren (7 2.4).
Hier stellt sich jedoch die Frage, ob nicht Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)
die separate Aufnahme spezifischer Störungen Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeits-
aus diesen Kategorien, wie z. B. Panikstörung, störung schließt nach der ICD-10 die gleichzei-
Zwangsstörung oder posttraumatische Belas- tige Diagnosestellung einer Störung des Sozial-
tungsstörung, in die multiaxiale Diagnose des verhaltens aus (7 2.5).
betroffenen Patienten sinnvoll wäre. Vor allem
im häuslichen Rahmen auftretende Zwangs- Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung
handlungen (F42.1), die mit aggressivem Ver- (F60.3)
halten einhergehen können, wenn der Patient Im Einzelfall können erhebliche Abgrenzungs-
an deren Durchführung gehindert wird, kön- schwierigkeiten zwischen einer (hyperkine-
nen Anlass zur Verwechslung mit einer auf den tischen) Störung des Sozialverhaltens mit aus-
häuslichen Rahmen beschränkten Störung des geprägter impulsiver Aggressivität und einer
Sozialverhaltens geben. Auch im Rahmen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom
posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) impulsiven Typus (F60.30) auftreten, für deren
können Reizbarkeit und Wutausbrüche auftre- Diagnose nach den ICD-10-Forschungskriterien
82 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 mindestens drei der folgenden Merkmale erfüllt


sein müssen:
heranziehen, da hierdurch auch impulsives Ver-
halten, welches nicht im Rahmen einer ADHS
5 Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne auftritt, vermindert wird. Die Diagnose einer
2 Berücksichtigung der Konsequenzen zu Störung des Sozialverhaltens als komorbide Stö-
handeln rung bei einer emotional-instabilen Persönlich-
3 5 Deutliche Tendenz zu Streitereien und Kon- keitsstörung vom impulsiven Typus erscheint
flikten mit anderen, vor allem dann, wenn dann gerechtfertigt, wenn neben impulsiv-
4 impulsive Handlungen unterbunden oder aggressiven Handlungen auch ein Muster von
kritisiert werden geplanten, proaktiv-aggressiven oder dissozialen
5 5 Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Handlungen festzustellen ist. Die Diagnose einer
Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explo- dissozialen Persönlichkeitsstörung, die in stär-
6 siven Verhaltens
5 Schwierigkeiten in der Beibehaltung von
kerem Maße als eine Störung des Sozialverhal-
tens charakterologische Abweichungen im Sinne

7 Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt


werden
von Gefühlskälte, Egozentrik und mangelnder
Gewissensbildung betont, schließt die Diagno-
5 Unbeständige und unberechenbare Stim- se einer emotional-instabilen Persönlichkeits-
8 mung. störung aus.
Für die Diagnose einer emotional-instabi-
9 Eine Störung des Sozialverhaltens geht – unab- len Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus
hängig von einer komorbiden ADHS – häufig (F60.31) müssen, zusätzlich zu den Kriterien
10 mit erhöhter Impulsivität und reaktiv-impul- einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstö-
siver Aggressivität einher. Auch Schwierig- rung vom impulsiven Typus, zwei weitere spezi-
11 keiten bei der Beibehaltung nicht unmittelbar fische Kriterien erfüllt sein, wodurch in der Regel
belohnter Handlungen und affektive Instabili- die Abgrenzung von einer Störung des Sozialver-
12 tät lassen sich zwanglos im Rahmen einer Auf-
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
haltens gut gelingt:
5 Störungen und Unsicherheit bezüglich
erklären. Generell sollte die Diagnose einer Per- Selbstbild, Zielen und innerer (einschließ-
13 sönlichkeitsstörung im Jugendalter aufgrund der lich sexueller) Präferenzen
noch deutlichen Entwicklungsabhängigkeit des 5 Neigung, sich auf intensive, aber instabile
14 Verhaltens zurückhaltend gestellt werden, frü- Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge
hestens ab dem Alter von 16 Jahren. Zur dia- von emotionalen Krisen
15 gnostischen Abgrenzung können Informationen 5 Übertriebene Bemühungen, Verlassenwer-
über die Entwicklung des Störungsbildes insbe- den zu vermeiden
16 sondere im Vorschul- und frühen Schulalter her- 5 Wiederholte Drohungen oder Handlungen
angezogen werden. Auch wenn eine Persönlich- mit Selbstbeschädigung (selbstverletzendes
17 keitsstörung selbstverständlich nicht plötzlich
im Alter von 16 oder 17 Jahren auftritt, sondern
Verhalten, parasuizidale oder suizidale
Handlungen)
5 Anhaltendes Gefühl von innerer Leere.
18 bereits im jüngeren Lebensalter Vorläufersymp-
tome – über die leider wenig empirisch gesicher-
tes Wissen vorliegt – bestanden haben müssen, Abnorme Gewohnheiten und Störungen
19 so ist doch für die Diagnose einer ADHS Vor- der Impulskontrolle (F63)
aussetzung, dass die Symptomatik sich spätes- Mit der Diagnose pathologisches Glücksspiel
20 tens bis zum 6. Lebensjahr manifestiert hat. Die (F63.0) wird die Unfähigkeit bezeichnet, dem
Response auf eine Behandlung mit Stimulanzien Impuls zum Glücksspiel zu widerstehen, obwohl
läßt sich nicht zur diagnostischen Abgrenzung schwerwiegende Konsequenzen drohen oder
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
83 5

bereits eingetreten sind, sowie die ständige lungsbedingtem Experimentieren mit Feuer
gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel. sowie unbeabsichtigter Brandstiftung, Brandstif-
Falls delinquente Handlungen ausschließlich in tung im Rahmen einer Störung des Sozialverhal-
diesem Rahmen durchgeführt werden – z. B. tens und pathologischer Brandstiftung sind die
Diebstähle zur Finanzierung des Glücksspiels –, Übergänge im Kindes- und Jugendalter fließend,
wird hierdurch die Diagnose einer Störung des und meistens tritt Brandstiftung im Rahmen
Sozialverhaltens nicht gerechtfertigt. Umgekehrt einer Störung des Sozialverhaltens auf. Pyroma-
kann Glücksspiel auch im Rahmen einer Störung nie scheint im Kindesalter selten vorzukommen;
des Sozialverhaltens beobachtet werden, die im es gibt jedoch vereinzelt Jugendliche, die tatsäch-
Jugendalter sehr viel häufiger als das patholo- lich die typischen diagnostischen Kriterien einer
gische Spielen auftritt. Für die Differenzialdi- Impulskontrollstörung erfüllen, nämlich ausge-
agnose ist zum einen der für das pathologische prägtes Interesse und häufige Beschäftigung mit
Spielen typische Kontrollverlust relevant, zum Feuer und damit assoziierten Gegenständen und
anderen, ob – neben eventuellen delinquenten Handlungen sowie steigende Spannung vor der
Handlungen zur Finanzierung des Glücksspiels Handlung und Spannungsabfall nach der Hand-
– andere dissoziale oder aggressive Handlungen lung. Sofern andere dissoziale Verhaltensweisen
auftreten, die dann die Diagnose einer Störung oder aggressive Verhaltensweisen fehlen, ist auch
des Sozialverhaltens nahelegen würden. im Jugendalter die Diagnose der Pyromanie oder
Das Störungsbild der pathologischen Brand- pathologischen Brandstiftung zu stellen.
stiftung (F63.1) ist gekennzeichnet durch mehre- Nach der ICD-10 ist pathologisches Stehlen
re Episoden – anscheinend unmotivierter – ver- (Kleptomanie, F63.2) charakterisiert durch häu-
suchter oder vollendeter Brandstiftung an Häu- figes Nachgeben gegenüber dem Impuls, Dinge
sern oder anderen Objekten sowie eine intensive zu stehlen, die nicht zum persönlichen Gebrauch
Beschäftigung mit allem, was mit Feuer und oder aufgrund ihres Geldwertes benötigt wer-
Bränden in Zusammenhang steht. Die Moti- den. Die Gegenstände werden häufig wegge-
vation für die Brandstiftung liegt in der Beob- worfen oder verschenkt, manchmal auch gehor-
achtung des Brandes selbst; berichtet werden tet oder heimlich zurückgegeben. Wie bei ande-
Gefühle wachsender Spannung vor der Hand- ren Impulskontrollstörungen beschreiben die
lung und starke Erregung, Vergnügen, Befrie- Betroffenen gewöhnlich steigende Spannung
digung oder Entspannung während oder sofort vor der Tat und Vergnügen, Befriedigung oder
nach ihrer Ausführung. Andere Motive wie Entspannung während und sofort nach der Tat.
materieller Gewinn, Rache, politischer Extre- Die Diebstähle – in Geschäften oder an anderen
mismus oder Verdecken von Spuren einer Straf- Orten – werden allein und gewöhnlich ohne Vor-
tat sind nicht erkennbar oder nicht relevant. Die ausplanung durchgeführt. Der Impuls zum Steh-
Störung ist bei Männern – oft mit geringen sozi- len wird oft als Ich-dyston, falsch und sinnlos
alen Fertigkeiten und schulischem Leistungs- erlebt, und zwischen den einzelnen Diebstählen
versagen in der Vorgeschichte – häufiger als bei können Angst und Schuldgefühle auftreten, was
Frauen. Die Diagnose wird nicht gestellt, wenn jedoch erneutes Stehlen nicht verhindert. Hier-
das Feuerlegen im Rahmen einer Störung des bei handelt es sich um eine eher seltene Störung.
Sozialverhaltens, einer manischen Episode oder Vom pathologischen Stehlen abzugrenzen sind
als Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzi- die weitaus häufigeren Fälle, bei denen der per-
nationen (z. B. bei Schizophrenie) auftritt oder sönliche Nutzen der Diebstähle offensichtlich ist
auf vermindertes Urteilsvermögen (z. B. bei geis- und die Diebstahlshandlungen sorgfältiger
tiger Behinderung, tiefgreifender Entwicklungs- geplant sind. Insbesondere Jugendliche steh-
störung) zurückzuführen ist. Zwischen entwick- len gelegentlich auch als Mutprobe oder »Initi-
84 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 ationsritual«. Pathologisches Stehlen darf eben-


falls nicht diagnostiziert werden, wenn die Dieb-
weis oder Verlust des Ausbildungs- oder Arbeits-
platzes, erheblicher Belastung zwischenmensch-
stähle als Ausdruck von Wut oder Rache oder als licher Beziehungen, Unfällen, Hospitalisierung
2 Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzina- (z. B. wegen Verletzungen durch Kämpfe oder
tionen begangen werden oder besser durch eine Unfälle) oder Freiheitsentzug führen.
3 Störung des Sozialverhaltens oder eine manische
Episode erklärt werden können. Diese Störung Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)
4 tritt überwiegend beim weiblichen Geschlecht Die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungs-
auf. störung schließt nach der ICD-10 die Diagnose-
5 Die Störung mit intermittierend auftretender stellung einer Störung des Sozialverhaltens aus
explosiver Reizbarkeit (»intermittent explosive (7 2.5).
6 disorder« 312.34 nach DSM-IV), die nach der
ICD-10 unter Sonstige abnorme Gewohnheiten Einfache Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
7 und Störungen der Impulskontrolle (F63.8) sub-
sumiert wird, ist eine eher unscharfe diagnosti- Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö-
sche Kategorie mit folgenden Kriterien: rungen treten oft komorbid zu Störungen des
8 5 Auftreten von mehreren umschriebenen Sozialverhaltens auf, wobei dann die Kombi-
Episoden aggressiver Impulsdurchbrüche, nationsdiagnose einer hyperkinetischen Stö-
9 die zu schweren Gewalttätigkeiten oder Zer- rung des Sozialverhaltens (F90.1) zu stellen ist
störung von Eigentum führen (7 2.4). Bei der Frage der Differenzialdiagnose
10 5 Das Ausmaß an Aggressivität während die- zwischen einer einfachen Aktivitäts- und Auf-
ser Episoden steht in erheblichem Missver- merksamkeitskeitsstörung (F90.0) und einer
11 hältnis zu irgendeinem auslösenden psycho- hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens
sozialen Belastungsfaktor (F90.1) ist zu bedenken, dass auch Kinder mit
5 Wenn die aggressiven Episoden besser im
12 Rahmen einer anderen psychischen Störung
ADHS ohne komorbide Störung des Sozialver-
haltens aufgrund ihres unachtsamen und unge-
erklärbar sind oder auf die direkte körper- steuerten Verhaltens Regeln verletzen und mit
13 liche Wirkung einer Substanz (z. B. Alkohol- ihrer Umgebung in Konflikt geraten, so dass ein
/Drogenintoxikation oder -entzug, Medi- gewisses Ausmaß disruptiven Verhaltens noch
14 kamente) oder auf organische Störungen mit der Diagnose einer einfachen Aktivitäts-
(z. B. Schädel-Hirn-Trauma) zurückzufüh- und Aufmerksamkeitsstörung vereinbar ist.
15 ren sind, soll die Diagnose einer Störung mit
intermittierend auftretender explosiver Reiz- Emotionale Störung mit
16 barkeit nicht gestellt werden. Unspezifische Geschwisterrivalität (F93.3)
Abweichungen in der neurologischen Unter- Die Symptomatik einer emotionalen Störung
17 suchung (»soft signs«) oder im EEG sind mit
der Diagnose vereinbar.
mit Geschwisterrivalität kann nicht nur komor-
bid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftre-

18 Zwischen den Episoden mit explosiver Reiz-


ten, sondern auch mit einer auf den familiären
Rahmen beschränkten Störung des Sozialver-
barkeit können Zeichen allgemeiner Impulsivi- haltens (F91.0) oder einer kombinierten Störung
19 tät oder Aggressivität vorhanden sein. Das Alter des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)
bei Beginn der Störung scheint zwischen der verwechselt werden.
20 späten Adoleszenz und dem 3. Lebensjahrzehnt Viele jüngere Kinder zeigen während der
zu liegen und tritt häufiger beim männlichen Monate nach der Geburt eines unmittelbar
Geschlecht auf. Die Störung kann zu Schulver- nachfolgenden Geschwisterkindes ein gewisses
5.3 Differenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen Vorgehens
85 5

Ausmaß an emotionalen Auffälligkeiten. Die- tet das oppositionelle Verhalten eines mutisti-
se sind meist nur gering ausgeprägt und vorü- schen Patienten deutlich das bei dieser Störung
bergehend, manchmal kann jedoch die nach der üblicherweise zu beobachtende Ausmaß, kann
Geburt des jüngeren Geschwisters entstandene erwogen werden, zusätzlich die Diagnose einer
Rivalität und Eifersucht auffällig ausgeprägt sein oppositionellen Störung zu stellen.
und lang anhalten. Das Konkurrieren mit dem
Geschwisterkind um die Aufmerksamkeit und Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
Zuneigung der Eltern sollte nur dann als abnorm (F94.1)
bewertet werden, wenn es mit besonders nega- Hauptmerkmal einer reaktiven Bindungsstö-
tiven Gefühlen verbunden ist. Hartnäckige Wei- rung des Kindesalters ist ein abnormes Bezie-
gerung zu teilen, Mangel an positiver Beachtung hungsmuster zu Betreuungspersonen, mit deut-
und freundlicher Zuwendung, aber auch offene lich widersprüchlichen oder ambivalenten sozi-
Feindseligkeit, körperliches Verletzen, Böswillig- alen Reaktionen in verschiedenen Situationen,
keit oder Hintergehen des Geschwisters können das sich vor dem Alter von 5 Jahren entwickelt
auftreten. Gewöhnlich nehmen oppositionelles hat. Weiterhin liegt eine emotionale Störung mit
oder konfrontatives Verhalten gegenüber den einem Verlust emotionaler Ansprechbarkeit,
Eltern zu, aber neben Wutausbrüchen kommt es sozialem Rückzug, aggressiven Reaktionen und/
auch zu Verstimmungszuständen in Form von oder ängstlicher Überempfindlichkeit vor.
Angst, Unglücklichsein oder sozialem Rück-
zug. Darüber hinaus ist oft eine gewisse Regres- Bindungsstörung des Kindesalters mit
sion mit Verlust bereits erworbener Fertigkeiten Enthemmung (F94.2)
(z. B. Blasen- oder Darmkontrolle) und einer Die Bindungsstörung des Kindesalters mit Ent-
Tendenz zu babyhaftem Verhalten zu beobach- hemmung ist von einem diffusen, nichtselek-
ten. So möchte das Kind das Baby in Aktivitäten, tiven Bindungsverhalten bzw. einem relativen
welche die elterliche Aufmerksamkeit beanspru- Fehlen selektiver sozialer Bindungen gekenn-
chen, z. B. gefüttert werden, nachahmen. Der zeichnet. Ab dem Kleinkindalter ist aufmerk-
Schlaf kann gestört sein, und häufig besteht ein samkeitssuchendes Verhalten zu beobach-
verstärktes Bedürfnis nach elterlicher Aufmerk- ten, welches sich auch als disruptives Verhalten
samkeit, etwa beim Zubettgehen. manifestieren kann.
Die Abgrenzung gegenüber einer auf den Wenn eine Bindungsstörung komorbid zu
familiären Rahmen beschränkten Störung des einer Störung des Sozialverhaltens auftritt, ist die
Sozialverhaltens (F91.0) oder einer kombinierten Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens bei
Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen fehlenden sozialen Bindungen (F91.2) zu stellen
(F92) ergibt sich aus dem kausalen Zusammen- (7 4.1).
hang mit der Geburt eines Geschwisterkindes,
der sich in der zeitlichen Nähe zur Geburt sowie Ticstörungen (F95)
in den spezifischen Inhalten des abweichenden Eine vorübergehende Ticstörung (F95.0) oder
Verhaltens widerspiegelt. Bei einem Persistieren eine chronische motorische oder vokale Ticstö-
des Problematik kann sich hieraus jedoch eine rung (F95.1) tritt vor allem bei Vorliegen einer
auf den familiären Rahmen beschränkte Störung hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens
des Sozialverhaltens entwickeln. als komorbide Störung auf (7 4.3).
Bei etwa einem Viertel der Patienten mit
Elektiver Mutismus (F94.0) kombinierten vokalen und multiplen moto-
Im Rahmen eines elektiven Mutismus tritt häufig rischen Tics (Tourette-Syndrom, F95.2) werden
auch oppositionelles Verhalten auf. Überschrei- plötzlich auftretende Wut und explosives aggres-
86 Kapitel 5 · Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnose und multiaxiale Bewertung

1 sives Verhalten als signifikante klinische Pro-


bleme benannt, vor allem bei komorbider ADHS
Aufmerksamkeitsstörung ohne
Hyperaktivität (F98.8)
oder Zwangsstörung (Budman et al. 1998; Ste- Auch eine Aufmerksamkeitsstörung ohne
2 phens u. Sandor 1999). Tourette-Patienten ohne Hyperaktivität, die komorbid zu einer Störung
komorbide ADHS zeigen dagegen kein höheres des Sozialverhaltens auftritt (7 2.4), ist bei der
3 Ausmaß an disruptivem Verhalten als unauffäl- Behandlungsplanung zu berücksichtigen. Hier
lige Kinder (Sukhodolsky et al. 2003). Es besteht wird dann jedoch nicht die Kombinationsdi-
4 jedoch in der Literatur kein Konsens darüber, agnose F90.1 gestellt, sondern die beiden Stö-
ob bei diesen Patienten »übliches« oppositio- rungen werden separat kodiert.
5 nelles oder aggressives Verhalten vorliegt, das ja
auch bei Patienten mit einer Störung des Sozial-
6 verhaltens ohne Tourette-Syndrom sehr impul-
siv und unkontrollierbar wirken kann, oder ob

7 das beschriebene Verhalten Tourette-spezifische


Kennzeichen aufweist und möglicherweise eher
im Sinne einer Impulskontrollstörung interpre-
8 tiert werden muss. Koprolalie, das dranghafte
Ausstoßen obszöner Worte, tritt im Kindesal-
9 ter bei etwa 10% der Patienten auf (Goldenberg
et al. 1994), während Kopropraxie, das drang-
10 hafte Ausführen obszöner Gesten, seltener zu
beobachten ist. Im Rahmen eines Tourette-Syn-
11 droms kann auch nichtobszönes sozial unange-
messenes Verhalten, u. a. Beleidigen von ande-
12 ren Menschen, häufig eines Familienmitgliedes
oder einer vertrauten Person, zu Hause oder in
einer vertrauten Umgebung auftreten. Dieses
13 wird von den Patienten als dranghaftes Verhal-
ten beschrieben, welches sie zu unterdrücken
14 versuchen (Kurlan et al. 1996). Je stärker das dis-
ruptive Verhalten als eingebettet in die Ticstö-
15 rung erscheint, desto weniger ist die Diagnose
einer Störung des Sozialverhaltens gerechtfertigt.
16 Andererseits kann auch eine Störung des Sozial-
verhaltens, insbesondere beim Vorliegen disso-
17 zialer Verhaltensweisen und proaktiv-aggres-
siven Verhaltens, unabhängig von einem Touret-

18 te-Syndrom auftreten.

Nichtorganische Enuresis (F98.0) und


19 nichtorganische Enkopresis (F98.1)
Sowohl die nichtorganische Enuresis als auch
20 die nichtorganische Enkopresis können komor-
bid zu einer Störung des Sozialverhaltens auftre-
ten (7 4.3).
6

Was zu tun ist: Interventionen

6.1 Auswahl des Interventionssettings – 88

6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten – 90


6.2.1 Krankheitsstadienbezogene Komponenten – 91
6.2.2 Psychoedukative Maßnahmen und Psychotherapie – 94
6.2.3 Schulbezogene Interventionen – 103
6.2.4 Therapieprogramme – 105
6.2.5 Pharmakotherapie – 107
6.2.6 Komorbiditätsbezogene Komponenten – 130

6.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung – 132

6.4 Besonderheiten bei teilstationärer Behandlung – 136

6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung – 136

6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen – 149

6.7 Entbehrliche Therapiemaßnahmen – 157


88 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

Auswahl des
1 6.1
Interventionssettings
Wesentlich für die Auswahl des Interventi-
onssettings ist zunächst die Klärung der Frage,
ob eine akute Eigen- und/oder Fremdgefähr-
2 Eine Störung des Sozialverhaltens hat nicht nur dung besteht (. Abb. 6.1). Wenn bei Vorliegen
für Dritte, sondern auch für die Entwicklung einer akuten Eigen- und/oder Fremdgefährdung
3 des betroffenen Kindes oder Jugendlichen selbst ein überwiegend akut-psychiatrischer Interven-
negative Konsequenzen, so dass bei Diagnose tionsbedarf gegeben ist, wenn also die Gefähr-
4 einer solchen Störung auch geeignete Interven- dung auf einer psychiatrischen Störung beruht
tionen durchgeführt werden sollten. oder zumindest ein dahingehender Verdacht
5 besteht, ist eine stationäre kinder– bzw. jugend-

6
Leitsymptom(e) gesichert
7 für Diagnose »Störung des Sozialverhaltens«
(mit Schweregrad und Dauer)

8
Akute Eigen- und/oder Fremdgefährdung?
9 nein ja

10 Komorbide psychische Störung mit Psychische Störung


psychiatrischem Interventionsbedarf? mit psychiatrischem Interventionsbedarf?
11
ja nein
nein ja
12 Ambulante, Ambulante
Jugendamt Stationäre kinder-/
teil- oder vollstationäre pädagogische
13 kinder-/jugendpsychiatrische Maßnahmen
(evtl. Polizei,
Jugendgerichtsbarkeit)
jugendpsychiatrische
Krisenintervention
Behandlung (z.B. Erziehungs-
14 beratungsstelle)

15 Wenn signifikanter Drogenkonsum:


Ambulante,

16
teil- oder vollstationäre
Einrichtung der Suchthilfe

17
Rat, das Jugendamt

18
hinzuzuziehen

19 Hilfen zur Erziehung


(ambulant, teilstationär, vollstationär)
20
. Abb. 6.1. Auswahl des Interventionssettings bei Störungen des Sozialverhaltens. (Nach AWMF-Leitlinie »Störung des
Sozialverhaltens«, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003)
6.1 Auswahl des Interventionssettings
89 6

psychiatrische Krisenintervention angezeigt. licheren Problematik sollte Eltern geraten wer-


Wenn jedoch ein überwiegend psychosozialer den, sich für geeignete Hilfen zur Erziehung an
oder pädagogischer Interventionsbedarf vor- das Jugendamt zu wenden. Auch für Jugendli-
liegt, wenn Eigen- und/oder Fremdgefährdung che mit sporadischem Probierkonsum von sog.
eines Jugendlichen beispielsweise eine unmittel- »weichen Drogen« ohne psychiatrische Störung
bare Folge seiner momentanen psychosozialen ist keine jugendpsychiatrische Behandlung, son-
Situation darstellen und hier schon allein durch dern eine Beratung in Beratungskontexten der
Herausnahme des Jugendlichen aus seinem aktu- Sucht- oder Jugendhilfe indiziert. Wenn dagegen
ellen Setting Abhilfe geschaffen werden kann, ein deutlicher Substanzmissbrauch besteht, kann
stellt aus kinder- und jugendpsychiatrischer für Entgiftung und/oder Entwöhnung ein spezi-
Sicht die Aufnahme in einer vollstationären alisiertes Behandlungssetting erforderlich sein.
Einrichtung der Jugendhilfe (z. B. Kinder- und Die Durchführung einer Entgiftung ist in der
Jugendnotdienst, Notaufnahmeplätze eines Kin- Regel nur dann sinnvoll, wenn ein Therapieplatz
derheimes, Bereitschaftsgruppe, Bereitschafts- – der u. a. über Drogenberatungsstellen vermit-
pflegestelle) eine geeignete Krisenintervention telt wird – für eine daran anschließende Ent-
dar. Bei Gewaltdelinquenz ohne akuten psychia- wöhnungsbehandlung zur Verfügung steht. Das
trischen Interventionsbedarf sind bei strafmün- Behandlungssetting sollte dem Entwicklungsni-
digen Jugendlichen auch Polizei sowie Jugendge- veau des Patienten entsprechen; eine Behand-
richtsbarkeit zuständige Instanzen. lung in einem Setting für Erwachsene ist meist
Hierbei kommt es stets auf den aktuell beste- weniger sinnvoll.
henden Interventionsbedarf an: Selbstverständ- Wenn bei Vorliegen einer Störung des Sozi-
lich kann dann, wenn in einer konkreten Situati- alverhaltens ein komorbider psychiatrischer
on der psychosozial-pädagogische Interventions- Interventionsbedarf besteht, ist eine kinder- und
bedarf überwiegt, der betroffene Minderjährige jugendpsychiatrische Behandlung indiziert. Die-
eine psychische Störung haben, umgekehrt se wird bei leicht ausgeprägter Störung des Sozi-
spielen bei kinder- und jugendpsychiatrischen alverhaltens und psychiatrischer Störung bzw.
Behandlungen auch pädagogische Interventi- höherem Funktionsniveau des Kindes oder
onen eine Rolle, und zu unterschiedlichen Zeit- Jugendlichen ambulant durchgeführt. Ande-
punkten kann ein unterschiedlicher Interventi- renfalls kann eine teilstationäre oder stationäre
onsbedarf bestehen. kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung
Kinder oder Jugendliche mit einer Störung sinnvoll sein. In jedem Fall sollte überlegt wer-
des Sozialverhaltens ohne eine komorbide psy- den, das Jugendamt für Jugendhilfemaßnahmen
chische Erkrankung mit psychiatrischem Inter- im Anschluss an eine teilstationäre oder statio-
ventionsbedarf, deren abweichendes Verhal- näre kinder-/jugendpsychiatrische Behandlung
ten oft mit ihrer altersspezifischen Orientierung bzw. parallel zu einer ambulanten Behandlung
zusammenhängt, benötigen keine kinder- bzw. hinzuzuziehen (7 6.6).
jugendpsychiatrische Behandlung. Hier kom- Insbesondere bei Kindern mit einer Störung
men – in Abhängigkeit vom Schweregrad der des Sozialverhaltens – bei denen aufgrund des
Störung des Sozialverhaltens bzw. vom Funkti- jüngeren Lebensalters noch eine höhere Ver-
onsniveau (Achse VI des MAS; 7 5.2) des Kin- änderbarkeit des Verhaltens besteht, die aber
des oder Jugendlichen, also seiner Fähigkeit zur andererseits aufgrund des frühen Störungsbe-
Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufga- ginns grundsätzlich eine schlechtere Prognose
ben – bei einer wenig ausgeprägten Problema- haben – ist nach sechsmonatiger Intervention
tik ambulante pädagogische Maßnahmen (z. B. eine Erfolgskontrolle erforderlich (Leitlinie »Stö-
Erziehungsberatung) in Betracht. Bei einer deut- rungen des Sozialverhaltens«, Deutsche Gesell-
90 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 schaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und


Psychotherapie et al. 2003), bei welcher auch die
Jugendlichen und der Lehrer bzw. Erzieher
(7 6.2.2)
Wahl des Interventionssettings überprüft wer- 5 Eltern- bzw. familienbezogene Interventi-
2 den sollte. onen: Elterntraining und Interventionen in
der Familie, einschließlich Familientherapie
3 (7 6.2.2)
6.2 Behandlungsprogramme und 5 Kind-/jugendlichenbezogene Interventionen
4 ihre Komponenten (ab dem Schulalter): soziales Problemlöse-
und Kompetenztraining (7 6.2.2)
5 Die Behandlung von Patienten mit Störungen 5 Interventionen in Kindergarten/Schule,
des Sozialverhaltens erfolgt mittels eines mul- einschließlich Platzierungsinterventionen
6 timodalen Behandlungsprogramms. Patienten
mit Störungen des Sozialverhaltens weisen eine 5
(7 6.2.3)
Pharmakotherapie (7 6.2.5)
5 Jugendhilfemaßnahmen (7 6.6)
7 hohe Heterogenität auf, und für unterschiedliche
Patienten sind unterschiedliche Risiko- und auf-
rechterhaltende Faktoren bedeutsam. Die mul- Hierbei sind auch Informationen über bisherige
8 timodale Behandlung sollte alle dysfunktio- Interventionen und ihre Auswirkungen rele-
nalen Lebensbereiche des betroffenen Kindes vant. Welche (Selbst-)Hilfeversuche im famili-
9 oder Jugendlichen berücksichtigen, da Trans- ären Umfeld, Hilfen zur Erziehung jeglicher Art,
fereffekte von einem Bereich auf einen anderen kinder- und jugendpsychiatrische und -psycho-
10 Bereich kaum zu erwarten sind (Barkley et al. therapeutische Behandlungen wurden bisher
2000). Dieses gilt um so mehr, je älter der Patient durchgeführt? Wurde eine Verbesserung, Ver-
11 ist, je ausgeprägter die Störung ist und je mehr schlechterung oder keine Veränderung beob-
Bereiche betroffen sind. achtet? Sofern Veränderungen auftraten, in wel-
12 ! Vorrangige Behandlungsziele sind die Vermin-
chen Bereichen waren diese zu beobachten und
wie lange hielten diese an? Wurden die Inter-
derung von Eigen- und/oder Fremdgefähr- ventionen lege artis ausgeführt, ggf. wie intensiv
13 dung, die Verminderung disruptiven Verhaltens und über welchen Zeitraum? Aus diesen Infor-
und wesentlicher aufrechterhaltender Bedin- mationen ergeben sich wichtige Hinweise auf die
14 gungen sowie die Erhöhung des Funktionsni- Erfolgsaussichten weiterer in Frage kommender
veaus des Patienten. Interventionen.
15 Familienbezogene Interventionen sind auf-
Ob simultan oder sequenziell vorgegangen wird, grund der Vielzahl an familienbezogenen Risiko-
16 hängt zum einen von der Akuität der Probleme faktoren in der Regel unverzichtbar. Die Behand-
in unterschiedlichen Bereichen ab, zum anderen lungsplanung sollte unter Einbezug relevanter
17 davon, ob das Erreichen eines Behandlungsziels
Voraussetzung für das Erreichen eines anderen
Kind-, Eltern- und Familienfaktoren sowie Fak-
toren des psychosozialen Umfeldes erfolgen.

18 Behandlungsziels ist.
Entsprechend der jeweiligen Problemkons-
Auch die soziokulturellen einschließlich eth-
nischer und religiöser Gegebenheiten und Wert-
tellation und dem Behandlungsbedarf wird ein vorstellungen der Familie sind zu berücksich-
19 Therapieplan unter Einbezug verschiedener tigten. Das Definieren von konkreten, spezi-
Komponenten erstellt: fischen Zwischenzielen unter Beteiligung von
20 5 Psychoedukative Maßnahmen: Aufklä- Kind bzw. Jugendlichem und Eltern hilft dabei,
rung und Beratung der Eltern, des Kindes/ den Behandlungsfortschritt für Kind, Eltern und
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
91 6

Behandler sichtbar werden zu lassen und die zunehmend mehr Lebensbereiche negativ beein-
Effektivität einer Intervention zu beurteilen. flusst werden, ist es bereits als Erfolg zu bewer-
Die Qualität der therapeutischen Bezie- ten, wenn der Schweregrad der Störung und
hung zwischen Kind und Behandler sowie zwi- die Anzahl betroffener Lebensbereiche nicht
schen Eltern und Behandler ist für den Thera- zunimmt und das Funktionsniveau des Kindes
pieerfolg von hoher Relevanz. Sehr wichtig ist oder Jugendlichen, also die Bewältigung seiner
es, neutral und gelassen mit sog. »Widerstand« alterstypischen Entwicklungsaufgaben, gesichert
umzugehen. Gerade Kinder und Jugendliche mit werden kann.
Störungen des Sozialverhaltens wachsen häu-
fig unter schwierigen psychosozialen Bedin-
gungen auf, und es ist eher die Regel als die Aus- 6.2.1 Krankheitsstadienbezogene
nahme, dass die Eltern – aus welchen Gründen Komponenten
auch immer – nicht in der Weise mitarbeiten
(können), wie die »Helfer« es für notwendig hal-
ten. Dann sollte eine sachliche Analyse erfolgen, Prävention und frühe Intervention
worin das Hindernis besteht. Wenn Interventi- Die Stabilität von Störungen des Sozialverhal-
onen nicht umgesetzt werden, ist dies stets ein tens sowie Ausmaß und Vielfalt möglicher nega-
Anzeichen dafür, dass bestimmte Hindernisse tiver Auswirkungen legen es nahe, präventive
für die Behandlung nicht hinreichend berück- Anstrengungen zu unternehmen. Sind opposi-
sichtigt wurden. Hieraus können sich relevante tionelle, aggressive und/oder dissoziale Verhal-
Informationen ergeben, z. B. dass wichtige auf- tensweisen erst einmal etabliert, trägt eine Viel-
rechterhaltende Faktoren oder Beschränkungen zahl unterschiedlicher Faktoren zu ihrer Auf-
der psychosozialen Ressourcen nicht genügend rechterhaltung und Stabilisierung bei und wirkt
in die Behandlungsplanung einbezogen wurden. dem Einfluss von Interventionen, die auf eine
Verminderung solcher Verhaltensweisen gerich-
! Die Behandlung sollte hinreichend intensiv tet sind, entgegen. Deswegen ist es wichtig, dass
und von hinreichend langer Dauer sein, um tat- frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die bei
sächlich Verhaltensänderungen beim Patienten den Risikofaktoren für die Entwicklung von Stö-
zu bewirken. Bei der Planung und Durchfüh- rungen des Sozialverhaltens ansetzen. Solche
rung der Interventionen ist darauf zu achten, Präventionsprogramme unterscheiden sich hin-
dass eine möglichst hohe Generalisierung des sichtlich des Zeitpunkts der Intervention (Prä-
Behandlungserfolgs in den Alltag des Patienten natalzeit bis Adoleszenz), hinsichtlich des Fokus
erreicht werden kann. der durchgeführten Interventionen (Kind/
Jugendlicher, Familie, Schule, Gemeinde) sowie
Stets sollte überlegt werden, wie der Behand- hinsichtlich des Umfangs und Interventionsbe-
lungserfolg stabilisiert werden kann, z. B. durch darfs der Zielgruppe.
eine Fortführung der Behandlung mit geringe-
rer Intensität, »Booster-Sitzungen« in größeren Universelle Prävention
Zeitabständen oder »Nachsorge« in anderen Set- Eine universelle Prävention zielt darauf ab, bei
tings, einschließlich Elterngruppen, regionalen allen Mitgliedern einer (Teil-)Population Risiko-
sozialen Diensten und Jugendhilfe. faktoren zu vermindern. Bespiele dafür sind:
Bei einem nicht unerheblichen Teil der 5 Einschränkung von Gewaltdarstellungen in
Patienten kann keine vollständige Remission den Medien (einschließlich Computerspie-
erreicht werden. Da bei einer Störung des Sozi- len, Internet) sowie diesbezügliche Zugangs-
alverhaltens jedoch die Tendenz besteht, dass beschränkungen für Kinder und Jugendliche
92 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

5 Verringerung von Alkohol- und Drogen-


1 konsum in der Bevölkerung (Substanzge-
tener zu Vernachlässigung oder Misshandlung
der Kinder; diese wiederum zeigten im Alter von
brauch während der Schwangerschaft als 15 Jahren weniger delinquentes Verhalten, Alko-
2 pränataler Risikofaktor, beeinträchtigtes hol- und Drogenkonsum (Olds et al. 1998).
Funktionieren als Eltern durch Substanzabu-
3 sus, mit Substanzabusus assoziierte Gewalt- Indizierte Prävention
taten mit der Gefahr direkter oder indirekter Dagegen richtet sich eine indizierte Präventi-
4 Traumatisierung von Kindern und Jugend- on an Personen mit eindeutigem Risiko. Zum
lichen, Erwachsene als Modell für Substanz- einen kann es sich um Personen mit einem Risi-
5 konsum, Zugang zu Alkohol und Drogen kofaktor handeln, der ohne geeignete Maßnah-
für Kinder und Jugendliche, deren Substanz- men zu einer Störung führt, auch wenn aktu-
6 konsum wiederum das Risiko einer aggres-
siv-dissozialen Störung erhöht)
ell noch keine Symptome der Störung festge-
stellt werden können. Zum anderen geht es um
5 Förderung der allgemeinen Erziehungs-
7 kompetenz von Erwachsenen durch Infor-
Personen, die bereits Anzeichen einer sich ent-
wickelnden Störung aufweisen – in diesem Fall
mationsvermittlung über die Entwicklung überschneiden sich die Begriffe »indizierte Prä-
8 von Kindern und über Strategien für den vention« und »Frühintervention«. Bei Störungen
Umgang mit möglichen Problemen des Sozialverhaltens stellt sich jedoch das Pro-
9 5 Verbesserung der sozialen Fertigkeiten von blem der Frühdiagnostik, denn es liegt kein hin-
Schülern und Lehrern durch Einbezug ent- reichend präzises Wissen bezüglich alters- und
10 sprechender Inhalte in schulische Curricula. geschlechtstypischer Symptome – insbesonde-
re bei jüngeren Kindern – vor, um die relative
11 Selektive Prävention Abweichung von der Bezugsgruppe bestimmen
Eine selektive Prävention wird bei Gruppen mit zu können (Bennett et al. 1998), auch wenn das
12 überdurchschnittlichem Risiko durchgeführt.
Kinder von jungen Müttern, allein erziehenden
Vorliegen von deutlicher, altersuntypischer kör-
perlicher Aggressivität ein vergleichsweise aus-
Müttern und Müttern mit niedrigem sozioöko- sagekräftiges Symptom ist (Loeber et al. 2000).
13 nomischem Status weisen ein erhöhtes Risiko Problematisch kann auch sein, dass Eltern von
für die Entwicklung einer Störung des Sozialver- Hoch-Risiko-Kindern, welche durch ein Scree-
14 haltens auf. In einer Studie wurden Frauen mit ning in Kindergarten oder Schule identifiziert
solchen soziodemographischen Risikofaktoren wurden, das disruptive Verhalten ihres Kindes
15 während der Schwangerschaft und der ersten bei- eventuell noch als wenig problematisch erle-
den Lebensjahre des Kindes durch eine Gemein- ben und somit nicht zu Interventionen motiviert
16 deschwester betreut. Ziel war es, gesundheits- sind (Barkley et al. 2000).
bewusstes Verhalten der Frauen während der Ein günstiger Schnittpunkt zwischen hinrei-
17 Schwangerschaft und der ersten Lebensjahre des
Kindes zu fördern, sie hinsichtlich Familienpla-
chend genauer Identifikation von Kindern mit
ungünstigen Entwicklungsverläufen und der

18 nung, Ausbildung und Berufstätigkeit zu bera-


ten und eine kompetente Versorgung des Kindes
noch ausreichend hohen Wirksamkeit von Inter-
ventionen liegt im 8.–9. Lebensjahr (McMahon
zu sichern. Die Frauen waren – im Vergleich zu et al. 1994). Eltern und Lehrer scheinen zu die-
19 Frauen, welche die übliche Betreuung während sem Zeitpunkt noch motiviert, das Risiko einer
der Schwangerschaft und nach der Geburt des ungünstigen Schullaufbahn abzuwenden, even-
20 Kindes erhielten – weniger auf Sozialhilfe ange- tuelle Ablehnung durch die Mitschüler ist noch
wiesen, hatten weniger Probleme im Zusam- beeinflussbar, und das Kind hat noch kein gene-
menhang mit Substanzkonsum, und es kam sel- ralisiertes Leistungs- und Motivationsdefizit ent-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
93 6

wickelt. Die Durchführung einer multimodalen plätze eines Kinderheimes, Bereitschaftspflege-


indizierten Präventionsmaßnahme mittels effek- stelle) eine geeignete Maßnahme (7 6.1).
tiver eltern- und kindbezogener Interventionen Oppositionelles, aggressives oder dissoziales
unter Einbezug von Förderunterricht, Schul- Verhalten ist nicht notwendigerweise ein Krank-
sozialarbeit und eventuell Jugendhilfemaßnah- heitssymptom, und eine Störung des Sozialver-
men kann also in dieser Altersstufe das Risiko haltens mit überwiegend zielgerichtetem Ein-
ungünstiger Entwicklungen noch deutlich redu- satz aggressiven Verhaltens zur Durchsetzung
zieren. Für Präventions- wie auch Interventi- eigener Interessen stellt auch bei hoher Akui-
onsmaßnahmen gilt, dass sie dann erfolgreicher tät dieses Verhaltens keine primär kinder- und
sind, wenn auslösende bzw. aufrechterhalten- jugendpsychiatrische Behandlungsindikation
de Faktoren in mehreren Bereichen angegangen dar. Dagegen kann akut-aggressives Verhalten
werden. aufgrund einer Impulskontrollstörung, also bei
einer erheblich verminderten Steuerungsfähig-
Krisenintervention keit, Anlass für eine jugendpsychiatrische Kri-
senintervention, u. a. zum Zweck einer medika-
Definition mentösen Intervention, sein. Auch bei aggressiv-
Der Begriff »Krisenintervention« bezeichnet den dissozialen Jugendlichen mit einer komorbiden
Einsatz zeitlich begrenzter Maßnahmen zur Bewäl- psychiatrischen Störung ist nur dann vorrangig
tigung einer akuten Krise, also einer dringlichen eine jugendpsychiatrische Krisenintervention
Gefahrensituation, die von der Person selbst bzw. angezeigt, wenn ein enger Zusammenhang zwi-
ihrem psychosozialen Umfeld nicht bewältigt wer- schen dieser Störung und der Notwendigkeit zur
den kann. Krisenintervention besteht. Anderenfalls kann
unter bestimmten Voraussetzungen nach Bewäl-
Welche Maßnahmen zur Krisenintervention tigung der Krise durchaus eine – auch stationäre
geeignet sind, ist davon abhängig, wie eine Krise – kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung
sich äußert und wodurch sie hervorgerufen wur- sinnvoll sein, z. B. bei komorbider depressiver
de. Krisen erfordern keinesfalls immer eine sta- oder hyperkinetischer Störung, nicht jedoch als
tionäre Intervention, sondern oft können ambu- Krisenintervention bezüglich des aggressiven
lante Maßnahmen (z. B. Kinder- und Jugendte- Verhaltens.
lefon, Beratungsstellen, ambulante kinder- und Wenn ein aggressiv-dissozialer Jugendli-
jugendpsychiatrische oder -psychotherapeu- cher als Notfall in einer Klinik für Kinder- und
tische Vorstellung) zu ihrer Bewältigung aus- Jugendpsychiatrie vorgestellt wird, ist es günstig,
reichen. Erst dann, wenn eine Krise mit ambu- bereits bei der Anmeldung, spätestens jedoch
lanten Maßnahmen nicht mehr bewältigbar ist, dann, wenn tatsächlich eine stationäre jugend-
insbesondere beim Vorliegen von akuter Eigen- psychiatrische Notaufnahme durchgeführt wird,
und/oder Fremdgefährdung, ist eine stationäre deutlich zu machen, dass es sich nur um eine
Krisenintervention erforderlich. In Abhängig- (kurzfristige) Krisenintervention handeln kann.
keit davon, ob in der aktuellen Krise ein überwie- Sofern eine stationär behandlungsbedürftige
gend akut-psychiatrischer oder ein überwiegend kinder- und jugendpsychiatrische Störung dia-
psychosozial-pädagogischer Interventionsbe- gnostiziert wird, sollte deren Behandlung zeit-
darf vorliegt, ist eine stationäre kinder-/jugend- lich getrennt von der Krisenintervention durch-
psychiatrische Krisenintervention oder aber die geführt werden.
Krisenaufnahme in einer vollstationären Ein- Auch wenn in der Situation, die zu einer sta-
richtung der Jugendhilfe (Kinder- und Jugend- tionären Krisenintervention führte, bei einem
notdienst, Bereitschaftsgruppe, Notaufnahme- Minderjährigen Selbst- und/oder Fremdge-
94 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 fährdung vorlag, kann die stationäre Aufnah-


me so entlastend wirken, dass ein offenes Setting
6.2.2 Psychoedukative Maßnahmen
und Psychotherapie
genug Schutz bieten kann. Wenn Selbst- und/
2 oder Fremdgefährdung auf der Grundlage einer Diese Themen werden in einem Abschnitt dar-
psychiatrischen Störung in einem offenen kin- gestellt, weil der Übergang zwischen Psycho-
3 der- und jugendpsychiatrischen Behandlungs- edukation und Psychotherapie fließend ist, denn
setting auch durch 1:1-Betreuung nicht ausrei- eine gut durchgeführte Aufklärung und Bera-
4 chend bewältigbar ist, werden als Ultima ratio tung stellt bereits eine effektive psychotherapeu-
freiheitsentziehende Maßnahmen durchgeführt, tische Intervention dar.
5 in der Regel durch Aufnahme in einer geschlos-
senen oder fakultativ schließbaren Station. Hier- Aufklärung und Beratung der Eltern
6 bei handelt es sich um einen massiven Eingriff
in die Grundrechte des betroffenen Minder-
In jedem Fall sollte eine Aufklärung und Bera-
tung der Eltern mit folgenden Inhalten erfolgen:
5 Informationen hinsichtlich der Symptoma-
7 jährigen, der nur unter Wahrung der Verhält-
nismäßigkeit, mit Achtung vor der Würde und tik, der vermuteten Ätiologie, des vermut-
den Bedürfnissen des Minderjährigen und unter lichen Verlaufes sowie der Behandlungs-
8 Beachtung der gesetzlichen Grundlagen und möglichkeiten;
Verfahrensgarantien nur so lange wie unbedingt 5 Beratung hinsichtlich pädagogischer Inter-
9 erforderlich durchgeführt werden darf (7 6.5). ventionen zur Bewältigung konkreter Pro-
Auch bei Jugendlichen, die in einer geschlos- blemsituationen: durch positive Zuwendung
10 senen Station behandelt werden müssen, wird bei angemessenem Verhalten, angemessene
der »Grad der Geschlossenheit« in Anpassung Aufforderungen und Grenzsetzungen in ein-
11 an die psychopathologischen Symptome und deutiger Weise und angemessene negative
die Absprachefähigkeit des Patienten individuell Konsequenzen bei disruptivem Verhalten.
12 und flexibel gestaltet.
Bei Vorliegen einer akuten Eigen- und/oder Elterntraining
Fremdgefährdung handelt es sich um einen Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger ist die
13 gesetzlichen Notstand nach § 34 StGB, der eine Durchführung von Interventionen bei den
Durchbrechung der gesetzlichen Schweigepflicht Eltern, um deren Verhalten in Bezug auf das
14 rechtfertigt. Kind zu verändern. Eine sehr gut untersuchte
Methode mit nachgewiesener Wirksamkeit stellt
15 ! Ein zur Verschwiegenheit Verpflichteter (z. B. das Elterntraining dar (Kazdin 2000). Ziel eines
Arzt, Psychotherapeut) darf ohne die Einwilli- Elterntrainings ist es nicht, Kinder zu »dressie-
16 gung des Minderjährigen auch gegenüber den ren«, sondern in ihrer Entwicklung zu unter-
Erziehungsberechtigten keine Geheimnisse stützen. Denn Kinder mit einer oppositionellen
17 offenbaren. Nur unter wenigen Bedingungen
darf ohne oder gegen den Willen des Patienten
Störung werden von ihren Eltern als unkontrol-
lierbar erlebt und befinden sich in einem chro-

18 die gesetzliche Schweigepflicht durchbrochen


werden, vor allem in Fällen des gesetzlichen
nischen Konflikt mit ihnen; hinzu kommen nega-
tive Erfahrungen mit Gleichaltrigen. So interna-
Notstandes nach § 34 StGB, also bei gegenwär- lisiert ein Kind ein negatives Bild von sich selbst
19 tiger, nicht anders abwehrbarer Gefahr, etwa und anderen Menschen, und es kommt zu einer
bei drohender Suizidgefahr eines psychisch zunehmend negativen Entwicklung.
20 Kranken. Dem Elterntraining liegt – im Gegensatz
zur Familientherapie – ein Mediatoren-Modell
zugrunde: Über die Eltern als Mediatoren nimmt
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
95 6

der Therapeut auf indirektem Weg Einfluss auf Eltern sollte deutlich werden, dass sie, wenn
das Kind. Das Verhalten des Kindes soll von den sie dem Wunsch des Kindes nachgeben, weil es
Eltern als veränderbar verstanden werden, und einen Wutanfall bekommt, die Wahrscheinlich-
die Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens auf keit weiterer Wutausbrüche erhöhen. In solchen
das Verhalten ihres Kindes sollen ihnen deutlich Situationen kann ein Time-out eingesetzt wer-
werden. den, damit das Kind (wie auch die Eltern) sich
wieder beruhigen können; denn es ist kontra-
Beispiel produktiv, wenn Eltern die Kontrolle über sich
Von großer Bedeutung ist es, wie Eltern ihr Kind wahr- selbst verlieren und anfangen zu schreien oder
nehmen: Denken sie, dass ihr Kind deviantes Verhal- das Kind zu schlagen. Eltern können ihr Kind
ten zeigt, um sie zu ärgern? Haben sie unrealistische dabei unterstützen, die Kontrolle über sein Ver-
Erwartungen an das Verhalten ihres Kindes? Können halten wieder zu erlangen, und versuchen, nach
sie differenzieren, wann ihr Kind Unterstützung benö- einem solchen Vorfall wieder zu einem neutral-
tigt, wann Begrenzung? Die Eltern werden angeleitet, positiven Ton zu gelangen.
das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen auf eine Generelles Ziel ist es auch, den Eltern Strate-
veränderte Art und Weise zu beobachten und zu defi- gien zu vermitteln, die die Zusammenarbeit zwi-
nieren, z. B.: »Mein Kind will mich mit seinem Wutaus- schen Kind und Eltern fördern. Eltern werden
bruch nicht (nur) ärgern, sondern es ist frustriert und dazu ermutigt, mit ihrem Kind Absprachen zu
weiß nicht, wie es auf andere Weise damit umgehen treffen, die Regeln sowie die Konsequenzen deut-
kann«. lich und nachvollziehbar mitzuteilen, adäquate
und faire positive und negative Konsequenzen
Wichtig ist, dass Eltern realistische, altersadä- zu wählen, und nicht ihr Kind zu bestrafen, ohne
quate Erwartungen an das Verhalten ihres Kin- den Grund dafür verdeutlicht zu haben. Im Rah-
des haben und die spezifischen Merkmale ihres men der von den Eltern vorgegebenen Ziele kön-
Kindes – z. B. seine ADHS-Symptomatik – ver- nen Kindern Optionen und Wahlmöglichkeiten
stehen, die zu seinem disruptiven Verhalten bei- angeboten werden und potenziell konflikterzeu-
tragen. gende Ereignisse vorbesprochen werden.
Vor allem bei ausgeprägtem disruptiven Ver-
halten des Kindes und/oder mehreren fehlge- Beispiel
schlagenen Interventionsversuchen ist es wich- Wenn ein Kind seine Hausarbeiten nicht machen will,
tig, den Eltern schnell möglichst konkrete kann es helfen, wenn es Teilaspekte selber bestimmen
Verhaltensstrategien zum Umgang mit proble- darf, z. B. mit welchem Stift es schreiben will oder in
matischen Verhaltensweisen ihres Kindes an die welcher Reihenfolge es die Hausarbeiten erledigt.
Hand zu geben.
Kinder mit oppositionellen Störungen finden
Beispiel es häufig schwierig, Außenvorgaben bezüglich
Einfache und klare Anweisungen, promptes und eines Wechsels ihrer Tätigkeit unmittelbar nach-
konsistentes Reagieren auf erwünschtes und uner- zukommen; es gelingt ihnen leichter, sich koope-
wünschtes Verhalten, Einführen eines Token-Systems rativ zu verhalten, wenn die Veränderung vorher
für erwünschtes Verhalten und einer Time-out-Proze- angekündigt wird.
dur als negative Konsequenz, Etablieren von »Notfall-
plänen« für konfliktreiche Situationen (z. B. morgens, Beispiel
Mahlzeiten, Einkaufen, Besuche, Öffentlichkeit). Statt der unmittelbaren Aufforderung »Jetzt ist Schla-
fenszeit« kann die Ankündigung »In fünf Minuten
ist es Zeit, schlafen zu gehen« besser angenommen
96 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 werden; statt »Komm zum Essen« eher »Fahr noch


eine Runde (mit dem Fahrrad) und komm dann zum
Wichtige Prinzipien des Elterntrainings
5 Erkennen und Einsetzen von positiven
Essen«.
2 Elternqualitäten
5 Erkennen und Einsetzen von positiven
Verstärkerpläne können wiederkehrende Mög-
3 lichkeiten zum Gespräch zwischen Kind und Kindqualitäten
5 Eindeutig formulierte, altersadäquate
Eltern bieten. Die im Verstärkerplan benann-
4 ten Anforderungen und Konsequenzen werden Anforderungen und Grenzsetzungen
5 Einsatz von Konsequenzen des kind-
mit dem Kind besprochen und abgestimmt. Bei
5 der Vergabe von Punkten reflektiert das Eltern- lichen Verhaltens in möglichst direktem
Zusammenhang und somit für das Kind
teil eigene Erwartungen und teilt diese dem
vorhersehbar
6 Kind mit, und das Verhaltens des Kindes, aber
auch des Elternteils, wird besprochen. Lang- 5 Positive Konsequenzen für koopera-
tives und prosoziales Verhalten des Kin-
7 wierige Diskussionen sind ungünstig, aber ein
Ziel der Eltern sollte es auch sein, beim Kind des (Aufmerksamkeit und Lob durch
die Eltern; Privilegien, materielle Beloh-
eine gewisses Maß an Einsicht in die gestellten
8 Anforderungen sowie Kooperation zu erreichen. nungen bzw. diesbezügliche Token;
soziale sind besser als materielle Ver-
Erst recht bei älteren Kindern und Jugendlichen
9 ist es wichtig, dass diese lernen, ihre Position zu stärkungen)
5 Negative Konsequenzen für oppositi-
erklären, zu verhandeln und Kompromisse zu
10 schließen. Soziale Verstärker (Lob, Zuwendung, onelles, aggressives und/oder dissozi-
ales Verhalten (Ignorieren des Verhal-
gemeinsame angenehme Aktivitäten) eröffnen
tens durch die Eltern, Verlust von Beloh-
11 die Möglichkeiten zu positiven Interaktionen
nungen, Time-out)
zwischen Kind und Eltern.
5 Beendigung zu harter, zu gewährender
12 Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Bezie-
hung ist ebenso wichtig wie Struktur und Regel-
oder inkonsistenter elterlicher Erzie-
hungspraktiken
mäßigkeit sowie konsequentes Ignorieren oder
13 leichte negative Konsequenzen bei oppositio- 5 Etablieren von Struktur und Regelmä-
ßigkeit in den täglichen Abläufen ent-
nellem oder aggressivem Verhalten des Kindes
14 und Belohnung von erwünschtem Verhalten. lastet Eltern und hilft Kindern
5 Adäquate Äußerungsmöglichkeiten der
Ein Aspekt davon ist das gemeinsame Verbrin-
15 gen von Freizeit mit Aktivitäten, die von allen Autonomiebestrebungen des Kindes im
Rahmen der von den Eltern vorgege-
Familienmitgliedern positiv bewertet werden.
16 Ziel ist ein liebevoll-konsequenter Erziehungs- benen Abläufe und Ziele
5 Mehr »Familienzeit«, welche gemein-
stil, bei dem das Stellen von Anforderungen und
sam mit angenehmen Tätigkeiten ver-
17 Setzen von Grenzen mit Verständnis und Wert-
schätzung für die Individualität des Kindes ein- bracht wird; auch als Verstärker einsetz-
bar
18 hergehen.

19 Elterntraining ohne direkte Anwendung


negativer Sanktionen
20 Bei sehr impulsiven und/oder aggressiven Eltern
kann eine Abwandlung des Vorgehens dahinge-
hend erforderlich sein, dass auf das Etablieren
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
97 6

direkter negativer Sanktionen verzichtet wird, da fig zu Konflikten führt. Hierfür stellen die El-
diese missbräuchlich gegen das Kind eingesetzt tern zusammen mit ihrem Kind einen Ablauf-
werden könnten (Ducharme et al. 2000). plan auf, in welchem dem Kind weniger ange-
nehme Tätigkeiten, z. B. Zähneputzen, mit ange-
Beschränken auf Aufforderungen mit hoher Er nehmeren Tätigkeiten, z. B. Vorlesen einer Ge-
folgswahrscheinlichkeit. Den Eltern wird ver- schichte durch seine Mutter, abwechseln. Wenn
mittelt, nur Aufforderungen mit hoher Erfolgs- eine Verpflichtung nicht erfüllt wird, tritt somit
wahrscheinlichkeit an das Kind zu richten, also als natürliche Konsequenz der Verlust der zeit-
solche Aufforderungen, denen es mit einer ho- lich darauf folgenden angenehmen Aktivität ein.
hen Wahrscheinlichkeit nachkommt. Das Be-
folgen einer Aufforderung wird von den Eltern Beispiel
mit Lob und körperlicher Berührung beantwor- Hilfreich ist auch die visuelle Gestaltung des Ablauf-
tet, so dass die Eltern sich schnell als erziehungs- und Zeitplanes mit grafischen Mitteln; so kann ein
kompetenter erleben und das familiäre Klima älteres Kind den Plan auf dem Computer erstellen,
positiver wird. Wenn das Kind anhand einfach oder ein jüngeres Kind kann mit seiner Mutter Bilder
zu befolgender Aufforderungen gelernt hat, ko- aus Zeitschriften ausschneiden und aufkleben, um
operatives Verhalten als positiv zu erleben, kön- die jeweiligen Aktivitäten des Planes zu visualisieren.
nen vorsichtig zunehmend schwierigere Anfor- Wenn die Eltern im Plan eintragen, dass das Kind die
derungen an das Kind gestellt werden. jeweiligen Aktivitäten ausgeführt hat, liefert dieses
dem Kind eine direkte visuelle Rückmeldung und kann
Ignorieren unerwünschter Verhaltensweisen. Anlass zum Loben des Kindes sein; wenn das Kind sei-
Das Ignorieren unerwünschter Verhaltenswei- ne Aktivitäten anhand des Planes checkt, kann es sich
sen, die keine grundlegenden Rechte ande- die Abfolge der Tätigkeiten und erwünschten Ver-
rer Menschen verletzen, kann bei einer ausge- haltensweisen besser merken sowie sein Gefühl von
prägten oppositionellen Störung zunächst eine Selbstwirksamkeit erhöhen.
geeignete Strategie sein. Anderenfalls muss das
Kind so häufig korrigiert werden, dass dies zu ei- Eltern sollten darauf vorbereitet werden, dass
ner weiteren Belastung der Eltern-Kind-Interak- ihr Kind sich zeitweise nicht an den Plan und
tion führt und von den Eltern kaum konsistent die diesbezüglichen Absprachen halten will, und
durchgehalten werden kann. Ignorieren bedeu- mögliche Reaktionen eventuell im Rollenspiel
tet hier, dass die Eltern keine Reaktion auf un- üben. Dabei sollten sie weder nachgeben noch
erwünschte Verhaltensweisen des Kindes zeigen, auf die zunehmenden Emotionen ihres Kindes
wohl aber unmittelbar auf jede andere Verhal- ihrerseits mit verstärkten Emotionen reagieren.
tensweise des Kindes; denn vollständiges Igno-
rieren des Kindes für einen gewissen Zeitraum Beispiel
stellt ja eine soziale Bestrafung dar. Wenn Ver- Eine Routine für das Einkaufen im Supermarkt mit
haltensweisen nicht ignoriert werden können, einem jüngeren Kind kann so aussehen, dass Mut-
weil ein Kind sich selbst oder andere Menschen ter und Kind zusammen eine Liste mit 10 Gegenstän-
damit körperlich zu verletzen droht, kann Igno- den erstellen, die das Kind während des Einkaufens
rieren in Verbindung mit Hinlenken des Kindes suchen und in den Einkaufswagen legen soll, um sei-
zu einer anderen Aktivität hilfreich sein. ner Mutter zu helfen. Der letzte Gegenstand auf der
Liste befindet sich immer kurz vor der Kassenzone. Als
Etablieren von Alltagsroutinen. Alltagsrou- Belohnung für das Finden dieses Gegenstands darf
tinen werden für eine Tageszeit oder eine täg- das Kind einen von drei akzeptablen Gegenständen
liche Aktivität eingesetzt, die besonders häu- aussuchen und ebenfalls in den Wagen legen. Hält
98 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 das Kind sich nicht an die Absprachen, führt dieses


zum unmittelbaren Verlassen des Ladens. Vor jedem
das praktische Vorgehen und Handeln der Eltern
in der Interaktion mit ihrem Kind anleitet, ohne
Einkauf werden die Regeln kurz vor Betreten des dabei belehrend zu wirken. Die Wirkungen und
2 Ladens wiederholt. Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu Hau-
se werden in den Trainingssitzungen bespro-
3 Natürliche Konsequenzen. Anstelle von Stra- chen, so dass ggf. erforderliche Modifikationen
fen werden natürliche Konsequenzen uner- im Vorgehen der Eltern vorgenommen werden
4 wünschten Verhaltens genutzt. Verantwortungs- und wiederum von den Eltern zu Hause erprobt
loses Verhalten führt zu einem Verlust von Pri- werden können. Wenn die Eltern dieses nicht
5 vilegien in dem Ausmaß, wie es zum Schutz von als intrusiv erleben, kann die Durchführung
Gesundheit, Sicherheit oder anderen grundle- von einzelnen Trainingssitzungen im häuslichen
6 genden Rechten anderer Menschen erforderlich
ist.
Rahmen sehr günstig sein, denn hierdurch wird
das Verständnis des Behandlers für die psycho-

7 Beispiel
sozialen Bedingungen der Familie erhöht und
der Transfer des Erlernten in die häusliche Situ-
Wenn ein Kind während eines Spiels mit Gegenstän- ation unterstützt. Bei jungen Kindern sind Spiel-
8 den nach einem anderen Kind wirft, kann es solange stunden mit Kind und Eltern unter Beachtung
nicht weiter an dem Spiel teilnehmen, bis es sich beru- der Grundprinzipien des Elterntrainings mit
9 higt hat, damit niemand verletzt wird. Anleitung durch den Therapeuten sehr hilfreich
dafür, dass die Eltern ihre neu erworbenen Fer-
10 Durchführung des Elterntrainings tigkeiten üben können und mehr Sicherheit im
Insbesondere zu Beginn eines Elterntrainings Umgang mit ihrem Kind gewinnen.
11 ist es sehr wichtig, dass die Eltern in ihren Wenn das Elterntraining in einem Gruppen-
Äußerungen gestärkt werden und so Sicher- setting durchgeführt wird, sollte genügend Zeit
12 heit gewinnen und für die weitere Arbeit moti-
viert werden. Eltern haben, bevor sie mit ihrem
für Fragen und zum Üben der Fertigkeiten ein-
geplant sowie Diskussion und Feedback der Teil-
Kind in Behandlung kommen, häufig schon viel- nehmer untereinander gefördert werden. Auch
13 fältige Erfahrungen des Scheiterns im Umgang Kontakt der Eltern untereinander und gegen-
mit ihrem Kind gemacht und fühlen sich von seitige Unterstützung außerhalb der Gruppen-
14 Verwandten und Erziehern oder Lehrern als sitzung erhöht die Generalisierung und Stabili-
»schlechte Eltern« gesehen und abgewertet. Hier sierung der Therapieeffekte. Ausbildungsniveau
15 kann die Erfahrung, dass es anderen Eltern ähn- und soziokultureller Hintergrund der Eltern soll-
lich ergangen ist, hilfreich sein. Es sollten die ten berücksichtigt werden; es kann ratsam sein,
16 Anliegen der Eltern erfragt werden, bezogen auf weniger Gewicht auf schriftliches Material und
möglichst konkrete Alltagssituationen mit wie- verbale Lehrmethoden zu legen und mehr mit
17 derkehrenden Schwierigkeiten im Umgang mit
dem Kind, und dafür möglichst konkrete Hilfen
Lernen am Modell und Rollenspiel zu arbeiten.
Der (soziale) Vater sollte auch dann mög-

18 angeboten werden, die leicht im Alltag unter den


gegebenen familiären Bedingungen und Belas-
lichst eng einbezogen werden, wenn die Erzie-
hungsfunktion im Alltag weitgehend der Mut-
tungen umgesetzt werden können. Diese soll- ter zugeordnet ist. Deutliche Unterschiede im
19 ten anknüpfen an Wissen und Fertigkeiten, die Erziehungsstil zwischen den Eltern sollten ver-
bei den Eltern bereits vorhanden sind, und mög- mindert werden, und eine Unterstützung der
20 lichst genau beschrieben werden. Noch besser ist Mutter in ihrer Erziehungsfunktion durch den
es, wenn der Therapeut zu erwerbende Fertig- Partner ist wichtig. Bei allein erziehenden Müt-
keiten demonstriert (»Lernen am Modell«) und tern mit wenig stabilen Partnerbeziehungen ist
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
99 6

es jedoch oft besser, die Mutter in ihrer Rolle der Dann sind zusätzliche eltern- und/oder kind-
weitgehend allein verantwortlichen Erziehungs- bezogene Interventionen erforderlich, um die
person zu stärken, denn für ein Kind ist es weni- Wirksamkeit von Elterntraining zu erhöhen:
ger schwierig, sich auf verschiedene Partner der 5 Coping-Fertigkeiten und interpersonelle
Mutter als auf wechselnde Väter einzustellen. Fertigkeiten der Eltern erhöhen
Bei Problemen mit einer langen Vorgeschich- 5 Aufbauen eines sozialen Netzwerkes zur
te kann man keinen ausreichenden Effekt inner- Unterstützung und Entlastung der Eltern
halb kurzer Zeit und mit wenigen Trainingsstun- 5 Hinarbeiten auf die Behandlung wichtiger
den erwarten; meist ist ein Trainingsumfang von elterlicher Probleme (z. B. Depression, Subs-
mindestens 20 Sitzungen in wöchentlichen oder tanzmissbrauch)
zweiwöchentlichen Abständen erforderlich. Es 5 Psychotherapeutische und/oder medika-
sollten realistische Zwischenziele gesetzt werden mentöse Behandlung komorbider Störungen
und kleine Erfolge, die vielleicht von den Eltern des Kindes.
gar nicht wahrgenommen oder nicht als solche
erlebt werden, positiv verstärkt werden. Wenn Oft kann es günstig sein, zunächst mit dem eigent-
Eltern ihr eigenes Verhalten und das ihrer Kinder lichen Elterntraining zu beginnen, weil auch
regelmäßig evaluieren, kann es ihnen dabei hel- dieses über eine Verhaltensänderung des Kindes
fen, ihre Ziele präsent zu halten; auch der Behand- die Belastung der Eltern deutlich verringern kann.
ler sollte dieses tun. Eltern müssen darauf vorbe- Bei unzureichendem Erfolg können dann zusätz-
reitet werden, dass Hindernisse auftreten wer- liche Interventionen durchgeführt werden, die
den und Rückschläge zu erwarten sind. Günstig möglichst spezifisch auf die tatsächlichen Belas-
für die Stabilisierung des Trainingseffektes ist es, tungs- und Risikofaktoren gerichtet sein sollten.
wenn nach Durchführung des eigentlichen Trai- Häufig belasten ungünstige psychosoziale
nings noch Booster-Sitzungen in längeren Zeitab- Bedingungen die Eltern in einem solchen Aus-
ständen angeschlossen werden können. maß, dass kaum noch Ressourcen zur Bewäl-
tigung der Anforderungen des Alltags beste-
Ergänzende Interventionen bei hen, und je mehr elterliche Probleme vorhan-
unzureichender Wirksamkeit den sind, desto weniger wirksam ist der isolierte
Die kurz- und langfristige Wirksamkeit von Einsatz eines Elterntrainings. Interventionen bei
Elterntraining, vor allem für Kinder zwischen 4 belasteten Familien müssen stärker das Umfeld
und 8 Jahren, ist gut gesichert. Elterntrainings, der Familie berücksichtigen, also nicht nur die
die bei Kindern im Vorschulalter durchgeführt klassischen Ziele eines Elterntrainings verfol-
werden, sind wirkungsvoller, als wenn die Kin- gen, sondern auch die psychosozialen Schwie-
der älter sind (Dishion u. Patterson 1992). Eltern- rigkeiten der Familie angehen. Dann ist eher ein
training ist weniger gut wirksam, wenn erschwe- Ansatz im Sinne der multisystemischen Therapie
rende Faktoren hinzukommen: (Henggeler et al. 1998) geeignet, bei welcher ein
5 Psychische Störungen der Eltern »Paket« vielfältiger Interventionen für Kinder/
5 Niedriger sozioökonomischer Status der Jugendliche und ihre Familien »je nach Bedarf«
Eltern eingesetzt wird, häufig in Form von »Home Treat-
5 Hohe psychosoziale Belastung der Eltern ment«. Dabei wird den Eltern Hilfe in den Berei-
5 Chronischer Ehekonflikt chen und auf die Art und Weise angeboten, die
5 Allein erziehendes Elternteil sie benötigen, um ihre Eltern- und Erziehungs-
5 Kinder mit einer ausgeprägten und/oder sta- funktion adäquat erfüllen zu können; hier stellt
bilen Störung des Sozialverhaltens Elterntraining lediglich einen Bestandteil dar.
5 Kinder mit komorbiden Störungen Wichtige elterliche Probleme (z. B. Drogenmiss-
100 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 brauch, psychische Störungen, auch elterliche


ADHS, soziale Isolation bei allein erziehenden
Eltern zu erreichen, welche mit adaptiveren Ver-
haltensmustern nicht erreicht werden kann.
Müttern, finanzielle Probleme) müssen berück- Nach Erkennen dieser grundlegenden Funktion
2 sichtigt werden, und die Hilfsangebote für die des Problemverhaltens wird versucht, die Kom-
Familie dürfen wenig an zusätzlichen Anforde- munikations- und Interaktionsmuster in der
3 rungen stellen bzw. die hierdurch bedingte Ent- Familie so zu verändern, dass ein günstigeres
lastung muss so schnell einsetzen und so groß Verhalten des Jugendlichen möglich ist.
4 sein, dass der seitens der Familie zu erbringende Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, Eltern in die
Aufwand mindestens ausgeglichen wird. Lage zu versetzen, dass sie ihr Kind von ungüns-
5 tigen Peer-Gruppen trennen und es beim Auf-
Familientherapie bau von adäquaten Peer-Beziehungen unterstüt-
6 Familientherapeutische Interventionen sind
bei Störung der familiären Beziehungen – auch
zen.

7 dann, wenn eine auf den familiären Rahmen


beschränkte Störung des Sozialverhaltens als Fol-
Beispiel
So könnten Eltern ihr Kind dazu anhalten, dass es
ge einer spezifischen familiären Interaktionsstö- nachmittags an regelmäßigen und strukturierten
8 rung angesehen wird – sowie bei Jugendlichen Aktivitäten mit Gleichaltrigen unter Aufsicht von
mit Störung des Sozialverhaltens indiziert. Alle Erwachsenen teilnimmt. Eine nachmittägliche Betreu-
9 Familienmitglieder sollen dabei unterstützt wer- ung in der Schule ist dann günstig, wenn das Kind
den, dass sie effektiver kommunizieren, mitein- anderenfalls viel Zeit allein zu Hause oder mit disso-
10 ander verhandeln und Probleme lösen, um so die zialen Gleichaltrigen verbringt und der sozialpäda-
Kooperation sowohl zwischen Eltern und Kin- gogische Interventionsbedarf nicht so groß ist, dass
11 dern als auch der Eltern untereinander zu ver- eine teilstationäre Jugendhilfemaßnahme erforder-
bessern. Die gegenseitigen Erwartungen anein- lich ist. Regelmäßige prosoziale Aktivitäten, welche

12 ander sollten möglichst konkret benannt wer-


den und Absprachen getroffen werden, wobei
dem Kind Freude bereiten, sollten unterstützt werden.
Gerade für Kinder mit stark ungesteuertem, hypermo-
der Jugendliche auch bei den Absprachen über torischem Verhalten ist die regelmäßige Teilnahme an
13 die Konsequenzen von Regelverstößen beteiligt Sportgruppen zum »Austoben« und zum Erlernen von
werden sollte. »Fairness« günstig.
14
! Ziel einer Familientherapie ist es, die Wahrneh- Hierbei ist auch die Etablierung von Monitoring
15 mung, Erwartungen, Einstellungen und emo- wichtig. Während Eltern jüngerer Kinder ihr Wis-
tionalen Reaktionen der Familienmitglieder sen über deren Aktivitäten und sozialen Umgang
16 untereinander zu verändern, um gegenseitige durch direkte Beobachtung beziehen, verbringen
Beschuldigungen und Abwertungen zu verrin- ältere Kinder und Jugendliche mehr Zeit außer-
17 gern und positive Interaktionen zu fördern. halb direkter Aufsicht von Erwachsenen. Somit
muss hier eine indirektere Form von Monito-

18 Wirksamkeit bei Störungen des Sozialverhaltens


ist vor allem für kognitiv-behaviorale familien-
ring etabliert werden. Dieses kann Gespräche
mit dem Kind über seine Freunde und Aktivi-
therapeutische Ansätze nachgewiesen, z. B. für täten umfassen, auch im Rahmen von gemein-
19 die funktionale Familientherapie (Alexander u. samen Aktivitäten mit dem Kind, Gespräche mit
Parsons 1973). Hier wird angenommen, dass das Lehrern und anderen Eltern, sowie die Etablie-
20 ungünstige Verhalten des Kindes oder Jugend- rung bestimmter Regeln durch die Eltern, mit
lichen innerhalb der Familie eine bestimmte wem ihre Kinder in welchem Rahmen umgehen
Funktion hat, z. B. mehr Abgrenzung von den dürfen. Erfolgreiches Monitoring setzt jedoch
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
101 6

auch eine gewisse Bereitschaft des Kindes oder wählen, sondern möglichst konkret, z. B. mit
Jugendlichen zu diesbezüglicher Kooperation Geschichten, Spielen und auf der Verhaltensebe-
voraus, so dass ausschließlich rigide Kontrol- ne zu arbeiten.
le und Durchsetzen von Verboten nicht zielfüh-
rend sind, sondern sich unter Umständen durch Adäquate Wahrnehmung und Interpretation
die Belastung der Eltern-Kind-Beziehung nega- sozialer Situationen
tiv auswirken können. Aggressive Kinder achten in sozialen Situati-
onen überdurchschnittlich häufig auf Anzeichen
Aufklärung und Beratung des Kindes/ für Feindseligkeit, insbesondere dann, wenn sie
Jugendlichen soziale Zurückweisung erleben und ein hohes
Diese sollte bei Kindern ab dem Schulalter und Niveau emotionaler Erregung aufweisen. Solche
bei Jugendlichen in altersangemessener Form negativen Attributionen tragen zu den interper-
durchgeführt werden. Ziele sind: sonalen Schwierigkeiten aggressiver Kinder und
5 Information hinsichtlich der Symptomatik, Jugendlicher bei und sollten gegebenenfalls ein
der vermuteten Ätiologie, des vermutlichen Ziel therapeutischer Interventionen sein, da sie
Verlaufes sowie der Behandlungsmöglich- häufig dysfunktional sind und eine aufrechter-
keiten haltende Bedingung für impulsiv-aggressives
5 Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Verhalten darstellen. Weiterhin kann auch die
Selbstbeobachtung und Selbststeuerung Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen dif-
ferenziert wahrzunehmen, eingeschränkt sein,
Soziales Problemlöse- und Kompetenz- und damit auch die Fähigkeit, sich in die Sicht-
training und Erlebensweise einer anderen Person hinein-
Wichtige kognitiv-verhaltenstherapeutische In- zuversetzen.
terventionen bei Kindern und Jugendlichen mit Ziel ist somit die differenziertere Wahrneh-
Störungen des Sozialverhaltens sind unter den mung eigener und fremder Absichten, Einstel-
Begriff des sozialen Problemlöse- und Kompe- lungen, Gefühle und Handlungen, um eine dif-
tenztrainings zu fassen, dessen Kurzzeitwirk- ferenziertere Interpretation sozialer Situationen
samkeit belegt ist, mit jedoch wenig nachgewie- zu fördern.
senen Langzeiteffekten (Kazdin 2000). Je nach
Programm und Zielgruppe werden hier unter- Beispiel
schiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenom- Als Materialien können Bilder oder Videofilme mit Per-
men: Wahrnehmung und Bewertung sozialer sonen in sozialen Situationen, die dem Alltagserleben
Situationen, soziales Problemlösen/Umgang der Kinder ähnlich sind, verwendet werden. Die Kin-
mit sozialen Konfliktsituationen, Erwerb sozi- der werden angeleitet, die Situationen zu beschreiben,
aler Fertigkeiten, Umgang mit Ärger und Wut. die dargestellten Gefühle zu identifizieren, zu überle-
Die Durchführung eines solchen Trainingspro- gen, was der aktuellen Situation vorausgegangen sein
gramms ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ein könnte und in welchen Situationen sie sich selbst so
Kind oder Jugendlicher tatsächlich nicht über gefühlt haben; gefördert werden also auch Perspek-
die entsprechenden Fertigkeiten verfügt, nicht tivübernahme und Einfühlungsvermögen. Anhand
aber, wenn vorhandene Fertigkeiten nicht zum uneindeutiger sozialer Situationen können verschie-
Einsatz gebracht werden, weil aggressiv-disso- dene Interpretationen der Situation und der Motiva-
ziales Verhalten zu positiveren Konsequenzen tion der beteiligten Personen besprochen und disku-
führt. Je geringer die kognitiven Fertigkeiten tiert werden. Hilfreich kann auch das Nachspielen und
eines Kindes sind, desto wichtiger ist es, nicht ei- Erleben im Rollenspiel sein, wobei auch die physiolo-
nen überwiegend kognitiv-verbalen Ansatz zu
102 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 gisch-vegetative Komponente von Emotionen einbe-


zogen werden sollte.
Frustration, Wut – und erhöhter impulsiver
Aggressivität besteht ein Zusammenhang: Ein
Kind, dessen Fähigkeit zur Regulation negativer
2 Erwerb sozialer (Problemlöse-)Fertigkeiten Emotionen beeinträchtigt ist, kann auf eigent-
Das Training zum Erwerb sozialer Fertigkeiten lich geringfügige Frustration, beispielsweise im
3 umfasst Training von Kooperation und Hilfever- Zusammenhang mit der Forderung zu koope-
halten, Vereinbaren und Einhalten von Regeln, rativem Verhalten, mit heftigem Ausagieren sei-
4 angemessene Selbstbehauptung, Training kom- ner negativen Emotionen, z. B. durch Schreien,
munikativer Fertigkeiten, um befriedigende Schimpfen oder Schlagen, reagieren. Dagegen
5 soziale Kontakte, vor allem zu Gleichaltrigen, zu zeigen Kinder, die über effektive Strategien ver-
initiieren und gestalten und soziale Alltagsan- fügen, um starke negative Gefühle zu regulieren,
6 forderungen zu bewältigen. Soziale Fertigkeiten
und ihre Anwendung in unterschiedlichen Situ-
häufiger prosoziales Verhalten (Eisenberg et al.
1996).

7 ationen können besprochen und im Rollenspiel


geübt werden.
Beim Ärger-Kontroll-Training (Lochman
1992) lernen die Kinder und Jugendlichen, ihre
Zum einen werden Problemlösestrategien bei individuellen Auslöser für Ärger und aggres-
8 interpersonellen Konflikten erlernt, zum ande- sives Verhalten zu erkennen und ihre eigenen
ren soziale Fertigkeiten, um gefundene Problem- mit Ärger einhergehenden körperlichen und
9 lösungen auch tatsächlich adäquat umsetzen zu emotionalen Reaktionen wahrzunehmen, so
können. Problemlösen wird als ein Prozess mit dass sie in Konfliktsituationen rechtzeitig mittels
10 schrittweisem Vorgehen verstanden. Selbstinstruktion (»Stop! Denk nach! Was soll-
te ich jetzt tun?«) ihre impulsiv-aggressive Reak-
11 Beispiel tion blockieren können. So eröffnet sich ihnen
Zunächst wird das Problem beschrieben, und die überhaupt erst die Möglichkeit, ihr Handeln in
12 Kinder lernen, ihre Aufmerksamkeit auf bestimm-
te Aspekte der Situation oder des Problems zu lenken,
potenziellen Konfliktsituationen zu verändern
und ihre aggressiven Impulse durch Gebrauch
die zu einer konstruktiven Problemlösung führen kön- von Beruhigungstechniken und positiven Selbst-
13 nen. Dann werden in der Gruppe mögliche Lösungen verstärkungen (»cool bleiben«) zu kontrollieren.
generiert und entwickelt und dann mögliche kurz- , Sie entwickeln und üben auch Strategien, um
14 mittel- und langfristige Konsequenzen jeder vorge- mit Kritik und Misserfolgen angemessen umzu-
schlagenen Lösung erwogen. Prosoziale Problem- gehen und die begleitenden Gefühle von Ärger
15 lösungen werden durch den Therapeuten verstärkt. und Wut zu kontrollieren. In der Gruppe wer-
Die am geeignetsten erscheinende Lösung wird aus- den spezifische Situationen diskutiert, die Ärger
16 gewählt und ihre Umsetzung auf der Handlungsebe- und Wut auslösen, und Rollenspiele durchge-
ne geplant. Nach ihrem praktischen Durchführen – führt. Sehr wichtig ist hier aber auch, dass eine
17 wobei konkrete soziale Fertigkeiten geübt werden – ,
bewertet das Kind das Ergebnis und benennt – auch
kognitive Umstrukturierung gelingt: Gewonnen
hat, wer sich nicht ärgern läßt. Verloren hat man,

18 wenn es das Ergebnis als insgesamt unbefriedigend


erlebt – partielle Erfolge und positive Aspekte seines
wenn man sich von dem anderen so ärgern läßt,
dass man die Kontrolle über sich verliert und die
eigenen Handelns. negativen Folgen hinnehmen muss. Denn sonst
19 sind die Kinder und Jugendlichen möglicher-
Adäquater Umgang mit negativen weise gar nicht motiviert, ihre Fertigkeiten zur
20 Emotionen Kontrolle negativer Emotionen tatsächlich ein-
Zwischen einer geringen Fähigkeit zur Regu- zusetzen.
lation negativer Emotionen – vor allem Ärger,
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
103 6

Durchführung des sozialen Problemlöse- rigeren Situationen zu üben, sollten auch Kon-
und Kompetenztrainings fliktsituationen in der Gruppe geübt werden, die
Üblicherweise wird das Training in einer (Klein-) mit einer gewissen emotionalen Erregung bei
Gruppe durchgeführt, da die Kinder so mehr den Kindern einhergehen.
Möglichkeiten haben, voneinander zu lernen Die Arbeit mit den Kindern wird von einer
und zusammen zu üben. Auch das gegensei- intensiven Beratung der Eltern begleitet. Sie wer-
tige Feedback der Kinder ist sehr wichtig für den in regelmäßigen Abständen über die neu
den Transfer des Gelernten in soziale Alltagssi- erworbenen Konzepte und sozialen (Problem-
tuationen mit Gleichaltrigen. Bei Kindern mit löse-)Fertigkeiten ihrer Kinder informiert und
sehr geringen sozialen Fertigkeiten oder starker gebeten, den Gebrauch dieser Fertigkeiten zu
sozialer Gehemmtheit kann es jedoch erforder- loben und zu verstärken, wann immer sie dies
lich sein, eine individuelle Trainingsphase vor- bei ihrem Kind bemerken. So können sie die
zuschalten. Funktion von Mediatoren übernehmen und ihr
Das Training sollte attraktiv und abwechs- Kind bei alternativen Problem- und Konfliktlö-
lungsreich gestaltet werden, um die Aufmerk- sungen unterstützen.
samkeit der Kinder zu fokussieren und ihre Moti-
vation zur Mitarbeit zu fördern. Der Therapeut ! Am erfolgreichsten ist die Kombination von
nimmt eine aktive Rolle ein: Er demonstriert den eltern- und kindzentrierten Interventionen
Gebrauch geeigneter Selbst-Verbalisationen, ver- (Webster-Stratton u. Hammond 1997); dage-
stärkt geeignete Problemlösungen, gibt Hinweis- gen ist die isolierte Durchführung von kind-
signale für den Gebrauch bestimmter Fertig- zentrierten Interventionen nur begrenzt sinnvoll.
keiten, gibt Feedback und lobt die Anwendung des
Erlernten. Zentrale Konzepte und neu erworbene Kindzentrierte Interventionen erhöhen nicht
Fertigkeiten werden durch Wiederholung gefes- den Effekt von Elterntraining auf disruptives
tigt, auch unter Verwendung von Videofilmen Verhalten, führen aber zu einer Verbesserung
und graphisch gestalteten Materialien, z. B. Auf- in Bereichen, die durch das Elterntraining nicht
kleber oder Cartoons, als »prompts« für bestimm- beeinflusst werden, z. B. Beziehungen zu Gleich-
te soziale Fertigkeiten oder Strategien. altrigen.

! Zur Förderung der Generalisierung auf den All-


tag ist es äußerst wichtig, dass für die Kinder 6.2.3 Schulbezogene Interventionen
relevante Alltagssituationen und -probleme in
den Trainingssitzungen bearbeitet und antizi- Eine Beratung von Erziehern bzw. Lehrern eines
pierend geübt werden. Kindes sollte dann durchgeführt werden, wenn
im Kindergarten bzw. in der Schule deutliche
Ob die Kinder die im Training erlernten Verhal- Symptome auftreten und die Eltern ihr Einver-
tensweisen auch tatsächlich im Alltag anwenden, ständnis zu einer solchen Beratung gegeben
hängt wesentlich davon ab, ob sie diese im Ver- haben. Mögliche Beratungsinhalte können sein:
gleich zu ihren etablierten aggressiven Strategien 5 Information hinsichtlich der Symptomatik
als nützlicher erleben; deswegen sind genaue der Störung, der vermuteten Ätiologie sowie
Kenntnisse über die Lebensumstände der Kin- der Behandlungsmöglichkeiten
der und ihrer Bezugsgruppe Voraussetzung, um 5 Beratung hinsichtlich pädagogischer Inter-
im Alltag anwendbare alternative Verhaltensstra- ventionen zur Bewältigung konkreter Pro-
tegien entwickeln zu können. Um die Anwen- blemsituationen, insbesondere durch posi-
dung der gelernten Strategien auch in schwie- tive Zuwendung bei angemessenem Ver-
104 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 halten, angemessene Aufforderungen und


Grenzsetzungen in eindeutiger Weise sowie
keine Verbesserung solcher Verhaltensweisen
durch Reifungsprozesse zu erwarten ist.
durch angemessene negative Konsequenzen Durch ein schulisches Kontingenzmanage-
2 bei disruptivem Verhalten ment-Programm mit Lob für angemessenes Ver-
halten der Kinder sowie Entzug von Smileys –
3 Ein Kind sollte eine für es geeignete Schulform welche die Kinder zu Beginn einer Schulstun-
besuchen, nach Möglichkeit seinem intellektu- de als »Guthaben« erhielten – bei aggressivem
4 ellen Leistungsniveau entsprechend. Insbesonde- Verhalten (»Response Cost«) konnte Letzteres
re bei einem niedrigen sozioökonomischen Sta- deutlich vermindert werden (Reynolds u. Kelley
5 tus der Familie können Schwierigkeiten des Kin- 1997). Wichtig ist, dass der Entzug eines Smileys
des, sich nach der Einschulung an den Schulalltag als unmittelbare Konsequenz unerwünschten
6 zu gewöhnen, und frühe schulische Leistungsde-
fizite zu persistierendem Problemverhalten füh-
Verhaltens erfolgt, unter kurzer Angabe einer
Begründung, so dass den Kindern die an sie

7 ren, mit einem Circulus vitiosus zwischen defi-


zitären grundlegenden schulischen Fertigkeiten,
gerichteten Erwartungen klar mitgeteilt wer-
den. Die Kinder können ihre Smileys spätestens
Motivationsmangel und disruptivem Verhalten, am Ende des Schultages in Belohnungen, die in
8 welcher beim Vorliegen von einer ADHS und/ der Schule leicht realisiert werden können, ein-
oder Teilleistungsstörungen eine noch ungüns- tauschen. So kann ein positives schulisches Kli-
9 tigere Dynamik aufweisen kann. Da es schon ma gefördert werden, und der Unterricht muss
früh zu Entscheidungen kommen kann, die für durch das Einsetzen negativer Konsequenzen
10 die weitere Entwicklung des Kindes gravierende nicht unterbrochen werden.
Konsequenzen haben können, z. B. Umsetzung Auch hier ist die Dauer der Intervention von
11 auf eine Sonderschule, sind in einer solchen großer Bedeutung; so zeigte ein aufwändiges
Situation eine umfassende und präzise Diagnos- multimodales Programm, welches mit verhal-
12 tik sowie entschlossene Interventionen unver-
zichtbar. Allerdings kann bei Vorliegen einer
tensauffälligen Vorschulkindern über ein Jahr
hinweg durchgeführt wurde, direkt danach gute
intellektuellen Begabung im Bereich der Lernbe- Effekte (Barkley et al. 2000), die jedoch 2 Jah-
13 hinderung an der Grenze zur geistigen Behinde- re später nicht mehr nachweisbar waren (Shel-
rung die an Schulen für geistig Behinderte meist ton et al. 2000). Hinsichtlich der Aufwand-Nut-
14 stärker gegebene Möglichkeit zur individuellen zen-Relation könnte es günstiger sein, weniger
Betreuung gerade bei Kindern mit ausgeprägter aufwändige Interventionen über einen längeren
15 impulsiv-reaktiver Aggressivität günstiger sein. Zeitraum zu etablieren.
Bei ausgeprägter aggressiv-dissozialer Störung Maßnahmen in der Schule bieten den Vor-
16 ist es äußerst schwierig bis unmöglich, dass die teil, dass sie direkt bei den Kindern ansetzen
betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen Regel- können und gegebenenfalls auch ohne Mitar-
17 schulen besuchen.
Schulische Maßnahmen in Form von
beit der Eltern realisierbar sind. Effektive Inter-
ventionen zur Verminderung aggressiv-dissozi-

18 Zurückstufung, Umsetzung in eine Parallelklas-


se oder eine andere Regelschule als Reaktion auf
alen Verhaltens älterer Kinder und Jugendlicher
stellen (sekundäre) Präventionsmaßnahmen für
disruptives Verhalten führen häufig lediglich zur jüngere Kinder bezüglich der Aufnahme in dis-
19 einer Verschiebung der Problematik und brin- soziale Peer-Gruppen wie auch bezüglich einer
gen zusätzliche Beziehungsabbrüche mit sich. potenziellen Viktimisierung dar. Wichtig ist es,
20 Eine Rückstellung vom Schulbesuch aufgrund dass solche Interventionen möglichst an mehre-
hyperkinetischer, oppositioneller oder aggres- ren Schulen eines Gebietes etabliert werden, um
siver Verhaltensweisen sollte nicht erfolgen, da dissoziale Peer-Effekte zu reduzieren; Aufwand
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
105 6

und Kosten solcher Programme müssen also in Kindergarten/Schule sowie beim Kind selbst
hinreichend gering sein, so dass diese über lan- mit einer medikamentösen Behandlung des Kin-
ge Zeit möglichst flächendeckend etabliert wer- des kombiniert werden. Ein nach den gleichen
den können. Grundprinzipien aufgebautes Buch für Eltern,
Wünschenswert ist es, dass es Schule bzw. Wackelpeter und Trotzkopf (Döpfner et al. 2000),
Kindergarten und Eltern gelingt, im Interes- lässt sich im Rahmen des Therapieprogrammes
se des Kindes zusammenzuarbeiten, denn häu- oder als Selbsthilfebuch einsetzen.
fig entstehen im Laufe der Zeit auch in diesem Bei den familienzentrierten Interventionen
Bereich »koersive« Interaktionen, bei denen bei- steht die Arbeit mit den Eltern im Mittelpunkt,
de Seiten wechselseitig zunehmend negativeres wobei das Kind je nach Problematik, Alter und
Verhalten der anderen Seite fördern. Behandlungsbaustein unterschiedlich stark inte-
griert wird; nur wenige Bausteine werden aus-
! Wenn jedoch eine konkrete Gefährdung des schließlich mit den Eltern durchgeführt. Zentra-
Kindeswohls zu befürchten ist, dürfen und sol- le Ziele der familienzentrierten Interventionen
len Lehrer bzw. Erzieher auch ohne Wissen oder sind die Verbesserung der Eltern-Kind-Bezie-
Einverständnis der Eltern das Jugendamt infor- hung und die Verringerung problematischer
mieren. Verhaltensweisen des Kindes in der Familie.
Folgende Themenkomplexe werden im
THOP behandelt:
6.2.4 Therapieprogramme 1. Konkrete Beschreibung der Verhaltens-
probleme, Entwicklung eines gemeinsamen
Hier werden nur Therapieprogramme vorge- Störungskonzeptes anhand von konkreten
stellt, die in deutscher Sprache vorliegen und Beispielsituationen, Behandlungsziele und
somit ohne den Aufwand einer Übersetzung der Behandlungsplanung
Trainingsmaterialien praktisch angewendet wer- 2. Förderung positiver Eltern-Kind-Inter-
den können. aktionen (z. B. durch gemeinsame Spiel-
zeiten von Eltern und Kind, die unter genau
Therapieprogramm für Kinder mit definierten, gemeinsam erarbeiteten und
hyperkinetischem und oppositionellem geübten Regeln zu Hause durchgeführt wer-
Verhalten den)
Beim Therapieprogramm für Kinder mit hyperki- 3. Pädagogisch-therapeutische Interventi-
netischem und oppositionellem Verhalten THOP onen zur Verminderung von impulsivem
(Döpfner et al. 2002) handelt es sich um ein mul- und oppositionellem Verhalten (z. B. wir-
timodales Therapieprogramm für Kinder von kungsvolle Aufforderungen, positive Zuwen-
etwa 3 bis 12 Jahren, das sowohl bei Kindern mit dung zum Kind bei angemessenem Verhal-
hyperkinetischen Symptomen als auch bei Kin- ten, angemessene negative Konsequenzen
dern mit oppositionellen Symptomen eingesetzt bei Problemverhalten)
werden kann. Nach einer umfassenden Diagnos- 4. Spezielle operante Methoden (z. B. Token-
tik erfolgt die Erstellung eines Therapieplanes für Systeme, Response-Cost-Verfahren, Auszeit)
die individuellen Verhaltensprobleme des Kin- bei Problemen, die durch die pädagogisch-
des. Hierbei sollen Eltern bzw. Erzieher/Lehrer therapeutischen Interventionen nicht hinrei-
die Fertigkeiten erwerben, um als Mediatoren chend vermindert werden konnten
von Verhaltensänderungen des Kindes zu fun- 5. Interventionen bei spezifischen Verhaltens-
gieren. Je nach Indikation können verhaltens- problemen (z. B. Hausaufgaben, Verhalten
therapeutische Interventionen in der Familie, in öffentlichen Situationen)
106 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 6. Maßnahmen zur Generalisierung und Stabi-


lisierung der Effekte.
zimmers) und pädagogische Strategien (wir-
kungsvolle Aufforderungen, positive Verstär-
kung angemessenen Verhaltens, negative Konse-
2 Bei den kindzentrierten Interventionen steht die quenzen bei unangemessenem Verhalten) sowie
Arbeit mit dem Kind im Vordergrund, wobei die spezielle verhaltenstherapeutische Techniken
3 Eltern ebenfalls einbezogen werden; hierbei wer- (z. B. Token-Systeme, Verstärkerentzug) infor-
den zwei verschiedene Behandlungsansätze ver- miert.
4 folgt. Das Therapieprogramm wird meist als Ein-
5 Zum einen werden die Inhalte der einzel- zeltherapie durchgeführt, kann aber auch in der
5 nen Behandlungsbausteine mit dem Kind Gruppe eingesetzt werden. Bei wöchentlichen
erarbeitet, um es stärker in die familien- Sitzungen muss durchschnittlich mit einem
6 zentrierten Interventionen einzubezie-
hen. Dieses ist für Kinder ab dem Schulalter
Behandlungszeitraum zwischen einem halben
und einem Jahr gerechnet werden; danach ist

7 sinnvoll und erfolgt unter Verwendung von


kindgemäßen Kurzgeschichten, mit Peter als
häufig eine Nachbetreuung in größeren Zeitab-
ständen sinnvoll.
Hauptperson, der von allen »Wackelpeter«
8 oder »Trotzkopf« genannt wird. Training mit aggressiven Kindern
5 Zum anderen kann mit dem Kind selbst Im Mittelpunkt des Trainings mit aggressiven Kin-
9 ein Training durchgeführt werden als Spiel- dern (Petermann u. Petermann 2001) stehen – im
training für Kinder im Vorschulalter; für Gegensatz zum THOP – kindbezogene Interven-
10 Schulkinder Selbstinstruktionstraining oder tionen; eltern- bzw. familienbezogene Interventi-
Selbstmanagement, wodurch Strategien der onen werden begleitend durchgeführt. Die Ziel-
11 Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle erar- gruppe dieses Trainingsprogramms sind Kin-
beitet werden sollen. Im Verlauf der Durch- der im Alter von 7 bis 13 Jahren, bei niedrigerem
12 führung dieser Interventionen bezieht der
Therapeut die Eltern ein und leitet sie als
Intelligenzniveau auch ältere Kinder. Ziel ist es,
Defizite sozialer Kompetenzen zu überwinden
Kotherapeuten an. und aggressive Handlungsstrategien durch sozi-
13 al kompetentes Alternativverhalten zu ersetzen.
In der Regel werden die Behandlungsmodule Nach einer diagnostischen Phase mit Kind
14 entsprechend der individuellen Problemkons- und Eltern und der Indikationsstellung erfolgt
tellation zusammengestellt. Die familienzent- das Abschließen eines »Trainingsvertrages«.
15 rierten Interventionen können unabhängig von Begonnen wird mit einem Einzeltraining mit
kindzentrierten Interventionen durchgeführt dem Kind, gefolgt von einem Gruppentraining
16 werden; die Durchführung von kindzentrierten in einer Kleingruppe. Die Kinder sollten hin-
ohne familienzentrierte Interventionen ist sichtlich ihrer Lernvoraussetzungen relativ ähn-
17 jedoch nicht sinnvoll.
Bei Interventionen in Kindergarten bzw.
lich sein, können jedoch unterschiedlich bezüg-
lich Alter, Geschlecht und Art des aggressiven

18 Schule werden therapierelevante problematische


Verhaltensweisen des Kindes in einem Gespräch
Verhaltens sein. Trainingsbegleitend wird eine
Beratung der Eltern durchgeführt sowie Kontakt
mit Erziehern bzw. Lehrern definiert, über die mit der Schule aufgenommen.
19 Problematik des Kindes aufgeklärt und ein ver-
haltenstheoretisches Erklärungsmodell vermit-
20 telt. Sofern erforderlich, wird über organisato-
rische Aspekte (z. B. Unterrichtsorganisation,
Gestaltung des Gruppenraumes oder Klassen-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
107 6

Das Trainingsprogramm verwendet folgende 6.2.5 Pharmakotherapie


Einzelmodule:
5 Verminderung des Erregungsniveaus und Obwohl bei Störungen des Sozialverhaltens eine
Erreichen motorischer Ruhe durch bildge- Pharmakotherapie nicht als Therapie der ersten
tragene Entspannungsgeschichten (»Kapi- Wahl und nicht als einzige Therapie durchge-
tän-Nemo-Geschichten«) führt werden sollte, hat eine Pharmakotherapie
5 Differenziertere Wahrnehmung sozialer vor allem bei ausgeprägt impulsiv-aggressivem
Situationen und Handlungsabläufe durch Verhalten und/oder bei bedeutsamer psychia-
Wahrnehmungs- und Problemlösespiele trischer Komorbidität in einem multimodalen
sowie Videofilme, die Konfliktsituationen Behandlungsprogramm einen wichtigen Stel-
darstellen lenwert. Grundsätzlich ist impulsive Aggressi-
5 Selbstkontrolle als Schritt zur Aggressions- vität eher einer medikamentösen Behandlung
hemmung anhand von Selbstbeobachtungs- zugänglich als geplantes aggressives Verhal-
bögen (»Detektivbogen«) und Selbstinstruk- ten, aber auch Letzteres kann durch eine Phar-
tionskarten makotherapie vermindert werden (Klein et al.
5 Angemessene Selbstbehauptung und proso- 1997; Connor et al. 2002). Zu beachten ist, dass
ziales Verhalten es allein infolge einer stationären Aufnahme
5 Perspektivwechsel und Empathiefähigkeit kurzfristig zu einer deutlichen Verminderung
durch strukturierte Rollenspiele aggressiven Verhaltens kommen kann (Malo-
5 Übertragung der gelernten Inhalte auf den ne et al. 1997). Deswegen sollte mit einer Phar-
Alltag, z. B. mit Hilfe von Verhaltensaufga- makotherapie nach Möglichkeit nicht gleich im
ben. Anschluss an eine stationäre Aufnahme begon-
nen worden, da sonst der Effekt der stationären
Im Mittelpunkt der begleitenden Elternberatung Aufnahme selbst und der Effekt der Medikati-
stehen das Erziehungsverhalten und die Inter- on nicht ohne weiteres voneinander unterschie-
aktionen mit dem Kind. Wichtige Ziele sind die den werden können. Generell ist eine Monothe-
Vermittlung von systematischer Verhaltensbe- rapie mit einem einzigen Medikament günstiger
obachtung und -steuerung, z. B. konsequentes als eine Kombination von Medikamenten, aber
und eindeutiges Loben, Techniken des Ignorie- gelegentlich ist eine Monotherapie nicht ausrei-
rens und sozialen Ausschlusses als negative Kon- chend wirksam. In jedem Fall sollte eine Medi-
sequenzen bei unangemessenem Verhalten des kation nur bei klinisch bedeutsamer Response
Kindes. Es werden typische Konfliktsituationen fortgesetzt werden; eine vollständige Remission
zwischen Eltern und Kind besprochen und ana- ist jedoch weniger wahrscheinlich.
lysiert. Unter anderem durch Arbeitsmateri- Die Auswahl eines Medikamentes erfolgt
alien sollen Eltern dabei unterstützt werden, das anhand von Art und Schweregrad des disrup-
erworbene Wissen zunehmend auf Alltagssitua- tiven Verhaltens, komorbiden psychiatrischen
tionen zu übertragen. Störungen, Kontraindikationen für den Einsatz
In der Regel wird das Programm ambulant eines bestimmten Medikamentes (u. a. soma-
durchgeführt, kann aber auch im stationären tische Erkrankungen, Einnahme anderer Medi-
Rahmen eingesetzt werden. Für die Generalisie- kamente, unzureichende Kontrolle der Medika-
rung und Stabilität der Trainingsfortschritte ist tion durch die Betreuungspersonen) und anam-
das frühzeitige Einbeziehen von Alltagserfah- nestischen Informationen über Effekte und
rungen sehr wichtig. Durch dieses Trainingspro- Nebenwirkungen von Medikamenten, mit denen
gramm kann insbesondere prosoziales Verhalten bereits Behandlungsversuche bei diesem Pati-
gefördert werden. enten unternommen wurden. Diesbezügliche
108 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Informationen sollten vor Beginn einer medi-


kamentösen Behandlung bzw. mit Beginn einer
alle medizinischen Fächer, in denen Kinder
und Jugendliche behandelt werden, am ausge-
stationären jugendpsychiatrischen Behandlung, prägtesten für Intensivmedizin, Neonatologie
2 in deren Rahmen die Gabe einer Akutmedikati- und Onkologie, aber auch für die Kinder- und
on erforderlich werden könnte, möglichst präzi- Jugendpsychiatrie. Andererseits hat ein Arzt die
3 se erhoben werden. Pflicht, Medikamente auch außerhalb des zuge-
Für die Reihenfolge medikamentöser lassenen Einsatzbereiches einzusetzen, wenn
4 Behandlungsversuche in Abhängigkeit von dieses wissenschaftlicher Standard ist (»Aciclo-
Symptomatik und komorbider Störung wird in vir-Urteil«, OLG Köln).
5 Anlehnung an die Treatment Recommendations Als Ausweg aus diesem Dilemma kann im
for the Use of Antipsychotics for Aggressive Youth Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit ein indi-
6 (Schur et al. 2003) empfohlen:
5 Bei komorbider ADHS bzw. hoher Impulsi-
vidueller Heilversuch durchgeführt werden. Ein
solcher setzt nach den Arzneimittel-Richtlinien

7 vität: Stimulanzien vor Neuroleptikum


5 Bei komorbider ängstlicher bzw. depressiver
voraus, dass nach dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse ein rele-
Störung: Selektive Serotonin-Wiederaufnah- vantes Ausmaß der Wirksamkeit bei einer defi-
8 mehemmer (SSRI) vor Neuroleptikum nierten Indikation gegeben ist und dass eine
5 Bei ausgeprägtem impulsiv-aggressivem Nutzen-Risiko-Abwägung zu einem günstigen
9 Verhalten: Neuroleptikum vor »Mood stabi- Ergebnis führt. Der verordnende Arzt unterliegt
lizer« (z. B. Lithium/Valproat) dabei einer besonderen Sorgfaltspflicht. Wesent-
10 5 Bei ausgeprägter emotionaler Labilität und lich ist, dass der behandelnde Arzt eine sorg-
Irritierbarkeit: Mood stabilizer vor Neuro- fältige und umfassende Aufklärung vornimmt
11 leptikum und diese sehr gut und detailliert dokumentiert,
5 Bei niedriger Intelligenz: Neuroleptikum vor unter Aufnahme spezifischer Nachfragen und
12 Stimulanzien
5 Generell: Atypisches Neuroleptikum vor
Einzelpunkte, die mit den Erziehungsberech-
tigten erörtert wurden. Bei einem individuellen
klassischem Neuroleptikum, dabei »start Heilversuch besteht jedoch keine Haftung des
13 low, go slow, taper slow«. Medikamentenherstellers bei Folgeschäden; das
Haftungsrisiko liegt dann beim behandelnden
14 Generell muss bei der Pharmakotherapie von Arzt, wenn die Aufklärung unzureichend durch-
Kindern und Jugendlichen beachtet werden, geführt und/oder dokumentiert wird, anderen-
15 dass aufgrund der Reifungsabhängigkeit zentral- falls bei den Sorgeberechtigten. Es besteht keine
nervöser Neurotransmittersysteme sowie auf- Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen zur Kos-
16 grund der pharmakokinetischen Besonderheiten tenübernahme.
des Kindes- und Jugendalters die an Erwachse-
17 nen gewonnenen Ergebnisse pharmakologischer
Untersuchungen nicht direkt auf Kinder und

18 Jugendliche übertragen werden können. Ande-


rerseits liegen jedoch gerade für das Kindes- und
Jugendalter kaum pharmakologische Untersu-
19 chungen vor. Somit findet in diesem Altersbe-
reich ein ausgedehnter »Off-label-Einsatz« von
20 Medikamenten statt, also ohne dass eine Zulas-
sung des Medikamentes für diese Altersgrup-
pe und/oder Indikation vorliegt. Dieses gilt für
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
109 6

belegt. Für die Effekte auf Ablenkbarkeit und


Ärztliche Aufklärung im Rahmen eines Konzentration sind im Allgemeinen geringere
individuellen Heilversuches (nach Dosen erforderlich als zur ausreichenden Wir-
Fegert 2003) kung auf Impulsivität, motorische Unruhe und
5 Wirkungen und Nebenwirkungen
Aggressivität. Etwa 70–80% der Patienten zei-
5 Aufklärung darüber, dass das Medika-
gen eine therapeutische Response auf Methyl-
ment für diese Altersgruppe und/oder
phenidat. Bei unzureichender Wirksamkeit von
Indikation arzneimittelrechtlich nicht
Methylphenidat ist ein Behandlungsversuch mit
zugelassen ist
Amphetamin angezeigt (Leitlinie »Hyperkine-
5 Aufklärung über zugelassene Behand-
tische Störungen«, Deutsche Gesellschaft für
lungsalternativen
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe-
5 Aufklärung über das Recht, jederzeit
rapie et al. 2003). Beim Einsatz von Stimulanzi-
den Heilversuch abzubrechen
en ist eine gute Aufklärung der Eltern, gegebe-
5 Aufklärung über haftungsrechtliche
nenfalls auch von Erziehern und Lehrern, über
Konsequenzen
Effekte und Nebenwirkungen besonders wich-
5 Informationen über bisherige Behand-
tig, da in den Medien viele Falschinformationen
lungserfahrungen und die Leitlinien der
verfügbar sind. Pemolin, das im Gegensatz zu
Fachgesellschaften
Methylphenidat und Amphetamin nicht dem
Betäubungsmittelgesetz unterliegt, darf aufgrund
vereinzelter Fälle von schwerer Leberschädigung
Relevante Substanzen, sowohl zur längerfristigen erst dann eingesetzt werden, wenn Behandlungs-
medikamentösen Behandlung bei Störungen des versuche mit Methylphenidat und Amphetamin
Sozialverhaltens als auch zur Notfallmedikati- erfolglos waren und andere Behandlungsformen
on bei aggressiven Erregungszuständen, werden unzureichend wirksam wird, nach Stellen der
nachfolgend dargestellt. Wichtige Medikamen- Diagnose einer ADHS und eingehender Auf-
tengruppen sind Stimulanzien, atypische Neu- klärung der Eltern über die mit der Anwendung
roleptika, Antidepressiva, Mood stabilizer und von Pemolin verbundenen potenziellen Risiken
– ausschließlich als Akutmedikation – Benzo- durch einen Facharzt für Kinder- und Jugend-
diazepine. Ein Teil der in diesem Kapitel aufge- psychiatrie.
führten Hinweise wurde den Monographien von Zur Beurteilung des Effektes sind neben
Nissen, Fritze und Trott (1998) sowie von Ben- Informationen von den Eltern auch Rückmel-
kert und Hippius (2000) entnommen, ohne dass dungen aus der Schule wichtig. Auch ältere Kin-
diese – im Interesse der Lesbarkeit des Textes – der und Jugendliche sollten nach ihrem Erleben
einzeln gekennzeichnet sind. Dem Leser wird des Medikationseffektes sowie nach Nebenwir-
unbedingt empfohlen, jeweils auch die aktuellen kungen befragt werden. In regelmäßigen Abstän-
Fachinformationen über von ihm eingesetz- den, wenigstens jährlich, ist ein kontrollierter
te Medikamente zu Rate zu ziehen. Ein Teil der Auslassversuch in Erwägung zu ziehen, um zu
Fachinformationen kann auch im Internet über überprüfen, ob eine Fortsetzung der medika-
www.roteliste.de abgerufen werden. mentösen Behandlung erforderlich ist. Dieser
wird am günstigsten während der Schulperiode
Stimulanzien durchgeführt, so dass der Auslassversuch unter
Die Wirksamkeit von Stimulanzien (Methyl- realistischen Bedingungen geschieht und Rück-
phenidat, Amphetamin, Pemolin) zur Behand- meldungen aus der Schule eingeholt werden
lung einer ADHS und ihr günstiges Wirkungs- können. Ob es im Laufe einer längeren Behand-
/Nebenwirkungsprofil sind außerordentlich gut lung zu einer echten Toleranz gegen Stimulanzi-
110 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 en und dadurch zu einem Verlust der Wirksam-


keit kommen kann, ist fraglich; viel wahrschein-
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie et al. 2003) die Empfehlung,
licher ist, dass die Stimulanziendosis nicht der Methylphenidat auch für diese Indikation ein-
2 wachstumsbedingten Zunahme des Körperge- zusetzen. Auch bei Patienten mit unterdurch-
wichtes angepasst wurde. schnittlicher Intelligenz, die eine hyperkine-
3 Eine Überdosierung mit Stimulanzien ist tische Störung des Sozialverhaltens aufweisen,
weniger gefährlich als bei den meisten ande- kann eine Medikation mit Stimulanzien sinnvoll
4 ren Psychopharmaka, aber dennoch können sein. Die Diagnose – für die erforderlich ist, dass
extreme Überdosierungen tödlich sein. Am häu- ein Patient deutlich unaufmerksamer und unru-
5 figsten treten sympathomimetische Intoxika- higer ist, als es seinem Lebensalter und Intelli-
tionserscheinungen, nämlich Blutdrucksteige- genzniveau entsprechend zu erwarten wäre – ist
6 rung, Tachykardie und Hyperthermie, auf. Zur
Behandlung von hypertensiven Krisen und aus-
jedoch schwieriger zu stellen. Bei Patienten mit
geistiger Behinderung ist der Effekt von Methyl-

7 geprägten Tachykardien sind β-Blocker geeignet.


Bei starker psychomotorischer Erregung kön-
phenidat auf disruptives Verhalten kleiner (Con-
nor et al. 2002) und die Wahrscheinlichkeit von
nen Benzodiazepine eingesetzt werden. Parano- Nebenwirkungen größer als bei Patienten ohne
8 id-psychotische Syndrome als Intoxikationsfolge geistige Behinderung. Methylphenidat ist erst
klingen nach kurzer Zeit wieder ab; falls erfor- ab dem Alter von 6 Jahren zugelassen; es gibt
9 derlich, können sie mit Neuroleptika (z. B. Halo- jedoch klinische Situationen, in denen auch bei
peridol i.v.) behandelt werden. jüngeren Kindern eine medikamentöse Behand-
10 lung unverzichtbar ist, z. B. bei einer komorbi-
Methylphenidat den rezeptiven Sprachstörung oder bei einer so
11 ausgeprägten ADHS-Symptomatik, dass diese
Wirkungsweise. Methylphenidat hemmt in ers- zu einer psychosozialen Gefährdung des Kin-
12 ter Linie die Wiederaufnahme von Dopamin in
die Präsynapse, wodurch die Dopaminkonzent-
des führt. Zu beachten ist, dass die Gefahr von
Nebenwirkungen größer als bei älteren Kindern
ration im synaptischen Spalt erhöht wird; darü- ist und möglichst niedrige Dosierungen gewählt
13 ber hinaus werden auch das noradrenerge und werden sollten.
das serotonerge Neurotransmittersystem beein-
14 flusst. Dosierung. Die Größe des Effektes von Me-
thylphenidat auf disruptives Verhalten steht
15 ! Methylphenidat ist Medikament der ersten wahrscheinlich nicht in direktem Zusammen-
Wahl zur Behandlung einer ADHS, hat aber hang mit der Größe des Effektes auf die ADHS-
16 auch Effekte auf Symptome einer Störung des Kernsymptome Aufmerksamkeits- und Kon-
Sozialverhaltens. zentrationsdefizit, Impulsivität und Hyperak-
17 So wurden in einer Metaanalyse bei Dosierungen
tivität (Klein et al. 1997; Connor et al. 2002);
dieses muss also getrennt voneinander evalu-

18 von etwa 1,0 mg Methylphenidat/kg Körperge-


wicht und Tag mittlere bis große Effekte auf dis-
iert werden. Zur Verminderung disruptiven Ver-
haltens ist oft eine höhere Methylphenidatdo-
ruptive Symptome gefunden (Connor et al. sis (ca. 1 mg/kg Körpergewicht und Tag) erfor-
19 2002). Die Wirkung auf die Symptome einer Stö- derlich als zur Verminderung der ADHS-Kern-
rung des Sozialverhaltens zeigt sich unabhängig symptome. Günstig ist die dreimalige Gabe von
20 davon, ob eine komorbide AHDS besteht (Klein Standard-Methylphenidat oder aber die mor-
et al. 1997); dementsprechend enthält die Leitli- gendliche Gabe eines Retardpräparates, um ei-
nie »Störungen des Sozialverhaltens« (Deutsche nen medikamentösen Effekt über den ganzen
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
111 6

Tag hinweg zu erzielen (Stein et al. 1996; Pelham auch am Wochenende und in den Schulferien
et al. 2001). Von der Überschreitung einer Tages- indiziert. In etwa jährlichen Abständen sollte ein
dosis von 1 mg/kg Körpergewicht ist in der Re- kontrollierter Auslassversuch der Medikation in
gel abzuraten, weil es dann wiederum zu einer Betracht gezogen werden.
Verschlechterung des kognitiven Funktionie- Wenn Zweifel bezüglich des Medikationsef-
rens – mit einer Einengung der Aufmerksamkeit fektes – bei Eltern oder Behandlern – bestehen,
und Einschränkungen der kognitiven Flexibili- kann ein Doppelblindversuch hilfreich sein.
tät und der Problemlösefähigkeit – kommt und Hierzu sollte eine Dosis gewählt werden, die für
das Risiko von Nebenwirkungen deutlich zu- eine Therapie-Response ausreichend hoch ist,
nimmt. Die Obergrenze liegt grundsätzlich bei etwa 0,5–0,7 mg/kg Körpergewicht und Tag. Zur
60 mg Methylphenidat pro Tag; in Einzelfällen Vermeidung von Nebenwirkungen kann schritt-
werden jedoch bei Jugendlichen höhere Dosen weise bis zur Zieldosis aufdosiert werden; dann
bis zu etwa 80 mg/Tag benötigt. Auf ambulanten erfolgt der Wechsel zu einer etwa zwei- bis vier-
Betäubungsmittel(BtM)-Rezepten ist das Über- wöchigen Doppelblindphase, bei der weder Pati-
schreiten der vorgesehenen Höchstmenge durch ent/Eltern noch Behandler wissen, wann der
den Großbuchstaben A zu kennzeichnen. Patient Verum und wann Placebo erhält. In
Die medikamentöse Einstellung sollte mit jedem relevanten Setting wird für vorgegebene
einer niedrigen Dosis begonnen werden, in Zeitabschnitte die Wirkung beurteilt, nach Mög-
Abhängigkeit vom Körpergewicht in der Regel lichkeit immer von den gleichen Personen, weil
5–10 mg Methylphenidat, um zu überprüfen, ob so die Reliabilität der Beurteilung höher ist. Nach
eine erhöhte Sensitivität für bestimmte Neben- der Entblindung zeigt sich dann, ob die Bewer-
wirkungen wie Bauchschmerzen oder sympa- tungen des medikamentösen Effektes mit der
thomimetische Effekte besteht. Bei Verträglich- Gabe von Verum bzw. Placebo übereinstimmen.
keit kann die Steigerung der Dosis ebenfalls in 5–
10-mg-Schritten erfolgen. Aufgrund der kurzen Pharmakokinetik. Die Wirkung von Methylphe-
Halbwertszeit von Methylphenidat ist es häu- nidat setzt in der Regel nach 30–60 Minuten ein,
fig bereits in der Aufdosierungsphase sinnvoll, im Einzelfall – vor allem auf nüchternen Magen
eine zweite Dosis zu geben. Insbesondere bei – auch schon nach 10 Minuten. Die maximale
Kindern mit disruptiven Symptomen ist häu- Plasmakonzentration wird nach etwa 1–2 Stun-
fig auch die Gabe einer dritten Dosis ratsam, den erreicht, die Plasmahalbwertszeit beträgt et-
wobei darauf geachtet werden muss, ob das Ein- wa 2½ Stunden, und nach 4 Stunden ist meist
schlafen dadurch gestört wird; umgekehrt kann kein signifikanter Medikamenteneffekt mehr
es jedoch auch – durch eine Verminderung der festzustellen. Wenn Rebound-Phänomene im
motorischen Unruhe vor dem Schlafengehen – Sinne eines verstärkten Auftretens der Sympto-
zu verbessertem Einschlafen kommen. Alter- matik mit Nachlassen des Medikamenteneffektes
nativ zur 2- bis 3-maligen Gabe von Standard- auftreten oder wenn die mittägliche Einnahme
Methylphenidat kann die Gabe eines Retard- der Medikation nicht gewährleistet ist, kann die
präparates in Betracht gezogen werden. Da bei morgendliche Gabe eines Methylphenidat-Re-
Kindern und Jugendlichen mit einer hyperkine- tardpräparates vorteilhaft sein; hierdurch verlän-
tischen Störung des Sozialverhaltens die Medi- gert sich jedoch nicht die Halbwertszeit an sich,
kation nicht nur zur Verminderung der Symp- sondern der Zeitraum, über den hinweg der Stoff
tome in der Schule dient, sondern auch zur För- freigesetzt wird. In der Leber wird der Hauptme-
derung der sozialen Integration in die Familie tabolit Ritalinsäure gebildet, der inaktiv ist und
und in die Gruppe der Gleichaltrigen, ist eine innerhalb von 24 Stunden vollständig über den
Fortführung der Stimulanzienbehandlung meist Urin ausgeschieden wird. Gelegentlich können
112 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 jedoch gewisse klinische Effekte von Methylphe-


nidat auch noch über den Zeitraum des Abset-
bei dem das Wiederauftreten der ADHS-Symp-
tomatik nach Abklingen des medikamentösen
zens hinaus festzustellen sein, obwohl der Wirk- Effektes, infolge des Kontrastes zu dem ruhigeren
2 stoff im Serum nicht mehr nachweisbar ist. Dem Verhalten unter Medikation, als verstärkt erlebt
könnte – neben psychogenen Effekten – zugrun- wird. Gelegentlich liegt auch ein Rebound-Effekt
3 de liegen, dass Methylphenidat im ZNS eine an- vor, bei dem die Symptomatik nach Nachlassen
dere Pharmakokinetik aufweist als peripher oder der medikamentösen Wirkung tatsächlich vor-
4 dass Medikationseffekte auf die Rezeptoren über übergehend stärker auftritt. Eine nach Thera-
einen längeren Zeitraum hinweg anhalten. piebeginn zu beobachtende erhöhte Reizbarkeit
5 oder Verstimmtheit kann damit in Zusammen-
Nebenwirkungen. Nebenwirkungen, wie Ein- hang stehen, dass die Kinder/Jugendlichen unter
6 schlafstörungen, verminderter Appetit, Erhö-
hung von Herzfrequenz und systolischem und
Medikation ihre Schwierigkeiten sehr viel deut-
licher wahrnehmen. Auch dass die Patienten

7 diastolischem Blutdruck, treten bei Methylphe-


nidat in geringerem Maß als bei Amphetamin
unter Medikation motorisch ruhiger sind, kann
dazu führen, dass sie depressiver erscheinen. Es
auf. Sofern es zu Einschlafstörungen kommt, kann jedoch auch zu einer direkt pharmako-
8 nehmen diese im Laufe der medikamentösen dynamisch bedingten Zunahme von Reizbar-
Behandlung eher ab. Unter einer Methylphe- keit, Dysphorie oder Ängstlichkeit kommen, zu
9 nidat-Behandlung kann das Einschlafen jedoch Beginn oder erst später im Verlauf der Behand-
auch verbessert werden, weil der Patient weniger lung, und dieses Risiko ist dann größer, wenn
10 unruhig ist und somit leichter zur Ruhe kommt. solche Symptome bereits vor Behandlungsbe-
Bei deutlich reduziertem Appetit und Gewichts- ginn bestanden. Bei einer länger anhaltenden
11 verlust kann es vorteilhaft sein, wenn die Ein- depressiven Verstimmung sollten Dosisredukti-
nahme nach den Mahlzeiten erfolgt, nach Mög- on, Umsetzung auf ein anderes Medikament oder
12 lichkeit etwa 1 Stunde danach, um die Resorpti-
on des Medikaments nicht zu beeinträchtigen.
eventuell die zusätzliche Gabe eines Serotonin-
Wiederaufnahmehemmers erwogen werden. Zu
Stimulanzien werden am besten in einem sauren beachten ist auch, dass ein reines Aufmerksam-
13 Milieu resorbiert, so dass auch Milch mit der Re- keitsdefizit ohne hyperkinetische Symptomatik,
sorption interferieren kann. Falls gastrointesti- für welches Methylphenidat ebenfalls Medika-
14 nale Beschwerden auftreten, nehmen diese meist ment der ersten Wahl ist, häufiger mit depres-
während der ersten Behandlungswochen ab. Es siven oder Angstsymptomen einhergeht.
15 kann zu einer geringfügigen Erhöhung von sys- Die klinische Signifikanz einer möglichen
tolischem Blutdruck, diastolischem Blutdruck Verzögerung des Längenwachstums ist wahr-
16 und Herzfrequenz kommen, die in der Regel kli- scheinlich deutlich geringer, als bislang ange-
nisch nicht signifikant ist. Bei vorbestehender nommen wurde. Zu berücksichtigen ist auch,
17 Tachykardie, kardialen Arrhythmien oder Hy-
pertonie sollte jedoch vor Beginn der Medikati-
dass Kinder mit ADHS – wahrscheinlich auf-
grund hormoneller Abweichungen – im Durch-

18 on ein internistisches Konsil eingeholt werden.


Wenn über das Auftreten von vermehrter
schnitt etwas kleiner als Gleichaltrige ohne
ADHS sind. Ein ursächlicher Zusammenhang
motorischer Unruhe während einer Methylphe- zwischen Methylphenidat-Behandlung und
19 nidat-Behandlung berichtet wird, liegt sehr sel- einer Verzögerung des Längenwachstums konn-
ten ein unmittelbarer Medikamenteneffekt vor, te nicht nachgewiesen werden. Dennoch soll-
20 der dann am ausgeprägtesten ist, wenn das Medi- ten Körperlänge und -gewicht etwa halbjähr-
kament den höchsten Blutspiegel aufweist. Oft lich gemessen und anhand eines Wachstumsdi-
handelt es sich um einen Wahrnehmungsbias, agrammes kontrolliert werden. Gegebenenfalls
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
113 6

sollte die Dosis reduziert oder die Behandlung kommt es zu einem Anstieg der Anfallshäufig-
ausgesetzt werden, bis es zu einem Aufholen keit, was zu einem Überprüfen der Therapie und
der Wachstumsverzögerung gekommen ist. Bei ggf. Absetzen von Methylphenidat führen sollte.
bestimmungsgemäßem Gebrauch von Methyl- Auch das Vorliegen einer Ticstörung, ein-
phenidat in den zugelassenen Anwendungs- schließlich eines Tourette-Syndroms, stellt keine
gebieten ist die Gefahr einer Abhängigkeit von absolute Kontraindikation für die Behandlung
Methylphenidat praktisch nicht vorhanden; es einer (hyperkinetischen) Störung des Sozialver-
muss jedoch die Möglichkeit eines Gebrauchs in haltens mit Stimulanzien dar. Die Auswirkungen
nicht vorgeschriebenen Dosierungen oder einer auf die Ticsymptomatik sind individuell unter-
Weitergabe des Medikaments an Dritte beachtet schiedlich. Vor allem zu Beginn einer Stimu-
werden, auch wenn Methylphenidat vergleichs- lanzienbehandlung können die Tics zunehmen
weise selten im Rahmen eines Substanzabusus und – solange die Therapie fortgesetzt wird –
eingesetzt wird. Die Entwicklung einer Subs- auf einem höheren Niveau persistieren oder aber
tanzabhängigkeit wird durch eine Stimulanzi- nach einigen Wochen wieder abnehmen; die
enbehandlung nicht gefördert, sondern wahr- Medikation kann aber auch ohne Auswirkungen
scheinlich im Gegenteil eher verringert. Bei Pati- auf die Ticsymptomatik bleiben oder diese gar
enten mit signifikantem Substanzabusus darf vermindern. Es gibt keine Evidenz dafür, dass
Methylphenidat jedoch nicht eingesetzt werden. Stimulanzien zur bleibenden Verstärkung einer
Zu beachten ist, dass unter Methylphenidat- Ticsymptomatik, über den Zeitraum der Medi-
Einnahme ein Amphetamin-Screening im Urin kamenteneinnahme hinaus, geführt hätten. Bei
positiv werden kann, weil die beiden Substanzen der Beurteilung dessen, ob Stimulanzien zu
strukturell sehr ähnlich sind. einer Verstärkung der Ticsymptomatik geführt
Sehr seltene Nebenwirkungen sind Leukope- haben könnten, muss berücksichtigt werden,
nie, Thrombozytopenie oder Anämie sowie eine dass diese – auch ohne Stimulanziengabe - einer
Störung der Leberfunktion. störungsimmanenten Dynamik (»waxing and
waning«) unterliegt. Sollte es unter Stimulan-
Kontraindikationen. Kontraindikationen sind zien, deren Gabe als für den Patienten notwen-
das Bestehen einer psychotischen Störung oder dig erachtet wird, tatsächlich zu einer länger
einer Schwangerschaft. Eine psychotische Stö- andauernden, untolerierbaren Verstärkung von
rung kann durch Stimulanzien exazerbieren. Sti- Tics kommen, kann eine zusätzliche Medikati-
mulanzien sind plazentagängig, und in tierex- on zur Behandlung der Ticsymptomatik erwo-
perimentellen Untersuchungen wurden für Me- gen werden. Hierbei ist Tiaprid das Mittel der
thylphenidat teratogene Effekte beschrieben. ersten Wahl, in einschleichender Dosierung von
Deshalb sollten weibliche Jugendliche, die mit 2 mg, 5 mg und 10 mg/kg Körpergewicht. Als
Methylphenidat behandelt werden, zuverlässige Nebenwirkungen können vor allem Müdigkeit,
Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung aber auch Agitation und Schlaflosigkeit, sowie
anwenden. Kopfschmerzen und Schwindel auftreten. Auch
Bei herabgesetzter Krampfschwelle soll- unter einer medikamentösen Behandlung der
te Methylphenidat langsam aufdosiert und Ticsymptomatik ist jedoch oft keine vollständi-
eine niedrige Zieldosis angestrebt sowie EEG- ge Symptomfreiheit zu erwarten, so dass es bei
Kontrollen durchgeführt werden. Das Vorlie- einer chronischen Ticstörung ein wichtiges The-
gen einer Epilepsie ist dann, wenn ein Patient rapieziel darstellt, die Bewältigung und soziale
unter antiepileptischer Medikation anfallsfrei Kompetenz des Patienten im Umgang mit seiner
ist, keine Kontraindikation für eine Behandlung Symptomatik zu erhöhen.
mit Methylphenidat. Lediglich in Einzelfällen
114 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Interaktionen. Methylphenidat hemmt den Ab-


bau von Antiepileptika, Neuroleptika und tri-
amin ist in Deutschland nicht als Fertigarznei im
Handel, sondern muss – üblicherweise als D,L-
zyklischen Antidepressiva, so dass deren Dosis Amphetaminsulfat in Form von Saft oder Kap-
2 bei Kombination mit Methylphenidat eventuell seln – individuell rezeptiert und in der Apotheke
reduziert werden muss. So wurden bei Kombi- hergestellt werden. Das D-Isomer ist 3- bis 4-mal
3 nation von Methylphenidat und Imipramin Un- wirksamer als das L-Isomer.
ruhe, Verwirrtheit und psychotische Episoden
4 beschrieben. Auch die Wirksamkeit aller Sympa- Dosierung. Die medikamentöse Einstellung
thomimetika wird verstärkt. Durch MAO-Hem- wird üblicherweise mit einer niedrigen Dosis be-
5 mer wird der Metabolismus von Methylphenidat gonnen, z. B. 5 mg Amphetamin, um die Sensiti-
verlangsamt, so dass die Methylphenidat-Kon- vität vor allem für sympathomimetische Neben-
6 zentration ansteigt. Bei gleichzeitiger Gabe von
Carbamazepin kann die Wirksamkeit von Me-
wirkungen zu überprüfen. Dann wird die Dosis
meist in 5-mg-Schritten erhöht, bis ein adäqua-

7 thylphenidat vermindert werden. ter Therapieeffekt festzustellen ist. Übliche Ta-


gesdosen liegen bei 10–20 mg, die Maximaldo-
Kontrolluntersuchungen. Sinnvoll ist die Kon- sis beträgt 40 mg.
8 trolle von Blutbild, Transaminasen und Biliru-
bin sowie Blutdruck und Puls vor Therapiebe- Pharmakokinetik. Die Wirkung setzt nach et-
9 ginn; außerdem sollte ein EKG vor Theraphiebe- wa 30–60 Minuten ein, die maximale Plasma-
ginn und nach Erreichen der Zieldosis geschrie- konzentration wird nach etwa 2 Stunden er-
10 ben werden. Bei Hinweisen auf eine erniedrigte reicht, die Plasmahalbwertszeit bewegt sich zwi-
Krampfschwelle ist auch ein EEG sinnvoll. Un- schen 5 und 8 Stunden, mit erheblicher interin-
11 ter der Behandlung sollten in angemessenen Ab- dividueller Variabilität. Nach Metabolisierung
ständen Blutdruck- und Pulskontrollen durch- in der Leber erfolgt die Ausscheidung im Urin,
12 geführt werden. Ein sorgfältiges klinisches Mo-
nitoring und Untersuchungen von Blutbild und
die stark von dessen pH-Wert beeinflusst wird,
mit einer niedrigen Ausscheidungsrate bei alka-
Leberfunktionsparametern sowie jährlich ein lischem Urin, einer hohen bei saurem Urin.
13 EKG sind bei längerer Methylphenidatbehand-
lung erforderlich. Bei dissozialen Jugendlichen Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Als
14 sollte eine Verordnung von Methylphenidat nur Nebenwirkungen treten gastrointestinale Be-
bei sehr guter Kontrolle der Medikamentenein- schwerden, verminderter Appetit (wahrschein-
15 nahme durch die Eltern erfolgen. lich häufiger als unter Methylphenidat und Pe-
molin), Einschlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit,
16 Amphetamin Hypertonie und Tachykardie auf. Kontraindika-
tionen sind Substanzabusus, psychotische Stö-
17 Wirkungsweise. Für Amphetamin zeigte sich
ein ähnlicher Effekt auf disruptives Verhalten
rung sowie Schwangerschaft. Beobachtungen am
Menschen haben gezeigt, dass Amphetamine für

18 wie für Methylphenidat, wenn auch in einer ge-


ringeren Anzahl von Studien (Connor et al.
den Fetus schädlich sein können; deshalb soll-
ten weibliche Jugendliche unter der Behandlung
2002). Somit erscheint, bei unzureichender Re- mit Amphetamin zuverlässige Maßnahmen zur
19 sponse auf Methylphenidat, der Einsatz von Am- Schwangerschaftsverhütung anwenden. Bei vor-
phetamin auch für diese Indikation gerechtfer- bestehender Tachykardie, kardialen Arrythmien
20 tigt, jedoch nur dann, wenn eine sehr gute Kon- oder Hypertonie sollte vor Beginn der Medikati-
trolle der Medikamenteneinnahme durch die on ein internistiches Konsil eingeholt werden.
Betreuungspersonen gewährleistet ist. Amphet-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
115 6

Interaktionen. Amphetamin kann die Wirkung ne Metabolisierung über die Niere ausgeschie-
von β-Blockern verringern, von Trizyklika ver- den. Die Angaben über den Wirkungsbeginn di-
stärken. vergieren in der Literatur, zwischen wenigen Ta-
gen und einigen Wochen.
Kontrolluntersuchungen. Sinnvoll ist die Kon-
trolle von Blutbild, Transaminasen, Bilirubin, Nebenwirkungen. Die Substanz zeigt nur sehr
Kreatinin sowie Blutdruck und Puls vor Thera- geringe sympathomimetische Effekte auf Blut-
piebeginn; außerdem sollte ein EKG vor Thera- druck und Herzfrequenz; wie bei anderen Sti-
piebeginn und nach Erreichen der Zieldosis ge- mulanzien können jedoch verminderter Appetit,
schrieben werden. Bei Hinweisen auf eine er- gastrointestinale Beschwerden, Einschlafstörun-
niedrigte Krampfschwelle ist auch ein EEG sinn- gen und erhöhte Reizbarkeit auftreten. Bauch-
voll. Unter der Behandlung sollten in angemes- schmerzen können jedoch auch Anzeichen ei-
senen Abständen Blutdruck- und Pulskontrol- ner Leberfunktionsstörung sein, der relevantes-
len durchgeführt werden, sowie ein sorgfältiges ten Nebenwirkung von Pemolin. Bei etwa 3%
klinisches Monitoring und Untersuchungen von der Patienten tritt eine Erhöhung der Transami-
Blutbild und Leberfunktionsparametern und et- nasen auf, die sich nicht in jedem Fall nach Ab-
wa jährlich ein EKG bei längerer Behandlung. setzen des Medikaments wieder normalisiert. In
Einzelfällen kam es zu akutem Leberversagen,
Pemolin häufig bei Patienten mit Vorerkrankungen der
Leber oder Begleitmedikation.
Wirkungsweise. Pemolin (Tradon) hat ähnliche
Wirkungen im zentralen Nervensystem wie Me- ! Eine Therapie mit Pemolin darf nur dann
thylphenidat und Amphetamin, unterscheidet begonnen werden, wenn Methylphenidat kei-
sich aber in seiner Strukturformel deutlich von nen ausreichenden Erfolg zeigte und ande-
den beiden anderen Substanzen und unterliegt re Behandlungsformen unzureichend wirksam
nicht dem Betäubungsmittelgesetz. sind. Die Erstverordnung von Pemolin muss
nach sorgfältiger Überprüfung durch einen Kin-
Dosierung. Man sollte mit einer niedrigen Do- der- und Jugendpsychiater erfolgen.
sis beginnen (z. B. 10–20 mg Pemolin, in Abhän- Die weitere Verordnung darf nur durch Ärzte
gigkeit vom Körpergewicht), vor allem um zu mit breiter Erfahrung in der Behandlung von
überprüfen, ob eine erhöhte Nebenwirkungs- ADHS nach eingehender Aufklärung der Eltern
sensitivität besteht, und dann etwa alle 3–5 Ta- über die mit der Anwendung von Pemolin ver-
ge die Dosis in 10-mg-Schritten steigern, bis sich bundenen potenziellen Risiken erfolgen. Die
ein therapeutischer Effekt zeigt. Bei Pemolin be- Patienten müssen vor Therapiebeginn normale
nötigt die individuelle Dosisfindung unter Um- Leberfunktionsparameter aufweisen, und unter
ständen relativ lange. Übliche Tagesdosen betra- der Therapie sind diese regelmäßig in zweiwö-
gen 20–60 mg; eine Dosis von 100 mg pro Tag chentlichen Abständen zu kontrollieren.
sollte nicht überschritten werden.
Günstig für die Behandlung einer ADHS bei
Pharmakokinetik. Die höchste Plasmakonzent- Kindern und Jugendlichen mit einer Störung
ration wird 2–4 Stunden nach Einnahme er- des Sozialverhaltens ist das praktisch nicht vor-
reicht, und die Plasmahalbwertszeit beträgt 8– handene Missbrauchspotential von Pemolin;
12 Stunden, so dass meist eine einmalige Einnah- ungünstig sind jedoch die hohen Anforderungen
me pro Tag ausreichend ist. 60% der Dosis wer- an die Compliance der Patienten bezüglich der
den nach hepatischer Metabolisierung, 40% oh- häufig erforderlichen Kontrollen der Leberfunk-
116 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 tionsparameter, sowie die Tatsache, dass im Falle


eines komorbiden Substanzgebrauchs oft weitere
morgens oder abends erfolgen oder in zwei bis
drei Einzeldosen über den Tag hinweg verteilt
hepatotoxische Substanzen, z.B. Alkohol, konsu- werden. Auch das Absetzen muss langsam erfol-
2 miert werden. gen, denn sonst können – aufgrund der anticho-
linergen Wirkkomponente – cholinerge Absetz-
3 Imipramin symptome auftreten (vermehrte Traumaktivi-
tät und Alpträume, Übelkeit und Erbrechen, ko-
4 Wirkungsweise. Imipramin ist ein trizyklisches likartige Bauchschmerzen und Diarrhoe).
Antidepressivum, das die synaptische Wieder-
5 aufnahme von Serotonin und Noradrenalin etwa Pharmakokinetik. Imipramin wird nach ora-
gleichermaßen hemmt und so deren Konzentrati- ler Gabe vollständig resorbiert. Die Halbwerts-
6 on im synaptischen Spalt erhöht; außerdem wirkt
es anticholinerg, antihistaminerg und antiadren-
zeit von Imipramin beträgt 12 Stunden, die des
Hauptmetaboliten Desipramin geringfügig län-

7 erg. Für Imipramin ist eine begrenzte Wirksam-


keit bei ADHS nachgewiesen, die jedoch gerin-
ger.

ger ist als die der Stimulanzien. Für die Behand- Nebenwirkungen. Durch die anticholinerge
8 lung einer Depression im Kindes- und Jugendal- Komponente kann es zu Mundtrockenheit (mit
ter wurde keine über einen Plazeboeffekt hinaus- einem erhöhten Risiko von Karies und Gingi-
9 gehende Wirkung belegt; dennoch kann Imipra- vitis bei langfristiger Gabe), Akkommodations-
min bei komorbider depressiver oder ängstlicher störungen, (meist nur diskreter) Beschleunigung
10 Symptomatik vorteilhaft gegenüber dem Einsatz der Herzfrequenz, Miktionsstörungen, Obstipa-
von Stimulanzien sein, da Stimulanzien bei die- tion und anticholinerger Suppression des REM-
11 ser Symptomkonstellation weniger gut wirken Schlafes – die bei häufigem Auftreten von Alb-
und zu einer Verstärkung der depressiven bzw. träumen therapeutisch erwünscht sein kann –
12 ängstlichen Symptomatik führen können. Die
Wirksamkeit von Imipramin bei Vorliegen einer
kommen. Weiterhin können Störungen der Ther-
moregulation mit Hypo- oder Hyperthermie so-
Enuresis nocturna ist klar belegt; eine medika- wie verminderter oder vermehrter Schweißse-
13 mentöse Behandlung ist jedoch nur dann sinn- kretion und eine Appetitsteigerung mit Kohlen-
voll, wenn ein hoher Leidensdruck besteht und hydrathunger und Gewichtszunahme auftreten;
14 begleitend verhaltenstherapeutische Interventi- Letzeres kann dann vorteilhaft sein, wenn es un-
onen erfolgen, denn bei alleiniger Pharmakothe- ter Stimulanzien zu einem Gewichtsabfall ge-
15 rapie kommt es oft innerhalb von wenigen Wo- kommen ist. Imipramin kann geringgradig se-
chen bis Monaten nach Absetzen des Medika- dierend wirken, wobei sich bei längerer Einnah-
16 mentes zu einem Rezidiv. me diesbezüglich eine partielle Toleranz entwi-
ckeln kann; es kann aber auch aktivieren sowie
17 Dosierung. Die Behandlung sollte mit einer
niedrigen Dosis beginnen, in Abhängigkeit vom
zu Unruhe und Schlafstörungen führen. Auf-
grund der antiadrenergen Eigenschaften kann es

18 Körpergewicht 10–25 mg/Tag, und dann langsam


erhöht werden. Eine Dosis von 2,5 mg/kg Körper-
zu einer orthostatischen Hypotonie mit dem Ri-
siko von Stürzen kommen. Selten treten Grand-
gewicht sollte im Kindesalter nicht überschrit- mal-Anfälle auf, deren Wahrscheinlichkeit mit
19 ten werden. In Abhängigkeit von erwünschten der Dosis und der Geschwindigkeit der Dosis-
weiteren Wirkungen (z. B. auf Enuresis noctur- steigerung zunimmt. Wie alle Trizyklika kann
20 na, Alpträume) und Nebenwirkungen (z. B. Se- Imipramin bei vorbestehender Leitungsverzöge-
dierung oder Aktivierung, Schwitzen, Mundtro- rung einen Leitungsblock provozieren und in to-
ckenheit) kann die Medikation als Einmalgabe xischen Konzentrationen zu Tachyarrhythmien
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
117 6

führen und negativ inotrope Wirkungen entfal- Neuroleptika


ten. Erhöhungen der Leberenzyme treten häu-
figer auf, zwingen jedoch selten zum Absetzen; Pipamperon
selten tritt eine cholestatische Hepatitis auf. Sehr
selten wurde eine Agranulozytose beschrieben; Wirkungsweise. Pipamperon (u. a. Dipiperon)
bei einem Abfall der Leukozyten unter 3000/mm3 ist ein niedrig-potentes Neuroleptikum, das auf-
sollte das Medikament abgesetzt werden. grund seiner sedierenden und anxiolytischen
Wirkung zur Behandlung unspezifischer Unru-
Kontraindikationen. Obstruktionen der Harn- he- und Erregungszustände eingesetzt werden
wege oder des Darms, Engwinkelglaukom und kann. Pharmakodynamisch wirkt es stark anti-
kardiale Überleitungsstörungen stellen Kontra- serotonerg, deutlich weniger antidopaminerg,
indikationen für Imipramin dar. Bei bekannter antihistaminerg und antiadrenerg, und kaum
zerebraler Anfallsbereitschaft sollte eine medika- anticholinerg.
mentöse Einstellung nur sehr vorsichtig und un-
ter EEG-Kontrollen erfolgen. Insbesondere bei Dosierung. Übliche Anfangsdosen bei Kindern
Jugendlichen mit Suizidversuchen in der Vor- unter 10 Jahren liegen bei etwa 0,5–1,0 mg/kg Kör-
geschichte sollte Imipramin nur dann verordnet pergewicht, bei älteren Kindern etwa 20–40 mg
werden, wenn eine sichere Kontrolle der Medi- pro Einzelgabe. Im Allgemeinen ist eine Tages-
kamenteneinnahme durch die Betreuungsper- dosis von maximal 2–6 mg/kg Körpergewicht
sonen gewährleistet ist. ausreichend. Eine Kombination mehrerer nied-
rig-potenter Neuroleptika ist nicht sinnvoll und
Interaktionen. Bei Kombination mit niedrig- kann aufgrund unberechenbarer Interaktionen
potenten Neuroleptika kann es zu einer wech- gefährlich sein.
selseitigen Verstärkung anticholinerger, antihis-
taminerger (u. a. sedierender) und antiadrener- Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchun-
ger (u. a. blutdrucksenkender) Wirkungen kom- gen. Extrapyramidalmotorische Nebenwir-
men. In Kombination mit Benzodiazepinen tritt kungen können dosiabhängig auftreten, auch
eine verstärkte Sedierung auf. Neuroleptika, Hyperprolaktinämie wurde beschrieben. Sehr
serotonerge Antidepressiva und Methylphenidat selten wurde über eine Verlängerung des QT-In-
erhöhen die Plasmakonzentration trizyklischer tervalls berichtet, so dass beim Vorliegen ande-
Antidepressiva. rer Ursachen für eine Verlängerung des QT-In-
tervalls Vorsicht geboten ist. Blutdyskrasien und
Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn Leberfunktionsstörungen wurden in Einzelfäl-
sowie nach Erreichen der Zieldosis sollten Blut- len beschrieben. Kontrollen von Blutbild, Leber-
bild, Leberwerte, Blutdruck, Puls und EKG kon- funktionswerten und Prolaktin unter einer län-
trolliert werden. Unter einer längeren Behand- gerfristigen Behandlung sind ratsam.
lung sollten regelmäßig Blutdruck und Puls,
Blutbild sowie Leber- und Nierenwerte über- Promethazin
prüft werden. Bei Auftreten von Fieber oder In-
fekten ist ebenfalls eine Kontrolle des Blutbildes Wirkungsweise. Promethazin (u.a. Atosil) wird
erforderlich. zur Sedierung bei Unruhe- und Erregungszu-
ständen und bei Ein- und Durchschlafstörun-
gen eingesetzt. Es wirkt vorwiegend antihistami-
nerg, zusätzlich anticholinerg, antiadrenerg und
schwach antiserotonerg; antipsychotische oder
118 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 extrapyramidalmotorische Effekte treten in der


Regel nicht auf.
mepromazin sollte nicht durchgeführt werden,
da bei paravenöser oder intraarterieller Injekti-
on Gewebeschäden bis zum Totalverlust der be-
2 Dosierung und Pharmakokinetik. Die Tagesdo- troffenen Extremität auftreten können.
sis beträgt bei Kindern unter 10 Jahren 1–2 mg/
3 kg Körpergewicht, bei Kindern ab 10 Jahren et- Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Als
wa 25–50 mg pro Einzelgabe. Promethazin wird Nebenwirkungen können auftreten: Schwindel,
4 oral schnell und nahezu vollständig resorbiert. Mundtrockenheit, Obstipation, Ileus, Harnver-
halt, Akkommodationsstörung, orthostatische
5 Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen. Hypotonie (kann sehr ausgeprägt sein!), Tachy-
Bei i.v.-Injektionen sind Venenwandreizungen kardie, Verlängerung der QTc-Zeit, Glaukoman-
6 und Thrombophlebitiden bis hin zu Nekrosen
möglich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind
fall, epileptische Anfälle, Anstieg der Leberen-
zyme, cholestatische Hepatitis; zu extrapyrami-

7 Mundtrockenheit und Störungen der Speichel-


sekretion. Vor allem bei Kindern kann es zu ei-
dalmotorischen Symptomen oder einem Delir
kommt es erst unter hohen Dosen. Bei Langzeit-
ner paradoxen ZNS-Stimulation mit Tremor, Ir- behandlung kann es zu Gewichtszunahme, Hy-
8 ritabilität und Schaflosigkeit kommen, wobei fie- perprolaktinämie (mit Gynäkomastie, Galak-
berhafte Erkrankungen und Dehydration prä- torrhoe, Menstruationsstörung, sexuellen Funk-
9 disponierend wirken. Die Kontrolle von Blutbild tionsstörungen) und einer Verminderung der
und Leberfunktionsparametern unter einer län- Glukosetoleranz kommen. Gelegentlich auf-
10 geren Therapie mit Promethazin ist ratsam. tretende Nebenwirkungen sind Blutdyskrasien,
Photosensibilisierung, allergische Hautreakti-
11 Levomepromazin onen, bei Langzeittherapie Pigmenteinlagerung
in Cornea und Linse der Augen. Bei parenteraler
12 Wirkungsweise. Levomepromazin (u. a. Neuro-
cil) ist ein trizyklisches, niedrig-potentes Neuro-
Gabe von Levomepromazin können die auto-
nomen Nebenwirkungen besonders ausgeprägt
leptikum, das aufgrund seiner stark sedierenden sein. Häufig tritt innerhalb von 10–20 Minuten
13 Wirkung bei akuten Erregungszuständen einge- nach i.m.-Injektion eine Blutdrucksenkung auf,
setzt wird. Es wirkt antihistaminerg, antisero- die 4–6 Stunden, gelegentlich bis zu 12 Stunden
14 tonerg, anticholinerg und antiadrenerg, jedoch anhalten kann. Die Injektionslösung enthält Sul-
lediglich schwach antidopaminerg. fit, welches sehr selten, vor allem bei Asthma-
15 patienten, zu Überempfindlichkeitsreaktionen
Dosierung und Pharmakokinetik. Eine übliche in Form von keuchender Atmung, Asthmaan-
16 Dosis bei aggressiven Erregungszuständen äl- fall, Erbrechen, Durchfall, Bewusstseinsstörun-
terer Kinder und Jugendlicher beträgt 25 mg Le- gen oder Schock führen kann. I.m.-Injektionen
17 vomepromazin oral oder i.m. (tiefe intramus-
kuläre Gabe!). Bei i.m.-Gabe ist die maxima-
von Levomepromazin können schmerzhafte In-
filtrationen hinterlassen. Eine seltene Nebenwir-

18 le Konzentration nach 30–90 Minuten erreicht,


oral nach 2–3 Stunden. Zunächst sollte man sich
kung stellt das lebensbedrohliche maligne neu-
roleptische Syndrom dar, welches ein sofortiges
an einer Tagesdosis von etwa 1 mg/kg Körper- Absetzen der Medikation erfordert. Levomepro-
19 gewicht, verteilt auf mehrere Dosen, orientie- mazin sollte nach Möglichkeit nicht i.v. injiziert
ren, wobei jedoch in Abhängigkeit von den kli- werden, denn bei versehentlicher paravenöser
20 nischen Erfordernissen und der Verträglichkeit oder intraarterieller Injektion können schwe-
des Medikamentes auch höhere Dosen einge- re Gewebeschäden bis zum Totalverlust der Ex-
setzt werden können. Eine i.v.-Gabe von Levo- tremität auftreten. Wenn eine i.v.-Gabe als unbe-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
119 6

dingt erforderlich erachtet wird, sollte wegen der lich weniger extrapyramidalmotorischen Neben-
Häufigkeit von Gefäßanomalien in der Ellenbeu- wirkungen als die klassischen Neuroleptika. Das
ge, die zu einer versehentlichen intraarteriellen Rezeptorprofil weist neben einem ausgeprägten
Injektion führen können, Venen außerhalb der Serotonin-Antagonismus auch antidopaminerge
Ellenbeuge verwendet werden. Auch bei lege ar- und antiadrenerge, jedoch keine anticholinergen
tis durchgeführter i.v.-Injektion können Throm- Eigenschaften auf. Risperidon ist in Deutsch-
bophlebitiden bis hin zu Nekrosen auftreten, so land ab dem 6. Lebensjahr bei Verhaltensstörun-
dass nur langsam und nach Verdünnung auf 1:10 gen in Form von Impulssteuerungsstörungen
intravenös injiziert werden darf. mit selbst- und/oder fremdaggressivem oder be-
handlungsbedürftigem störendem Verhalten bei
Interaktionen. Bei Kombination mit anderen Intelligenzminderung oder Intelligenz im un-
zentral dämpfenden Substanzen können ver- teren Normbereich zugelassen. In kontrollier-
stärkt Sedierung und Atemdepression auftre- ten Studien wurde eine Verminderung aggres-
ten. Eine Kombination mit anderen anticholin- siven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen
ergen Substanzen sollte aufgrund der Gefahr mit Störung des Sozialverhaltens gezeigt (Find-
eines anticholinergen Delirs vermieden werden. ling et al. 2000). Eine Kombination von Rispe-
Bei Kombination mit trizyklischen Antidepres- ridon mit Stimulanzien zur Behandlung aggres-
siva kommt es zu einer wechselseitigen Beein- siven Verhaltens bei einer hyperkinetischen Stö-
flussung des hepatischen Metabolismus mit er- rung des Sozialverhaltens ist möglich (Snyder et
höhten Plasmakonzentrationen. Die Kombina- al. 2002). Weiterhin weist Risperidon auch eine
tion mit anderen niedrig-potenten Neuroleptika stimmungsstabilisierende Wirkung auf.
bringt keine Vorteile, sondern lediglich Risiken
mit sich. Dosierung. Zur Verminderung impulsiv-ag-
gressiven Verhaltens wird Risperidon üblicher-
Kontrolluntersuchungen. Das Auftreten einer weise in einer niedrigen Dosierung eingesetzt.
Blutdyskrasie aktuell oder in der Vorgeschich- Die Anfangsdosis beträgt 0,25 mg pro Tag bei
te stellt eine Kontraindikation für die Gabe von Kindern und 0,5 mg pro Tag bei Jugendlichen.
Levomepromazin dar (Gefahr der Agranulozy- Der Dosisaufbau sollte schrittweise erfolgen, bei
tose). Somit sollten bei Gabe von trizyklischen dieser Indikation bis zu einer Zieldosis von et-
Neuroleptika Blutbild (einschließlich Differenzi- wa 1–2 mg täglich für Kinder und 2–4 mg täglich
alblutbild und Thrombozyten) sowie Transami- bei Jugendlichen (Pappadopulos et al. 2003). Zur
nasen kontrolliert werden, in den ersten Wochen Beurteilung des Therapieerfolges ist ein Behand-
14-tägig, dann viertel- bis halbjährlich. Auch ein lungszeitraum von mindestens 2 Wochen mit ei-
EKG sollte vor und nach Beginn der Behandlung ner adäquaten Dosis erforderlich. Übliche Erhal-
durchgeführt werden, danach in halbjährlichen tungsdosen liegen zwischen 0,5 mg und 1 mg pro
Abständen; weiterhin ein EEG. Tag. Wenn eine Remission des aggressiven Ver-
haltens für mindestens 6 Monate bestanden hat,
! Der Patient sowie seine Betreuungspersonen kann erwogen werden, die Medikation langsam
sollten über die »grippeähnlichen« Symptome abzusetzen.
einer Agranulozytose informiert werden.
Pharmakokinetik. Risperidon wird nach oraler
Risperidon Gabe vollständig resorbiert, und die maximale
Plasmakonzentration wird nach 1–2 Stunden er-
Wirkungsweise. Risperidon (Risperdal) ist ein reicht. In der Leber erfolgt die Metabolisierung
atypisches Neuroleptikum, führt also zu erheb- über CYP2D6 zu 9-Hydroxyrisperidon, welches
120 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 eine ähnliche biologische Wirkung wie Rispe-


ridon aufweist, aber eine längere Halbwertszeit
ne zusätzliche MNS-Symptome entwickelt, müs-
sen alle Neuroleptika einschließlich Risperidon
(17–22 Stunden) hat. abgesetzt werden. Ein isolierter geringfügiger
2 Anstieg der Kreatinkinase erfordert kein sofor-
Nebenwirkungen. Unter Risperidon kommt es tiges Absetzen, sollte aber Anlass zu enger kli-
3 bei Kindern und Jugendlichen häufiger zu ei- nischer und laborchemischer Überwachung ge-
ner Sedierung als bei Erwachsenen, die jedoch ben.
4 meist wenig ausgeprägt ist und vor allem zu Be-
ginn der Behandlung auftritt (Snyder et al. 2002; Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn
5 Turgay et al. 2002). Führt diese zu einer signi- sowie im ersten Monat nach Therapiebeginn
fikanten Beeinträchtigung, kann die abendliche sollten Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Blut-
6 Gabe von Risperidon günstig sein. Die Vermin-
derung aggressiven Verhaltens zeigte sich un-
druck, Puls, EKG und EEG kontrolliert werden;
unter längerer Behandlung regelmäßig Blutbild,

7 abhängig von sedierenden Effekten. Extrapy-


ramidale Symptome treten viel seltener auf als
Leber- und Nierenfunktionsparameter, Blut-
druck und Puls sowie Prolaktin.
bei klassischen Neuroleptika, vor allem in ei-
8 ner niedrigen Dosierung. Eine signifikante Ne- Olanzapin
benwirkung ist die mögliche Gewichtszunahme,
9 auch wenn diese wahrscheinlich geringer ist als Wirkungsweise. Olanzapin (Zyprexa) ist ein
bei anderen atpyischen Neuroleptika, jedoch in- atypisches Neuroleptikum mit hauptsächlich an-
10 terindividuell variabel. Auch unter einer nied- tiserotonergen, antidopaminergen und anticho-
rigen Dosierung kann eine Hyperprolaktinä- linergen Eigenschaften. Bezüglich seiner Wirk-
11 mie mit Gynäkomastie, Galaktorrhoe, Menstru- samkeit zur Verminderung aggressiven Verhal-
ationsstörung und sexuellen Funktionsstörun- tens liegen vergleichsweise wenig Daten vor; im
12 gen auftreten. Autonome Nebenwirkungen sind
unter niedrigen Dosierungen kaum relevant;
Einzelfall kann es jedoch eine geeignete Alter-
native zu Risperidon darstellen (Soderstrom et
wenn es zu einer orthostatischen Dysregulation al. 2002). Olanzapin weist wie Risperidon einen
13 kommt, dann vor allem zu Beginn der Behand- stimmungsstabilisierenden Effekt auf.
lung. Die QTc-Zeit kann unter Risperidon ver-
14 längert sein. Sehr selten wurden das Auftreten Dosierung. Als Anfangsdosis sollten 2,5–5 mg
einer akuten Leukopenie oder Thrombozytope- gegeben und die Dosis in 2,5-mg-Schritten ge-
15 nie beschrieben. Bei allen Neuroleptika kann es steigert werden, übliche Zieldosen bewegen
zu einem lebensbedrohlichen malignen neuro- sich zwischen 0,15–0,20 mg/kg Körpergewicht
16 leptischen Syndrom (MNS) kommen, das durch (Soderstrom et al. 2002). Eine Tagesdosis von
Hyperthermie, Muskelrigidität, autonome In- 12,5 mg bei Kindern und 20 mg bei Jugendlichen
17 stabilität (Schwitzen, unregelmäßiger Puls oder
Blutdruck, Tachykardie und Herzrhythmusstö-
sollte nicht überschritten werden (Pappadopu-
los et al. 2003). Aufgrund des sedierenden Ef-

18 rungen) und wechselnde Bewusstseinslagen ge-


kennzeichnet ist; weitere Symptome können ei-
fektes ist die abendliche Gabe etwa 1–2 Stunden
vor dem Schlafengehen günstig. Zur Beurtei-
ne Erhöhung der Kreatinkinase, Myoglobinu- lung des Therapieerfolges ist ein Behandlungs-
19 rie und akutes Nierenversagen sein. Ein malig- zeitraum von mindestens 2 Wochen unter einer
nes neuroleptisches Syndrom wurde für Rispe- adäquaten Dosis erforderlich. Nach einer Remis-
20 ridon nur in Einzelfällen beschrieben. Wenn ein sion des aggressiven Verhaltens für mindestens
Patient jedoch Symptome entwickelt, die auf ein 6 Monate kann erwogen werden, die Medikati-
MNS hindeuten oder unklares hohes Fieber oh- on schrittweise abzusetzen, da es bei plötzlichem
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
121 6

Absetzen zu Schwitzen, Schlaflosigkeit, Zittern, bestehend herabgesetzter Krampfschwelle. Hin-


Angst, Übelkeit oder Erbrechen kommen kann. sichtlich eines möglichen malignen neurolep-
tischen Syndroms gelten die gleichen Hinweise,
Pharmakokinetik. Die Resorption von Olanza- wie oben für Risperidon dargestellt. Zeichen ei-
pin wird durch Nahrungsaufnahme nicht beein- ner Olanzapin-Überdosierung sind Tachykardie,
flusst. Die maximale Plasmakonzentration wird Agitation und Aggressivität, Dysarthrie, extra-
innerhalb von 5–8 Stunden erreicht, die Elimi- pyramidalmotorische Symptome, Bewusstseins-
nationshalbwertszeit beträgt 30–40 Stunden. minderung bis hin zum Koma, Atemdepression,
Krampfanfälle und Delir.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Die
klinisch relevanteste Nebenwirkung von Olanza- Interaktionen. Bei Kombination von Olanzapin
pin – neben der Sedierung – ist die Gewichtszu- und Valproat kommt es häufig zu einer Neutro-
nahme, die zum Teil erheblich sein kann. Häu- penie. Die gleichzeitige Gabe von Olanzapin und
fig treten, besonders zu Beginn der Behandlung, Lithium oder Valproat erhöht die Wahrschein-
vorübergehende asymptomatische Erhöhungen lichkeit von Zittern, Mundtrockenheit, Appetit-
der Lebertransaminasen auf. Somit ist bei Pati- steigerung und Gewichtszunahme.
enten mit Anzeichen einer Leberfunktionsstö-
rung oder Kombination mit potenziell hepato- Kontrolluntersuchungen Vor Therapiebeginn
toxischen Substanzen Vorsicht angebracht. Tri- sowie im ersten Monat nach Therapiebeginn
glyzerid- und Glukosespiegel können ansteigen, sollten Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Blut-
und bei Diabetekern kann es zu einer potenzi- glukose, Blutdruck, Puls, EKG und EEG kont-
ell bedrohlichen Verschlechterung der Stoff- rolliert werden; unter längerer Behandlung re-
wechselsituation kommen, so dass eine geeig- gelmäßig Blutbild, Leber- und Nierenfunktions-
nete ärztliche Überwachung ratsam ist. Häufig werte, Blutdruck und Puls, HbA1c und Prolak-
werden erhöhte Prolaktinspiegel festgestellt, die tin.
jedoch selten mit klinisch relevanten Befunden
(Gynäkomastie, Galaktorrhoe) einhergehen. Bei Haloperidol
Patienten mit niedrigen Leukozyten- und/oder Bei Haloperidol handelt es sich um ein klas-
Neutrophilenwerten jeglicher Ursache sowie bei sisches hochpotentes Neuroleptikum, das vor
Risikofaktoren oder Anzeichen für eine Kno- allem antagonistisch an Dopamin (D2)-Rezep-
chenmarkdepression ist Vorsicht bei der An- toren wirkt. Aufgrund der deutlichen extrapy-
wendung von Olanzapin geboten. Weitere mög- ramidalen Nebenwirkungen und des Risikos
liche Blutbildveränderungen sind Thrombozyto- von Spätdyskinesien sowie des subjektiv unan-
penie und Eosinophilie. Eine orthostatische Hy- genehmen Erlebens des Medikationseffektes
potonie tritt häufig auf; gelegentlich kommt es durch die Patienten sollte Haloperidol nur dann
zu Bradykardien mit oder ohne Hypotonie oder zur Behandlung impulsiv-aggressiven Verhal-
Synkope. Anticholinerge Nebenwirkungen kön- tens eingesetzt werden, wenn vorher mindes-
nen sich als gering ausgeprägte, vorübergehende tens ein atypisches Neuroleptikum in adäquater
Mundtrockenheit oder Obstipation manifestie- Dosierung über einen adäquaten Zeitraum gege-
ren. Das Risiko von extrapyramidalmotorischen ben wurde (Schur et al. 2003). Zu bedenken ist
Symptomen (Dyskinesie, Akathisie, Parkinso- auch, dass die Mood stabilizer Lithium und Val-
nismus) ist vergleichsweise gering; das Risiko ei- proat wahrscheinlich ebenfalls eine günstigere
ner Spätdyskinesie nimmt bei einer Langzeitbe- Nutzen-Risiko-Bilanz aufweisen. Für diese Indi-
handlung zu. Unter Olanzapin kommt es selten kation wird Haloperidol in einer vergleichsweise
zu Krampfanfällen, meist bei Patienten mit vor-
122 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 niedrigen Dosierung von 0,025–0,1 mg/kg Kör-


pergewicht eingesetzt.
ne Verdopplung der Lithiumkonzentration im
Serum. Die Gesamtdosis kann entweder auf
mehrere Einzeldosen über den Tag hinweg ver-
2 Mood stabilizer teilt werden, oder die gesamte Tagesdosis kann
als Einmalgabe vor dem Schlafengehen verab-
3 Lithium reicht werden. Beim Wechsel von Mehrfachga-
be zur Einzelgabe sollte anfänglich die Lithium-
4 Wirkungsweise. Lithium, welches als Mood sta- konzentration häufiger kontrolliert werden. Die
bilizer vor allem bei Manien und bipolaren Stö- Medikation sollte immer zu einer festgesetzten
5 rungen eingesetzt wird, fördert die seroton- Zeit eingenommen werden. Eine versäumte Ein-
erge Neurotransmission. Eine weitere Indikati- nahme darf nicht mit einer verdoppelten Dosis
6 on stellt – nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Ab-
wägung – das Auftreten ausgeprägter impulsiv-
beim nächsten Einnahmezeitpunkt ausgeglichen
werden. Für die Dauermedikation sind Retard-

7 aggressiver Erregungszustände dar, da Lithium


diesbezüglich in einigen Studien eine gute Wirk-
präparate (z. B. Lithiumsulfat, Lithiumcarbonat)
wegen der geringeren Schwankungen der Se-
samkeit bei Kindern und Jugendlichen aufwies rumkonzentration günstiger.
8 (Campbell et al. 1995; Malone et al. 2000).
Nebenwirkungen. Vor allem zu Beginn der Be-
9 Dosierung und Pharmakokinetik. Die Aufdo- handlung können ein dosisabhängiger feinschlä-
sierung erfolgt einschleichend, beginnend mit giger Tremor, Polyurie mit resultierender Po-
10 einer niedrigen Lithiumdosis von etwa 10 mmol/ lydipsie und Übelkeit auftreten, die mit Fort-
Tag. Zu beachten ist, dass die Lithiumpräparate dauer der Behandlung oder einer Verringerung
11 verschiedener Hersteller sehr unterschiedliche der Dosis abklingen. Die Patienten sollten ih-
Mengen an Lithiumsalz enthalten. Dann wird ren Durst adäquat stillen, jedoch nicht mit ka-
12 die Dosis entsprechend der Lithiumkonzentra-
tion im Serum in Schritten von etwa 10 mmol
lorienhaltigen Getränken. Initial kommt es zu
einem Natrium- und Kaliumverlust, weil deren
erhöht. Die maximale Lithiumkonzentration Reabsorption an den renalen Tubuli vermindert
13 wird etwa 1½–2 Stunden nach der Einnahme er- wird; innerhalb einer Woche sollten jedoch Na-
reicht, und die Halbwertszeit beträgt bei Jugend- trium- und Kaliumkonzentration wieder auf ihr
14 lichen etwa 18 Stunden; die Elimination von Li- Ausgangsniveau zurückgekehrt sein. Unter lang
thium erfolgt ausschließlich renal. Die Lithium- dauernder Behandlung kann eine Verminde-
15 konzentration sollte in der Einstellungsphase je- rung der renalen Konzentrationsfähigkeit auf-
weils im Steady state kontrolliert werden, der et- treten, die sich als nephrogener Diabetes insipi-
16 wa 5–7 Tage nach Dosisänderung erreicht wird. dus mit Polyurie sowie Polydipsie äußert; dieser
Eine Blutentnahme zur Kontrolle der Lithium- Zustand ist nach Absetzen von Lithium in der
17 konzentration sollte jeweils vor der nächsten
morgendlichen Einnahme und möglichst genau
Regel reversibel. Weiterhin kann es zur Harnin-
kontinenz kommen.

18 12 Stunden nach der letzten Einnahme durchge-


führt werden. Die Dosisanpassung erfolgt ent-
Eine Vielzahl von Nebenwirkungen wird
auch unter adäquater Dosierung beobachtet.
sprechend der Lithiumkonzentration im Se- Häufig kommt es zu einer Gewichtszunahme,
19 rum sowie der Verträglichkeit. Der Serumspie- weiterhin zu Sedierung, Kopfschmerzen, Bauch-
gel sollte zwischen 0,5–0,8 mmol/l liegen; Spie- schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Diarrhoe,
20 gel über 1,5 mmol/l sind im toxischen Bereich, Mundtrockenheit oder exzessiver Speichelpro-
Spiegel höher als 2,0 mmol/l lebensbedrohlich. duktion. Eine – meist euthyreote – Struma oder
Eine Verdopplung der Lithiumdosis bewirkt ei- eine Hypothyreose können auftreten sowie eine
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
123 6

verminderte Glukosetoleranz. Lithium akti- zu einer Niereninsuffizienz führen können (z. B.


viert Akne vulgaris und psoriatische Hautefflo- Gicht, Pyelonephritis) dekompensierte kardiale
reszenzen. Ein Anstieg der Leukozyten bis hin Erkrankungen, Herzrhythmusstörungen, Psori-
zur Leukozytose ist unbedenklich. In der Regel asis vulgaris, Hypothyreose und Epilepsie. Ein-
gilt dieses auch für eine Dysrhythmisierung des nahme von Lithium während der Schwanger-
EEG sowie für im EKG festzustellende Repola- schaft, vor allem im ersten Trimenon, erhöht die
risationsstörungen. Gelegentlich können Stö- Rate von fetalen kardiovaskulären Fehlbildungen
rungen der Funktion des Sinusknotens, meist als (bei weiblichen Jugendlichen also Schwanger-
Bradykardie, auftreten; dann sollte ein Kardio- schaftstest vor der Behandlung, sichere Verhü-
loge hinzugezogen werden. Als motorische bzw. tung während der Behandlung!).
neurologische Nebenwirkungen sind beschrie-
ben: Muskelschwäche, Myalgie, unwillkürliche Interaktionen. Lithium kann mit einer Viel-
Bewegungen der Extremitäten, extrapyramidal- zahl von Medikamenten interagieren, so dass bei
motorische Symptome, Krampfanfälle, verwa- gleichzeitiger Gabe mit anderen Medikamenten
schene Sprache, Koordinationsstörungen, Kopf- stets große Vorsicht geboten ist. Die gleichzei-
schmerzen, Schwindel, Benommenheit, Som- tige Gabe von Serotonin-Wiederaufnahmehem-
nolenz, Stupor und Koma, Halluzinationen, mern kann zu einem potenziell lebensbedroh-
Geschmacksstörungen, Gesichtsfeldausfälle, lichen Serotonin-Syndrom führen. Die Kombi-
verschwommenes Sehen. Vor allem bei jüngeren nation von Lithium mit Neuroleptika kann neu-
Kindern sind Symptome wie Tremor, Schwin- rotoxisch sein (bis hin zu einer Enzephalopathie
del, Verwirrtheit und Ataxie häufigere Neben- in sehr seltenen Fällen) und sollte nur unter be-
wirkungen. sonderer Vorsicht erfolgen. Lithiumsalze sollten
Intoxikationszeichen sind im allgemeinen 48 Stunden vor einer Operation oder Narkose
bei Lithiumspiegeln über 1,5 mmol/l festzustel- abgesetzt werden, da die Wirkung neuromusku-
len, können aber bei empfindlichen Patienten lär blockierender Substanzen durch Lithium ver-
bereits unter normalen oder leicht erhöhten längert wird.
Lithiumspiegeln auftreten. Warn- und Initial-
symptome sind Polyurie, Polydipsie, Diarrhoe, Kontrolluntersuchungen. Die empfohlenen
Übelkeit, Erbrechen, Muskelschwäche, erhöhter Kontrolluntersuchungen vor Beginn und wäh-
Muskeltonus, Faszikulationen, Müdigkeit, Koor- rend einer Lithiumbehandlung sind in . Tab. 6.1
dinations- , Konzentrations- und Artikulations- dargestellt. Da Lithium allein renal ausgeschie-
störungen, Schwindel, Verwirrtheit, Nystag- den wird, muss vor Beginn der Behandlung eine
mus, Tremor und Hyperreflexie. Bei höheren ungestörte Nierenfunktion mittels Messung der
Lithiumspiegeln kommt es zu Tinnitus, ver- Kreatinin-Clearance belegt werden. Der Hals-
schwommenem Sehen, Ataxie, Apathie, even- umfang sollte vierteljährlich, die Schilddrüsen-
tuell zu Herzrhythmusstörungen und Kreislauf- werte wenigstens jährlich gemessen werden, um
kollaps sowie zu renalen Störungen, in besonders rechtzeitig der Entwicklung einer Struma durch
schweren Fällen zu epileptischen Anfällen und Substitution von Thyroxin vorbeugen zu kön-
Koma. Lithium sollte bei den ersten Anzeichen nen. Neben den Routinebestimmungen des Li-
einer Intoxikation abgesetzt werden. thiumspiegels sollte eine zusätzliche Kontrolle
des Lithiumspiegels immer bei Verdacht auf eine
Kontraindikationen. Die wichtigsten Kontrain- Lithiumintoxikation durchgeführt werden so-
dikationen einer Lithiumbehandlung sind aus- wie dann, wenn infolge interkurrenter Erkran-
geprägte Hyponatriämie, akute und chronische kungen die Gefahr von Änderungen der Lithi-
Nierenerkrankungen, ebenso Krankheiten, die umbilanz besteht (z. B. Elektrolytverluste durch
124 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 . Tab. 6.1. Empfohlene Kontrolluntersuchungen unter Lithium. (Nach Nissen et al. 1998)

Monat Viertel- Jähr-


2 jährlich lich
Vorher 1 2 3 4 5 6

3 Lithium- ++++ + + + + + +
spiegel im
4 Serum

Natrium, + ++++ + + + + + +
5 Kalium, Kal-
zium

6 Serumkrea- + ++++ + + + + + +
tinin, Harn-

7
stoff

Kreatinin- + +

8
Clearance

Urinstatus, + +

9
Osmolalität

T3, T4, TSH + +

10 Nüchtern- + + +
blutzucker

11 Blutbild + + + + +

EKG + + +
12 EEG + +

13 Körperge-
wicht
+ + +

14 Halsumfang + + +

ggf. +

15 Schwanger-
schaftstest

16 Alle Kontrolluntersuchungen sind bei gegebener klinischer Indikation häufiger als angegeben durchzuführen.

17 Schwitzen, Fieber, Erbrechen oder Diarrhoe). bilisierendes Medikament eingesetzt wird, ver-

18 Auch die anderen Kontrolluntersuchungen sind


bei gegebener klinischer Indikation häufiger
stärkt die GABAerge Neurotransmission. Bis-
lang liegen wenige, aber vielversprechende Da-
durchzuführen. ten zur Anwendung bei Kindern und Jugend-
19 lichen mit Störungen des Sozialverhaltens vor.
Valproat So kam es unter Divalproex (50% Natrium-Val-
20 proat, 50% Valproinsäure) in einer kontrollierten
Wirkungsweise. Valproat, welches vor allem als Studie zu einer deutlichen Reduktion von Stim-
Antiepileptikum, aber auch als stimmungssta-
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
125 6

mungslabilität, Reizbarkeit und explosiven Wut- ! Valproat kann in seltenen Fällen, vor allem bei
ausbrüchen (Donovan et al. 2000). jungen Kindern, schwerwiegende Pankreaser-
krankungen verursachen und hepatotoxisch
Dosierung. Die Aufdosierung sollte wegen mög- wirken. Eine Leberschädigung tritt meist inner-
licher gastrointestinaler Beschwerden einschlei- halb der ersten 6 Monate der Behandlung auf,
chend erfolgen. In der Regel vergehen 2–4 Tage, besonders in der 2.–12. Woche. Die Betreuungs-
bis der Valproatspiegel konstant ist. Der empfoh- personen müssen über Symptome einer begin-
lene Valproatspiegel, bestimmt vor der ersten Ta- nenden Valproat-Unverträglichkeit – Appetit-
gesdosis, liegt bei 50–100 µg/ml. Übliche Dosie- losigkeit, neu auftretende Abneigung gegen
rungen bei Kindern betragen 30 mg/kg Körper- gewohnte Speisen oder gegen Valproat selbst,
gewicht, bei Jugendlichen 25 mg/kg Körperge- Übelkeit und wiederholtes Erbrechen, unklare
wicht, verteilt auf zwei Tagesdosen. Oberbauchbeschwerden, Ödemneigung, Apa-
thie, Bewusstseinsstörung mit Verwirrtheit und
Pharmakokinetik. Valproat wird nach oraler Unruhe – aufgeklärt werden, die sich oft schon
Gabe schnell und vollständig resorbiert, und der vor einer Veränderung der Leberwerte zeigen.
maximale Plasmaspiegel wird nach 2–8 Stunden
erreicht. Die Substanz ist zu über 90% an Plas- Kontraindikationen. Absolute Kontraindikati-
maproteine gebunden, wird in der Leber meta- onen sind Lebererkrankungen in der Eigen- oder
bolisiert und mit einer Eliminationshalbwerts- Familienanamnese sowie manifeste schwerwie-
zeit von 12–16 Stunden ausgeschieden. gende Leber- und Pankreasfunktionsstörungen,
Leberfunktionsstörungen mit tödlichem Aus-
Nebenwirkungen. Die häufigsten Nebenwir- gang unter Valproattherapie eines Geschwister-
kungen sind Übelkeit und Brechreiz, die durch kindes, Porphyrie und Blutgerinnungsstörun-
Einnahme der Medikation mit der Mahlzeit ge- gen. Valproat darf nur unter besonderer Vor-
lindert werden können; auch Appetitsteigerung sicht bei Kleinkindern, mehrfach behinderten
und Gewichtszunahme treten häufig auf. So- Kindern und Jugendlichen und Patienten mit
fern es zu einer Sedierung kommt, was jedoch Knochenmarkschädigung angewendet werden,
unter Monotherapie selten der Fall ist, nimmt ebenso bei Patienten mit metabolischen Erkran-
diese im Laufe der Behandlung ab. Selten sind kungen, insbesondere angeborenen Enzymopa-
– meist dosisabhängige – Thrombozytenabfälle thien, denn unter Valproat kann es zu einem An-
und Neutropenien (Einzelfälle von Agranulozy- stieg des Ammoniakserumspiegels mit Apathie,
tose sind beschrieben!). Valproat kann auch ei- Somnolenz, Erbrechen und Hypotension kom-
ne von-Willebrand-Jürgens-Erkrankung hervor- men.
rufen. Bei operativen Eingriffen ist die potenzi-
ell erhöhte Blutungsneigung zu berücksichtigen. Interaktionen. Nach Möglichkeit sollte eine Be-
Unter hohen Dosen kann ein Tremor auftreten, handlung mit Valproat als Monotherapie durch-
sowie Reizbarkeit und Dysphorie. Eine Intoxika- geführt werden. Potenziell hepatotoxische Subs-
tion geht mit Bewusstseinsminderung (bis hin tanzen (auch Alkohol!) verstärken wahrschein-
zum Koma), Muskelschwäche, Hypo- bis Are- lich die Hepatotoxizität von Valproat. Bei Ein-
flexie, Koordinationsstörungen und Verwirrt- nahme enzyminduzierender Medikamente ist
heit einher; bei Monotherapie ist eine Überdo- die Eliminationshalbwertszeit von Valproat kür-
sierung jedoch vergleichsweise wenig gefährlich. zer. Valproat hemmt den hepatischen Metabolis-
Valproat ist plazentagängig, und Neuralrohrde- mus anderer Substanzen. Der Spiegel von unge-
fekte bei Einnahme von Valproat während der bundenem Diazepam wird bei Kombination mit
Schwangerschaft sind beschrieben. Valproat erhöht, die Plasma-Clearance von Di-
126 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

! Ein sofortiger Therapieabbruch ist zu erwä-


1 azepam und Lorazepam reduziert. Die zentral
dämpfende Wirkung von Neuroleptika und An- gen: bei einer nicht erklärbaren Störung des
tidepressiva wird verstärkt. Allgemeinbefindens, klinischen Zeichen einer
2 Leber- oder Pankreasaffektion oder einer Blu-
Kontrolluntersuchungen. Vor Therapiebeginn tungsneigung, mehr als 2- bis 3facher Erhöhung
3 sollten eine ausführliche Anamnese, insbeson- der Lebertransaminasen auch ohne klinische
dere hinsichtlich Hepatopathie, Pankreasaffek- Zeichen (aber ggf. mögliche Enzymindukti-
4 tionen, Stoffwechselstörungen und Gerinnungs- on durch Begleitmedikation bedenken), leich-
störungen beim Patienten und in der Familie ter (1½–2facher) Erhöhung der Lebertransami-
5 erhoben werden und eine gründliche klinische nasen bei gleichzeitigem akutem fieberhaftem
Untersuchung sowie laborchemische Kontrollen Infekt und ausgeprägter Störung des Gerin-

6 [Differenzialblutbild mit Thrombozyten, Quick,


partielle Thromboplastinzeit (PTT), Fibrinogen,
nungsstatus.

Selektive Serotonin-
7 Gerinnungsfaktoren, Gesamt-Eiweiß, Leberwer-
te, Lipase, α-Amylase im Blut, Blutglukose] vor- Wiederaufnahmehemmer
genommen werden. Für eine günstige Beeinflussung impulsiver
8 Bei ambulanter Einstellung sollten Eltern und Aggressivität durch selektive Serotonin-Wie-
behandelnder Arzt engen persönlichen sowie deraufnahme-Hemmer, eventuell über eine Ver-
9 telefonischen Kontakt halten. Vier Wochen nach minderung der Impulsivität, gibt es Hinweise. So
Behandlungsbeginn sollte eine erneute klinische führte Citalopram bei Kindern und Jugendlichen
10 und laborchemische Untersuchung durchge- mit Störungen des Sozialverhaltens und ADHS
führt werden, in den darauffolgenden 3 Mona- zu einer deutlichen Verminderung von Reizbar-
11 ten monatlich, danach zweimal mit 6 Wochen keit und impulsiv-aggressivem Verhalten, wäh-
Abstand und zweimal mit 12 Wochen Abstand; rend proaktiv-aggressives Verhalten nicht ver-
12 zusätzlich sollte in jedem der genannten Zeitin-
tervalle jeweils ein telefonischer Kontakt erfol-
mindert wurde; hierbei handelte es sich jedoch
nicht um eine kontrollierte Studie (Armente-
gen, der erste 2 Wochen nach Behandlungsbe- ros u. Lewis 2002). Ähnliche Effekte wurden bei
13 ginn. Wenn das Kind klinisch unauffällig ist, Erwachsenen für Fluoxetin (Coccaro u. Kavoussi
sollten bei jeder ärztlichen Untersuchung Dif- 1997) und Paroxetin (Cherek et al. 2002) gefun-
14 ferenzialblutbild mit Thrombozyten und die den.
Transaminasen bestimmt werden, bei jeder zwei-
15 ten Untersuchung auch die Gerinnungsparame- ! Wenn eine signifikante depressive oder Angst-
ter. Die Eltern müssen dazu angehalten werden, störung komorbid zu einer Störung des Sozial-
16 sich bei klinischen Auffälligkeiten unabhängig verhaltens besteht und einer medikamentösen
von diesem Zeitplan sofort an den behandeln- Behandlung bedarf, sind die selektiven Sero-

17 den Arzt zu wenden. Nach einer Therapiedau-


er von einem Jahr ohne Auffälligkeiten sind nur
tonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Mittel
der ersten Wahl, auch wenn für diese Indikation

18 noch 2–3 ärztliche Kontrollen pro Jahr erforder-


lich. Bei Jugendlichen etwa ab dem 15. Lebens-
keine Zulassung unter 18 Jahren vorliegt, da sie
im Vergleich zu den trizyklischen Antidepres-
jahr sollten vor Therapiebeginn und im ersten siva eine höhere Wirksamkeit bei Kindern und
19 Halbjahr monatliche Kontrollen des klinischen Jugendlichen und weniger Nebenwirkungen
Befundes und der Laborparameter durchgeführt aufweisen.
20 werden.
Alle SSRI hemmen die Wiederaufnahme von
Serotonin in die Präsynapse sehr viel potenter
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
127 6

als die von Noradrenalin und Dopamin und Behandlung häufig auftreten. Sexuelle Funkti-
wirken damit deutlich selektiver als die trizyk- onsstörungen können die Compliance Jugendli-
lischen Antidepressiva. Da die SSRI sich generell cher vermindern. Im Gegensatz zu den trizyk-
wenig voneinander unterscheiden, werden sie lischen Antidepressiva treten unter SSRI keine
zunächst als Substanzgruppe beschrieben und autonomen oder kardiovaskulären Nebenwir-
im Anschluss daran für die Einzelsubstanzen die kungen auf, so dass Intoxikationen deutlich
relevanten Unterschiede, die sich vor allem auf weniger gefährlich sind als bei den Trizyklika.
Pharmakokinetik und Dosierung beziehen, dar-
gestellt. Kontraindikationen und Interaktionen. Bei Di-
abetikern kann eine Behandlung mit SSRI den
Wirkungsweise und Nebenwirkungen. Die re- Blutzuckerspiegel beeinflussen, so dass dessen
levanteste Nebenwirkung der SSRI im Kindes- medikamentöse Einstellung überprüft werden
und Jugendalter ist ihre aktivierende Wirkung muss. Bei Patienten mit nicht oder unzureichend
mit erhöhter Unruhe, Agitiertheit und Schlafstö- behandelter Epilepsie dürfen SSRI nicht einge-
rungen. Bei depressiven Patienten mit Suizidge- setzt werden, wohl aber – unter sorgfältiger ärzt-
fährdung ist zu berücksichtigen, dass es unter ei- licher Überwachung – bei Patienten mit medika-
ner Behandlung mit SSRI – wie bei allen Antide- mentös kontrollierter Epilepsie; sollte es jedoch
pressiva – in einem frühen Stadium der Symp- zu einem Anstieg der Anfallshäufigkeit kom-
tombesserung zu einer erhöhten Suizidgefähr- men, muss das Antidepressivum abgesetzt wer-
dung kommen kann. Eventuell muss kurzzeitig den. Da SSRI die Blutungsneigung erhöhen kön-
ein sedierendes Medikament, z. B. ein Benzodi- nen, müssen sie bei Patienten mit anamnestisch
azepin, zusätzlich gegeben werden. Hier ist das bekannten Blutungsanomalien mit Vorsicht ein-
Prinzip »start low, go slow, taper slow« beson- gesetzt werden, ebenso bei Patienten, die ande-
ders wichtig: Man sollte also mit einer niedrigen re Medikamente (z. B. atypische Neuroleptika,
Dosis beginnen und diese langsam erhöhen, ei- Phenothiazine) einnehmen, die das Blutungsri-
ne niedrige Zieldosis wählen und bei Beendi- siko erhöhen. Bei Kombination mit Neurolep-
gung der medikamentösen Behandlung die Do- tika treten vermehrt extrapyramidalmotorische
sis langsam abbauen, da es sonst zu Absetzsymp- Nebenwirkungen auf, und die Gefahr eines ma-
tomen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, lignen neuroleptischen Syndroms ist möglicher-
Reizbarkeit und Angst kommen kann. Mit dem weise erhöht.
Eintreten einer antidepressiven Wirkung kann Aufgrund der Gefahr eines potenziell lebens-
nicht vor Ablauf von mindestens 2 Wochen Be- bedrohlichen Serotonin-Syndroms dürfen SSRI
handlung mit einer ausreichenden Dosis gerech- niemals mit Monoaminooxidase(MAO)-Hem-
net werden. Die Resorption wird durch Nah- mern kombiniert werden, und beim Wech-
rungsaufnahme nicht beeinflusst. In der Regel ist sel von oder zu einem MAO-Hemmer muss
eine einmalige Gabe morgens ausreichend; falls ein ausreichender Zeitabstand eingehalten wer-
im Einzelfall Müdigkeit als Nebenwirkung auf- den, dessen Länge von den jeweiligen Substan-
tritt, abends. Da die SSRI überwiegend hepatisch zen abhängig ist. Ebenso sollten SSRI nicht mit
metabolisiert werden, sollte bei eingeschränkter anderen serotonerg wirkenden Medikamente,
Leberfunktion eine niedrigere Dosis gewählt z. B. Lithium, Tryptophan oder Johanniskraut,
werden; weiterhin sind dann engmaschige Kon- kombiniert werden. Ein Serotonin-Syndrom
trollen der Leberfunktion erforderlich. wird durch eine Überstimulation zentraler Sero-
Weitere Nebenwirkungen sind Kopf- tonin-Rezeptoren verursacht und ist durch die
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Trias aus Fieber, neuromuskulären Symptomen
Benommenheit, die vor allem zu Beginn der (Rigor, Hyperreflexie, Myoklonien, Tremor,
128 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 evtl. Erhöhung der Kreatinkinase) und psycho-


pathologischen Auffälligkeiten (delirähnliche
wirkungen besteht kein enger Zusammenhang.
Da Citalopram ein schwacher Inhibitor des he-
Symptome wie Desorientiertheit, Verwirrt- patischen CYP2D6-Metabolismus ist, treten ver-
2 heit, Unruhe, zum Teil Erregungszustände, aber gleichsweise wenig Interaktionen mit anderen
auch Euphorie) gekennzeichnet; weiterhin tre- Substanzen auf.
3 ten gastrointestinale Symptome wie Übelkeit,
Erbrechen und Diarrhoe auf. Vital bedrohliche Fluoxetin
4 Komplikationen sind Herzrhythmusstörungen,
Krampfanfälle, Koma, Multiorganversagen und Dosierung. Bei Kindern und Jugendlichen liegt
5 Verbrauchskoagulopathie. Bei Verdacht auf ein die Einstiegsdosis je nach Körpergewicht bei 5–
Serotonin-Syndrom müssen sofort die Medika- 10 mg, und die Dosiserhöhung kann in 5-mg-
6 mente abgesetzt werden (in 90% der Fälle aus-
reichend) und eine symptomatische Behand-
Schritten vorgenommen werden. Zur Behand-
lung einer depressiven Störung ist selten eine hö-

7 lung (Kühlung, Volumensubstitution, bei Bedarf


Sedierung) eingeleitet werden; bei Komplikati-
here Zieldosis als 20 mg pro Tag erforderlich.

onen kann eine intensivmedizinische Behand- Pharmakokinetik. Da die Halbwertszeiten von


8 lung erforderlich werden. Fluoxetin (4–6 Tage) und seines etwa gleicher-
maßen wirksamen Metaboliten Norfluoxetin (4–
9 Kontrolluntersuchungen. Empfohlene Kon- 16 Tage) sehr lang sind, erreichen die Plasmakon-
trolluntersuchungen vor Therapiebeginn und zentrationen erst nach mehreren Wochen einen
10 nach Erreichen der Zieldosis sind Blutbild, Le- Steady state, und nach Beendigung der Einnah-
ber- und Nierenwerte, Blutdruck, Puls und EKG, me bleibt noch für Wochen wirksame Substanz
11 sowie unter längerer Therapie in halbjährlichen im Körper. Da Fluoxetin durch das Cytochrom-
Abständen, EKG etwa jährlich. 450-2D6-Isoenzym-System der Leber metaboli-
12 Citalopram
siert wird, sollten andere Substanzen, die haupt-
sächlich durch dieses System metabolisiert wer-
den, am unteren Ende ihres jeweiligen Dosisbe-
13 Dosierung. Die Einstiegsdosis für Kinder bzw. reiches dosiert werden.
Jugendliche liegt bei 5–10 mg pro Tag und kann
14 dann in 5-mg-Schritten erhöht werden. Eine Fluvoxamin
Tagesdosis von 20 mg kann durchaus ausrei- Bei Vorliegen einer komorbiden Zwangsstörung
15 chend sein; das Überschreiten einer Tagesdosis kann Fluvoxamin eingesetzt werden, welches in
von 40 mg erscheint im Kindes- und Jugendal- kontrollierten Studien an Kindern und Jugend-
16 ter nicht ratsam. Beim Absetzen der Medikation lichen Wirksamkeit für diese Indikation gezeigt
wird eine schrittweise Dosisreduktion über ei- hat und in Deutschland ab dem Alter von 8 Jah-
17 nen Zeitraum von 1–2 Wochen empfohlen. ren zur Behandlung von Zwangsstörungen zuge-
lassen ist.

18 Pharmakokinetik. Die Resorption wird durch


gleichzeitige Nahrungsaufnahme nicht beein- Dosierung. Die Initialdosis beträgt 25 mg; die
flusst. Die Plasmahalbwertszeit beträgt 1½ Tage. Dosis kann etwa alle 3–4 Tage in 25-mg-Schrit-
19 Durch Metabolisierung in der Leber entstehen ten gesteigert werden. Während übliche Dosen
zwei aktive, aber schwächere Metaboliten. Stea- zur Behandlung einer depressiven Störung im
20 dy-state-Konzentrationen werden nach 1–2 Wo- Kindes- und Jugendalter bei 100–150 mg liegen,
chen erreicht. Zwischen dem Citalopram-Spiegel kann zur Behandlung einer Zwangsstörung ei-
und der therapeutischen Wirkung bzw. Neben- ne höhere Dosis erforderlich sein. Tagesdosen ab
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
129 6

100–150 mg sollten auf zwei, evtl. drei Einzeldo- Benzodiazepine


sen verteilt werden. Unter hohen Dosen kommt
es zu einem deutlichen Anstieg der Nebenwir- Lorazepam
kungshäufigkeit; die maximale Tagesdosis bei
Kindern und Jugendlichen beträgt 200 mg. Bei Wirkungsweise, Pharmakokinetik und Dosie-
eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion rung. Lorazepam gehört zu den Benzodiazepi-
sollte zurückhaltender dosiert werden. Bis sich nen und wirkt über eine Verstärkung der inhi-
eine Wirksamkeit auf Zwangssymptome zeigt, bierenden Wirkung GABAerger Neuronen anxi-
können 5 Wochen Behandlungsdauer und län- olytisch und sedierend. Es wird nach oraler und
ger mit einer ausreichenden Dosis erforderlich intramuskulärer Gabe schnell und nahezu voll-
sein. ständig resorbiert und ist gut steuerbar, weil we-
der aktive Metaboliten mit der Gefahr einer Ku-
Pharmakokinetik und Interaktionen. Im Ver- mulation noch Interaktionen bei der Eliminati-
gleich zu den anderen SSRI weist Fluvoxamin ei- on auftreten. Somit ist Lorazepam für den Ein-
ne kurze Halbwertszeit von etwa 20 Stunden auf satz bei aggressiven Erregungszuständen geeig-
und hat keine aktiven Metaboliten. Fluvoxamin net, sollte jedoch nur unter strenger Indikations-
ist ein starker Hemmer des Isoenzyms CYP1A2, stellung eingesetzt werden.
wodurch die Plasmakonzentration von trizyk- Eine übliche Initialdosis beträgt 1 mg; bei
lischen Antidepressiva (z. B. Imipramin, Clo- unzureichender Wirkung ist nach etwa einer hal-
mipramin) und Neuroleptika (z. B. Olanzapin, ben Stunde eine Wiederholung möglich (jedoch
Clozapin) erhöht wird; die Dosierung von tri- Vorsicht: die maximale Plasmakonzentration ist
zyklischen Antidepressiva oder Neuroleptika erst nach 1–2 Stunden erreicht). Im Vergleich zu
sollte im unteren Dosisbereich liegen. In gerin- Diazepam wird etwa ein Viertel der Dosis benö-
gerem Maß werden auch CYP2C und CYP3A4 tigt. Zur oralen Gabe liegen neben Tabletten
gehemmt, was zu einem Anstieg der Spiegel von auch lyophilisierte Plättchen (Tavor expidet 1 mg
Carbamazepin und Diazepam führen kann. und 2,5 mg) vor, die sich bei Kontakt mit Flüs-
sigkeit (auch in der Hand!) auflösen, wodurch
Paroxetin ein Zurückhalten des Medikamentes im Mund
Paroxetin ist der potenteste Serotonin-Wieder- verhindert wird; die Resorption als solche unter-
aufnahmehemmer und hat wahrscheinlich von scheidet sich jedoch nicht von herkömmlichen
allen SSRI die geringste therapeutische Breite, Tabletten. Eine i.v.-Injektion ist bei Benzodia-
so dass hier besonders nachdrücklich auf lang- zepinen aufgrund der Gefahr von Blutdruckab-
sames Auf- und Abbauen der Dosierung und fall und Atemdepression immer sehr langsam
das Wählen einer niedrigen Zieldosis hinge- vorzunehmen (z. B. 1 mg Lorazepam über 2–
wiesen werden muss. Die klinische Erfahrung 5 Minuten).
bei der Anwendung im Kindes- und Jugendal-
ter zeigt, dass übliche Dosen bei 10–15 mg liegen; Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Bei
eine Steigerung der Tagesdosis über 15 mg ver- akuter Überdosierung können Schwindel, Dys-
bessert wahrscheinlich nicht die Wirksamkeit, arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der
führt aber zu deutlich mehr Nebenwirkungen. motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche und
Doppelbilder auftreten. Falls Somnolenz ein-
! In der Produktinformation des Herstellers wird tritt, sind für deren Dauer die Vitalparameter zu
vor der Anwendung von Paroxetin bei Kindern kontrollieren. Auch unter üblichen Dosen kann
und Jugendlichen gewarnt, so dass aus foren- es zu paradoxen Disinhibitionsphänomenen mit
sischen Gründen davon abgeraten werden muss. Angst, Agitiertheit und Erregungszuständen
130 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 kommen. Lorazepam sollte nicht bei akuter In-


toxikation mit anderen zentral wirksamen Subs-
paradoxen Disinhibitionsphänomenen mit Agi-
tiertheit und Erregungszuständen kommen. Di-
tanzen eingesetzt werden. Wegen der Gefahr ei- azepam sollte bei akuter Intoxikation mit ande-
2 ner Abhängigkeitsentwicklung ist die Anwen- ren zentral wirksamen Substanzen nicht einge-
dung von Lorazepam nach Möglichkeit auf Ein- setzt werden (mit Ausnahme eines Rauschmit-
3 zelgaben oder auf wenige Tage zu beschränken. tel-induzierten Delirs).

4 Diazepam
6.2.6 Komorbiditätsbezogene
5 Wirkungsweise. Diazepam (u.a. Valium) ist Komponenten
ebenfalls ein Benzodiazepin und verstärkt als
6 solches die GABAerge Hemmung. Komorbide klinisch-psychiatrische Störungen
der Achse I des Multiaxialen Klassifikationssys-

7 Dosierung. Bei akuten Erregungszuständen


wird Diazepam, in Abhängigkeit vom Körper-
tems sollten in die Behandlungsplanung einbe-
zogen werden, aber auch – wenn vorhanden –
gewicht, in einer Dosis von etwa 5–10 mg oral, Belastungen auf den Achsen II–V, denn mögli-
8 i.m. oder i.v. eingesetzt; bei unzureichender Wir- cherweise muss deswegen das Vorgehen bei der
kung kann eine weitere Gabe im Abstand von et- Behandlung der Störung des Sozialverhaltens
9 wa 30 Minuten erfolgen. modifiziert werden. Insbesondere dann, wenn
komorbide Störungen und Belastungen auf-
10 Pharmakokinetik. Oral wird Diazepam schnell rechterhaltende Faktoren für die Störung des
resorbiert, und die maximale Plasmakonzentra- Sozialverhaltens sein könnten, sollten geeignete
11 tion wird nach etwa 1 Stunde erreicht. Die rektale psychosoziale Interventionen und – wenn erfor-
Resorption erfolgt ähnlich schnell wie die orale, derlich – pharmakotherapeutische Interventi-
12 ist jedoch unzuverlässiger. Auch bei i.m.-Injek-
tion ist die Resorption unsicher. Eine i.v.-Injek-
onen zu ihrer Behandlung ausgewählt werden.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Vorhan-
tion muss aufgrund möglicher Atemdepression densein der Störung des Sozialverhaltens sich
13 und Blutdruckabfall stets sehr langsam durchge- wiederum auf die Behandlung der komorbiden
führt werden. Bedingt durch die hohe Lipophi- Störung(en) – meist erschwerend – auswirken
14 lie erfolgt eine schnelle Passage der Blut-Hirn- kann. Hinweise zur Berücksichtigung komorbi-
Schranke und eine schnelle Anflutung der me- der Störungen bei der Pharmakotherapie finden
15 dikamentösen Wirkung. Aufgrund des großen sich auch in 7 6.2.5.
Verteilungsvolumens hat eine Einmalgabe nur
16 eine kurzdauernde Wirkung; da pharmakolo- ! Signifikante komorbide Störungen müssen bei
gisch aktive Metaboliten mit sehr langer Halb- der Erstellung des Behandlungsplans berück-

17 wertszeit gebildet werden, besteht bei wiederhol-


ter Gabe Kumulationsgefahr.
sichtigt werden!

Komorbider Konsum psychotroper


18 Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Bei Substanzen
akuter Überdosierung können Schwindel, Dys- Wenn Substanzabusus bzw. -abhängigkeit im
19 arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der Vordergrund des aktuellen Störungsbildes steht,
motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche und sollte zunächst eine diesbezügliche Behandlung
20 Doppelbilder auftreten. Falls Somnolenz eintritt, (Entgiftung, Entwöhnung) in einem speziali-
sind für deren Dauer die Vitalparameter zu kont- sierten Setting erfolgen (7 6.1). Bei schädlichem
rollieren. Auch unter üblichen Dosen kann es zu Gebrauch psychotroper Substanzen sollte der
6.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten
131 6

Jugendliche über kurz-, mittel- und langfristi- und schulzentrierten Interventionen zu berück-
ge Effekte der von ihm konsumierten Substan- sichtigen: bei Aufträgen und Instruktionen Auf-
zen informiert werden (American Academy of merksamkeit des Kindes sicherstellen, genügend
Child and Adolescent Psychiatry 1997). Eltern, Abwechslung in Themen und Tätigkeiten anbie-
Betreuer, Lehrer u. a. werden dahingehend bera- ten, eindeutige und unmittelbare (positive wie
ten, das Monitoring des Jugendlichen bezüg- negative) Konsequenzen etablieren, höhere
lich des Konsums von psychotropen Substanzen Ungeduld und Impulsivität des Kindes berück-
und des Umgangs mit substanzkonsumierenden sichtigen, Zwischenphasen mit motorischer
Gleichaltrigen zu erhöhen. Als kognitiv-ver- Aktivität einplanen; medikamentöse Behand-
haltenstherapeutische Interventionen können lung in Betracht ziehen.
Kontingenzmanagement und operante Verstär-
kung abstinenten Verhaltens eingesetzt werden. Komorbide emotionale oder andere
Die Vermittlung weiterführender Beratungs- Befindlichkeitsstörung
und Therapieangebote sowie Hinzuziehen des Eine komorbide emotionale (F3, F93) oder ande-
Jugendamts sollten erwogen werden. Eine medi- re Befindlichkeitsstörung (F4) erfordert eine adä-
kamentöse Behandlung einer kinder-/jugend- quate kinder- und jugendpsychiatrische Behand-
psychiatrischen Erkrankung sollte nur bei sehr lung mit psychotherapeutischen, ggf. auch phar-
guter Überwachung der Medikamenteneinnah- makologischen Interventionen, ohne jedoch
me durch die Betreuungspersonen durchgeführt als »Entschuldigung« für disruptives Verhalten
werden. funktionalisiert zu werden. Die Response auf Sti-
Primäres Ziel ist das Erreichen und Aufrecht- mulanzien kann schlechter sein, und eine Ver-
erhalten von Abstinenz. Dennoch kann eine rea- stärkung der emotionalen Symptomatik ist mög-
listische Sichtweise zum einen der Chronizität lich; andererseits kann aber eine Verbesserung
von Substanzgebrauch und -abusus bei einigen des Funktionsniveaus unter einer Stimulanzi-
Jugendlichen, zum anderen des selbstlimitie- enbehandlung zur Verminderung einer emotio-
renden Verlaufes dieser Problematik bei vielen nalen Symptomatik beitragen.
anderen Jugendlichen Schadenslimitierung als
ein Zwischenziel einer Behandlung erscheinen Komorbide Enkopresis
lassen, deren Langzeitziel Abstinenz ist. Scha- Bei Kindern mit einer ADHS kann aufgrund der
denslimitierung beinhaltet: Verringerung der Aufmerksamkeitsstörung, die sich auch auf die
konsumierten Menge und der negativen Konse- Propriozeption bezieht, die Wahrnehmung des
quenzen des Substanzgebrauchs sowie Erhöhung Füllungsdrucks im Rektum unzureichend sein,
des Funktionsniveaus des Jugendlichen in einem so dass die primäre Behandlung einer ADHS
oder mehreren Bereichen (z. B. Familie, Schu- sinnvoll erscheint; anderenfalls sollten Enkop-
le, Umgang mit nichtdevianten Gleichaltrigen). resis und Störung des Sozialverhaltens gleich-
»Kontrollierter Gebrauch« einer Substanz sollte zeitig therapeutisch angegangen werden (Leitli-
niemals Ziel einer Behandlung bei Jugendlichen nie »Enkopresis«, Deutsche Gesellschaft für Kin-
sein (American Academy of Child and Adoles- der- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
cent Psychiatry 1997). et al. 2003).

Komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/ Eingeschränkte Bindungsfähigkeit


Hyperaktivitätsstörung bzw. Eine signifikante Einschränkung der Bindungs-
Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität fähigkeit verschlechtert die Prognose einer Stö-
Komorbide ADHS bzw. Aufmerksamkeitsde- rung des Sozialverhaltens wesentlich. Deswegen
fizit ohne Hyperaktivität sind bei eltern-, kind- ist eine hohe Beziehungskonstanz außerordent-
132 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 lich wichtig, und alle Interventionen (Psychothe-


rapie, Jugendhilfemaßnahmen) müssen langfris-
derung ihres Kindes gewährleisten. Bei beson-
ders ausgeprägten schulischen Teilleistungsstö-
tig angelegt sein. rungen können jedoch spezielle Therapiemaß-
2 nahmen erforderlich sein, die dann, wenn eine
Komorbide rezeptive oder expressive Teilleistungsstörung zu einer (drohenden) see-
3 Sprachstörung lischen Störung führt und hieraus eine (dro-
Eine komorbide – insbesondere rezeptive – hende) seelische Behinderung resultiert, in den
4 Sprachstörung hat eine herausragende Bedeu- Bereich der Jugendhilfemaßnahmen nach § 35a
tung für die Prognose, und eine früh einsetzende, KJHG fallen.
5 intensive Förderung ist zwingend erforder-
lich. Bei jeder Intervention müssen die sprach-
6 lichen Möglichkeiten des Kindes berücksichtigt
und die Kommunikation mit visuellen Signalen
6.3 Besonderheiten bei
ambulanter Behandlung
7 unterstützt werden. Wichtig ist der Besuch einer
Sprachheilschule, wenn in Wohnortnähe vor- Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung
handen, intensive logopädische Behandlung, des Sozialverhaltens ist eine kinder- bzw. jugend-
8 und der Einbezug der Eltern als Kotherapeuten. psychiatrische Behandlung indiziert, wenn neben
Wenn eine adäquate Behandlung im häuslichen der Störung des Sozialverhaltens eine komorbide
9 Rahmen nicht realisierbar ist oder keine geeig- psychiatrische Störung besteht.
nete Schule erreichbar ist, sollte frühzeitig eine Bei signifikantem Substanzabusus sollte die-
10 langfristige Platzierung in einer auf Sprachstö- ser das vorrangige Ziel von Interventionen in
rungen spezialisierten Einrichtung erwogen spezialisierten Beratungs- bzw. Behandlungsset-
11 werden (Beziehungsabbrüche vermeiden!). Ein tings darstellen.
komorbides Aufmerksamkeitsdefizit sollte mit Bedauerlicherweise ist ein ambulantes kogni-
12 hoher Priorität medikamentös behandelt wer-
den.
tiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsan-
gebot mit Beratung der Eltern oft nicht ausrei-
chend wirksam, wie an einer großen Inanspruch-
13 Komorbide Störung schulischer Fertigkeiten nahme-Population gezeigt wurde (Wagner et
Auch hier ist das Prinzip wichtig, dass die Pri- al. 2004). Je mehr Risikofaktoren bei Kind und
14 orität im Behandlungsplan davon bestimmt Familie vorliegen, desto stärker muss individu-
wird, in welchem Ausmaß es sich bei einer spe- alisiert gearbeitet werden und desto besser müs-
15 zifischen Entwicklungsstörung schulischer Fer- sen die verschiedenen Interventionen aufeinan-
tigkeiten um eine aufrechterhaltende Bedin- der bezogen werden.
16 gung für die Störung des Sozialverhaltens han-
delt. Vor allem bei älteren Schülern sind auch bei Home Treatment
17 günstiger Beeinflussung der Lese-, Rechtschreib-
oder Rechenstörung meist wenig direkte Effekte Definition

18 auf die Störung des Sozialverhaltens zu erwar-


ten. Bei jüngeren Kindern können jedoch spe-
Home Treatment ist eine intensivierte Form der
ambulanten Behandlung, welche als aufsuchendes
zifische Fördermaßnahmen die Gefahr von Therapieangebot im häuslichen Rahmen durchge-
19 Schulversagen als einem relevanten Risikofak- führt wird und somit Interventionen im natürlichen
tor vermindern. Fördermaßnahmen sollten Umfeld des Patienten enthält.
20 nach Möglichkeit in der Schule erfolgen, denn
gerade Eltern mit geringen Ressourcen können Diese Form der Behandlung ist nur für einen Teil
kaum eine regelmäßige außerschulische För- der Patienten geeignet und setzt gute Mitarbeit
6.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
133 6

Geeignete Interventionen bei ambulanter Behandlung

5 Immer Aufklärung und Beratung über die 5 Trennung des Kindes/Jugendlichen von
Störung des Sozialverhaltens wie auch ungünstigen Peer-Gruppen, Aufbau von
ggf. komorbide Störungen und mög- adäquaten Peer-Beziehungen mit Unter-
liche Zusammenhänge zwischen den Stö- stützung und Kontrolle durch die Eltern
rungen sowie über Risikofaktoren, Verlauf 5 Förderung der Lösung wichtiger elterlicher
und geeignete Behandlungsmöglichkeiten Probleme (ggf. Kontakt der Eltern zu Eltern-
(7 6.2.2) gruppen vermitteln, ergänzende Ehebera-
5 Durchführen von geeigneten psychosozi- tung, Beratung bei finanziellen Problemen,
alen Interventionen und – wenn erforder- Behandlung psychischer Störungen der
lich – pharmakotherapeutischen Interventi- Eltern usw.)
onen, auch bezüglich der komorbiden Stö- 5 Soziales Problemlösetraining einzeln oder
rung (unter Berücksichtigung der Spezifika in der Gruppe (7 6.2.2)
der Störung des Sozialverhaltens) 5 Wahl einer adäquate(re)n Schulform, Förde-
5 Elterntraining bei Kindern (7 6.2.2), ggf. rung der Zusammenarbeit von Eltern und
unter Berücksichtigung der Spezifika der Schule; evtl. berufsvorbereitende Maßnah-
komorbiden Störung, z. B. welche Modifika- men (7 6.2.3, 7 6.6)
tionen bei komorbider ADHS, depressiver 5 Geeignete pharmakotherapeutische Inter-
Störung oder Sprachstörung im Verhalten ventionen zur Behandlung der Störung des
der Eltern erforderlich sind Sozialverhaltens in Betracht ziehen (7 6.2.5)
5 Familientherapie bei Jugendlichen 5 Geeignete Jugendhilfemaßnahmen in
Betracht ziehen, z. B. Erziehungsberatung,
sozialpädagogische Familienhilfe, außer-
häusliche Unterbringung (7 6.6)

von Eltern und Patient voraus, kann jedoch auch auch auf den Abbau psychosozialer Belastungen
besonders geeignet sein, die Motivation einer und die Förderung von familiären Ressourcen
Familie zur Mitarbeit zu erhöhen. Durch Home zu fokussieren, da eine hohe familiäre psychoso-
Treatment konnte bei Kindern und Jugendlichen ziale Belastung prognostisch ungünstig für das
mit Störungen des Sozialverhaltens, auch bei Kind ist. Obwohl es sich beim Home Treatment
Komorbidität mit ADHS oder emotionalen Stö- um eine wirksame und vergleichsweise kosten-
rungen, die psychiatrische Symptomatik redu- günstige Behandlungsmethode für einen Teil der
ziert und eine Verbesserung der psychosozialen Patienten mit einer Störung des Sozialverhaltens
Anpassung erreicht werden (Lay et al. 2001), handelt, hat es dennoch keinen Eingang in die
wobei die Therapieeffekte auch nach mehre- etablierten kinder- und jugendpsychiatrischen
ren Jahren noch nachgewiesen werden konnten Behandlungsstrukturen gefunden.
(Mattejat et al. 2001).
Je ausgeprägter die psychosoziale Belastung Multisystemische Therapie
einer Familie ist, desto wichtiger ist es jedoch,
im Rahmen eines aufsuchenden Therapiean- Definition
gebotes nicht nur Elterntraining im häuslichen Die multisystemische Therapie (Henggeler et al.
Umfeld durchzuführen, sondern insbesondere 1996) ist ein innovativer, sehr erfolgreicher ambu-
134 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 lanter Therapieansatz, bei dem Jugendliche mit


einer ausgeprägten aggressiv-dissozialen Störung
tung für die zu erreichenden Veränderungen bei-
gemessen wird. Als sehr wichtig wird auch das
innerhalb ihres psychosozialen Umfeldes durch Identifizieren und Überwinden von Faktoren
2 familienbezogene Interventionen in Kombination angesehen, welche die Therapie sowie die Inan-
mit Case Management behandelt werden. spruchnahme von sozialen Diensten und kom-
3 munalen Hilfsangeboten behindern. Die Ver-
Dieser Ansatz wird deswegen hier vorgestellt, antwortung dafür, dass die Familie mitarbeitet,
4 weil er wichtige diagnostische und therapeu- sowie für den Behandlungserfolg insgesamt liegt
tische Prinzipien enthält, auch wenn in einem bei den Behandlern.
5 üblichen kinder- und jugendpsychiatrischen
bzw. -psychotherapeutischen Behandlungsset- Familienbezogene Interventionen
6 ting nicht in dieser Weise gearbeitet wird. Selbst psychosozial hochgradig belastete Fami-
lien werden als eine äußerst wichtige Ressour-
Theoretische Grundlagen
7 Ein Jugendlicher wird als Teil eines komplexen
ce für den Jugendlichen verstanden. Die Eltern,
die gegenüber ihrem Kind vor allem Hilflosig-
Netzwerkes von miteinander in Beziehung ste- keit, Frustration und Ärger empfinden, werden
8 henden psychosozialen Systemen (Familie, Schu- in ihrer Kompetenz und ihrem Selbstvertrauen
le, Gleichaltrige, Nachbarschaft) verstanden, im Umgang mit dem Jugendlichen gestärkt und
9 in welchem das aggressiv-dissoziale Verhalten können so positiv erlebte Verantwortung für eine
durch problematische Interaktionen innerhalb Verbesserung im Verhalten ihres Kindes über-
10 und über diese Systeme hinweg aufrechterhal- nehmen. Sie erwerben die erforderlichen Fer-
ten wird. Stationäre psychiatrische Behandlung, tigkeiten und eröffnen sich Ressourcen, um das
11 außerhäusliche Platzierung oder Inhaftierung Verhalten ihres Kindes zu kontrollieren, Grenzen
verändern diese psychosozialen Determinanten zu setzen und angemessene positive und negati-
12 aggressiv-dissozialen Handelns, zu denen der
Jugendliche irgendwann wieder zurückkehrt,
ve Konsequenzen anzuwenden sowie mit kon-
flikthaften Interaktionen in der Familie umzuge-
nicht. hen. Sie werden dazu ermutigt, die emotionale
13 Beziehung zu ihrem Kind zu verbessern, indem
! Ziel ist es, zentrale Aspekte der psychosozialen sie positive Kommunikationsangebote machen
14 Systeme, in die der Jugendliche eingebettet ist, und mehr Zeit mit ihrem Kind bei Aktivitäten
vor allem seine Familie und seine Beziehungen verbringen, die für alle angenehm sind.
15 zu anderen Jugendlichen, so zu verändern, dass Talente und Stärken des Jugendlichen wer-
nicht dissoziales, sondern prosoziales Verhalten den identifiziert, und es wird versucht, die psy-
16 gefördert wird, unter Nutzung von Stärken und chosozialen Systeme so zu verändern, dass der
Ressourcen jedes dieser Systeme. Jugendliche darin unterstützt wird. Der The-
17 Zu diesem Zweck können Interventionen in
rapeut ermutigt die Eltern, prosoziale Freizeit-
aktivitäten des Jugendlichen mit nichtdevianten

18 einem oder – häufig – mehreren dieser Systeme


erforderlich sein. Diagnostisch steht der Zusam-
Gleichaltrigen (z. B. die Teilnahme an Sport-
gruppen, aber auch jedes anderes Interesse eines
menhang zwischen Problemverhalten und sei- Jugendlichen, das dafür geeignet ist) aktiv zu
19 nem breiteren systemischen Kontext im Vor- unterstützen und seine Kontakte zu devianten
dergrund. Anhand dessen wird ein individueller Gleichaltrigen (z. B. Schulverweigerern, Dro-
20 und umfassender Interventionsplan erstellt, in genkonsumenten) zu unterbinden, auch durch
dessen Zentrum familienbezogene Interventi- negative Sanktionen. Die Eltern kontrollieren,
onen stehen, denen eine entscheidende Bedeu- wo der Jugendliche sich aufhält und mit wem er
6.3 Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
135 6

umgeht, und suchen Kontakt zu seinen Freun- individuellen Stärken und Bedürfnisse jeder ein-
den. Die Modifikation des sozialen Netzes des zelnen Familie zugeschnitten und werden unter
Jugendlichen ist von großer Bedeutung für die strategischen Punkten ausgewählt und aufein-
Aufrechterhaltung und Generalisierung der ander abgestimmt, um synergistische Effekte zu
Behandlungseffekte. Unter Umständen arbeitet maximieren; die Auswahl und Reihenfolge der
der Therapeut auch mit dem Jugendlichen selbst, Interventionen kann also von Familie zu Familie
um seine sozialen Fertigkeiten zur Abgrenzung sehr unterschiedlich sein. Der Therapeut wen-
gegen sozialen Druck durch deviante Gleichalt- det eine Anzahl empirisch fundierter Behand-
rige zu erhöhen. Weiterhin werden die Eltern lungsansätze (u. a. Elterntraining, Familienthe-
beim Entwickeln und Implementieren von Stra- rapie und kognitiv-verhaltenstherapeutische
tegien unterstützt, um das Funktionieren des Interventionen für einzelne Familienmitglieder)
Jugendlichen in Schule oder Ausbildung zu för- an; auch pharmakotherapeutische Interventi-
dern, z. B. durch das Etablieren eines regelmä- onen werden in den Behandlungsplan einbezo-
ßigen, kooperativen Informationsaustausches gen. Die meisten familien- und einzeltherapeu-
zwischen Eltern und Schule über Anwesenheit tischen Interventionen führt er selbst durch und
und Mitarbeit des Jugendlichen und durch die koordiniert – im Sinne eines Case Managements
Implementierung einer Tagesstruktur, die auch – die Inanspruchnahme anderer wichtiger sozi-
eine feste Zeit für das Nacharbeiten von Schul- aler Dienste, auch unter Aspekten der Evalua-
stoff beinhaltet. Um ein soziales Netzwerk auf- tion des tatsächlichen Nutzens für den Jugend-
zubauen, das die Eltern dabei unterstützt, diese lichen und seine Familie. Die Therapiesitzungen
Veränderungen vorzunehmen und aufrechtzu- werden zu Hause bei der Familie durchgeführt,
erhalten, werden sie zu Kontakten mit Verwand- auch abends oder am Wochenende, wenn es für
ten, Nachbarn und Freunden ermutigt. Die die Familie günstig ist. Die Vorteile dieses Vor-
Familie soll möglichst aktiv an der Behandlung gehens bestehen darin, dass die Kooperation der
mitarbeiten, und der Behandlungsplan wird in Familie erhöht wird, eine validere Einschätzung
Zusammenarbeit von Therapeut und Familien- der anzugehenden Probleme und der diesbezüg-
mitgliedern entworfen. An jedes relevante Fami- lichen Ergebnisse gelingt und dass Generalisa-
lienmitglied werden Anforderungen hinsicht- tion und Stabilität der Behandlungsergebnisse
lich verantwortlichen Handelns gestellt, auch an leichter erreicht werden können. Der Therapeut
den Jugendlichen selbst, der bestimmte Aufga- geht auch zusammen mit den Eltern in die Schu-
ben erfüllen und bestimmten Verhaltensregeln le des Jugendlichen und auf Ämter, wenn erfor-
folgen muss, und die Interventionen werden so derlich. Die Intensität der Behandlung wird den
gewählt, dass sich alle Familienmitglieder täglich Erfordernissen angepasst, mit einer Vielzahl
oder wöchentlich dafür engagieren müssen. von Kontakten pro Woche zwischen Therapeut
und Familie zu Beginn der Behandlung. Dem-
Aufbau und praktische Umsetzung entsprechend arbeitet ein Therapeut nur mit
Die multisystemische Therapie besteht nicht einer geringen Anzahl von Familien gleichzei-
aus spezifischen, für die einzelnen Therapiesit- tig. Später im Verlauf der Behandlung, die etwa
zungen festgelegten Interventionen, sondern 3–5 Monate dauert, wird die Häufigkeit der Kon-
benennt allgemeine Richtlinien für die Fallkon- takte deutlich geringer.
zeptualisierung, Spezifizierung der Behandlung
und die Priorisierung von Interventionen. Die Effektivität
Interventionen sind gegenwarts-, handlungs- Die Langzeitwirksamkeit der multisystemischen
und ressourcenorientiert und beziehen sich auf Therapie bei Jugendlichen mit erheblicher Delin-
konkrete, spezifische Probleme. Sie sind auf die quenz ist gut belegt, auch für weibliche Jugend-
136 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 liche und Jugendliche aus ethnischen Minder-


heiten sowie aus psychosozial hochgradig belas-
nicht zu viele Kinder bzw. Jugendliche mit Stö-
rungen des Sozialverhaltens enthält. Ein soziales
teten Familien. Drogenkonsum, psychische Problemlösetraining kann so mit einem grö-
2 Störungen, Kriminalitätsrate und die Anzahl ßeren Alltagsbezug durchgeführt werden, und
außerhäuslicher Platzierungen der Jugendlichen soziale Fertigkeiten können schneller aufge-
3 konnten vermindert werden. Durch verbesserte baut und stabilisiert werden. Komorbide psychia-
innerfamiliäre Beziehungen und erhöhtes elter- trische Störungen können systematischer behan-
4 liches Monitoring wurde der Kontakt der Jugend- delt werden, als dieses in einem ambulanten Set-
lichen zu devianten Gleichaltrigen vermindert, ting der Fall ist. Da Elterntraining so konkret wie
5 was wiederum zu einer Abnahme delinquenten möglich durchgeführt werden sollte, ist es güns-
Verhaltens bei den Jugendlichen führte (Huey et tig, wenn Eltern in das teilstationäre Behand-
6 al. 2000). lungssetting einbezogen und im praktischen
Umgang mit ihrem Kind angeleitet werden. Im

7 6.4 Besonderheiten bei


Rahmen einer teilstationären Behandlung kann
auch Schuldiagnostik durchgeführt werden
teilstationärer Behandlung sowie erforderlichenfalls ein spezifisches Trai-
8 ning zur Behandlung von Teilleistungsstörun-
Ein teilstationäres (tagesklinisches) Behand- gen erfolgen.
9 lungssetting ist für Patienten geeignet, die ambu-
lant nicht ausreichend behandelt werden kön- ! Je jünger ein Kind ist, desto mehr ist einer teil-
10 nen, für die aber eine vollstationäre Behand- stationären Behandlung der Vorzug vor einer
lung noch nicht oder nicht mehr erforderlich ist. vollstationären Behandlung zu geben, um es
11 Für Patienten, die nach einem stationären Klinik- nicht von seinen Bezugspersonen zu trennen.
aufenthalt noch weitere Behandlung benötigen,
12 kann eine tagesklinische Behandlung ein wich-
tiges Zwischenstadium im Rahmen einer gestuf-
Die Voraussetzungen für den Transfer in die
häusliche Situation sind günstiger, da Kind und
ten Belastungssteigerung sein. Tagsüber stehen Eltern Erlerntes zu Hause unmittelbar praktisch
13 für die Patienten alle diagnostischen und thera- erproben und modifizieren können. Wenn ein
peutischen Möglichkeiten zur Verfügung, kin- Kind von einem Elternteil gebracht und abge-
14 der- bzw. jugendpsychiatrische Behandlung inte- holt wird, kann dieses zum täglichen Informa-
griert mit sozialpädagogischer Betreuung und tionsaustausch zwischen Eltern und Behand-
15 individueller angepasster schulischer Förderung lungsteam genutzt werden.
oder Schulbesuch.
16 Voraussetzungen für die Durchführung einer
teilstationären Behandlung sind, dass kein akut 6.5 Besonderheiten bei
17 schädigendes Familienmilieu vorliegt, dass die
Entfernung zwischen Wohnort und Tagesklinik
stationärer Behandlung

18 bewältigbar ist und das Kind bzw. der Jugend-


liche durch den täglichen Wechsel zwischen
Indikationen für eine stationäre Behandlung
sind akute Eigen- oder Fremdgefährdung auf
Elternhaus und Klinik nicht überfordert wird. der Grundlage einer psychiatrischen Störung
19 Ein teilstationäres Behandlungssetting bie- zur Krisenintervention, das Vorliegen statio-
tet gegenüber einer ambulanten Behandlung den när behandlungsbedürftiger psychiatrischer
20 Vorteil eines therapeutischen Milieus, inner- Begleiterkrankungen sowie ein unzureichender
halb dessen eine Verhaltensmodifikation in der Behandlungserfolg bei weniger intensiven Inter-
Gruppe möglich ist, falls die Patientengruppe ventionen.
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
137 6

! Sie müssen der Krankenkasse nachvollzieh-


bar erklären, aus welchem Grund ein Kind oder Unabdingbar bei der stationären Auf-
Jugendlicher mit einer Störung des Sozialver- nahme von Patienten mit Störungen
haltens in einer kinder- und jugendpsychia- des Sozialverhaltens
trischen Klinik behandelt wird. Eine inhaltlich 5 Dem Kind bzw. Jugendlichen so deutlich
unzureichend (oder schlecht lesbar) ausgefüllte wie möglich das Ziel und die Abläufe der
Verlängerungsanzeige erhöht die Wahrschein- stationären Behandlung und die Erwar-
lichkeit einer Anfrage durch den Medizinischen tungen an sein Verhalten erklären
Dienst der Krankenkassen (MDK) deutlich! 5 »Spielregeln« für aggressives Verhal-
ten mit Patient und Eltern besprechen,
Gegebenenfalls kann in der Klinikschule eine Räumlichkeiten (z. B. Time-out-Raum)
gezielte Verhaltensbeobachtung unter schu- zeigen
lischer Belastung und eine Abklärung des schu- 5 Gepäck und Kleidung in Anwesenheit
lischen Leistungsstandes sowie spezifischer Pro- des Patienten kontrollieren lassen (Waf-
bleme bei schulischen Anforderungen durchge- fen, Drogen?)
führt werden. 5 Drogenscreening im Urin (u. U. auch
Bei stationär behandlungsbedürftigen Kin- schon bei älteren Kindern!); wenn indi-
dern und Jugendlichen mit Störungen des Sozi- ziert, ankündigen, dass auch während
alverhaltens wird in der Regel das Jugendamt der stationären Behandlung unangekün-
hinzugezogen, wobei auch Möglichkeiten außer- digte Screening-Untersuchungen erfol-
familiärer Platzierung in Betracht gezogen wer- gen; Absprachen treffen, welche Konse-
den sollten. quenzen ein positiver Drogenurin hat
Bereits während der stationären Behandlung 5 Schwangerschaftstest bei weiblichen
sollte nach Möglichkeit die Wiedereingliederung Jugendlichen (auch in vergleichsweise
in die Herkunftsschule oder die berufliche Reha- jungem Lebensalter)
bilitation erfolgen (7 6.6). Während der stati- 5 Erheben der Vorgeschichte aggressiven
onären Behandlung sollte – eventuell mit teil- Verhaltens, einschließlich Auslösern,
stationärer Behandlung als Übergang – eine Warnzeichen, selbstverletzendes Ver-
anschließende ambulante Behandlung, kombi- halten, auf welche Interventionen wel-
niert mit Jugendhilfemaßnahmen, eingeleitet che Response, frühere Fixierungen und
werden. Ziele der ambulanten Behandlung sind Zwangsmedikationen
es, den Behandlungserfolg zu stabilisieren und 5 Erheben von Informationen für den Fall,
auf eine erneute Verstärkung der Symptomatik dass eine Notfallmedikation erforderlich
zeitnah mit geeigneten Interventionen reagieren wird: Bestehen Kontraindikationen für
zu können. bestimmte Medikamente (somatische
Erkrankungen, erhebliche unerwünschte
Wirkungen in der Vorgeschichte)? Aktu-
elle Medikation (auch für evtl. komorbi-
de somatische Erkrankungen)? Medika-
tion mit guter Wirkung aus der Vorge-
schichte bekannt? Drogenkonsum, so
dass eine Interaktion mit der Notfallme-
dikation zu befürchten ist?
138 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Interventionen bei aggressivem Verhalten


auf der Station
wird der Betroffene in einen Raum, z. B. sein
eigenes Zimmer geschickt und dazu angehal-
Es sollte eine individuelle, mit dem Patienten ten, eine Aktivität auszuwählen und durchzu-
2 abgestimmte Abfolge von Interventionen festge- führen (z. B. Spielen, Lesen, Malen oder Basteln,
legt werden, die bei aggressivem Verhalten ein- Musik hören, ein Bad nehmen), um sich selbst
3 gesetzt werden können. Ziel ist es, dass der Pati- zu beruhigen. Hier geht es in erster Linie dar-
ent soweit wie möglich selbst dazu beiträgt, sein um, dass das Kind oder der Jugendliche lernt,
4 aggressives Verhalten zu vermindern. Dabei für sich selbst eine beruhigende Atmosphäre mit
wird er vom Behandlungsteam soweit wie erfor- einer für ihn angenehmen Tätigkeit zu schaffen.
5 derlich unterstützt. »Talking down« bedeutet, mit einem sehr ange-
spannten Patienten, der kaum noch Kontrolle
6 ! Freiheitsentziehende Maßnahmen wie Fixie-
rung sowie Zwangsmedikation dürfen ledig-
über sein Verhalten hat und unmittelbar selbst-
und/oder fremdgefährdend werden kann, auf

7 lich zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden,


wenn alle vorgeschalteten Maßnahmen ver-
eine sehr ruhige und nichtkonfrontative Weise
zu sprechen, um ihn zu beruhigen.
sagt haben.
8 Time-out
Bei allen Patienten mit aggressivem Problemver- Time-out wird bei regelverletzendem und aggres-
9 halten sollte Psychoedukation bezüglich Stress- sivem Verhalten als Entzug sozialer Verstärkung
reduktion und Ärgerkontrolle durchgeführt eingesetzt. Dieses kann mittels einer räumlichen
10 werden und die Anwendung der erlernten Fer- Separierung, z. B. auf einem Time-out-Stuhl bei
tigkeiten in vielfältigen alltäglichen Situationen jüngeren Kindern, aber auch in einem separa-
11 geübt werden. Wenn ein Kind oder Jugendli- ten, reizarmen Time-out-Raum durchgeführt
cher Warnzeichen zeigt, die aggressives Verhal- werden. Zu Beginn der Behandlung sollte dies
12 ten ankündigen (z. B. provozierendes oder dro-
hendes Verhalten, zunehmende Unruhe und
mit dem Patienten und seinen Eltern bespro-
chen und der Time-out-Raum gezeigt werden.
Anspannung), wird der Patient durch »Promp- Ebenfalls vor der Durchführung einer solchen
13 ting« (Geben von kurzen verbalen oder nonver- Intervention sollten mit dem Kind beruhigende
balen Hinweisen) darauf aufmerksam gemacht, Selbstverbalisationen erarbeitet werden und das
14 Strategien zur Problemlösung bzw. Spannungs- Kind bei Durchführung einer Time-out-Pro-
reduktion anzuwenden, nach Möglichkeit sol- zedur dazu angehalten werden, diese Selbst-
15 che, die sich in früheren Situationen bei ihm als verbalisationen einzusetzen. Wenn ein Patient
effektiv erwiesen haben. Wenn dieses zur Ver- sich im Time-out-Raum befindet, muss er kon-
16 minderung des aggressiven Verhaltens nicht tinuierlich überwacht werden. Orientierend für
ausreichend ist, wird der Patient durch aktivere die Zeitdauer einer Time-out-Maßnahme ist
17 verbale Interventionen darin unterstützt, inne-
re Spannung und Konflikte mit der Außenwelt
zunächst einmal die Anzahl der Lebensjahre des
Kindes in Minuten. Wenn das Kind sich in die-

18 ohne aggressive Ausbrüche zu bewältigen, übli-


cherweise in einer 1:1-Situation, um sein Gefühl
ser Zeit noch nicht beruhigen konnte, kann der
Time-out bis zu etwa einer halben Stunde ausge-
von Autonomie zu erhöhen und Gruppenpro- dehnt werden, jedoch nicht länger als bis zu dem
19 zesse zu minimieren. Bei überwiegend proak- Zeitpunkt, an dem das Kind sich sicher beruhigt
tiv-aggressivem Verhalten werden verbale War- hat. Wenn ein Kind im Time-out-Raum erheb-
20 nungen eingesetzt, die den Einsatz negativer lich gegen die Wände schlägt und droht, sich
Konsequenzen ankündigen, falls das aggressive selbst zu verletzen, muss die Time-out-Maßnah-
Verhalten fortgesetzt wird. Beim »Time-away« me beendet werden. In dieser Weise eingesetzte
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
139 6

Time-out-Maßnahmen sind pädagogische Maß- mal erfordert die Akuität der Situation jedoch
nahmen, keine freiheitsentziehenden Maßnah- unmittelbares Eingreifen. Andere Patienten soll-
men, und bedürfen somit keiner richterlichen ten sich nicht in dem Stationsbereich aufhal-
Genehmigung. ten, in dem die Zwangsmaßnahme durchgeführt
wird.
Festhalten Elementare Voraussetzung dafür, dass eine
Diese Intervention wird vor allem bei jüngeren solche Intervention lege artis durchgeführt wer-
Patienten eingesetzt, in der Regel durch zwei den kann, ist die Verfügbarkeit von einer aus-
Mitarbeiter des Pflegeteams, die dabei versu- reichenden Anzahl von gut ausgebildeten Mit-
chen, den Patienten verbal zu beruhigen. Güns- arbeitern. Grundsätzlich sollte eine Klinik, die
tig dafür ist die Beherrschung spezieller Festhal- freiheitsentziehende Maßnahmen durchführt,
tetechniken, die mit geringem Verletzungsrisiko mit eigenen Mitteln die Behandlung auch hoch
für alle Beteiligten durchgeführt werden kön- aggressiver Patienten gewährleisten können.
nen. Es darf nicht zu viel Druck auf den Rücken Wenn jedoch abzusehen ist, dass eine notwen-
eines auf dem Bauch liegenden Patienten ausge- dige Fixierung nicht mehr adäquat durchgeführt
übt werden, da sonst Erstickungsgefahr besteht. werden kann und mit einer Gefährdung von Pati-
Diese Methode erreicht ihre Grenzen durch Grö- ent und Mitarbeitern einhergeht, sollte Amtshil-
ße und/oder Körperkraft des Patienten. Sie soll- fe durch die Polizei angefordert werden. Wenn in
te bei Patienten mit sexuellem Missbrauch in der einer Klinik mit einer gewissen Regelmäßigkeit
Vorgeschichte nicht eingesetzt werden, eben- solche Situationen auftreten, ist die pflegerische
so wenig bei Patienten, welche die körperliche Besetzung der Stationen zu gering.
Nähe während dieser Intervention als so positiv
erleben, dass es zu einer Zunahme ihres aggres- Fixierung. Vor Durchführung einer Fixierung
siven Verhaltens kommt. sollte ein geeignetes Bett durch Anbringen von
Fixierungsgurten – in der Regel 5-Punkt-Fixie-
Zwangsmaßnahmen rung mit Bauchgurt und Fixierung aller Extre-
Erst dann, wenn bei eigen- und/oder fremdge- mitäten – in der für den Patienten geeigneten
fährdendem aggressivem Verhalten alle geeig- Größe vorbereitet werden und eine geeignete se-
neten deeskalierenden Interventionen – ein- dierende Notfallmedikation in oraler sowie in-
schließlich des Anbietens einer sedierenden tramuskulärer Applikationsform bereitgestellt
Bedarfsmedikation – erfolglos waren, werden werden. Ein Notfallkoffer zur Durchführung ei-
zur Gewährleistung der Sicherheit des Jugend- ner kardiopulmonalen Reanimation sollte un-
lichen selbst und/oder der von Dritten (Mitpa- mittelbar verfügbar sein.
tienten, Mitarbeitern) Zwangsmaßnahmen ein- Derjenige, der die Zwangsmaßnahme koor-
gesetzt. diniert und leitet (falls uneindeutig, unbedingt
vorher klären!), gibt ruhig klare, für alle Betei-
! Selbstverständlich ist hier in jedem Fall die am ligten verständliche Anweisungen. Vor dem tat-
wenigsten restriktive Maßnahme zu wählen, sächlichen Durchführen einer Fixierung erklärt
mit der dieses Ziel erreicht werden kann. Würde er dem Patienten, dass die Fixierung nun unmit-
und Autonomie des Patienten müssen gewahrt telbar bevorstehe und der Patient jetzt die letz-
werden, so weitgehend, wie es in einer solchen te Möglichkeit habe, diese durch Einnehmen der
Situation möglich ist. Medikation zu vermeiden. Anderenfalls halten
alle Mitarbeiter auf Kommando den Patienten
Überlegen Sie, ob Sie Rücksprache mit dem gleichzeitig an Armen und Beinen fest, legen
zuständigen Oberarzt halten müssen – manch- ihn mit dem Rücken auf das Bett und bringen
140 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 die Fixierungsgurte an. Wichtig ist, dass Teams


gut aufeinander eingespielt sind und sich mit
se gefährlich, einen Patienten, der schon ruhiger
wird, noch zu sedieren. Auch dem fixierten Pati-
wenigen Worten verständigen können, wer wel- enten sollte die Medikation zunächst wieder oral
2 che Handlungen durchführt. Der Kopf des Pati- angeboten werden. Lediglich dann, wenn eine
enten sollte während des Anbringens der Fixie- orale Verabreichung nicht möglich ist, ist eine
3 rung festgehalten werden, um ein Schädel-Hirn- i.m.-Gabe indiziert (Pappadopoulos et al. 2003;
Trauma oder Bisswunden zu vermeiden, aber American Academy of Child and Adolescent
4 es darf unter keinen Umständen Druck auf den Psychiatry 2002). Auch wenn in einer solchen
Hals ausgeübt werden (Erstickungsgefahr, Baro- Situation die orale Einnahme faktisch erzwun-
5 rezeptoren-Reflex mit plötzlichem Blutdruckab- gen wird, wird sie von den Patienten in der Re-
fall). Erst nach fachgerechtem, sicherem Anbrin- gel als weniger invasiv als eine Injektion erlebt.
6 gen der Fixierung dürfen die Haltegriffe gelöst
werden.
Die Resorption ist bei i.m.-Gabe meist unzuver-
lässiger als bei oraler Gabe. Günstig kann z. B.

7 Auf eine adäquate Lagerung des Patienten ist


zu achten, wobei der Kopf frei drehbar sein muss
die Gabe von Tavor expidet sein, welches sich
im Mund auflöst, so dass keine Aspirationsge-
und kein Druck auf große Blutgefäße oder ober- fahr besteht. Falls wirklich eine i.m.-Applikation
8 flächlich liegende Nerven ausgeübt werden darf. durchgeführt werden muss, sollte diese tatsäch-
Weiterhin muss jede anhand der Kleidung gege- lich intramuskulär und nicht subkutan durchge-
9 bene Möglichkeit für eigengefährdendes Ver- führt werden (vor allem bei übergewichtigen Pa-
halten des Patienten in der Fixierung unterbun- tienten ist auf eine ausreichende Länge der Ka-
10 den werden. Minimal erforderlich ist das Leeren nüle zu achten!). Viele Medikamente – insbeson-
der Taschen aller Kleidungsstücke (Taschenmes- dere Neuroleptika – haben parenteral mehr Ne-
11 ser, Feuerzeug!), Ausziehen der Schuhe und das benwirkungen (z. B. Blutdruckabfall bei Levo-
Entfernen von Gürtel und Schmuck sowie von mepromazin, akute Dystonie bei Haloperidol)
12 allen Kleidungsstücken, die sich am Hals zuzie-
hen könnten.
als oral (Pappadopoulos et al. 2003). Ein Pati-
ent, der sich gegen eine i.v.-Injektion zur Wehr
Fixierte Patienten müssen kontinuierlich setzt, hat selbst in einer Fixierung meist noch so-
13 überwacht werden, erst recht bei Gabe einer viel Bewegungsfreiheit, dass die Gefahr einer pa-
Medikation, jedoch unter Umständen nicht ranvenösen Applikation besteht.
14 durch eine Person direkt im Zimmer, wenn Vitalparameter, Medikamentenwirkungen
dieses vom Patienten als zusätzliche Provokati- und -nebenwirkungen müssen engmaschig
15 on empfunden wird, sondern mittels Sichtfens- kontrolliert werden. Unter bestimmten Bedin-
ter mit Sicherheitsglas oder evtl. Kamera. Wenn gungen kann auch eine Zwangsmedikation ohne
16 der Patient sich beruhigt hat und schläft oder das Durchführen einer Fixierung indiziert sein;
aber wieder absprachefähig ist, ist die Fixierung dieses setzt jedoch voraus, dass das aggressive
17 zu beenden. Es sollte immer unmittelbar nach
Anbringen der Fixierung ein Fixierungsproto-
Verhalten des Patienten in dem Zeitraum bis
zum Eintreten einer suffizienten sedierenden

18 koll zur präzisen Dokumentation der Maßnah-


me angelegt werden.
Wirkung auf andere Weise hinreichend kontrol-
liert werden kann.

19 Sedierung. Wenn ein Patient längere Zeit fixiert ! Die Eltern müssen umgehend über die Zwangs-
werden muss, weil der zur Fixierung führende maßnahme informiert werden. Sofern nicht
20 aggressive Erregungszustand weiterhin anhält, bereits vor Durchführung der Zwangsmaßnah-
ist eine medikamentöse Sedierung erforderlich. me (Fixierung und/oder Zwangsmedikation)
Es ist jedoch wenig sinnvoll und möglicherwei- ein Unterbringungsbeschluss bestand, ist diese
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
141 6

auch bei einmaligem Vorkommen nachträglich nes aggressiven Verhaltens zu verstehen. Die
einer richterlichen Prüfung zu unterziehen. Gewichtung dieser unterschiedlichen Aspekte
ist jeweils gut auszubalancieren und individuell
Wenn der Patient zur Ruhe gekommen ist und auf den Patienten abzustimmen. Das Verhalten
wieder Kontrolle über sein Verhalten hat, soll- des Behandlungsteams im Anschluss an einen
te der Vorfall mit ihm nachbesprochen und eine solchen Vorfall ist sehr entscheidend dafür, wie
Verhaltensanalyse durchgeführt werden, unter der Betroffene den Vorfall verarbeitet. Auch
Einnahme einer sachlichen und neutralen Hal- mit den anderen Patienten in der Station soll-
tung, so dass der Patient sich nicht (zusätzlich) ten grundsätzliche Aspekte solcher Situationen
gedemütigt fühlt. besprochen werden, um ihnen eine realitätsnahe
Wie bei allen aggressiven Vorfällen, die zur Sichtweise des Geschehenen zu ermöglichen.
Schädigung anderer Menschen oder zur Des- Im Team muss das Procedere, einschließlich der
truktion von Gegenständen führen, ist die Wie- vorausgehenden deeskalierenden Maßnahmen,
dergutmachung entstandener Schäden durch evaluiert werden.
den Patienten als natürliche Konsequenz sei-

Exkurs
Empfehlungen für das Procedere, falls ein 5 Auch Glas der höchsten Sicherheitsstufe
Patient sich in einem Raum verbarrika- (sog. »Panzerglas«) kann durch hoch erregte
diert Jugendliche, selbst wenn sie körperlich
5 Es sollte vermieden werden, dass es über- wenig kräftig sind, zerstört werden, wenn
haupt soweit kommt. In den Räumlich- sie oft genug immer wieder auf die glei-
keiten insbesondere einer geschlossenen che Stelle schlagen. Besteht Eigengefähr-
Station sollte sich kein Mobiliar befinden, dung (wenn das Zimmer oberhalb des Erd-
welches dazu eingesetzt werden kann, eine geschosses liegt, ist diese bei einem hoch
Zimmertür zu versperren. erregten Patienten wahrscheinlich gege-
5 Wenn mit hinreichender Wahrscheinlich- ben!), rufen Sie rechtzeitig die Feuerwehr,
keit davon ausgegangen werden kann, um die Tür aufbrechen zu lassen! Hat das
dass keine Eigengefährdung vorliegt, kann Glas erst einmal Sprünge, hält es höchstens
zunächst abgewartet werden. noch wenige Minuten. Bitten Sie darum,
5 Bei Hinweis auf Eigengefährdung muss ver- dass sich der Einsatzwagen ohne Martins-
sucht werden, den Patient dazu zu bringen, horn dem Einsatzort nähert, da sonst Angst
die Tür zu öffnen. Das Fenster sollte nach und Wut des Patienten noch verstärkt wer-
Möglichkeit von außen gesichert werden. den können!
5 Bestehen konkrete Hinweise auf Eigenge- 5 Veranlassen Sie, dass die anderen Patienten
fährdung, muss versucht werden, notfalls vom Einsatzort ferngehalten werden und
auch unter Anwendung von Gewalt, die Tür sich nicht von der Station entfernen, wenn
zu öffnen. die Einsatzkräfte in die Station hineingelas-
sen werden.
5 Seien Sie darauf vorbereitet, dass Sie es
nach Öffnen der Tür mit einem Patienten im
Ausnahmezustand zu tun haben, der maxi-
mal erregt und aggressiv oder körperlich
und psychisch völlig erschöpft ist.
142 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Notfallmedikation bei aggressiven Erregungszuständen

2 Lorazepam (Tavor) 5 Schnelle Anflutung der medikamentösen


5 Oral schnelle und fast vollständige Resorp- Wirkung; bei Einmalgabe nur kurz dau-
3 tion (i.v.-Injektion nur sehr langsam durch- ernde Wirkung, bei wiederholter Gabe
führen, Gefahr von Blutdruckabfall und Kumulationsgefahr! (aktive Metaboliten mit

4 Atemdepression); gut steuerbar (keine


aktiven Metaboliten, keine Interaktionen
sehr langer Halbwertszeit)
5 Bei akuter Überdosierung: Schwindel, Dys-

5
bei der Elimination) arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der
5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungs- motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche,
zustand: 1 mg, möglichst oral Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kon-
6 5 Lyophilisierte Plättchen (Tavor expidet trolle der Vitalparameter
1 mg, 2,5 mg), lösen sich bei Kontakt mit 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit
7 Flüssigkeit auf, kein Zurückhalten des Medi- Angst, Agitiertheit und Erregungszustän-
kamentes im Mund möglich den auch unter üblichen Dosen möglich
8 5 Bei unzureichender Wirkung Wiederholung 5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen
nach 30 Minuten möglich (jedoch Vorsicht: zentral wirksamen Substanzen; Ausnahme:
9 maximale Plasmakonzentration erst nach Mittel der Wahl beim komplizierten Halluzi-
1–2 Stunden) nogenrausch (»Horrortrip«)
5 Bei akuter Überdosierung: Schwindel, Dys-
10 arthrie, Ataxie, Apathie, Verlangsamung der Levomepromazin (Neurocil)
motorischen Abläufe, muskuläre Schwäche, 5 Übliche Dosis bei aggressiven Erregungs-
11 Doppelbilder; falls Somnolenz eintritt, Kon- zuständen älterer Kinder und Jugendlicher:
trolle der Vitalparameter 25 mg oral oder i.m. (tiefe intramuskuläre
12 5 Paradoxe Disinhibitionsphänomene mit Gabe!)
Angst, Agitiertheit und Erregungszustän- 5 Maximale Plasmakonzentration: oral nach
13 den auch unter üblichen Dosen möglich 2–3 Stunden, i.m. nach 30–90 Minuten
5 Nicht bei akuter Intoxikation mit anderen 5 Möglichst keine i.v.-Gabe (bei paravenöser
14 zentral wirksamen Substanzen oder intraarterieller Injektion Gewebeschä-
5 Anwendung auf Einzelgaben oder auf den bis zum Totalverlust der betreffenden

15 wenige Tage beschränken (Gefahr der


Abhängigkeitsentwicklung)
Extremität); wenn doch, Venen außerhalb
der Ellenbeuge verwenden; nur langsam

16
und nach Verdünnung auf 1:10 injizieren
5 Nebenwirkungen: orthostatische Hypotonie
Diazepam (Valium)
(kann sehr ausgeprägt sein, besonders nach
17 5 Übliche Initialdosis bei akutem Erregungs-
zustand: 5–10 mg oral, i.m. oder i.v.
parenteraler Gabe, evtl. stundenlang!), Tachy-
kardie, Verlängerung der QTc-Zeit, Obstipa-
5 Oral: schnelle Resorption, maximale Plas-
18 makonzentration nach etwa 1 Stunde; rek-
tion, Ileus, Harnverhalt, Akkommodations-
störung, Glaukomanfall, epileptische Anfälle,
tal: schnelle Resorption, aber unzuverläs-
19 siger; i.m.-Injektion: unsichere, stark vari-
cholestatische Hepatitis, Blutdyskrasien, aller-
gische Hautreaktionen; erst bei hohen Dosen
ierende Resorption; i.v.-Injektion: nur sehr
20 langsam durchführen, Gefahr von Blut-
extrapyramidalmotorische Symptome, Delir;
selten: malignes neuroleptisches Syndrom
druckabfall und Atemdepression
6
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
143 6

5 Injektionslösung enthält Sulfit (selten, vor – Niedrig-potentes Neuroleptikum zur


allem bei Asthmapatienten, Überempfind- Sedierung (jedoch nicht bei einem anti-
lichkeitsreaktionen: keuchende Atmung, cholinergen Delir, da Verstärkung der
Asthmaanfall, Erbrechen, Durchfall, anticholinergen Wirkung; dann Halope-
Bewusstseinsstörungen, Schock) ridol)
5 Bei Kombination mit anderen zentral – Nach Möglichkeit keine Benzodiaze-
dämpfenden Substanzen: verstärkt Sedie- pine, außer bei Delir durch Alkoholent-
rung und Atemdepression zug oder Entzug von Sedativa/Hypno-
5 Bei Kombination mit anderen anticholiner- tika sowie bei Delir durch Intoxikation
gen Substanzen: Gefahr eines anticholiner- mit psychotropen Substanzen
gen Delirs – Beim anticholinergen Delir: Sofor-
5 Kontraindikation: Blutdyskrasie aktuell oder tiges Absetzen anticholinerger Phar-
in der Vorgeschichte (Gefahr der Agranulo- maka (nur unter intensivmedizinischen
zytose) Bedingungen: sehr langsame i.v.-Injek-
tion von Physostigmin, einem Blut-
Pipamperon (Dipiperon) Hirn-Schranken-gängigen Cholinestera-
5 Niedrig-potentes Neuroleptikum sehemmer; aufgrund der kurzen Halb-
5 Ausschließlich oral anwendbar (Tabletten, wertszeit von ca. 30 Minuten kann die
Saft); Kinder <10 Jahre: ca. 0,5–1,0 mg/kg delirante Symptomatik wieder auftre-
Körpergewicht, bei älteren Kindern etwa ten und eine erneute Gabe von Phy-
20–40 mg pro Einzelgabe sostigmin erfordern; Kontraindikation:
5 Relevante Nebenwirkungen: Harnverhalt, Asthma bronchiale)
orthostatische Hypotonie, Tachykardie, epi-
leptische Anfälle, allergische Hautreakti- Behandlung akuter extrapyramidal-
onen motorischer Symptome
5 Zungen-Schlund-Krämpfe können lebens-
Behandlung eines deliranten Syndroms bedrohlich sein! Biperiden (Akineton) i.v.!
Delirante Syndrome sind potenziell lebens- Langsam zunächst 5 mg i.v. geben, bei
bedrohlich; eine kontinuierliche medizinische unzureichender Wirkung nach wenigen
Überwachung ist dringend geboten (Vitalpa- Minuten wiederholen!
rameter, EKG, Elektrolyte, Leber- und Nieren- 5 In einer akuten Situation keinesfalls erst
werte). orale Gabe von Akineton, denn der Wir-
5 Kausale Behandlung: Behandlung der kungseintritt erfolgt zu langsam. Muss
zugrunde liegenden Störung, aber nicht man im Anschluss an eine orale Gabe noch
selten multifaktorielle Verursachung eine i.v.-Injektion durchführen, besteht die
5 Symptomatische Behandlung: Gefahr einer Kumulation anticholinerger
– Hoch-potentes Neuroleptikum (z. B. Effekte!
Haloperidol) in niedriger Dosierung zur 5 Achtung: Oft hat Akineton eine kürzere
Kontrolle von Agitation und Halluzina- Halbwertszeit als das Neuroleptikum, so
tionen dass die Gabe – unter Umständen mehr-
mals – wiederholt werden muss.
144 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Notfallmedikation bei aggressiven


Erregungszuständen
derlich ist. Eine solche Unterbringung nach
§ 1631b BGB kann weniger problematisch
Benzodiazepine können vor allem bei Kin- für die weitere Entwicklung eines Jugend-
2 dern paradoxe Reaktionen auslösen, dann sind lichen sein als ein Freiheitsentzug nach den
niedrig-potente Neuroleptika (z. B. Pipampe- Unterbringungsgesetzen der Länder, u. a.
3 ron, Levomepromazin) besser geeignet. Eine weil durch letzteres Vorgehen der Zugang zu
Kombination mehrerer niedrig-potenter Neu- manchen Berufen (Polizei, Militär, Verbe-
4 roleptika ist nicht sinnvoll und kann aufgrund amtung) eingeschränkt wird. Nach § 1631b
unberechenbarer Interaktionen gefährlich sein. BGB müssen jedoch grundsätzlich vor
5 Inzwischen liegen atypische Neuroleptika als Beginn der freiheitsentziehenden Unterbrin-
Präparationen zur i.m.-Injektion vor; da bislang gung der Antrag der Sorgeberechtigten beim
6 jedoch kaum Erfahrungen damit verfügbar sind,
kann ihre Anwendung bei Kindern und Jugend-
Familiengericht, die Erstellung eines ärzt-
lichen Zeugnisses, die richterliche Anhö-

7 lichen derzeit nicht empfohlen werden. rung des Minderjährigen sowie des Jugend-
amtes und der richterliche Beschluss erfol-
Rechtliche Grundlagen gen. Auch wenn in Ausnahmefällen nach
8 freiheitsentziehender Maßnahmen § 1631b Satz 2 BGB die Unterbringung ohne
Eine Unterbringung Minderjähriger mit frei- richterliche Zustimmung gestattet ist – wel-
9 heitsentziehenden Maßnahmen, die sog. che jedoch unverzüglich, unter Heranzie-
geschlossene Unterbringung, greift massiv in hen der Fristenregelung nach Art. 104 Abs. 2
10 deren Persönlichkeitsrechte ein und darf somit GG spätestens nach 48 Stunden, einzuho-
ausschließlich dann durchgeführt werden, wenn len ist (Schlink u. Schattenfroh 2001) – kann
11 ausreichender Schutz sowie notwendige Hil- das vom Gesetzgeber in § 1631b BGB grund-
fe in einem offenen Setting nicht zu gewährleis- sätzlich vorgesehene Procedere der Dyna-
12 ten sind. Für die geschlossene Unterbringung in
einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik
mik einer Situation, die eine Kriseninter-
vention aufgrund von akuter Eigen- und/
gibt es zwei verschiedene gesetzliche Grundla- oder Fremdgefährdung erfordert, häufig
13 gen: nicht gerecht werden. Im Gegensatz zu einer
5 Nach den Landesunterbringungsgesetzen für Unterbringung nach den Landesunterbrin-
14 psychisch Kranke (UBG, PsychKG) ist das gungsgesetzen für psychisch Kranke ist für
Ziel der öffentlich-rechtlichen geschlossenen eine Unterbringung nach § 1631b BGB nicht
15 Unterbringung die Gefahrenabwendung relevant, ob diese überwiegend psychiatrisch
sowie die Behandlung des Betroffenen bei oder überwiegend pädagogisch begründet
16 konkreter Gefährdung der eigenen Person, wird, und sie kann auch in einer geschlos-
anderer Personen oder erheblicher Rechts- senen Einrichtung der Jugendhilfe durchge-
17 güter anderer aufgrund einer akuten psychia-
trischen Störung. Sie kann auch gegen den
führt werden.

18 Willen der Erziehungsberechtigten erfolgen


und fällt in die Zuständigkeit der Vormund-
Für beide gerichtlichen Verfahren, sowohl zur
Anordnung (Unterbringungsgesetze) als auch
schaftsgerichte. zur Genehmigung (§ 1631b BGB) freiheitsentzie-
19 5 Nach § 1631b BGB kann durch einen Fami- hender Maßnahmen, gelten die gesetzlichen Ver-
lienrichter eine zivilrechtliche Genehmi- fahrensvorschriften der §§ 70–70n FGG, welche
20 gung zur Unterbringung mit Freiheitsentzug den betroffenen Minderjährigen umfassende
nur dann erteilt werden, wenn dieses zum Partizipationsrechte einräumen. Eine geschlos-
Wohl des betroffenen Minderjährigen erfor- sene Unterbringung aufgrund einer kinder-/
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
145 6

jugendpsychiatrischen Erkrankung ist meist nen von Armen und Beinen lässt sich unauffällig
nur für einen Zeitraum von wenigen Wochen während der Exploration durchführen. Setzen
erforderlich; wenn dagegen bei Jugendlichen Sie sich nicht genau gegenüber dem Patienten
mit hochgradig stabilem aggressiv-dissozialem hin, sondern etwas seitlich versetzt, nehmen Sie
Verhalten und geringer Bindungsfähigkeit eine regelmäßig kurz Blickkontakt auf, aber sehen Sie
Unterbringung in einer geschlossenen Einrich- ihn nicht zu viel oder zu lange direkt an (»nicht
tung der Jugendhilfe notwendig erscheint, wird zu viel eigene Energie auf den Patienten rich-
dieses meist für einen deutlich längeren Zeit- ten!«). Vermeiden Sie schnelle und raumgrei-
raum (von in der Regel mehreren Monaten) fende Bewegungen. Erklären Sie dem Patienten
empfohlen. Dieses spiegelt sich auch in Ausführ- jeweils kurz, was Sie tun, auch wenn Sie banale
lichkeit und Detailliertheit der jeweiligen Unter- Handlungen ausführen (z. B. ein Formular
bringungsgutachten wider. holen, den Pieper beantworten usw.). Stellen Sie
Therapeutisch-pädagogisch begründete Ein- eine »Arbeitsbeziehung« her, seien Sie ruhig und
schränkungen wie Ausgangsregelungen oder sachlich. Vermeiden Sie bei einem sehr ange-
ein störungsbedingt eingeschränkter Zugang zu spannten Patienten nach Möglichkeit konfronta-
bestimmten Räumlichkeiten stellen keine frei- tive Themen, sobald Sie ausreichend Informati-
heitsentziehenden Maßnahmen dar. onen haben, um die aktuelle Situation zu bewäl-
tigen. Wenn Sie merken, dass der Patient unter
Umgang mit akut-aggressiven Patienten Spannung gerät, lenken Sie das Gespräch auf ein
anderes Thema. Falls Sie in der Situation beun-
! Beim Umgang mit aggressiven Patienten soll- ruhigt sind und der Patient Sie darauf anspricht,
ten Sie stets auch Ihre eigene Sicherheit streiten Sie es nicht ab, sondern räumen Sie es in
berücksichtigen! Wenn Sie sich in einer Situa- sachlichem Tonfall ein.
tion physisch gefährdet fühlen, sollten Sie die- Achten Sie darauf, dass Sie den Explorati-
se verändern! onsraum schnell verlassen können; setzen Sie
sich jedoch so hin, dass sich der Patient durch
Wenn der Arzt ein sicheres Setting herstellt, Sie nicht eingeengt fühlt. Der Explorations-
kann das auch zur Entspannung des Patienten raum sollte keine Gegenstände enthalten, die als
beitragen. Ängstliche – wie auch konfrontativ Wurfgeschoss oder Stichwaffe benutzt werden
auftretende – Ärzte werden mit einer höheren können. Der Raum sollte so gelegen sein, dass
Wahrscheinlichkeit angegriffen. Zu einem ange- andere Mitarbeiter Ihnen schnell zur Hilfe kom-
spannten und aggressiven Patienten sollte eine men können. Falls es ein Alarmsystem gibt, soll-
ausreichende körperliche Distanz gewahrt wer- ten Sie sich mit der Position des Knopfes so ver-
den, nicht nur im Interesse der eigenen Sicher- traut machen, dass Sie ihn ohne Hinsehen oder
heit, sondern vor allem deswegen, weil der Pati- gar Suchen betätigen können. Es sollten regel-
ent eine zu geringe körperliche Distanz als mäßige Übungen stattfinden, zur Überprüfung
bedrohlich erleben könnte. Man sollte sich sei- der technischen Funktionsfähigkeit und um zu
ner eigenen emotionalen Reaktionen und sei- gewährleisten, dass jeder Mitarbeiter weiß, was
ner Verhaltensweisen in einer solchen Situati- im Alarmfall zu tun ist.
on gewahr sein. Vorsicht ist gut, Angst eher hin- Es kann günstig sein, wenn der Patient
derlich. Eine entspannte Körperhaltung beruhigt Sie nicht nur als anonymen Funktionsträger
Sie selbst und den Patienten (jedoch so, dass wahrnimmt, aber bleiben Sie sachlich. Gera-
man beweglich bleibt und erforderlichenfalls de Jugendliche fühlen sich sonst eventuell nicht
schnell Distanz zwischen sich und den Patienten ernst genommen. Sie können beispielsweise
bringen kann). Bewusst ausatmen und Entspan- sagen, dass Sie etwas müde sind und sich einen
146 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Kaffee holen wollen, und ihm dann auch etwas


zu trinken anbieten (Plastik- oder Papierbecher;
Dilemma: Einerseits möchten Sie niemanden in
einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik
keine Flüssigkeit, die so heiß ist, dass sie zu Ver- stationär aufnehmen, dessen aggressives Ver-
2 brühungen führen könnte). Tatsächlich können halten nicht einer psychiatrischen Intervention
Patienten mit ADHS durch Kaffee ruhiger oder bedarf. Andererseits können Sie bei einem akut-
3 zumindest fokussierter werden. aggressiven, angespannten Patienten kaum aus-
Wenn Sie eine heikle Situation dadurch ent- schließen, auch nicht durch eine längere psych-
4 spannen können, dass Sie dem Patienten erlau- iatrische Exploration, dass nicht doch z. B. eine
ben zu rauchen, dürfen Sie das Jugendschutz- Intoxikation, ein psychotisches oder delirantes
5 gesetz (in öffentlichen Räumen ist das Rauchen Bild vorliegt. Und selbst wenn keine psychia-
erst ab 16 Jahren erlaubt) sowie die Stationsre- trische Ursache des aggressiven Verhaltens zu
6 geln ruhig ignorieren (jedoch nicht in Räumen
mit Rauchmelder!). In solchen Situationen hat
finden ist, Sie den Patienten dementsprechend
wieder gehen lassen und es dann im zeitlichen

7 die unmittelbare physische Sicherheit aller Betei-


ligten absoluten Vorrang. Gerade aggressiv-dis-
Zusammenhang mit der Vorstellung bei Ihnen
zu erheblichen fremdaggressiven Handlungen
soziale Jugendliche mit ADHS rauchen häu- kommt, ist das unerfreulich.
8 fig, und durch Nikotinentzug kann ein ohnehin
schon gespannter und aggressiver Jugendlicher ! Nur wenn das aggressive Verhalten des Jugend-
9 noch explosiver werden. lichen klar situativ gebunden oder personen-
Wenn Sie mit dem Patienten in einen ande- bezogen aufgetreten ist und er bei Ihnen ruhig
10 ren Raum gehen, gehen Sie neben ihm, nicht und absprachefähig ist, wenn Sie keinerlei aku-
vor ihm, und achten Sie auf seine Bewegungen. te psychiatrische oder somatische Störung
11 Wenn Sie mit ihm in ein anderes Stockwerk erkennen können und Sie den Jugendlichen
gehen müssen, benutzen Sie nicht den Aufzug, in die Obhut eines Ihnen zuverlässig erschei-

12 sondern die Treppe. Halten Sie ausreichend


Abstand. Wenn Sie sich unsicher fühlen, lassen
nenden Erwachsenen unmittelbar übergeben
können, können Sie den Jugendlichen – nach
Sie sich von einem Mitarbeiter begleiten. Rücksprache mit dem Dienst habenden Ober-
13 Falls Sie unmittelbar körperlich bedroht wer- arzt! – gehen lassen.
den und sich nicht in Sicherheit bringen kön-
14 nen, versuchen Sie, auf eine für den Patienten Oft bleibt Ihnen aber nachts nichts anderes übrig,
unerwartete, aber nicht bedrohliche Weise zu als einen aggressiven Jugendlichen, der Ihnen als
15 reagieren. Selbst wenn Sie Selbstverteidigungs- Notfall vorgestellt wird, aufzunehmen.
techniken beherrschen, ist es um ein Vielfaches
16 besser, wenn Sie vermeiden, diese anwen- ! Machen Sie in jedem Fall absolut deutlich, dass
den zu müssen. Im Zweifelsfall wird Ihnen ein es sich hierbei lediglich um eine Kriseninter-

17 gespannter und aggressiver Jugendlicher, der


möglicherweise seinerseits Kampfsport betreibt,
vention handelt, die so kurz wie möglich gehal-
ten wird und wahrscheinlich am nächsten Tag

18 sehr wahrscheinlich überlegen sein. bereits wieder zu Ende sein wird.

Vorstellung akut-aggressiver Patienten im Wenn Ihnen ein Patient telefonisch angemeldet


19 Dienst wird, versuchen Sie, möglichst viele Informati-
Wenn Ihnen im Dienst ein fremdaggressiver onen von der anmeldenden Person zu bekom-
20 Jugendlicher vorgestellt wird, stehen Sie – selbst men. Überprüfen Sie, ob der Patient bereits ein-
wenn der Patient mit der Diagnose einer Störung mal in der Klinik in Behandlung war, und versu-
des Sozialverhaltens bekannt ist – vor folgendem
6.5 Besonderheiten bei stationärer Behandlung
147 6

chen Sie, relevante Informationen der Daten- te des Erstkontaktes an möglichst genau (aber
bank oder der Akte zu entnehmen. unauffällig) anschauen und auf sich wirken las-
Versuchen Sie ebenso von den Personen, sen, weil Sie hieraus bereits wesentliche Hinwei-
die den Patienten in die Klinik bringen, mög- se auf eine mögliche organische Genese gewin-
lichst viel Information über die Umstände, die nen können. Sobald Sie denken, dass eine orga-
zur aktuellen Vorstellung bei Ihnen geführt nische Genese vorliegen könnte, haben Sie keine
haben, zu erhalten. Wenn ein Jugendlicher in Wahl! Erklären Sie, was Sie tun. Beschränken Sie
Begleitung seiner Betreuungspersonen kommt, sich auf das Erheben der körperlichen Untersu-
ist es unter Umständen günstiger, erst mit dem chungsbefunde, die für Sie unverzichtbar sind.
Jugendlichen allein zu sprechen. Im Nachtdienst geht es nur darum, den Pati-
Achten Sie aufmerksam auf den Patienten: enten sicher über die Nacht zu bringen – darü-
5 Äußeres, Kleidung, Zeichen von Verwahr- ber hinausgehender Ehrgeiz ist nicht nur unnö-
losung? tig, sondern manchmal auch schädlich. Wenn
5 Geruch nach Alkohol? der Patient aufgebracht verlangt, dass etwas jetzt
5 Schwitzen oder Frösteln? unbedingt geregelt werden müsse, oder er unbe-
5 Unsicherer Gang? dingt mit jemandem sprechen will, Sie jedoch
5 Ängstliches, misstrauisches Verhalten? den Eindruck haben, dass es ihn noch weiter
5 Achtet er auf seine Umgebung? aufbringen würde, erklären Sie sachlich, dass es
5 Wie nimmt er Kontakt zu Ihnen auf? Abend/Nacht ist und deswegen jetzt nicht geht,
5 Wie zeigt er sich im Gespräch? Abgelenkt, aber dass am nächsten Tag alles geklärt werden
perseverierend, verwirrt? Hat er Mühe, dem wird (jedoch nach Möglichkeit keine Verspre-
zu folgen? Ist er assoziativ gelockert oder chungen machen, die der Tagdienst nicht ein-
inkohärent im Gedankengang? lösen kann, es sei denn, Sie haben wirklich kei-
5 Wird wahnhaftes Erleben deutlich? Bejaht ne andere Wahl!). Natürlich müssen Sie die Sor-
er das Erleben von Halluzinationen, oder geberechtigten informieren, aber wenn Sie den
gewinnen Sie aus seinem Verhalten diesen Eindruck haben, dass es die Situation erschwe-
Eindruck? ren könnte, versuchen Sie, die Sorgeberechtigten
von einem Kontaktversuch abzubringen. Auch
Die wichtigsten Differenzialdiagnosen in einer hier gilt: Es kann alles am nächsten Tag geregelt
solchen klinischen Situation sind das Vorliegen werden.
einer hirnorganischen Störung, einer Intoxika-
tion sowie einer akuten Psychose. Hier ist kli-
nisches Wissen bezüglich psychiatrischer Dif-
ferenzialdiagnostik und somatischer Ursachen
aggressiven Verhaltens (z. B. zerebrale Infektion,
Intoxikation) unverzichtbar (7 5.3).
Die Frage, ob man bei einem akut-aggres-
siven Patienten eine körperliche Untersuchung
durchführt, ist ein Dilemma: Tut man es nicht,
kann man etwas Wichtiges übersehen, z. B.
Hinweise auf eine organische Genese des aktu-
ellen aggressiven Bildes, andererseits kann es
auch den Patienten provozieren und die Situa-
tion endgültig zum Eskalieren bringen. Deswe-
gen sollten Sie sich den Patienten von der Minu-
148 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 Allgemeine Empfehlungen für den Bereit- 5 Wenn Ihnen ein hochaggressiver Patient
schaftsdienst in Handfesseln von Polizeibeamten vorge-
2 5 Tragen Sie im Dienst keine Kleidung, stellt wird, prüfen Sie sehr kritisch, ob Sie
Schuhe oder Schmuck, die Sie unbeweg- die Handfesseln öffnen lassen, denn dieses
3 lich machen oder gefährden (Halstücher kann von den Polizeibeamten als Signal
können zum Würgen benutzt werden; interpretiert werden, dass ihr Einsatz erfolg-

4 Schmuck, insbesondere Ohrschmuck, kann


zu unangenehmen Verletzungen führen).
reich beendet ist. Bitten Sie die Beamten
in jedem Fall darum, noch in der Nähe zu

5 Während der Exploration hochaggressiver bleiben. (Sollte der Patient erneut aggres-
Patienten kann es ratsam sein, für diesen siv werden und wiederum das Anlegen
Zeitraum keine Brille zu tragen. von Handfesseln erforderlich werden, neh-
6 5 Überschätzen Sie sich selbst nicht, ein auf- men Sie die kritischen Kommentare bezüg-
gebrachter Patient ist immer wacher und lich Ihrer Fehleinschätzung mit Gelassen-
7 energiegeladener als Sie selbst! heit hin.)
5 Hören Sie auf die Ratschläge von erfah- 5 Grundsätzlich ist es Aufgabe der Klinik, mit
8 renen Mitarbeitern des Pflegedienstes! Im eigenen Mitteln auch den Umgang mit
Nachtdienst gilt noch mehr als tagsüber, hochaggressiven Patienten zu gewährleis-
9 dass alle »an einem Strang ziehen« müssen. ten. Wenn jedoch abzusehen ist, dass auf-
grund besonderer Umstände (z. B. hocher-

10 Empfehlungen für den Umgang mit


der Polizei
regter Patient mit 100 kg Gewicht und einem
schwarzen Gürtel im Thai-Boxen) eine not-
5 Wenn Sie »die Polizei« anrufen, vergessen wendige Fixierung nicht adäquat durch-
11 Sie in der Aufregung nicht, sich den Namen geführt werden kann und mit einer erheb-
des Polizeibeamten, mit dem Sie sprechen, lichen Gefährdung von Mitarbeitern und
12 nennen zu lassen und zu notieren. Dieses Patient zu rechnen ist, fordern Sie Amtshil-
hilft Ihnen, wenn Sie sich in der gleichen fe durch die Polizei an. Dieses wird natürlich
13 Angelegenheit noch einmal an die Polizei von der Polizei nicht gern gesehen und soll-
wenden müssen. te sehr restriktiv gehandhabt werden.
14 5 Bescheinigen Sie niemals die Haftfähig- 5 Wenn Sie Amtshilfe anfordern, sorgen Sie
keit eines Patienten, der Ihnen von Polizei- dafür, dass die Polizeibeamten ihre Dienst-

15 beamten im Dienst vorgestellt wird. Der


Patient könnte z. B. ein Schädel-Hirn-Trau-
waffen vor dem Betreten der geschlos-
senen Station in Gewahrsam geben. Poli-

16 ma, eine innere Blutung, eine noch zuneh- zeibeamten trennen sich nicht gern von
mende Intoxikation usw. haben. Die Prü- ihren Dienstwaffen, aber Sie werden noch
fung der Haftfähigkeit ist Aufgabe des Poli- weniger gern sehen, dass geladene Waf-
17 zeiarztes. fen in eine geschlossene Station mitgenom-
men werden, die sich in Ihrer Verantwortung
18 befindet!

6
19
20
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
149 6

5 Wenn ein Patient abgängig ist, bei dem 5 Seien Sie höflich und freundlich im Umgang
eine Eigengefährdung angenommen wer- mit den Polizeibeamten. »Nachts sitzen alle
den muss (nicht nur bei Suizidalität, sondern in einem Boot«, und die nächste Situation,
auch, wenn er »hilflos« ist, z. B. verwirrt, hoch- in der Sie Amtshilfe durch die Polizei benöti-
gradig erregt, oder auch bei sehr kalter Wit- gen, kommt bestimmt.
terung unzureichend bekleidet), zögern Sie
nicht, den Patienten durch die Polizei suchen
zu lassen. Sie sollten den Polizeibeamten eine
möglichst genaue Personenbeschreibung
geben, unter Angabe der aktuell getragenen
Kleidung, und möglichst genaue Anga-
ben, wo die Polizei suchen sollte. Ist der Pati-
ent wieder aufgetaucht (in der Klinik oder an
einem anderen Ort, z. B. zu Hause), informie-
ren Sie umgehend die Polizei!

6.6 Jugendhilfe und ale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen in die
Rehabilitationsmaßnahmen jeweilige Hilfe einbezogen werden soll. Neben
den im KJHG genannten, im Folgenden aufge-
Bei der Planung von Interventionen für Kinder führten Hilfen zur Erziehung sind auch andere
und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhal- Hilfen unter Gestaltung flexibler Hilfearrange-
tens sollte immer auch über geeignete Jugendhil- ments grundsätzlich möglich.
femaßnahmen nachgedacht werden. Eltern kön-
nen an das Jugendamt verwiesen werden bzw. Ambulante Maßnahmen
das Jugendamt kann durch die Kinder- und
Jugendpsychiatrie rechtzeitig hinzugezogen wer- Erziehungsberatung (§ 28 KJHG). 'LH Erzie-
den. Voraussetzung hierfür ist eine Schweige- hungsberatung ist eine Hilfe zur Erziehung, die
pflichtsentbindung durch die Erziehungsberech- von Erziehungsberatungsstellen und anderen Be-
tigten; davon darf (und muss) lediglich bei kon- ratungseinrichtungen, z. B. Familienberatungs-
kret drohender Gefährdung des Kindeswohls stellen, erbracht wird. Eltern und andere Erzie-
abgewichen werden. hungsberechtigte, aber auch Kinder und Jugend-
liche selbst, sollen bei der Klärung und Bewälti-
Hilfe zur Erziehung gung individueller und familienbezogener Pro-
Nach § 27 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) bleme und der zugrunde liegenden Faktoren un-
hat jeder Personensorgeberechtigte einen terstützt werden. Erziehungsberatung kann auch
Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, »wenn im Anschluss an eine kinder- und jugendpsychi-
eine dem Wohl des Kindes oder des Jugend- atrische Behandlung sinnvoll sein.
lichen entsprechende Erziehung nicht gewähr-
leistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 KJHG).
geeignet und notwendig ist«. Art und Umfang Sie soll durch intensive – in der Regel aufsu-
der Hilfe richten sich dabei nach dem jeweiligen chende und auf längere Dauer angelegte – Be-
erzieherischen Bedarf, wobei das engere sozi- treuung und Begleitung Familien in ihren Erzie-
150 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 hungsaufgaben, bei der Lösung von Konflikten


und Krisen sowie bei der Bewältigung von All-
der Gruppe, Begleitung der schulischen Förde-
rung und Elternarbeit unterstützt und dadurch
tagsproblemen und im Kontakt mit Ämtern und der Verbleib des Minderjährigen in seiner Fa-
2 Institutionen unterstützen und dabei Hilfe zur milie gesichert werden. Wichtige Aspekte sind,
Selbsthilfe leisten. Je nach Gestaltung dieser Hil- dass die Gruppe nicht schwerpunktmäßig aus
3 fe kann es dabei eher um organisatorische As- Kindern mit disruptiven Verhaltensweisen be-
pekte des Haushaltes gehen oder aber inhalt- stehen sollte, dass die Elternarbeit eine hohe Pri-
4 lich eher einem im häuslichen Rahmen durch- orität haben sollte und dass eine quantitativ und
geführten Elterntraining mit Verhaltensmodifi- qualitativ adäquate personelle Besetzung gege-
5 kation, z. B. bei oppositionellen Störungen jün- ben sein muss.
gerer Kinder, entsprechen.
6 Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer (§ 30 KJHG).
Soziale Gruppenarbeit (§ 29 KJHG). 6LH hat
das Ziel, auf der Grundlage eines gruppenpäd-

7 Im Gegensatz zu diesen beiden familienbezo-


genen Maßnahmen soll der Erziehungsbeistand/
agogischen Konzeptes die Entwicklung älterer
Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen
Betreuungshelfer die meist älteren Kinder und in der Gruppe zu fördern. Hier wird also – im
8 Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwick- Gegensatz zur Erziehung in einer Tagesgruppe
lungsproblemen unterstützen, möglichst unter – fast nur mit den Kindern bzw. Jugendlichen,
9 Einbeziehung des sozialen Umfelds, und dabei nicht jedoch mit ihren Eltern gearbeitet. Eine
unter Erhaltung des Lebensbezuges zur Familie solche Maßnahme sollte bei Kindern und Ju-
10 die Verselbstständigung des betroffenen Minder- gendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens
jährigen fördern. Diese Maßnahme kann in un- grundsätzlich mit großer Vorsicht betrachtet
11 terschiedlicher Intensität durchgeführt werden. werden, denn wenn mehrere Gruppenmitglieder
von einer Störung des Sozialverhaltens betroffen
12 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreu-
ung (§ 35 KJHG). Die Grenze zwischen Erzie-
sind, besteht die Gefahr einer gegenseitigen Ver-
stärkung aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen
hungsbeistandschaft und intensiver sozialpäda- (Dishion et al. 1999; 7 6.7).
13 gogischer Einzelbetreuung ist fließend. Letztere
stellt eine – in der Regel auf längere Zeit ange- Vollstationäre Maßnahmen
14 legte – Maßnahme dar, die einen Jugendlichen Bei einem Kindes mit ausgeprägter Sympto-
bei seiner sozialen Integration und eigenverant- matik bzw. bei chronischem Erziehungsversa-
15 wortlichen Lebensführung unterstützen soll und gen der Eltern ist rechtzeitig auch eine vollsta-
ganz auf seine individuellen Bedürfnisse zuge- tionäre Maßnahme in Betracht zu ziehen, nicht
16 schnitten werden kann. erst dann, wenn über Jahre hinweg eine Vielzahl
anderer Maßnahmen gescheitert ist.
17 Teilstationäre Maßnahmen
Teilstationäre Maßnahmen der Jugendhil- Vollzeitpflege (§ 33 KJHG). Durch Vollzeitpflege

18 fe sind bei intakten Familienbeziehungen, aber


mangelnder Aufsicht und Steuerung durch die
soll Kindern und Jugendlichen entsprechend ih-
rem Alter und Entwicklungsstand, ihren persön-
Eltern, sowie bei deutlicher Beeinträchtigung lichen Bindungen sowie den Möglichkeiten, die
19 des Umgangs mit Gleichaltrigen geeignet. Erziehungsbedingungen in ihrer Herkunftsfami-
lie zu verbessern, in einer anderen Familie eine
20 Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf
KJHG). +LHUEHL soll die Entwicklung eines Kin- Dauer angelegte Lebensform geboten werden.
des oder Jugendlichen durch soziales Lernen in Dieses kann z. B. bei Vorliegen einer auf den fa-
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
151 6

miliären Rahmen beschränkten Störung des So- derholen. Ein solches Vorgehen wird dem Kind
zialverhaltens sinnvoll sein, wenn das Kind oder nicht gerecht und stellt eine Verschwendung von
der Jugendliche in anderen Settings ein deutlich Ressourcen dar. Gerade die ersten Interventi-
höheres Funktionsniveau als im Rahmen seiner onen sollten nicht unter kurzfristigen Kostenmi-
Herkunftsfamilie aufweist. nimierungsaspekten gewählt werden, denn die
langfristigen Kosten (nichtmateriell und materi-
Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform ell) einer unzureichenden Frühintervention sind
(§ 34 KJHG). Unter Heimerziehung, sonstige um ein Vielfaches höher.
betreute Wohnform werden verschiedene Hil-
fen zusammengefasst, bei denen Kinder bzw. Ju- Eingliederungshilfe für seelisch behinderte
gendliche außerhalb ihrer Familie in einer Ein- Kinder und Jugendliche
richtung über Tag und Nacht (Heimerziehung)
oder in einer sonstigen betreuten Wohnform ! »Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf
(z. B. Wohngruppe) leben. Die Minderjährigen Eingliederungshilfe, wenn
sollen durch eine Verbindung von Alltagserle- 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahr-
ben mit pädagogischen und therapeutischen An- scheinlichkeit länger als sechs Monate von
geboten in ihrer Entwicklung gefördert werden. dem für ihr Lebensalter typischen Zustand
Entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand abweicht und
des Kindes oder Jugendlichen und den Möglich- 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesell-
keiten zur Verbesserung der Erziehungsbedin- schaft beeinträchtigt ist oder eine solche
gungen in der Herkunftsfamilie kann eine sol- Beeinträchtigung zu erwarten ist« (aus § 35a
che Hilfe zum Ziel haben: Rückkehr in die Her- Abs. 1 KJHG).
kunftsfamilie, Vorbereitung der Erziehung in ei-
ner anderen Familie, Bieten einer auf längere Hier wird also eine zweigliedrige Anspruchsre-
Zeit angelegten Lebensform und Vorbereitung gelung formuliert. Zum ersten muss festgestellt
auf ein selbstständiges Leben. werden, dass eine Abweichung der seelischen
Gesundheit vom lebensaltertypischen Zustand
! Das Prinzip »ambulante vor stationären Maß- (»seelische Störung«) bereits seit 6 Monaten
nahmen« darf nicht dazu führen, dass sich eine besteht oder nach fachlicher Erkenntnis mit
Kette von erfolglosen Maßnahmen aneinander- hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate
reiht, welche zwar zunehmend intensiver wer- andauern wird (was bei einer Störung des Sozi-
den, jedoch jeweils hinter der Eskalation der alverhaltens aufgrund der hohen Chronizität der
Probleme »hinterherhinken«. Verläufe meist sowieso gegeben ist). Zum zwei-
ten muss aus der Abweichung der seelischen
Eine zunehmende Schwere der Symptomatik, Gesundheit eine Beeinträchtigung der Teilha-
welche zunehmend mehr Lebensbereiche beein- be des Kindes oder Jugendlichen am Leben in
trächtigt, ist die Regel, nicht die Ausnahme. der Gesellschaft resultieren (»seelische Behin-
Durch die wiederholten Beziehungsabbrüche derung«) bzw. dann, wenn die Beeinträchtigung
und das von allen Beteiligten, einschließlich des der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft noch
Kindes bzw. Jugendlichen selbst erlebte Schei- nicht eingetreten ist, nach fachlicher Erkenntnis
tern werden die Erfolgschancen der jeweils nach- als Folge zu erwarten sein (»drohende seelische
folgenden Intervention durch die vorausgegan- Behinderung«).
genen fehlgeschlagenen Interventionen geringer. Nicht die Sorgeberechtigten, sondern der
Es erscheint auch nicht sinnvoll, bereits geschei- Minderjährige selbst hat ggf. einen Rechtsan-
terte Interventionen immer noch einmal zu wie- spruch auf Eingliederungshilfe; ab dem Alter
152 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 von 16 Jahren kann er auch selbst den Antrag


stellen. Nach § 35a KJHG können nicht nur
der- und jugendpsychiatrische Behandlung von
den Kostenträgern nach SGB V getragen wird,
(teil)stationäre Hilfen, sondern auch ambulante fällt die pädagogische Langzeitbetreuung von
2 Hilfen geleistet werden, so auch die Behand- psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen
lung einer spezifischen Störung schulischer Fer- in den Aufgaben- und Finanzierungsbereich der
3 tigkeiten bei den Kindern und Jugendlichen, bei Jugendhilfe nach SGB VIII. Je mehr komorbi-
denen es infolge einer Dyslexie oder Dyskalkulie de Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit
4 zu einer Abweichung der seelischen Gesundheit Störungen des Sozialverhaltens vorhanden sind,
gekommen ist, welche die Teilhabe am Leben in desto wichtiger ist jedoch eine enge Kooperation
5 der Gesellschaft beeinträchtigt oder zu beein- zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugend-
trächtigen droht. psychiatrie, da jedes von beiden Hilfssystemen
6 Hilfeplanung
allein überfordert ist. Ein häufiger Wechsel des
Minderjährigen zwischen stationärer kinder-

7 Dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe obliegt


die Durchführung der Hilfeplanung nach § 36
bwz. jugendpsychiatrischer Behandlung und
stationären Jugendhilfemaßnahmen bzw. dem
KJHG. Die Information, Beratung und Betei- häuslichen Umfeld ist in seinem Interesse unbe-
8 ligung von Sorgeberechtigten und Kind bzw. dingt zu vermeiden. Kinder- und jugendpsych-
Jugendlichem an der Aufstellung des Hilfeplans, iatrische Krankenhausbehandlungen sind bei
9 in dem der Hilfebedarf, die zu gewährende Art einem hohen Anteil kinder- und jugendpsychi-
der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen fest- atrischer Begleitsymptomatik indiziert, können
10 gestellt werden, ist nach dem KJHG verbindlich jedoch grundsätzlich nur kurz- bis höchstens
(§ 36 Abs. 2 KJHG). Die Hilfeplanung umfasst mittelfristige Interventionen darstellen.
11 weiterhin, dass regelmäßig auch im Verlauf der
Hilfe mit allen Beteiligten geprüft wird, ob die ! Gerade bei Störungen des Sozialverhaltens

12 Hilfe weiterhin notwendig und geeignet ist. Von


entscheidender Bedeutung für die Wirksamkeit
mit ihrer enormen Stabilität und schlechten
Prognose sind jedoch langfristige Interventi-
von Maßnahmen ist deren Durchführung über onen erforderlich, und dann, wenn die päd-
13 einen ausreichend langen Zeitraum. Als Erfolg agogischen Anforderungen die kinder- und
ist es bereits zu bewerten, wenn der Schweregrad jugendpsychiatrischen Anforderungen über-
14 der Störung und die Anzahl betroffener Lebens- steigen, fördert nicht eine langfristige Kranken-
bereiche nicht zunimmt. hausbehandlung und Hospitalisierung die Ent-
15 Erscheinen Hilfen nach § 35a KJHG erfor- wicklung eines Kindes oder Jugendlichen, son-
derlich, soll bei der Aufstellung und Änderung dern das Aufwachsen in einem möglichst »nor-
16 des Hilfeplans und bei der Durchführung der malen« Umfeld mit stabilen Beziehungen.
Hilfe eine Person mit kinder- und jugendpsychi-
17 atrischer bzw. -psychotherapeutischer Fachkom-
petenz beteiligt werden.
Andererseits sollte die Kinder- und Jugendpsych-
iatrie auch daran mitarbeiten, dass Kinder und

18 Die Notwendigkeit von Eingliederungshil-


fen ergibt sich hier daraus, dass eine kinder- und
Jugendliche in diesem Umfeld tatsächlich länger-
fristig verbleiben können, z. B. durch ambulante
jugendpsychiatrische Behandlung allein geschei- kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung,
19 tert bzw. aussichtslos ist, z. B. aufgrund von Aus- Supervision sowie Gewährleistung von notwen-
prägung und Schweregrad der Störung oder digen Kriseninterventionen, ggf. auch im statio-
20 unzureichenden Möglichkeiten von Familie nären Rahmen, mit einer Rückkehr des Jugend-
oder weiterem psychosozialem Umfeld zur Mit- lichen in seine Jugendhilfeeinrichtung nach
arbeit bei der Behandlung. Während eine kin- Bewältigung einer akuten Krise. Somit ist die
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
153 6

Entwicklung bedarfsgerechter, flexibler Betreu- Beispiel


ungsstrukturen der Jugendhilfe unter Mitwir- Kevin (12;4 Jahre). Im Wesentlichen von seiner Groß-
kung der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfor- mutter erzogen, da seine psychisch kranke Mut-
derlich, welche in Anbetracht der hohen gesell- ter überfordert war. Im Grundschulalter ausge-
schaftlichen Brisanz dieser Problematik nicht prägtes aggressives Verhalten, dreimaliger Schul-
an Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten wechsel, schließlich Schulausschluss. Sozialpädago-
und Kostenträger scheitern darf. gische Familienhilfe mit ambulanter kinderpsychia-
trischer Behandlung blieb erfolglos. Bei Mitteilung,
Geschlossene Unterbringung in der dass eine außerfamiliäre Unterbringung erforderlich
Jugendhilfe sei, Aggressionsausbruch mit Suiziddrohungen, dar-
Eine geschlossene Unterbringung in der Jugend- aufhin Aufnahme in einer kinder- und jugendpsychi-
hilfe ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Kin- atrischen Klinik. Es wurden eine hyperkinetische Stö-
deswohl gefährdet ist und ausreichender Schutz rung des Sozialverhaltens sowie eine bislang uner-
sowie notwendige Hilfe mit weniger ein- kannte Legasthenie, außerdem nächtliches Einnäs-
schneidenden Maßnahmen nicht gewährleis- sen diagnostiziert. Perfektionistischer Junge mit
tet werden können sowie wenn ein überwiegend hohem Anspruch an sich selbst, aufgrund von Kon-
pädagogischer Interventionsbedarf besteht. zentrationsstörung und Legasthenie schulisch über-
Rechtsgrundlage für eine solche geschlossene fordert, jedoch bei gut durchschnittlicher Intelligenz
Unterbringung in der Jugendhilfe ist die zivil- mit positiven Aussichten für einen Schulabschluss.
rechtliche Unterbringung nach § 1631b BGB, bei Empfehlung zur anschließenden Unterbringung für
der es ausschließlich um das Kindeswohl geht, 6–8 Wochen in einer geschlossenen Einrichtung der
nicht um Gefahrenabwehr, wie fälschlicher- Jugendhilfe, damit Schulbesuch und kinderpsychia-
weise durch das polemische Schlagwort vom trische Behandlung sichergestellt werden könnten,
»Wegsperren« suggeriert wird. Aus kinder- und mit Öffnung des Settings bei wachsender Bindung.
jugendpsychiatrischer Sicht kann eine vorüber- Die Unterbringung erfolgte entsprechend der gut-
gehende geschlossene Unterbringung bei einzel- achterlichen Empfehlung, aggressives sowie dissozi-
nen Kindern und Jugendlichen in spezifischen ales Verhalten blieben aber weiterhin bestehen, und
Situationen überhaupt erst die Einleitung einer es kam zu einem körperlichen Angriff gegen einen
intensiven sozialpädagogischen Betreuung Erzieher. Auf Anfrage wurde die Verlängerung der
ermöglichen, wobei freiheitsentziehende Maß- geschlossenen Unterbringung um ein halbes Jahr mit
nahmen lediglich einen Einstieg in eine Hilfe – entsprechenden Öffnungsmöglichkeiten empfohlen.
jedoch keinesfalls deren Ersatz – darstellen kön-
nen und sollen. 5 bei Kindern und Jugendlichen, die sich
Eine geschlossene Unterbringung in einer durch wiederholtes Weglaufen therapeu-
Einrichtung der Jugendhilfe kann in folgenden tischen Interventionen entziehen, z. B. bei
Fällen gerechtfertigt sein: eingeschränkter Bindungsfähigkeit;
5 Bei Kindern und Jugendlichen mit sta-
bilen, hochgradig operant verstärkten Stra- Beispiel
tegien des Durchsetzens eigener Ziele mit Steffen (16;9 Jahre). Auffällige Entwicklung bereits
aggressiven Mitteln, bei welchen ein ein- seit dem Grundschulalter; verschiedene, teils gemein-
deutiges, sehr konsequent verfolgtes Sys- schaftlich begangene Straftaten im strafunmündigen
tem von Regeln und Sanktionen erforder- Alter. Konsum von Nikotin seit dem 9. Lebensjahr,
lich ist, wenn die emotionale Erreichbarkeit Cannabis seit dem 13. Lebensjahr, Alkohol seit dem
und Fähigkeit zur Mitarbeit deutlich einge- 16. Lebensjahr. In der Vorgeschichte mehrere orthopä-
schränkt sind; dische Operationen mit teilweise längeren Kranken-
154 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 hausaufenthalten. Eltern geschieden, leiblicher Vater


lehnt Kontakt zu dem Jugendlichen ab. Im 15. Lebens-
orientierten Störungskonzeptes, welches in ein
schlüssiges pädagogisches Konzept umgesetzt
jahr Schulausschluss und Verurteilung zu Jugendar- wird, das Qualifikationsprofil der Mitarbeiter,
2 rest, als 16-Jähriger Verurteilung zu einer Jugendstra- ein hinreichender Personalschlüssel sowie die
fe. Da seine Mutter Heimunterbringung ablehnte, Teil- personelle Besetzung außerhalb der üblichen
3 verbüßung der Haftstrafe, anschließende Unterbrin- Dienstzeiten. Letzteres ist für die konsequente
gung in einer geschlossenen Einrichtung. Dort Vor- Einhaltung eines Settings von hoher Bedeutung,
4 bereitung auf den Hauptschulabschluss mit Schwie- denn eine unzureichende Besetzung abends,
rigkeiten, aber guten Aussichten. Störung des Sozi- nachts oder am Wochenende führt dazu, dass
5 alverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen, der die dann anwesenden Mitarbeiter im berech-
Jugendliche entzog sich nach Möglichkeit Anforde- tigten Interesse ihrer persönlichen Sicherheit
6 rungssituationen und sozialen Situationen. Die gut-
achterliche Empfehlung lautete, die geschlossene
Regeln und Grenzen nicht adäquat durchset-
zen können. Dieses wirkt im Sinne einer inter-

7 Unterbringung bis zum Hauptschulabschluss zu ver-


längern sowie eine anschließende Ausbildung und
mittierenden Verstärkung kontraproduktiv.
Ein Teil der Kinder und Jugendlichen ist auch
stützende Jugendhilfemaßnahmen einzuleiten. auf eine einrichtungsinterne Schule zur konse-
8 quenten Einhaltung des Settings und zur Ver-
5 bei Kindern und Jugendlichen, die vorüber- meidung von Überforderung durch täglichen
9 gehend von spezifischen Umgebungen und Milieuwechsel angewiesen. Weiterhin ist erfor-
Möglichkeiten ferngehalten werden müssen, derlichenfalls die Gewährleistung einer adä-
10 z. B. drogenabhängige Patienten für die Zeit quaten kinder- und jugendpsychiatrischen bzw.
nach der Entgiftung. psychotherapeutischen Betreuung in der Ein-
11 richtung von Belang. Falls in einer Einrichtung
Beispiel geschlossene Unterbringungen durchgeführt
12 Sandra (16;5 Jahre). Schulschwänzen seit ca. 18 Mona-
ten vor der Begutachtung. Im Jugendalter gehäuft
werden, sollte ein Stufensystem mit einer »Vari-
abilität der Geschlossenheit« zur zunehmenden
Schwierigkeiten mit den Eltern, einmal vom Vater Öffnung des Settings führen, wenn eine Vermin-
13 so geschlagen, dass eine Krankenhausbehandlung derung des Problemverhaltens sowie insbeson-
notwendig wurde. Nikotin und Alkohol seit dem dere eine Steigerung der Fähigkeit des Jugend-
14 14. Lebensjahr, inzwischen Polytoxikomanie. Regel- lichen, unter offenen Bedingungen aktiv mitzu-
mäßige Beschaffungsprostitution. Mit den Eltern zer- arbeiten, erreicht werden konnten.
15 stritten, glaubt, ihnen gleichgültig zu sein. Ein Jahr vor
der Begutachtung Suizidgedanken und parasuizidale Rehabilitative Maßnahmen
16 Handlungen. Resigniert; geringe Behandlungsmotiva- Wenn es um Hilfen zur Eingliederung bei Kin-
tion, da sie nach einer Entzugsbehandlung keine Per- dern und Jugendlichen mit (drohender) seeli-
17 spektive für sich sehe. Es wurde eine Entzugsbehand-
lung in einer geschlossenen Station und die anschlie-
scher Behinderung, also Maßnahmen nach § 35a
KJHG geht, sind die Träger der öffentlichen

18 ßende Aufnahme in einer Therapieeinrichtung für


drogenabhängige Jugendliche empfohlen.
Jugendhilfe auch Rehabilitationsträger entspre-
chend dem Neunten Sozialgesetzbuch »Rehabi-
litation und Teilhabe behinderter Menschen«.
19 Qualitätsmerkmale einer Weitere Rehabilitationsträger sind u. a. die Trä-
Jugendhilfeeinrichtung ger der gesetzlichen Krankenversicherung und
20 Relevante Qualitätsmerkmale einer vollstatio- der Rentenversicherung, die Bundesagentur für
nären Einrichtung der Jugendhilfe sind das Vor- Arbeit und die Träger der Sozialhilfe. Ziel reha-
liegen eines an der wissenschaftlichen Evidenz bilitativer Maßnahmen ist es, Menschen mit
6.6 Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen
155 6
Exkurs
Inobhutnahme Schutzauftrag des Jugendamtes bei
Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich Kindeswohlgefährdung
an das Jugendamt zu wenden, wo sie in Not- Nach § 8a KJHG hat das Jugendamt, wenn ihm
und Konfliktsituationen auch ohne Wissen der gewichtige Hinweise zur Gefährdung des Wohls
Sorgeberechtigten beraten werden können (§ 8 eines Kindes oder Jugendlichen bekannt wer-
Abs. 3 KJHG). Wenn ein Kind oder Jugendlicher den, das Gefährdungsrisiko im Zusammen-
um Obhut bittet, ist das Jugendamt dazu ver- wirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen.
pflichtet (§ 42 KJHG). Eine solche Inobhutnah- Dabei sind auch die Personensorgeberech-
me, also eine vorläufige Unterbringung, kann tigten sowie der Minderjährige einzubezie-
bei einer geeigneten Person, in einer Einrich- hen, soweit hierdurch dessen wirksamer Schutz
tung oder in einer betreuten Wohnform erfol- nicht in Frage gestellt wird. Wenn das Jugend-
gen. Der Sorge- oder Erziehungsberechtigte amt Hilfen zur Abwendung der Gefährdung
muss über eine Inobhutnahme jedoch unver- für ausreichend und notwendig hält, muss es
züglich informiert werden. Widerspricht er der den Sorge- /Erziehungsberechtigten diese Hil-
Inobhutnahme, muss das Jugendamt ihm das fen anbieten. Auch die Fachkräfte, die solche
Kind bzw. den Jugendlichen unverzüglich über- Hilfen erbringen, sollen bei den Sorge-/Erzie-
geben oder eine familiengerichtliche Entschei- hungsberechtigten darauf hinwirken, dass die-
dung herbeiführen. Zur Inobhutnahme ist das se die erforderlichen Hilfen auch tatsächlich
Jugendamt auch verpflichtet, wenn eine drin- in Anspruch nehmen; wenn die Fachkräfte der
gende Gefahr für das Wohl des Kindes oder Ansicht sind, dass die angenommenen Hil-
Jugendlichen dies erfordert, ggf. auch unter fen zur Abwendung der Gefährdung nicht aus-
Einsatz freiheitsentziehender Maßnahmen. reichen, sollen sie das Jugendamt informie-
»Freiheitsentziehende Maßnahmen sind dabei ren. Hält das Jugendamt das Tätigwerden des
nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich Familiengerichts für erforderlich, hat es das
sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Gericht anzurufen. Wenn eine dringende Gefahr
Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr besteht und die Entscheidung des Gerichts
für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die nicht abgewartet werden kann, muss das
Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Ent- Jugendamt den Minderjährigen in Obhut neh-
scheidung spätestens mit Ablauf des Tages men. Soweit zur Abwendung der Gefährdung
nach ihrem Beginn zu beenden.« (§ 42 Abs. 5 des Minderjährigen das Tätigwerden z. B. von
KJHG). Eine Inobhutnahme unter Freiheits- Einrichtungen der Gesundheitshilfe erforderlich
entzug ist jedoch nicht zulässig, wenn ledig- ist, hat das Jugendamt darauf hinzuwirken, dass
lich andere Rechtsgüter wie Eigentum oder die die Sorge- /Erziehungsberechtigten diese Ein-
öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet richtungen auch tatsächlich in Anspruch neh-
werden. men. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich
und wirken die Sorge-/Erziehungsberechtig-
ten dabei nicht mit, so schaltet das Jugendamt
die anderen zur Abwendung der Gefährdung
zuständigen Stellen selbstständig ein.
156 Kapitel 6 · Was zu tun ist: Interventionen

1 einer (drohenden) körperlichen, geistigen oder


seelischen Behinderung die Teilhabe an der
schulisches Umfeld untersucht und der sonder-
pädagogische Förderbedarf sowie die entspre-
Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Sinn chenden Fördermaßnahmen bestimmt.
2 kann der Begriff »Rehabilitation« auch auf Kin- Bei Kindern und Jugendlichen mit Stö-
der und Jugendliche sinnvoll angewendet wer- rungen des Sozialverhaltens geht es häufig um
3 den. Medizinische Fachkräfte, die bei Ausübung den Erwerb schulischer Grundvoraussetzungen.
ihres Berufes Behinderungen wahrnehmen, sind Eventuell ist zunächst sogar, z. B. bei extrem
4 verpflichtet, die Sorgeberechtigten auf das Vor- niedriger Frustrationstoleranz des Schülers, Ein-
liegen einer solchen Behinderung hinzuweisen zelunterricht erforderlich. Die Anforderungen
5 (§ 61 Abs. 2 SGB IX). sollten an der – unter Umständen sehr gerin-
Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Stö- gen – Belastbarkeit der Schülers sowie an sei-
6 rung des Sozialverhaltens steht die schulische
bzw. berufliche Rehabilitation im Vordergrund.
nen Stärken orientiert sein, so dass viel positive
Rückmeldung gegeben werden kann. Insbeson-

7 Eine medizinische Rehabilitation, die durch


Wiederherstellung der Gesundheit die Voraus-
dere bei komorbider ADHS ist eine abwechs-
lungsreiche Unterrichtsgestaltung mit einem
setzungen für die Eingliederung in Arbeit, Beruf Wechsel der Tätigkeiten erforderlich. Auch die
8 und Gesellschaft schaffen soll, kann z. B. bei Vermittlung von Lern-, Arbeits- und Problem-
Jugendlichen mit Substanzabhängigkeit sinnvoll lösestrategien sowie der Einsatz von Verhaltens-
9 sein, jedoch nur dann, wenn sie von schulischer verträgen kann hilfreich sein. Bei etwas höherer
bzw. beruflicher Rehabilitation begleitet wird. Belastbarkeit des Schülers kann auch Förderun-
10 terricht in kleinen Gruppen, die jedoch nicht
Schulische Rehabilitation allein aus Kindern mit Störungen des Sozialver-
11 Ziel der schulischen Rehabilitation ist die (Wie- haltens bestehen sollten, durchgeführt werden.
der-)Herstellung der Schulfähigkeit und die Weiterhin kann – in Abstimmung mit der Schu-
12 (Wieder-)Eingliederung in die Schule, um den
Kindern und Jugendlichen eine üblicherwei-
le – Schulsozialarbeit als Teil der Jugendsozial-
arbeit (§ 13 KJHG) sinnvoll sein, also sozialpäd-
se erreichbare Bildung zu ermöglichen. Sonder- agogische Hilfen für sozial benachteiligte oder
13 pädagogischer Förderbedarf besteht bei Kin- individuell beeinträchtigte Kinder und Jugend-
dern und Jugendlichen, die in ihren Bildungs-, liche bei der schulischen Ausbildung.
14 Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so stark
beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der Berufliche Rehabilitation
15 allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Auch hier geht es zunächst um den Erwerb
Förderung nicht hinreichend gefördert wer- beruflicher Grundvoraussetzungen als Vorbe-
16 den können. Durch sonderpädagogische Förde- reitung auf eine Ausbildung oder Aufnahme
rung soll bei behinderten und von Behinderung einer beruflichen Tätigkeit. Eine solche berufs-
17 bedrohten Kindern und Jugendlichen durch
individuelle Hilfen ein möglichst hohes Maß an
vorbereitende Maßnahme sollte wenigstens auf
einen mehrmonatigen Zeitraum angelegt sein;

18 schulischer und beruflicher Eingliederung und


gesellschaftlicher Teilhabe erreicht werden. Sie
oft ist sie deutlich länger erforderlich. Es wer-
den grundlegende berufsorientierte Fertigkeiten
ist nicht an Sonderschulen gebunden, sondern als Voraussetzung einer beruflichen Eingliede-
19 kann auch an allgemeinen Schulen erfolgen. rung – adäquate Arbeitshaltung, Planung, Fle-
Gesetzliche Grundlage für die Förderung bilden xibilität, soziale und alltagspraktische Fertig-
20 die Schulgesetze der Länder. In einem besonde- keiten – gefördert, unterstützt durch intensive
ren Verfahren werden der individuelle Entwick- sozialpädagogische Betreuung; daneben ist auch
lungsstand des Kindes sowie sein familiäres und die Berufsfeldfindung relevant. Die Maßnahme
6.7 Entbehrliche Therapiemaßnahmen
157 6

sollte möglichst gut an den Möglichkeiten und quentem Verhalten und Substanzmissbrauch
Grenzen (Impulsivität, geringe Frustrationsto- erhöht, selbst bei direktiver Steuerung der Grup-
leranz, geringe Ausdauer, geringe Fertigkeit im penprozesse durch den Therapeuten (Dishion et
Umgang mit sozialen Konflikten) des jeweiligen al. 1999).
Jugendlichen ausgerichtet sein und eine flexible Zur Wirksamkeit von tiefenpsychologisch
Anpassung des Vorgehens an die Entwicklung fundierter oder psychoanalytischer Psychothera-
des einzelnen Jugendlichen erlauben. pie bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen
Soweit die Träger der öffentlichen Jugend- des Sozialverhaltens liegen keine kontrollierten
hilfe Rehabilitationsträger sind, also bei Einglie- Studien vor. Non-direktive Spieltherapie ist auch
derungshilfen nach § 35a KJHG, unterliegen sie bei jüngeren Kindern unwirksam.
den Verfahrensvorschriften des SGB IX, auch
wenn die Leistungen – wie bisher auch – auf
der Grundlage des KJHG erbracht werden, und
sie sind an die im SGB IX vorgegebenen Fris-
ten gebunden. Danach muss ein Rehabilitations-
träger innerhalb von 2 Wochen nach Eingang
eines Antrages bei ihm feststellen, ob er für die
beantragte Leistung zuständig ist. Erklärt er sich
zuständig, muss er den individuellen Hilfebedarf
innerhalb von 3 Wochen feststellen. Hält er sich
für nicht zuständig, muss er den Antrag unver-
züglich an den nach seiner Auffassung zustän-
digen Rehabilitationsträger weiterleiten. Der
zweite befasste Rehabilitationsträger hat dann –
unabhängig von seiner Zuständigkeit – über den
Rehabilitationsbedarf zu entscheiden. Besteht
ein Dissenz zwischen den Leistungsträgern über
die Zuständigkeit, ist dieser ohne die Einbezie-
hung des Antragstellers zu klären. Wenn zur
Feststellung des Rehabilitationsbedarfes ein Gut-
achten erforderlich ist, so muss ein beauftragter
Gutachter dieses innerhalb von 14 Tagen vorle-
gen und der Rehabilitationsträger innerhalb wei-
terer 3 Wochen entscheiden.

6.7 Entbehrliche
Therapiemaßnahmen

Die Durchführung eines sozialen Trainings in


Gruppen, die überwiegend aus aggressiv-disso-
zialen Jugendlichen bestehen, ist kontraindiziert.
Durch die gegenseitige Verstärkung devianten
Verhaltens der Jugendlichen untereinander wird
langfristig die Wahrscheinlichkeit von delin-
7

Der Blick voraus: Verlauf und Prognose


160 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose

! Jedes Kind mit einer oppositionellen Störung,


1 Verlauf oppositioneller Störungen
Eine oppositionelle Störung entwickelt sich oft das Ihnen in einem beliebigen professionellen
schon im Vorschulalter, und bereits dann weist Kontext begegnet, gehört – unabhängig vom
2 das Störungsbild eine beträchtliche Stabilität Vorliegen individueller Risikofaktoren – zu der
auf, vor allem bei komorbider Aufmerksam- Gruppe mit einem erhöhten Risiko begleiten-
3 keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Lavigne et der psychischer Störungen!
al. 2001). Die Auffälligkeiten zeigen sich insbe-
4 sondere im häuslichen Rahmen. In voller Aus- Sowohl das Auftreten einer oppositionellen Stö-
prägung hat sich das Störungsbild oft bis spätes- rung als auch der Übergang von einer oppositi-
5 tens zum Alter von 8 Jahren entwickelt. Ein Teil onellen in eine aggressiv-dissoziale Störung wird
der Jungen überschreitet – in der Regel noch vor durch das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsde-
6 oder in der frühen Pubertät (»early onset«) –
die Schwelle zu einer aggressiv-dissozialen Stö-
fizit-/Hyperaktivitätsstörung wahrscheinlicher;
aber auch eine komorbide affektive Störung kann

7 rung, häufig bei fortbestehender oppositioneller


Symptomatik. Dagegen ist der Zusammenhang
den Übergang einer oppositionellen Störung in
eine aggressiv-dissoziale Störung begünstigen
zwischen oppositioneller Störung und aggressiv- (Greene et al. 2002). Für die Stabilität von oppo-
8 dissozialen Störungen mit Beginn in der Adoles- sitionellen Symptomen sind ungünstiges elter-
zenz (»late onset«) viel weniger deutlich (August liches Erziehungsverhalten sowie psychische
9 et al. 1999). Für Mädchen erhöht das Vorlie- Störungen der Eltern bedeutsam, während bei
gen einer oppositionellen Störung vor allem günstigerem Erziehungsverhalten die Stabili-
10 das Risiko, eine Angststörung oder eine depres- tät einer oppositionellen Symptomatik gerin-
sive Störung zu entwickeln, während die Wahr- ger ist (August et al. 1999). Auch der Schwere-
11 scheinlichkeit einer aggressiv-dissozialen Stö- grad einer oppositionellen Störung bestimmt
rung nicht erhöht wird (Rowe et al. 2002). Die ihre Stabilität: Je ausgeprägter die oppositionelle
12 Häufigkeit komorbider Störungen bei Kindern
mit einer oppositionellen Störung ist natürlich
Störung, desto stabiler bleibt sie zwischen später
Kindheit und Adoleszenz bestehen (Cohen et al.
stark stichprobenabhängig. Während in popula- 1993). Ist ein Kind von einer oppositionellen Stö-
13 tionsbezogenen Untersuchungen relativ geringe rung betroffen, beeinträchtigt diese – unabhän-
Komorbiditätsraten gefunden wurden (14% gig vom eventuellen Auftreten weiterer komor-
14 ADHD, 14% Angststörungen, 9% depressive Stö- bider Störungen – nicht nur seine Beziehungen
rungen; Angold u. Costello 1996), ist die Häufig- zu Erwachsenen, sondern auch zu Gleichalt-
15 keit komorbider Störungen bei oppositionellen rigen; durch eine oppositionelle Störung wird
Kindern, die in klinischen – auch nichtpsychi- ein Kind also in erheblichem Ausmaß seiner
16 atrischen – Kontexten vorgestellt wurden, deut- Möglichkeiten beraubt, in sozialen Beziehungen
lich höher (Lavigne et al. 2001). Dagegen erhöht zu lernen.
17 eine oppositionelle Störung – im Gegensatz zu
einer aggressiv-dissozialen Störung – das Risi- Verlauf aggressiv-dissozialer Störungen

18 ko einer Alkoholabhängigkeit im Jugendalter


nicht (Kuperman et al. 2001). Die Frage, ob eine
Eine aggressiv-dissoziale Störung kann bereits
im Alter von 5 Jahren auftreten, beginnt jedoch
oppositionelle Störung ohne das zwischenzeit- meist in der späten Kindheit oder frühen Ado-
19 liche Auftreten einer aggressiv-dissozialen Stö- leszenz, selten nach dem 16. Lebensjahr. Auch
rung die Entwicklung einer dissozialen Persön- bei Mädchen kann deutliches und persistie-
20 lichkeitsstörung begünstigt, ist ungeklärt (Lang- rendes aggressiv-dissoziales Verhalten schon ab
behn et al. 1998; Loeber et al. 2002). der Grundschulzeit zu beobachten sein (Acker-
man et al. 2003).
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
161 7

Häufig wird zwischen offen (»overt«) und gemischtes reaktiv-proaktives Bild zu beobach-
verdeckt (»covert«) auftretenden Symptomen ten.
einer aggressiv-dissozialen Störung unterschie- Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/
den. Hyperaktivitätsstörung haben gegenüber unauf-
fälligen Kindern ein mehrfach erhöhtes Risi-
Definition ko, eine aggressiv-dissoziale Störung zu entwi-
Offen auftretende Symptome sind Wutausbrüche, ckeln, in der Regel jedoch vermittelt durch eine
Drohungen, offen gezeigte verbale oder physische oppositionelle Störung, während eine Aufmerk-
Aggression, verdeckt auftretende Symptome dage- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ohne
gen Lügen, Stehlen, Betrügen, heimliche Rache, eine komorbide oppositionelle Störung nur ein
verstecktes Provozieren. schwacher Prädiktor für das Auftreten einer
aggressiv-dissozialen Störung ist (Biederman et
Wenn sowohl offene als auch verdeckte Ver- al. 1996).
haltensweisen auftreten, weist dieses auf eine Eine ADHS ist insbesondere für das Auftre-
schwerere und stabilere Störung des Sozialver- ten einer aggressiv-dissozialen Störung mit frü-
haltens hin (Loeber u. Schmaling 1985). hem Beginn von hoher Relevanz (Loeber et al.
Eine weitere klinisch relevante Untertei- 1995). Fast alle Patienten mit ADHS und komor-
lung ist die zwischen reaktiver und proaktiver bider aggressiv-dissozialer Störung entwickel-
Aggression. ten diese bereits vor dem 12. Lebensjahr (Bie-
derman et al. 1996), während aggressiv-dissozi-
Definition ale Störungen ohne eine komorbide ADHS sich
Impulsiv-reaktives Verhalten erfolgt »explosiv« bei in der Regel später manifestieren (Moffitt 1990).
geringen Anlässen als Reaktion auf das Erleben von Wenn Kinder mit einer ADHS von einer aggres-
Bedrohung oder Herabsetzung durch andere Men- siv-dissozialen Störung betroffen sind, dann
schen. Dagegen wird proaktiv-aggressives Ver- ausgeprägter, stabiler und mit mehr physischer
halten zielgerichtet und funktional eingesetzt, um Aggression, als es ohne komorbide ADHS der
durch die Verletzung der Rechte anderer Menschen Fall wäre (Hinshaw et al. 1993). Von den Kern-
persönliche Vorteile – materielle Vorteile oder auch symptomen der ADHS ist hier insbesondere die
soziale Dominanz – zu erreichen. hyperaktiv-impulsive Komponente von Bedeu-
tung (Lalonde et al. 1998; Babinski et al. 1999).
Kinder mit stärker reaktiv-aggressiver Kompo- Häufige Vorläufer früh beginnender aggres-
nente zeigen von einem früheren Lebensalter siv-dissozialer Störungen sind persistieren-
an aggressives Verhalten, stärker beeinträchti- de oppositionelle Symptome; diese bestehen oft
gte Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie Vikti- auch über den Beginn des aggressiv-dissozialen
misierung durch Gleichaltrige, inadäquate Pro- Verhaltens hinaus fort, wobei aber die Diagno-
blemlösefertigkeiten und sind häufiger von einer se einer oppositionellen Störung bei Vorliegen
komorbiden ADHS betroffen. Dagegen ist proak- einer aggressiv-dissozialen Störung nicht mehr
tiv-aggressives Verhalten stärker mit der Erwar- separat gestellt werden darf, sondern in der Dia-
tung eines positiven Ergebnisses für solches Ver- gnose der aggressiv-dissozialen Störung aufgeht.
halten verbunden (Dodge et al. 1997; Schwartz Insbesondere die im Kindesalter begin-
et al. 1998) und geht häufiger mit Delinquenz nenden aggressiv-dissozialen Störungen gehen
im Adoleszentenalter einher (Vitaro et al. 1998). mit körperlich-aggressiven Verhaltensweisen
Hierbei handelt es sich jedoch um Prototypen einher, während dies für die im Jugendalter
aggressiven Verhaltens; klinisch ist häufig ein beginnenden Störungen weit weniger gilt (Lah-
ey et al. 1998).
162 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose

1 Die Symptome aggressiv-dissozialer Stö-


rungen verändern sich mit dem Lebensalter und
prägter die Störung, desto stabiler bleibt sie zwi-
schen später Kindheit und Adoleszenz bestehen
der Zunahme der kognitiven und körperlichen (Cohen et al. 1993).
2 Möglichkeiten. Im Jugendalter zeigen sich mehr Die kumulative Stabilität über die Zeit ist
interindividuelle Unterschiede in der Sympto- höher und klinisch relevanter als die Stabili-
3 matik einer aggressiv-dissozialen Störung als tät von einem Jahr zum darauf folgenden Jahr,
im Kindesalter. Die Wahrscheinlichkeit schwer- denn die Symptomatik von Störungen des Sozi-
4 wiegender aggressiver Handlungen (z. B. Raub, alverhaltens unterliegt – wie bei anderen Stö-
Vergewaltigung, Totschlag) nimmt während rungen auch – gewissen Schwankungen, und
5 der Adoleszenz zu, und die Veränderbarkeit die Ausprägung der Symptomatik kann zufällig
der Störung nimmt ab. Die meisten ausgeprägt zu einem Messzeitpunkt gerade unterhalb der
6 aggressiven Handlungen im Jugend- und jun-
gen Erwachsenenalter werden von einer kleinen
Schwelle für das Stellen der Diagnose bleiben. Zu
berücksichtigen ist auch, dass Messfehler, die zur

7 Anzahl von Personen (etwa 5%) dieser Alters-


gruppe begangen, die in der Regel seit ihrer
Erhöhung der gemessenen Variabilität beitragen,
aus methodischen Gründen zu einer Unterschät-
Kindheit persistierend aggressiv sind (Loeber u. zung der tatsächlichen Stabilität führen können
8 Hay 1997; Lacourse et al. 2002). Bei ihnen nimmt (Fergusson 1998).
in der Adoleszenz die Häufigkeit hochaggres-
9 siver Handlungen zu, sie führen bereits etablierte Entwicklungsgefährdung durch Störungen
aggressive Verhaltensmuster mit einem zuneh- des Sozialverhaltens
10 menden Maß an Aggressivität durch und fügen Störungen des Sozialverhaltens gehen mit viel-
ihrem Verhaltensrepertoire neue aggressive Ver- fältigen negativen Auswirkungen einher, nicht
11 haltensweisen hinzu. Eine Einschränkung der nur für Dritte, sondern auch für die Betroffenen
Bindungsfähigkeit aggressiver Kinder erhöht die selbst.
12 Wahrscheinlichkeit, dass sie als Erwachsene an
Gewaltdelikten beteiligt sind (Henn et al. 1980). ! Dabei besteht die Tendenz, dass zunehmend
Störungen des Sozialverhaltens weisen eine mehr Lebensbereiche betroffen werden.
13 hohe Stabilität auf. In der Ontario Child Health
Study (Offord et al. 1992) zeigten 44% der Kinder, Im Jugendalter kann es zu häufigen Schulwech-
14 die anfangs die Diagnosekriterien einer aggres- seln, Schulausschluss oder Schulverweigerung
siv-dissozialen Störung erfüllten, auch 4 Jah- durch den Jugendlichen selbst kommen, mit der
15 re später noch eine solche Störung. In einer Kli- Konsequenz, dass kein Schulabschluss erreicht
nikstichprobe erfüllten fast 90% der Jungen und wird; Ähnliches gilt für Berufsausbildungen. Das
16 männlichen Jugendlichen mit einer aggressiv- Risiko körperlicher Schäden durch Unfälle oder
dissozialen Störung auch in den drei folgenden gewaltsame Auseinandersetzungen ist erhöht.
17 Jahren die diagnostischen Kriterien für die-
se Störung zu mindestens einem weiteren Zeit-
Häufig zeigen Jugendliche mit aggressiv-dissozi-
alen Störungen auch ein riskantes Sexualverhal-

18 punkt (Lahey et al. 1995). Bei Mädchen ist die


Stabilität aggressiv-dissozialer Störungen wahr-
ten. Sie nehmen schon in relativ jungem Lebens-
alter Sexualkontakte auf, haben eine höhere
scheinlich nicht geringer als bei Jungen, viel- Anzahl an Sexualpartnern sowie mit höherer
19 leicht sogar höher (Tremblay et al. 1992; Verhulst Wahrscheinlichkeit ungeschützten Geschlechts-
u. van der Ende 1991). Wie für die oppositio- verkehr, so dass das Risiko von sexuell übertrag-
20 nelle Störung gilt auch für die aggressiv-dissozi- baren Krankheiten (auch HIV) und Schwan-
ale Störung, dass die Stabilität der Störung durch gerschaft bzw. Elternschaft im jungen Lebensal-
ihren Schweregrad beeinflusst wird: Je ausge- ter erhöht ist; außerdem haben sie ein höheres
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
163 7

Risiko, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Psychiatrische Begleit- und


Dieses gilt auch für männliche Jugendliche, auch Folgeerkrankungen bei Störungen des
wenn für weibliche Jugendliche negative Konse- Sozialverhaltens
quenzen riskanten Sexualverhaltens häufig gra- Die Wahrscheinlichkeit psychiatrischer Begleit-
vierender sind (Fergusson u. Woodward 2000). und Folgeerkrankungen ist bei Jugendlichen
Das Risiko negativer Auswirkungen nimmt mit mit einer Störung des Sozialverhaltens deutlich
der Anzahl der Symptome zu. Auch aus diesem erhöht. Vor allem weibliche Jugendliche mit dis-
Grund sollten bereits bei leicht bis mäßig ausge- ruptivem Verhalten entwickeln überzufällig häu-
prägten aggressiv-dissozialen Störungen geeig- fig eine komorbide internalisierende Störung,
nete Interventionen erfolgen. z. B. eine depressive Störung oder eine Angst-
Im Erwachsenenalter sind – neben fortge- störung (Keenan et al. 1999; Fergusson u. Wood-
setztem dissozialem Verhalten bei bis zu 50% ward 2000). Der mit einer Störung des Sozial-
der Betroffenen – anhaltende Schwierigkeiten verhaltens einhergehende Lebensstil erhöht die
und ein reduziertes psychosoziales Funktionsni- Wahrscheinlichkeit traumatisierender Erleb-
veau festzustellen: niedriges Ausbildungsniveau, nisse und somit der Entwicklung einer komorbi-
Arbeitslosigkeit (Fergusson u. Horwood 1998), den posttraumatischen Belastungsstörung, aber
beeinträchtigte zwischenmenschliche Bezie- ungünstige psychosoziale Bedingungen können
hungen und Partnerschaften, auch mit Ausüben auch direkt sowohl zu einer Störung des Sozial-
von Gewalt durch beide Geschlechter (Ehrensaft verhaltens als auch zu einer posttraumatischen
et al. 2003), mehr gesundheitliche Probleme und Belastungsstörung führen. Die Wahrscheinlich-
eine geringere Lebenserwartung (Bardone et al. keit von Substanzmissbrauch und -abhängig-
1998). Die Wahl dissozialer Partner (»assortative keit ist erhöht, in noch höherem Maße, wenn
mating«) erhöht die genetische wie auch psy- komorbid zu einer aggressiv-dissozialen Stö-
chosoziale Belastung der Kinder und trägt zur rung eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-
Transmission aggressiv-dissozialen Verhaltens tätsstörung besteht. Häufig wird zuerst Alkohol
in die folgende Generation bei. oder Tabak konsumiert, gefolgt von Cannabis,
Der Zusammenhang zwischen aggressiv-dis- dann andere illegale Substanzen (Kuperman et
sozialem Verhalten im Kindes- und Jugendalter al. 2001). Im Zusammenhang mit Substanzkon-
und einem ungünstigen Outcome im Erwach- sum, aber auch unabhängig davon, ist das Risiko
senenalter, wie fehlendem Schulabschluss oder von Suizidversuchen bei Jugendlichen mit einer
Arbeitslosigkeit, ist zum einen durch Faktoren Störung des Sozialverhaltens deutlich erhöht
bedingt, die sowohl mit frühem aggressiv-disso- (Beautrais et al. 1996; Grøholt et al. 2000). Ins-
zialen Verhalten als auch dem Fehlen von Ent- besondere für schwere, impulsiv durchgeführ-
wicklungs- und Ausbildungschancen einher- te Suizidversuche männlicher Jugendlicher war
gehen (z. B. niedrige Intelligenz, ADHS, nied- körperliche Aggressivität ein besserer Prädiktor
riger sozioökonomischer Status). Zum anderen als das Vorliegen einer depressiven Symptomatik
wird dieser Zusammenhang auch direkt durch (Simon et al. 2001).
eine Reihe risikoträchtiger Verhaltensweisen in Auch im Erwachsenenalter ist das Risiko
der Adoleszenz, wie Anschluss an delinquente anderer psychiatrischer Störungsbilder erhöht,
Gleichaltrige, Substanzgebrauch und Konflikte wenn im Jugendalter eine Störung des Sozial-
mit Lehrern vermittelt (Fergusson u. Horwood verhaltens vorlag. Bei vielen psychiatrischen
1998; Fergusson u. Woodward 2000). Störungsbildern des Erwachsenenalters, natür-
lich bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung,
aber auch u. a. bei Essstörungen, Manie, Subs-
tanzabhängigkeit, Angststörungen, Zwangs-
164 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose

1 störung, posttraumatischer Belastungsstörung


und depressiven Störungen, weist ein erheb-
siv-dissozialen Verhaltens vorgeschlagen (Mof-
fitt et al. 1996).
licher Prozentsatz der Patienten – je nach Stö- Die höchste Stabilität der Störung besteht bei
2 rung 25–60% – in der Vorgeschichte eine Stö- Störungsbeginn im Kindesalter. Die Symptoma-
rung des Sozialverhaltens auf (Kim-Cohen et al. tik setzt frühzeitig ein, wobei körperlich-aggres-
3 2003). Dieser Zusammenhang kann zum einen sives Verhalten im Vordergrund steht, und weist
auf gemeinsamen – biologischen und psycho- eine hohe Persistenz über die Lebenszeit hin-
4 sozialen – Faktoren beruhen, die sich im Kin- weg auf. Die Betroffenen weisen im Vergleich zu
des- und Jugendalter als Störung des Sozialver- den Probanden mit Störungsbeginn in der Ado-
5 haltens, im Erwachsenenalter dagegen als eine leszenz ein niedrigeres Intelligenzniveau und
andere psychiatrische Störung manifestieren; schlechtere Leistungen in neuropsychologischen
6 zum anderen erhöht das Vorliegen einer Stö-
rung des Sozialverhaltens die Wahrscheinlich-
Tests, mehr Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen
und ungünstigere familiäre Bedingungen auf. Im

7 keit, als Folge der Symptome sowie psychosozi-


alen Belastungen dieser Störung später andere
Erwachsenenalter zeigen sie mit einer höheren
Wahrscheinlichkeit antisoziale Persönlichkeits-
psychiatrische Störungen zu entwickeln. züge, psychiatrische Auffälligkeiten, Substanz-
8 Eine der prognostisch ungünstigsten Kon- abhängigkeit und damit im Zusammenhang ste-
sequenzen einer aggressiv-dissozialen Störung hende Delikte. Sie haben viele berufliche und
9 im Kindes- und Jugendalter ist die Entwick- finanzielle Schwierigkeiten und die höchste Rate
lung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung im an Partnerschaftskonflikten sowie an Gewaltver-
10 Erwachsenenalter; die Wahrscheinlichkeit hier- brechen, insbesondere gegen Frauen und Kin-
für wird mit etwa 25% beziffert. Auch Mädchen der (Moffitt et al. 2002). Als Grundlage der Stö-
11 können im Erwachsenenalter von einer dissozi- rung wird ein Zusammenwirken genetischer
alen Persönlichkeitsstörung betroffen sein (Keen- und anderer biologischer Faktoren, dadurch
12 an et al. 1999). Das Risiko ist bei einer aggres-
siv-dissozialen Störung mit Beginn in der Kind-
bedingter neuropsychologischer Defizite sowie
ungünstiger psychosozialer Bedingungen ange-
heit deutlich höher als bei Beginn im Jugendalter nommen.
13 (Ridenour et al. 2002). Die Anzahl sowie Vielfalt
aggressiv-dissozialer Verhaltensweisen im Kin- Beispiel
14 desalter ist ein besserer Prädiktor für deren Sta- Ronny fiel bereits im Kindergarten durch sein unru-
bilität bis ins Erwachsenenalter als jede einzel- higes, hypermotorisches und ungesteuertes Verhal-
15 ne Verhaltensweise für sich betrachtet (Loeber ten auf. Auf Anforderungen von Erwachsenen rea-
1991), unabhängig von begleitenden familiären gierte er mit Trotz und Wutausbrüchen. Im Umgang
16 und sozialen Faktoren (Hill 2003). Wenn eine mit Gleichaltrigen kam es häufig zu Streit und körper-
aggressiv-dissoziale Störung mit emotionaler lichen Auseinandersetzungen, wobei Ronny schon

17 Unbeteiligtheit (»unemotional-callous traits«)


einhergeht, besteht ein noch höheres Risiko für
bei kleinen Provokationen erhebliche Aggressivität
zeigte. In der Grundschule wurde er häufig ermahnt,

18 die Entwicklung einer dissozialen Persönlich-


keitsstörung (Loeber et al. 2002).
weil er den Unterricht störte, auf seinem Stuhl kippelte
und Vorwände suchte, um aufstehen zu können. Beim
Erlernen des Lesens und Schreibens hatte er große
19 Typen von Entwicklungsverläufen Mühe und zeigte auch im weiteren Verlauf des Schul-
Basierend auf den Ergebnissen der Dunedin- besuchs erhebliche Schwierigkeiten in diesen Berei-
20 Längsschnittstudie wurden typisierend zwei chen. Ab der 3. Klasse besuchte er trotz seines durch-
unterschiedliche Entwicklungsverläufe aggres- schnittlichen Intelligenzniveaus eine Schule für Lern-
behinderte. Etwa ab der 5. Klasse schwänzte er regel-
Der Blick voraus: Verlauf und Prognose
165 7

mäßig die Schule, verbrachte seine Zeit mit anderen altrigen an, mit denen er Alkohol trank, Canna-
dissozialen Gleichaltrigen, beging Ladendiebstähle bis rauchte und gelegentlich Ecstasy einnahm. Mit
und stahl auch seinen Eltern Geld. Im Alter von 13 Jah- 14 Jahren wurde er bei einem Ladendiebstahl gestellt,
ren wurde Ronny in einer vollstationären Einrichtung und es wurde Strafanzeige gegen ihn erstattet. Nach-
der Jugendhilfe platziert, begleitet von ambulanter dem er nach der zweiten Wiederholung der 9. Klas-
kinder- bzw. jugendpsychiatrischer Behandlung sowie se wiederum das Klassenziel nicht erreichte, besuchte
mehrfachen stationären Kriseninterventionen und er im Anschluss an seine Schulzeit das Berufsvorberei-
einer längeren stationären Behandlung in einer Kli- tende Jahr. Hier konnte er einen guten Abschluss errei-
nik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zwei Jahre spä- chen und im Anschluss daran eine dreijährige Ausbil-
ter wurde er aufgrund seines ausgeprägten aggres- dung in einem Bildungs- und Rehabilitationszentrum
siv-dissozialen Verhaltens aus der Einrichtung wie- erfolgreich abschließen, wodurch er den erweiterten
der nach Hause entlassen. Mit 16 Jahren wurde Ronny Realschulabschluss erwarb. Drogen konsumierte er
wegen gefährlicher Körperverletzung und wiederhol- nur noch sporadisch. Polizeilich wurde er nicht mehr
ten Fahrens ohne Führerschein, auch unter dem Ein- auffällig.
fluss von Alkohol, zu einer zweijährigen Jugendstrafe
auf Bewährung verurteilt. In der Follow-up-Untersuchung im Alter von
26 Jahren (Moffitt et al. 2002) konnte jedoch
Bei Störungsbeginn in der Adoleszenz spielt die noch eine dritte Gruppe unterschieden werden,
Imitation von dissozialen Gleichaltrigen eine die durch ein hohes Ausmaß aggressiv-dissozi-
wichtige Rolle bei der Pathogenese, aber auch alen Verhaltens im Kindesalter gekennzeichnet
ungünstige familiäre Bedingungen und aktu- war, welches jedoch während der Adoleszenz
elle belastende Lebensereignisse erwiesen sich deutlich abnahm. Dennoch zeigten die Betrof-
als signifikante Prädiktoren (Lay et al. 2005). fenen im Erwachsenenalter anhaltend delin-
Im Vordergrund der Problematik stehen delin- quentes Verhalten, wenn auch auf niedrigem
quente Verhaltensweisen. Die Folgen für die Niveau, mehr Angst und Depression, soziale
Entwicklung des Jugendlichen sind viel weniger Isolation, ein geringes Ausbildungsniveau sowie
ausgeprägt als bei der ersten Gruppe, aber auch berufliche und finanzielle Probleme.
hier sind im jungen Erwachsenenalter mehr
Angst und Depression, Substanzabhängigkeit, Prädiktoren von Stabilität und
finanzielle Schwierigkeiten und Partnerschafts- Veränderbarkeit
probleme festzustellen als bei jungen Erwachse- Verschiedene, zum Teil miteinander hoch kor-
nen, die nie dissoziales Verhalten gezeigt haben relierte Faktoren, sind prädiktiv für die Stabili-
(Moffitt et al. 2002). tät aggressiv-dissozialer Störungen: Schweregrad
der Störung, Störungsbeginn in der Kindheit,
Beispiel komorbide Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperakti-
Svens Entwicklung verlief zunächst unauffällig. vitätsstörung, ausgeprägte oppositionelle Symp-
Er wurde altersgerecht eingeschult und besuchte tomatik, früh beginnende und persistierende
nach der Grundschule zunächst die Realschule. Als körperliche Aggressivität, emotionale Unbetei-
er 12 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern schei- ligtheit, komorbider Substanzgebrauch, nied-
den. Sven zog mit seiner Mutter in eine andere Stadt rige Intelligenz, schulisches Leistungsversagen
und wechselte die Schule. Seine schulischen Leistun- und dissoziale Persönlichkeitsstörung der bio-
gen verschlechterten sich deutlich, es kam regelmä- logischen Eltern (Christian et al. 1997; Lahey et
ßig zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen sei- al. 1995; Biederman et al. 2001). Umgekehrt sind
ner Mutter und ihm, er schwänzte häufiger die Schu- Prädiktoren für eine höhere Veränderbarkeit:
le und schloss sich einer Clique von dissozialen Gleich- geringerer Schweregrad der aggressiv-dissozi-
166 Kapitel 7 · Der Blick voraus: Verlauf und Prognose

1 alen Störung, weniger ADHS-Symptome, höhere


verbale Intelligenz des Kindes, höherer sozioö- Risikofaktoren für die Stabilität einer
konomischer Status der Familie und nichtdisso- Störung des Sozialverhaltens
2 ziale biologische Eltern (Lahey et al. 2002). 5 »Early onset«
5 Komorbidität mit ADHS
Psychosoziale Faktoren, wie die Qualität der
3 innerfamiliären Beziehungen, haben jedoch auch 5 Hohes Ausmaß oppositioneller Symp-
tomatik
bei Vorliegen genetischer und biologischer Risi-
4 kofaktoren einen nicht zu unterschätzenden Ein- 5 Früh beginnende und persistierende
körperliche Aggressivität
fluss auf den Verlauf aggressiv-dissozialen Verhal-
5 Emotionale Unbeteiligtheit, Empathie-
5 tens (Biederman et al. 2001). Vor allem Kinder mit
mangel
einem hohen genetischen Risiko, die gleichzeitig
5 Niedrige Intelligenz
6 anhaltenden ungünstigen psychosozialen Einflüs-
sen ausgesetzt sind, haben also eine hohe Wahr- 5 Schulisches Leistungsversagen
5 Dissoziale Persönlichkeitsstörung bei
7 scheinlichkeit, dass ihr Problemverhalten persis-
tiert. Hier darf man keinesfalls eine abwartende den biologischen Eltern
5 Ungünstiges elterliches Erziehungsver-
Haltung einnehmen, sondern es sind wirksame
8 Interventionen erforderlich (van der Valk et al. halten
5 Anhaltende innerfamiliäre Streitig-
2003).
9 keiten
5 Geringer innerfamiliärer Zusammenhalt
! Nehmen Sie auch die »leichteren« und oft rela-
10 tiv früh in der Entwicklung auftretenden Symp-
tome einer Störung des Sozialverhaltens ernst!
11 Aufgrund der Tendenz der Störung, zunehmend
Dieses gilt vor allem dann, wenn die in der fol- schwerer zu werden und zunehmend mehr
12 genden Übersicht genannten Risikofaktoren vor-
liegen.
Lebensbereiche zu betreffen, ist es bereits als
Erfolg zu bewerten, wenn der Schweregrad der
Störung und die Anzahl betroffener Lebensbe-
13 reiche nicht zunimmt.

14 ! Auf längere Sicht gilt: Gut ist, wenn es nicht


schlechter wird!
15
16
17
18
19
20
8

Was wir nicht wissen: Offene Fragen


168 Kapitel 8 · Was wir nicht wissen: Offene Fragen

1 Deutlich ist, dass viele »weiße Flecken« auf der


»Landkarte« der Störungen des Sozialverhaltens
aggressiv-dissozialen Störung, die möglicher-
weise im Jugend- oder auch jungen Erwachse-
bestehen. Hier sollen lediglich einige Schwer- nenalter zumindest keine Eskalation aggressiven
2 punkte herausgegriffen werden. wie auch nichtaggessiven dissozialen Verhaltens
zeigen und ihr Funktionsniveau nicht weiter ver-
3 Psychische Störung oder pädagogisches schlechtern.
Problem?
4 Ein konzeptuelles wie auch praktisches Problem Entwicklungsabhängigkeit und
besteht in der Abgrenzung, ob es sich bei einer Modellbildung
5 Störung des Sozialverhaltens um eine psychische Um die Entwicklungsabhängigkeit disruptiven
Störung, ein überwiegend pädagogisches Pro- Verhaltens angemessen zu berücksichtigen, wird
6 blem oder auch um eine funktionale Reaktion
auf schwierige psychosoziale Bedingungen han-
ein Kausalmodell benötigt, das mit dem Lebens-
alter variierendes disruptives Verhalten durch

7 delt, z. B. Aufwachsen in einem Gebiet mit einer


hohen Kriminalitätsrate.
Interaktionen zwischen dispositionellen Fak-
toren und entwicklungs- sowie zeitsensitiven
Faktoren erklären kann. Darüber hinaus müss-
8 Risiko- und protektive Faktoren te ein solches Kausalmodell durch individuelle
Einiges ist darüber bekannt, welche Risiko- Faktoren ergänzbar und modifizierbar sein, da
9 faktoren grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit man für die konkrete klinische Arbeit letztlich
einer Störung des Sozialverhaltens erhöhen, für jeden Patienten ein individuelles Modell spe-
10 jedoch weniger über ihre Spezifität für bestimm- zifizieren muss, das den diagnostischen und the-
te Personengruppen und Manifestationen dis- rapeutischen Prozess leitet. In dieses individu-
11 ruptiven Verhaltens und ihr Zusammenwirken elle Modell sollte auch das komplexe Muster von
in unterschiedlichen Problemkonstellationen, Stärken und Schwächen dieses Patienten einge-
12 noch weniger über protektive Faktoren. Gerade
hier ist ein Zuwachs an Wissen relevant, da das
hen. Hier ist auch die Frage sehr wichtig, wie
die vorhandene wissenschaftliche Evidenz über
Fördern protektiver Faktoren ebenso bedeutsam Kausalfaktoren, die im Allgemeinen für disrup-
13 ist wie das Vermindern von Risikofaktoren. Dies tives Verhalten relevant sind, bei der klinischen
gilt um so mehr, als bestimmte genetische und Arbeit zur Auswahl von für den einzelnen Pati-
14 biologische Risikofaktoren derzeit nicht beein- enten relevanten Hypothesen und zum Erstellen
flussbar sind und somit ein wichtiger Präven- eines individuellen Behandlungsplans genutzt
15 tions- wie Interventionsansatz im Nutzbarma- werden kann.
chen und Fördern protektiver Faktoren beste-
16 hen kann. Prädiktion
Sehr wichtig ist auch die Klärung der Frage, Weil disruptives Verhalten aufgrund der Kumu-
17 warum bei manchen Patienten, die im Kindes-
alter eine klinisch relevante Störung des Sozial-
lation von Problemen und der Stabilisierung
solcher Verhaltensweisen ab einem bestimm-

18 verhaltens aufweisen, im weiteren Verlauf dis-


ruptives bzw. dissoziales Verhalten zurückgeht
ten Zeitpunkt kaum noch zu beeinflussen ist, ist
die Durchführung von Frühinterventionen von
(»desistors«). Ein solcher Verlauf kann nicht nur hoher Bedeutung. Hier stehen wir jedoch vor
19 bei Kindern mit einer oppositionellen Störung dem Problem, dass bei Kindern im Vorschul-
auftreten, die als Jugendliche deutlich weniger und frühen Grundschulalter die Vorhersage-
20 auffälliges Verhalten und ein höheres psychoso- genauigkeit noch relativ gering ist. Eine Verbes-
ziales Funktionsniveau aufweisen können, son- serung der Prädiktion würde es erlauben, Maß-
dern auch bei Kindern mit einer signifikanten nahmen der Prävention und Frühintervention
Was wir nicht wissen: Offene Fragen
169 8

auf solche Kinder zu fokussieren, die ein hohes


Risiko für die Entwicklung einer Störung des
Sozialverhaltens aufweisen.

Effektivität und Effizienz von


Interventionen
Entscheidend ist eine Verbesserung der Inter-
ventionsmöglichkeiten bei Störungen des Sozi-
alverhaltens. Dieses beinhaltet auch Fragen der
differenziellen Indikation unterschiedlicher
Interventionsmethoden, der spezifischen Wirk-
mechanismen erfolgreicher Interventionen sowie
des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Interventi-
onen, also ihrer Effizienz, auch unter Berücksich-
tigung übergreifender ökonomischer Aspekte.
Eine in diesem Zusammenhang äußerst wich-
tige Frage ist auch, wie die Behandlungscompli-
ance von Patienten und Eltern, insbesondere bei
psychosozial und sozioökonomisch stark belas-
teten Familien, erhöht und die »Drop-out-Rate«
reduziert werden kann, denn ein wesentlicher
limitierender Faktor für den Interventionserfolg
bei Störungen des Sozialverhaltens besteht dar-
in, dass die Betroffenen nicht ausreichend lange
an geeigneten Interventionen teilnehmen. Auch
der Frage, wie man wirkungsvoll psychosoziale
Belastungen innerhalb dieser Familien vermin-
dern kann, müssten noch mehr Forschungsres-
sourcen gewidmet werden.
Weiterhin erscheint es sehr bemerkenswert,
dass die Tendenz dieser Kinder bzw. Jugendlichen
und ihrer Eltern, sich Interventionen zu entzie-
hen, mit einer Tendenz im Gesundheitssystem
einhergeht, effektive Behandlungsprogramme
– insbesondere die Multisystemische Therapie
nach Henggeler, aber auch im deutschen Sprach-
raum erprobte Interventionsmethoden wie das
Home Treatment – nicht in den Versorgungs-
standard einzubeziehen. Bei der Etablierung und
Umsetzung langfristigerer Interventionspläne,
die auch aufsuchende Interventionen beinhalten
sollten, ist eine enge Zusammenarbeit mit der
Jugendhilfe erforderlich.
Anhang: Leitlinien

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,


Psychosomatik und Psychotherapie können abgerufen werden unter:
http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/ll_kjpp.htm.
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A–C

Sachverzeichnis
184 Sachverzeichnis

Differenzialdiagnose 60, 68, 69, 71,


A 72
B – Entscheidungsbaum 72
Abhängigkeit 46 Dipiperon 117, 143
Aciclovir-Urteil 108 Behandlung 132ff. Dissoziale Persönlichkeitsstörung 14
Adaptives Intelligenz- – ambulante 132 Dissoziales Verhalten 6
Diagnostikum 2 53 – stationäre 136 DISYPS-KJ 51
Adoptivkinder 29 – tagesklinische 136 Dopamin 20
Aggressiver Erregungszustand 69 – teilstationäre 136 Drogenscreening 55
Aggressives Verhalten 34, 35, 77, Belastende Lebensereignisse 50 DSM-IV 12
145, 146 Benommenheit 75 Dyskalkulie 27
– Altersabhängigkeit 34 Benzodiazepine 129 Dyslexie 64
– iktales 77 Beratung 94
– interiktales 77 Berufliche Rehabilitation 156
– Jugendliche 35 Betäubungsmittelgesetz 45, 109
E
– Kleinkinder 34, 35 Betreutes Wohnen 151
EAS 51
– offenes 161 Bewusstseinsminderung 75
Effektivität 169
– postiktales 77 Bewusstseinsstörungen 75, 78
Effizienz 169
– Schulkinder 35 – posttraumatische 78
Einfache Aktivitäts– und
– Umgang mit 145 – qualitativ 75
Aufmerksamkeitsstörung 84
– verdecktes 161 – quantitativ 75
Eingliederungshilfe 151, 152
– Vorschulkinder 34 Bewusstseinsveränderung 75
Elektiver Mutismus 85
AID 2 53 Bindungsstörung des Kindes-
Elektrodermale Hautreaktion 20
Akineton 143 alters 85
Elterliches Erziehungsverhalten 49
Alkohol 80 – mit Enthemmung 85
Eltern 49
Alkoholkonsum 19, 57 – reaktive 85
– Erziehungsstil 49
– während der Schwangerschaft 19 Biperiden 143
– psychische Störung 49
Alleinerziehende Mutter 25 Bipolare Störung 13, 80
– Substanzabhängigkeit 49
Alltagsroutinen 97 Brudzinski-Zeichen 70
Eltern-Kind-Beziehung 96
Ambulante Behandlung 132 Bulimia nervosa 47, 81
Elterntraining 94, 96, 98
Amnesie 78
– Durchführung 98
– retrograde 78 C Emotionale Störung mit Geschwister-
– anterograde 78
rivalität 84
Amphetamin 114 Cannabis 44 Emotionale Unbeteiligtheit 22, 164
Amtshilfe 148 CFT 1 52 Emotional-instabile Persönlichkeits-
Angststörung 22 CFT 20 52 störung 81
Anpassungsstörung 14, 81 CFT 20-R 52 – vom Borderline-Typus 82
– mit gemischter Störung von Child Behavior Checklist 50 – vom impulsiven Typus 81
Gefühlen und Sozialverhalten 14 Citalopram 126, 128 Emotionen 102
– mit vorwiegender Störung des »Coercive Cycle« 23 – negative 102
Sozialverhaltens 14, 81 Cortisol 20 Emotionsregulation 102
Anticholinerges Delir 76 »Craving« 46 Empathie 22
Ärger-Kontroll-Training 102 Culture-Fair-Test 52 Enkopresis 48
Aufforderungen 97
Entgiftung 89
Aufklärung 94
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper- D Entwicklung aggressiven
Verhaltens 162
aktivitätsstörung 21, 37, 161
Defizite 22 Entwicklungsdiagnostik 51
Aufmerksamkeitsstörung ohne
– verbale 22 Entwicklungsgefährdung 162
Hyperaktivität 48
– visuell-räumliche 22 Entwicklungsgeschichte 42
Ausschlussdiagnosen 13, 68
Delinquenz 6 Entwicklungsstörungen 61, 63
Autonomes Nervensystem 20
Delir 74, 76, 143 – der Sprache 61
– anticholinerges 76, 143 – schulischer Fertigkeiten 63
Diazepam 130, 142 – tiefgreifende 15
185
Sachverzeichnis

– umschriebene 61 Geschlossene Unterbringung 94,


Entwicklungsverläufe 164 144, 153 J
Entwöhnung 89 – §1631b BGB 153
Entzugssyndrom 46 – Jugendhilfe 153 Jugendhilfe 89, 149ff.
Enuresis 48 – Rechtliche Grundlagen 144 Jugendhilfeeinrichtung 154
Enzephalitis 70 Geschwister 25
– bakteriell 70 Geschwisterrivalität 84 K
– Herpes simplex 70 Gewaltdarstellungen 28
– viral 70 Gleichaltrige 25 K-ABC 52
Epilepsie 77 Grundintelligenztest 52 Kaufman-Assessment Battery for
EPMS 143 Children 52
EPS 143
Erfolgserwartung für aggressives
H Kernig-Zeichen 70
Kindeswohlgefährdung 155
Verhalten 26 Haftfähigkeit 148 Kleptomanie 83
Erregungszustand 69 Haldol 121 Klinikschule 136
– aggressiver 69 Haloperidol 121 Koersiver Erziehungsstil 23
Erziehungsbeistand 150 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest Koma 75
Erziehungsberatung 149 für Kinder III 52 Kombinierte Störung schulischer
Erziehungsstil 98 Harninkontinenz 48 Fertigkeiten 64
Erziehungsverhalten 23, 96 Hausarbeiten 95 Komorbide Störungen 43, 44, 130
Essstörungen 81 HAWIK-III 52 – Therapie 130
ET 6--6 51 Heidelberger Kompetenzinventar für Kontingenzmanagement 104
Ethnische Gruppen 28 geistig Behinderte 54 Koprolalie 86
Ethnische Zugehörigkeit 24 Heim 151 Kopropraxie 86
Extrapyramidal-motorische Herpes-simplex-Enzephalitis 70 Körperliche Erkrankungen 67
Symptome 143 Herzfrequenz 20 Körperliche Untersuchung 54, 147
Hilfe zur Erziehung 149ff. Krisenintervention 89, 93, 146
F Hilfeplanung 152
Hirntumoren 77 L
Fahndung 149 Hirnverletzungen 78
Familienrichter 144 Home Treatment 132 Landau-Kleffner-Syndrom 57
Familientherapie 99 Längsschnittstudie 2, 164
FBB-HKS 51
FBB-SVV 51
I Legasthenie 64
Leitlinien 171
Fixierung 139 Imipramin 116 Leitsymptome 7, 32
Fluoxetin 126, 128 Immunassay 56 – ICD-10-Forschungskriterien 33
Fluvoxamin 128 Impulsivität 21 Lernbehinderung 67
Freiheitsentziehende Maß- Impulsiv-reaktives Verhalten 161 Lese- und Rechtschreibstörung 64
nahmen 94, 144 Individueller Heilversuch 108, 109 Lesefertigkeiten 27
– rechtliche Grundlagen 144 Indizierte Prävention 92 Lesestörung 63, 64
Funktionsniveau 68 Inobhutnahme 155 Levomepromazin 118, 142
Furchtlosigkeit 22 Intelligenz 66, 67 Lithium 121
Intelligenzdiagnostik 52ff. Lorazepam 129, 142
G Intelligenzminderung 14, 53, 66, 67
Intensive sozialpädagogische Einzel- M
Gaschromatographie-Massen- betreuung 150
spektrometrie 56 Intermittent Explosive Disorder 84 Mädchen 36, 160, 162
GC-MS 56 Interventionsbedarf 89 Manie 13, 80
Geistige Behinderung 67 Interventionssetting 88 MAS 44, 60, 61, 66, 67, 68
Genetische Faktoren 19 Intoxikation 45, 54, 79 – Achse I 44
Gen-Umwelt-Interaktionen 29 Intrakranielle Drucksteigerung 77 – Achse II 61
Gen-Umwelt-Korrelationen 29 Irritierbarkeit 22 – Achse III 66
Geschlechtsunterschiede 36 – Achse IV 67
186 Sachverzeichnis

– Achse V 68 – Atropin 56 Polizei 148


– Achse VI 68 – Cannabis 56 Polizeiliche Fahndung 149
Matrizentest 52 – Ecstasy 56 Postenzephalitisches Syndrom 79
– Coloured Progressive Mactrices – Heroin 56 Posttraumatische Belastungs-
(CPM) 52 – Kokain 56 störung 11
– Standard Progressive Matrices – LSD 56 Power-Test 52
(SPM) 52 Natürliche Konsequenzen 98 Prädiktion 168
Mediatoren-Modell 95 Neuroanatomische Befunde 19 Prädiktoren 165
Medikamentöse Behandlung 108 Neurochemische Befunde 20 Prävention 91
Medizinischer Dienst der Kranken- Neurocil 118, 142 – indizierte 92
kassen 137 Neuroendokrinologische Befunde 20 – selektive 92
Meningoenzephalitis 70 Neuroleptika 117 – universelle 91
Methylphenidat 110ff. Notdienst 146 Proaktiv-aggressives Verhalten 161
– Abbau 111 Notfall 93 Probierkonsum 89
– Appetitminderung 112 Notfallmedikation 137, 142 Problemlösetraining 101
– Depressive Verstimmung 112 – Diazepam 142 Prognose 163
– Doppelblindversuch 111 – Dipiperon 143 Progressive Matrizen-Tests 52
– Dosierung 110 – Levomepromazin 142 Promethazin 117
– Effekte 110 – Lorazepam 142 Prompting 138
– Einschlafstörungen 112 – Neurocil 142 Protektive Faktoren 168
– EKG 114 – Pipamperon 143 Psychische Störung eines Eltern-
– Geistige Behinderung 110 – Tavor 142 teils 24
– Interaktionen 114 – Valium 142 Psychischer Status 41
– Kontraindikationen 113 Notfallversorgung 147 PsychKG 144
– Kontrolluntersuchungen 114 Psychoedukation 94
– Krampfschwelle 113
– Längenwachstum 112
O Psychopathie 2
Psychophysiologische Befunde 20
– MAO-Hemmer 114 Olanzapin 120 Psychosoziale Bedingungen 50
– Nebenwirkungen 111, 112 Oppositionelle Störung 39 Psychosyndrom 79
– Pharmakokinetik 111 Organische Persönlichkeitsstö- – organisches 79
– Psychotische Störung 113 rung 79 Psychotrope Substanzen 44, 46, 56
– Rebound-Effekt 111 Organische Störungen 73 – Nachweisbarkeit 56
– Resorption 112 Organisches Psychosyndrom 78, 79 – Psychotische Störung 46
– Retardpräparat 110 – nach Schädel-Hirn-Trauma 78 Pyromanie 83
– Schwangerschaft 113
– Substanzabhängigkeit 113
– Ticstörungen 113 P Q
Missbrauch 24 Qualitative Bewusstseins-
– sexueller 24 § 8a KJHG 155
§ 35a KJHG 151 störungen 75
Misshandlung 24 Quantitative Bewusstseins-
Monitoring 23, 99 § 1631b BGB 144
Paroxetin 126, 129 störungen 75
Mood stabilizer 121
Multiaxiales Klassifikationssystem 60 Pathologische Brandstiftung 83
Multisystemische Therapie 99, 133 Pathologisches Glücksspiel 82 R
Münchner Funktionelle Entwicklungs- Pathologisches Stehlen 83
diagnostik 52 Pemolin 109, 115 Rauchen während der Schwanger-
Mutismus 85 – Leberschädigung 109 schaft 19
Persönlichkeitsstörung 14, 81, 82, 79 Reaktive Aggressivität 161
– Borderline 82 Rechenstörung 63, 64, 65
N – dissoziale 14 Rechtschreibstörung 63, 64
– emotional-instabile 81, 82 Rehabilitation 154, 156
Nachtdienst 146 – organische 79 – berufliche 156
Nachweis von 56 Pharmakotherapie 107ff. – schulische 156
– Amphetaminen 56 Pipamperon 117, 143 »Response Cost« 104
187
Sachverzeichnis

Risikofaktoren 18, 19, 166 – aggressiv-dissoziale Time-away 138


– organische 19 Störungen 160 Time-out 95, 138
Risperdal 119 Stationäre Behandlung 136 Tourette-Syndrom 48, 85, 86
Risperidon 119 Stimulanzien 109, 110 Training mit aggressiven Kin-
– Aufklärung 109 dern 106
S – Auslassversuch 109
– Betäubungsmittelgesetz 109
– Effekte 109
U
Schädel-Hirn-Trauma 55, 78
Schädlicher Gebrauch 46 – Überdosierung 110 Umschriebene Entwicklungs-
Schizophrenie 13, 80 Störung des Sozialverhaltens 8, 9, störungen 61
Schlafstörungen 47 10, 11, 12, 39, 40, 41, 81 Universelle Prävention 91
Schule 27, 103, 104 – auf den familiären Rahmen
beschränkt 8, 39
Schulische Rehabilitation 156
Schulisches Leistungsversagen 27 – Beginn in der Adoleszenz 12 V
Schulschwänzen 27 – Beginn in der Kindheit 12
– bei fehlenden sozialen Bin- Valium 130, 142
Schutzauftrag des Jugendamtes 155 Valproat 123
Schweigepflicht 38, 94 dungen 9, 41
– bei vorhandenen sozialen Väter 25, 98
Schweigepflichtsentbindung 38 – dissoziale 25
Schweregradeinteilung 7 Bindungen 9, 40
– hyperkinetische 10 Verbale Defizite 22
Sedierung 140 Verdeckte Aggressivität 161
Seelische Behinderung 151 – mit depressiver Störung 11, 81
– mit oppositionellem, aufsässigem Verlauf 160
Selbstkontrolle 107 – aggressiv-dissoziale
Selbst-Verbalisationen 103 Verhalten 9, 39
Störung mit intermittierend auftre- Störungen 160
Selektive Prävention 92 – oppositionelle Störungen 160
Selektive Serotonin-Wieder- tender explosiver Reizbarkeit 84
Störungsbeginn im Kindesalter 164 Verstärkerpläne 96
aufnahmehemmer 126 Verwahrlosung 3
Serotonin 20 Störungsbeginn in der Adoles-
zenz 165 Vigilanz 75
SGB V 152 Viktimisierung 26
SGB VIII 152 Substanzkonsum 46
Vineland Social Maturity Scale 54
SGB IX 156 Virusenzephalitis 70
Sicherheitsmaßnahmen 145, 146 T Visuell-räumliche Defizite 22
Snijders-Oomen Non-verbaler Vollstationäre Maßnahmen 150
Intelligenztest 53 Tagesgruppe 150 Vollzeitpflege 150
Somatoforme Störungen 11, 80 Tagesklinische Behandlung 136
Somnolenz 75 Talking down 138
SON-R 2½-7 53 Tavor 129, 142 W
SON-R 5½-17 53 Teilhabeproblematik 152
Sopor 75 Teilstationäre Behandlung 136 »Weiche« Drogen 89
Soziale Gruppe 150 Temporallappen-Epilepsie 77 Wohngruppe 151
Soziale Wahrnehmung 25, 101 Testbatterie für geistig behinderte
Sozialer Kontext 34 Kinder 54 Z
Soziales Kompetenztraining 101 Testdiagnostik 50, 51
Sozialpädagogische Familien- Testosteron 20 Zerebrale Infektion 55, 57, 69, 70
hilfe 150 Therapieplan 90 Zerebrale Raumforderung 77
Sozioökonomischer Status 28 Therapieprogramm für Kinder mit Zurückweisung durch Gleich-
Speed-Test 54 hyperkinetischem und oppositio- altrige 26
Sprachstörungen 22, 53, 61, 62 nellem Verhalten 105 Zwangsmaßnahmen 139
– expressive 61, 62 THOP 105 – Fixierung 139
– rezeptive 61, 62 Tiaprid 113 – Sedierung 140
SSRI 126 Ticstörungen 47, 85 Zwangsstörungen 11
Stabilität 160 Tiefgreifende Entwicklungs- Zyprexa 120
– oppositionelle Störungen 160 störungen 15
Tierquälen 36

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