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Begründet von
Theo W. Herrmann (†)
Werner H. Tack
Franz E. Weinert (†)
Weitergeführt von
Marcus Hasselhorn
Herbert Heuer
Frank Rösler
Herausgegeben von
Marcus Hasselhorn
Wilfried Kunde
Silvia Schneider
Gerhard Stemmler
Dirk Hagemann
Manfred Amelang
Frank M. Spinath
Verlag W. Kohlhammer
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der
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ISBN 978-3-17-025721-4
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Inhalt
1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2 Zur Universalität interindividueller Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.2.1 Interindividuelle Differenzen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.2.2 Interindividuelle Differenzen bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.3 Anfänge der Messung interindividueller Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.3.1 Antike und Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.3.2 Mittelalter und Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.3.3 »Mental Tests« und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.3.4 Die Beiträge von Binet und Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.3.5 Erfassung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
1.4 Abgrenzung der Differentiellen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
1.4.1 Entwicklung und Aufgaben der Differentiellen Psychologie . . . . 38
1.4.2 Zum Antagonismus zwischen Differentieller und Allgemeiner
Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.5 Zentrale Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
1.5.1 Variablen und Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
1.5.2 Konstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1.5.3 Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
1.5.4 Nomothetische, idiographische und idiothetische Methode . . . . 49
1.6 Inhaltliche Konzepte der Differentiellen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1.6.1 Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1.6.2 Verhaltensgewohnheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
1.6.3 Dispositionseigenschaften und Verhaltensmerkmale . . . . . . . . . . . . 55
1.6.4 Verhaltensvorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
1.6.5 Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
1.6.6 Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
2.1 Die Analyse von Variation und Kovariation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5
Inhalt
6
Inhalt
7
Inhalt
8
Inhalt
9
Inhalt
10
Inhalt
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
Bildquellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685
11
Zusatzmaterial
12
Vorwort zur 8. Auflage
Mit der 8. Auflage verabschieden wir den Theorien aufgrund empirischer Untersu-
Gründungsautor Dieter Bartussek aus chungen wachsen. Diesem Grundverständ-
dem Autorenkreis der Differentiellen nis folgt die Darstellung in diesem Buch:
Psychologie und Persönlichkeitsforschung Differentielle Psychologie und Persönlich-
und danken ihm herzlich für die zweiein- keitsforschung werden anhand der einfluss-
halb Jahrzehnte währende Arbeit an die- reichsten aktuellen und früheren empiri-
sem Standardwerk unseres Faches. Gleich- schen Untersuchungen dargestellt. Ohne
zeitig begrüßen wir Frank M. Spinath als eine theoretische Integration wäre die Viel-
neuen Autor. Wir sind uns sicher, dass er zahl an empirischen Befunden allerdings
dem Werk zukünftig neue Impulse geben »blind«: Theorie und Empirie sind stets
wird. aufeinander bezogen.
Das Fach Persönlichkeitspsychologie, wie Die Neuauflage ist noch studienfreund-
es in vielen aktuellen Studien- und Prüfungs- licher geworden. Jedes Kapitel wird mit einer
ordnungen heißt, ist ein für die Psychologie Übersicht über die wichtigsten Inhalte ein-
zentrales Fach. Es integriert die Grundlagen- geleitet. Alle Unterkapitel erster Ordnung
fächer der Psychologie, die jeweils nur ein- werden durch eine Zusammenfassung be-
zelne Aspekte der Person untersuchen, und schlossen. Außerdem wurde das Sachver-
es bildet eine essentielle Grundlage für die zeichnis überarbeitet. Mit diesen Änderun-
Anwendungsfächer der Psychologie, einge- gen kommen wir den Wünschen aus der
schlossen die Psychologische Diagnostik. Leserschaft gerne nach.
Daher sind gründliche Kenntnisse in der Wir danken dem Verlag Kohlhammer
Persönlichkeitspsychologie und ihrer Me- und insbesondere Ulrike Albrecht und Dr.
thodologie für ein wissenschaftliches Stu- Ruprecht Poensgen für die ausgezeichnete
dium der Psychologie unverzichtbar. Das Zusammenarbeit auch bei der Vorbereitung
vorliegende Lehrbuch vermittelt die Metho- dieser 8. Auflage.
dik und die Inhalte des Fachs. Das Buch
möchte auch wissenschaftliches, kritisches Marburg, Heidelberg und Saarbrücken
Denken fördern. im Februar 2016
Wir gehen davon aus, dass persönlich-
keitspsychologische Erkenntnisse durch Gerhard Stemmler Manfred Amelang
Theorienbildung und Überprüfung von Dirk Hagemann Frank M. Spinath
13
Hinweise zur Benutzung
Seit der Einführung der gestuften Studien- Stoffempfehlung für ein kleines
gänge Bachelor und Master ist eine er- Curriculum
staunliche Bandbreite im Umfang der Lehre
an verschiedenen Universitätsstandorten Der Stoffumfang bei einem kleinen persön-
festzustellen. Dessen ungeachtet halten wir lichkeitspsychologischen Curriculum folgt
an dem Anspruch einer gehaltvollen und den Möglichkeiten einer zweistündigen Vor-
umfassenden Wissensvermittlung im Fach lesung. Dies wird durch den Stoffumfang des
Persönlichkeitspsychologie fest. Daher ist es halben Buchs, etwa nach dem folgenden
unser Ansatz, ein einziges Lehrbuch für die Vorschlag, erreicht:
verschieden großen Umfänge des Curricu-
lums in unserem Fach bereitzustellen. Denn l Kap. 1 Grundlagen
der Grad der Auseinandersetzung mit dem l Kap. 2 Methoden der Persönlichkeitsfor-
Stoff sollte bei einem wissenschaftlichen schung (Selbststudium, wenn die Inhalte
Studium der Psychologie nicht durch Ver- noch nicht bekannt sind)
zicht auf den wissenschaftlichen Anspruch, l Kap. 3.1 Gewinnung empirischer Daten:
sondern durch Anpassung des Stoffumfangs Der eigenschaftstheoretische Ansatz
an das Curriculum bestimmt werden. l Kap. 4 Modellierung von Intelligenz-
Hierfür geben wir Empfehlungen für struktur
Ausschnitte aus dem Stoffgebiet, zuge- l Kap. 7 Modellierung von Persönlichkeits-
schnitten auf ein kleines (Vorlesung mit 2 struktur
SWS), mittelgroßes (Vorlesung mit 3 SWS) l Kap. 8 Biologische Grundlagen und Kor-
und großes (Vorlesung mit 4 SWS) Curricu- relate der Persönlichkeit
lum. Damit bleibt den Studierenden das – Kap. 8.1 Die biologischen Erklärungs-
Lehrbuch ein wertvolles Nachschlage- und theorien der Persönlichkeit von Ey-
Orientierungswerk auch für andere Module senck
im Bachelor- und Masterstudium, in denen – Kap. 8.2 Die BIS/BAS-Theorie der Per-
weitergehende persönlichkeitspsychologi- sönlichkeit von Gray
sche Grundlagen erforderlich sind. l Kap. 11 Konzepte des Selbst in der Per-
sönlichkeitspsychologie
l Kap. 13 Genetische Faktoren
l Kap. 14 Umweltfaktoren
– Kap. 14.1 Dimensionierung der Um-
welt
– Kap. 14.2 Allgemeine Milieu- und
Anregungsfaktoren
l Kap. 15 Gruppenunterschiede
14
Hinweise zur Benutzung
Der Stoffumfang bei einem mittelgroßen Der Stoffumfang bei einem großen persön-
persönlichkeitspsychologischen Curriculum lichkeitspsychologischen Curriculum folgt
folgt den Möglichkeiten einer dreistündigen den Möglichkeiten einer vierstündigen Vor-
Vorlesung. Dies wird durch den Stoffumfang lesung. Ihr liegt der gesamte Stoffumfang des
von drei Viertel des Buchs, etwa nach dem Buchs zugrunde. Die gegenüber dem mittel-
folgenden Vorschlag und zusätzlich zu dem großen Curriculum hinzukommenden Teile
Stoff des kleinen Curriculums, erreicht: umfassen:
15
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
1 Grundlagen
Womit befasst sich die Differentielle Psychologie? Was versteht man unter Persönlichkeit?
Um diese grundlegenden Fragen geht es in diesem einleitenden Kapitel. Zunächst
besprechen wir, welche Bedeutung interindividuelle Unterschiede in physischen und
psychischen Merkmalen haben und warum deren Erforschung psychologisch relevant ist
(1.1). Sodann fragen wir, wie groß interindividuelle Unterschiede bei Menschen und bei
Tieren sind und wie die betrachteten Merkmale in einer Population verteilt sind (1.2). Der
Frage der Bedeutung von interindividuellen Unterschieden wird in einem geschichtlichen
Exkurs vertiefend nachgegangen. Hier wird schnell deutlich, dass es immer auch um die
Messung von psychischen Merkmalen geht, was im Bereich der Persönlichkeit von
unterschiedlichen Konzepten oder Perspektiven aus geschehen ist (1.3). Die Erläuterung der
Aufgaben der Differentiellen Psychologie führt direkt zu der Frage ihrer Abgrenzung von
der Allgemeinen Psychologie (1.4). Schließlich werden zentrale Begriffe – von »Variablen«
über »Konstrukte« bis zu »Persönlichkeit« (1.5) – und inhaltliche Konzepte wie Verhal-
tensgewohnheiten, Dispositionseigenschaften und Verhaltensvorhersage sowie Zustände
und Typen besprochen (1.6).
1.1 Einführung
Wie jede Alltagserfahrung lehrt, ist die Unter- rakteristika. Die Besonderheit der Person
scheidbarkeit von Individuen eine der Grund- wird hingegen in der spezifischen Kombina-
tatsachen des Lebens überhaupt. Die indivi- tion der Merkmale erkennbar. Selbst wenn
duellen Besonderheiten sind bereits unmittel- man nur ein Merkmal betrachtet, so gilt
bar nach der Geburt offenkundig und verstär- einem alten Sprichwort zufolge, dass Glei-
ken sich mit zunehmender Reifung. Keiner ist ches, von Verschiedenen getan, doch nicht
dem anderen gleich in Aussehen, Gestik, dasselbe sein muss. Damit wird auf die
MimikundAuftreten,inDenkweise,Meinun- spezifischen Beweggründe für Verhalten oder
gen und Einstellungen, in Sprache und Ver- auf die nicht exakt wiederholbare situative
halten. Jeder reagiert in einer ihm eigenen Einbindung des Verhaltens abgehoben und
WeiseaufseineUmweltunddieMitmenschen. die Einheit und Unverwechselbarkeit der
Selbst wenn zwischen mehreren Personen Person unterstrichen.
gewisse Übereinstimmungen bestehen, gelten Seit alters her sind die individuellen Be-
diese allenfalls für eng umschriebene Cha- sonderheiten beobachtet und registriert wor-
19
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
den. Sie liefern das Material für Literatur, chotherapeutischer Behandlung oder bei der
Schauspiel oder bildende Kunst, wo immer Wahl des Partners im Vorteil.
wieder das Charakteristische einzelner Men- Die Reihe derartiger Beispiele ist beliebig
schen akribisch herausgearbeitet worden ist. fortsetzbar. Festzuhalten ist, dass in vielen
Erhebliche Bedeutung haben die individu- Merkmalen interindividuelle Unterschiede
ellen Eigenarten für das soziale Gefüge. Die bestehen, manche allerdings für den Einzel-
differenzierte Leistungsgesellschaft etwa ist nen nahezu ohne Belang und andere nur in
eine Folge der Auffassung, dass nicht alle einzelnen Situationen relevant sind (z. B. die
Mitglieder einer Gesellschaft alle anfallenden Form der inneren Gehörgänge, die Neigung
Aufgaben gleich gut bewältigen können, zu Seekrankheit). Interindividuelle Unter-
weshalb sich eine gezielte Platzierung von schiede in Merkmalen wie dem Geschlecht,
Personen anbietet. Qualifikationsmerkmale der Hautfarbe, der Intelligenz oder der Per-
von Personen sollten möglichst gut mit den sönlichkeit sind hingegen situationsüber-
Anforderungen von Aufgaben zur Deckung greifend von größter Bedeutung, weil davon
kommen. Konstitutiver Bestandteil der Leis- die Wirksamkeit von Menschen auf die Welt
tungsgesellschaft ist ein Bildungssystem, das und umgekehrt die Rückwirkung der Um-
eine unterschiedliche Lernfähigkeit und welt auf sie mitbestimmt wird.
Schulbarkeit seiner Bürger unterstellt und Die Beschreibung und Analyse derartiger
für diese von Sonderschulen bis zu Universi- interindividueller Differenzen zwischen Indi-
täten zahlreiche Bildungseinrichtungen be- viduen oder Gruppen bilden den Gegenstand
reithält, die darüber hinaus noch beträcht- der Differentiellen Psychologie. Im Unter-
liche Binnengliederungen vorsehen. Auf schied dazu behandelt die Allgemeine Psy-
weite Strecken lebt zudem die Wirtschaft chologie die Gesetzmäßigkeiten des Verhal-
von den unterschiedlichen Ansprüchen der tens und Erlebens des durchschnittlichen
Menschen, indem sie für eine große Produkt- Individuums. Dabei ist nicht unbedingt si-
vielfalt sorgt. cher, dass es ein solches »durchschnittliches«
Nur auf den ersten Blick mag es demgegen- Individuum überhaupt gibt und dass die
über paradoxanmuten,wenninderGeschich- Gesetzmäßigkeit auf alle Mitglieder der
te immer wieder Gleichheit der Menschen Population gleichermaßen gut zutrifft. An-
eingefordert wurde, wie in der Unabhängig- ders ausgedrückt befasst sich die Differen-
keitserklärung der USA (»All men are created tielle Psychologie mit dem systematischen
equal«), dem Ideal der Französischen Revo- Teil der von der Allgemeinen Psychologie
lution (»Liberté, Egalité, Fraternité«) oder in ausgeklammerten Variabilität im Verhalten
gewerkschaftlichen Forderungen (»Gleicher und Erleben.
Lohn für gleiche Arbeit«). Damit sollte zu- Die differentialpsychologische Betrach-
mindestdenärgstenAuswüchsen eineraufder tung von Unterschieden bezieht sich nicht
Ungleichheit der Menschen basierenden Poli- nur auf Unterschiede zwischen Personen zu
tik von Knechtschaft und Ausbeutung ent- einem gegebenen Zeitpunkt (Querschnittsbe-
gegengetreten und zum Teil auch die behaup- trachtung), obgleich dies ihr Hauptgegen-
tete (»Natur-«)Notwendigkeit der Ungleich- stand ist. Auch die Merkmalsfluktuation
heiten selbst bestritten werden. innerhalb einer Person über Situationen oder
Tatsächlich bestehen Ungleichheiten. Zeitpunkte hinweg (Längsschnittbetrach-
Männer werden immer noch trotz vergleich- tung, intraindividuelle Unterschiede) kann
barer Leistungen besser als Frauen entlohnt. Gegenstand der Differentiellen Psychologie
Ältere erhalten mehr Lohn als Jüngere. Gut sein. Dann werden interindividuelle Unter-
aussehende Personen sind gegenüber weniger schiede in den intraindividuellen Prozessen
attraktiven im Ausbildungsprozess, bei psy- untersucht. Wenn solche Unterschiede nicht
20
1 Grundlagen
bestehen oder nicht interessieren, sind die l dem Ausmaß interindividueller Differen-
Prozesse Gegenstand der Allgemeinen Psy- zen,
chologie oder auch der Entwicklungspsycho- l ihrer Beeinflussbarkeit durch Training,
logie, je nachdem, ob es sich um kürzere veränderte Anregungsbedingungen, Me-
Zeitstrecken im Sekundenbereich bis zu meh- dikamente und andere Bedingungen,
reren Wochen handelt oder ob es um längere l den organismischen, kognitiven, emotio-
Zeitabschnitte bis hin zu vielen Jahren geht. nalen und motivationalen Grundlagen für
diese Differenzen,
Differentialpsychologische Fragestellungen l ihren Ursachen, darunter Erb- und Um-
gelten weltfaktoren sowie
l der Vorhersage von zukünftigem Verhal-
l der Beschaffenheit von Merkmalen oder ten aufgrund dieser Differenzen.
Prozessen, in denen es interindividuelle
Differenzen gibt, Viele dieser Fragestellungen sind Gegenstand
l der wechselseitigen Abhängigkeit solcher dieses Lehrbuchs.
Merkmale,
21
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
1500 350
1250 300
1000 250
200
750
150
500
100
250
50
0
0
140 150 160 170 180 190 200 1,5 2,2 2,9 3,5 4,2
1,9 2,5 3,2 3,9 4,5
Körpergröße in cm Liter
Abb. 1.1: Verteilung der Körpergröße von 8585 Abb. 1.2: Histogramm für die Häufigkeitsvertei-
Personen englischer Herkunft (nach lung der Vitalkapazität (in Litern) bei
Yule & Kendall, 1950, S. 95). einer Stichprobe von 1491 Soldaten mit
Die Mehrzahl der in der Stichprobe einer Körpergröße um 170 cm.
erfassten Personen zeigte mithin eine
Körpergröße zwischen etwa 165 und
175 cm. Der mittlere Wert von ca.
zung der Maßzahlklasse 3,2 bis 3,5 zurück.
170 cm wurde am häufigsten beobach-
tet. Extremere Werte in beiden Rich- Solche und ähnliche Abweichungen von
tungen kamen immer seltener vor, bis der symmetrischen Normalverteilungsform
schließlich in den Ausprägungskatego- scheinen bei komplexeren Merkmalen gerin-
rien unterhalb 144 und oberhalb ger zu werden.
195 cm überhaupt keine Personen mehr Wie bei anatomischen und physiologi-
vorzufinden waren.
schen Merkmalen kann man auch für viele
psychologische Maße wenigstens annähernd
beispielsweise der Menge von Harnstoff im glockenförmige Verteilungen der individuell
Blut, der Konzentration von Natriumionen unterschiedlichen Ausprägungsgrade fest-
oder derjenigen von Eisen. Jede Person scheint stellen. Beispiele aus dem Leistungs-, Persön-
eine für sie einzigartige Kombination der lichkeits- und Einstellungsbereich mögen das
einzelnen Bestandteile des Sekretsystems auf- belegen.
zuweisen. Die annähernd glockenförmige
Häufigkeitsverteilung bzw. Normalvertei- Im Jahr 2004 verteilte sich die Leistung der 219
lung von Messwerten ist nicht nur für Merk- 826 Abiturienten, ausgedrückt durch die über alle
Fächer gemittelten Abiturnoten, wie in Abbil-
male wie die Körpergröße, sondern auch für dung 1.3 dargestellt. Die Gedächtnisleistung von
einige physiologische Maße zu beobachten. Studierenden verschiedener Fachrichtungen wur-
Dies ist zum Beispiel bei Messungen der de von Amelang erfasst. Die Probanden mussten
Vitalkapazität (nach Wechsler, 1952), d. h. zunächst eine Minute lang einen sinnvollen Text
lesen. Nach einem Intervall von 10 Minuten wur-
der Differenz des Luftvolumens zwischen
de sodann nach spezifischen Passagen des Inhalts
maximalem Ein- und Ausatmen, erkennbar gefragt und die Anzahl richtig erinnerter Details
(c Abb. 1.2). als Gedächtnismaß verwendet (c Abb. 1.4).
Die Normalverteilung stellt eine wahr-
scheinlichkeitstheoretische Zufallsverteilung Nicht viel anders sieht es aus, wenn Personen
dar. Sie wird wegen ihrer Bedeutung für die hinsichtlich eines oder mehrerer Persönlich-
Differentielle Psychologie hier näher bespro- keitsmerkmale von Freunden oder Bekann-
chen. Die erkennbare Asymmetrie in Abbil- ten eingeschätzt werden oder die Betreffen-
dung 1.2 geht vor allem auf eine Überbeset- den sich in Persönlichkeitsfragebogen selbst
22
1 Grundlagen
20 20
18
15 16
14
Prozent
12
Prozent
10 10
8
5 6
4
2
0 0
2 r
1, ,5 ,8 ,1 ,4 ,7 ,0 ,3 ,6 ,9 be 0,
5
1,
5
2,
5
3,
5
4,
5 5 5 5 5 5
5, 6, 7, 8, 9,
t er ,3–1 ,6–1 ,9–2 ,2–2 ,5–2 ,8–3 ,1–3 4–3 ,7–3 arü
un 1 1 1 2 2 2 3 3, 3 dd
Extraversionspunktwerte
un
9
3,
Abiturnote Abb. 1.5: Histogramm für die Häufigkeitsvertei-
lung der Extraversions-/Introversions-
Abb. 1.3: Histogramm für die Häufigkeitsvertei- punktwerte (hohe Punktwerte bedeu-
lung der Abiturdurchschnittsnoten ten Extraversion) in einer Stichprobe
(N ¼ 219 826) in 15 Bundesländern in von 1000 Soldaten (nach Eysenck, 1947).
Deutschland im Jahr 2004.
23
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
30 80
60
20
Prozent
Prozent
40
10
20
0 0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 15 45 75 105
links Politische Präferenz rechts Verspätung (Min.)
24
1 Grundlagen
Rahmen der Versuche von Köhler (1921) als Lernprozesse zu erforschen. Vor allem Paw-
Erster aus einer größeren Schar seiner Art- low bediente sich dieser Tiere bei seinen
genossen verstand, durch die teleskopartige bekannten Experimenten zur Erforschung
Verbindung zweier Stäbe eine ansonsten bedingter Reaktionen (Pawlow, 1953a, b),
unerreichbare Banane an den Käfig heranzu- wie vor allem der Speichelreaktionen und
holen. verschiedener Vermeidungsreaktionen. Be-
Systematische Untersuchungen haben reits in den ersten Versuchsreihen traten
darüber hinaus ergeben, dass zwischen deutliche Unterschiede zwischen den Tieren
Schimpansen, die unter vergleichbaren in Bezug auf die Geschwindigkeit auf, mit der
Zuchtbedingungen aufwachsen, beträcht- bedingte Reaktionen erworben wurden bzw.
liche Unterschiede hinsichtlich der verschie- diese wieder gelöscht werden konnten. Als
densten Merkmale bestehen, die sich als Grundlage dieser Differenzen nahm man
soziale Interaktion, Gebrauch von Werkzeu- Unterschiede in der Tätigkeit der Großhirn-
gen, emotionaler Ausdruck, Nahrungspräfe- rinde an, in der Erregungs- und Hemmungs-
renz und Essgewohnheiten beschreiben bzw. prozesse das Geschehen beeinflussen. Je nach
als Freundlichkeit und Aggressivität inter- dem Überwiegen eines dieser beiden Prozesse
pretieren lassen (Uher & Asendorpf, 2008). unterschied man den Typ mit einem »schwa-
Auch Ratten unterscheiden sich unter chen Nervensystem« vom Typ mit einem
experimentellen Bedingungen in Verhaltens- »starken Nervensystem«. Beim Ersteren sol-
weisen, die als Ausdruck von Neugier, len die Hemmungsprozesse überwiegen, er ist
Furchtsamkeit, Aggressivität oder anderen schlechter konditionierbar, beim Typ mit
Merkmalen gedeutet werden können. dem »starken Nervensystem« sollen die
Grundlage solcher Interpretationen sind An- überwiegenden Erregungsprozesse für die
ordnungen, in denen die Tiere ein für sie bessere Konditionierbarkeit verantwortlich
neues Labyrinth von Laufgängen explorieren sein.
können und darauf verschieden viel Zeit oder
Laufarbeit verwenden und in denen sie sich Eine frühe Untersuchung, in der nicht nur die
an den Begrenzungswänden einer von oben Unterschiede innerhalb, sondern auch diejenigen
mit grellem Licht bestrahlten Fläche aufhal- zwischen den Arten beschrieben wurden, ist die
ten bzw. sich auch zur Mitte des ihnen Studie von Fjeld (1934). Dort konnten Tiere in
verfügbaren offenen Feldes »wagen« oder einem Lauftrakt durch Betätigung von Drucktas-
ten das Öffnen einer Tür und damit Zugang zum
Artgenossen in unterschiedlicher Häufung Futter erreichen. Das Erlangen dieses Futters hatte
und Intensität angreifen. für die hungrigen Versuchstiere die Folge, dass ihr
Besondere Beachtung verdient dabei die Tastendrücken, das zunächst nur zufällig und
Beobachtung, dass das jeweilige Verhalten ungerichtet als Bestandteil unspezifischen Explo-
rationsverhaltens auftrat, bekräftigt wurde und
konsistent über verschiedene Situationen seine Auftretenshäufigkeit zunahm. Die Schwie-
auftritt. Diejenigen Tiere, die Angriffsverhal- rigkeit der Lernaufgabe konnte dadurch gesteigert
ten gegenüber dem einen Artgenossen zeigen, werden, dass nicht nur eine, sondern zwei oder
attackieren zu einem späteren Zeitpunkt drei Drucktasten, diese zudem in spezifischer
auch einen anderen; diejenigen, die keine Abfolge, berührt werden mussten. Als Versuchs-
tiere standen Meerschweinchen, Ratten, Katzen
Aggression oder nur milde Formen bei der und zwei Spezies von Affenzur Verfügung. Wie aus
ersten Gelegenheit erkennen lassen, reagieren Tabelle 1.1 ersichtlich, bestehen zwischen den
später ebenfalls eher friedlich. Analoges ist Arten erhebliche Differenzen in der Fähigkeit,
für Sexualität, Furchtsamkeit usw. zu beob- den gestellten Anforderungen zu entsprechen. Von
den Meerschweinchen kam keines über die ein-
achten. fachste Aufgabe hinaus, während einige der Rhe-
Wie Ratten so wurden auch Hunde in sus-Affenbis zur 22. Schwierigkeitsstufe vordran-
erster Linie herangezogen, um allgemeine gen.
25
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Tab. 1.1: Unterschiede im Problemlösen innerhalb und zwischen verschiedenen Spezies (nach Fjeld,
1934).
N 30 35 62 17 6
In anderem Kontext konnte Hirsch (1959) Selbst auf dem Organisationsniveau von
Verhaltensunterschiede an der Drosophila Einzellern lassen sich charakteristische
melanogaster (Taufliege) feststellen. Er beob- Unterschiede finden. Diese beziehen sich
achtete die Tiere in einem Labyrinth, in dem zum Beispiel bei Paramaecien (Pantoffeltier-
sie sich an den Entscheidungspunkten für ein chen) nicht nur auf deren Längenwachstum
Ausweichen nach oben (gegen die Gravita- (c Abb. 1.9), sondern auch auf ihr Sozialver-
tion) oder nach unten (im Sinne der Gravi- halten (French, 1940), sich nämlich allein
tation) entscheiden mussten. Ausgewertet oder in Körperkontakt mit ihresgleichen
wurde für jedes Tier die Anzahl seiner Ent- durch Nährflüssigkeiten zu bewegen.
scheidungen, nach oben, gegen die Gravita- Die Liste derartiger Beispiele könnte nahe-
tion, auszuweichen. Die so erhaltenen »geo- zu beliebig fortgesetzt werden. Das referierte
taktischen Reaktionswerte« von vielen Tie-
ren zeigten die Häufigkeitsverteilung in Ab- 50
bildung 1.8. Die Ähnlichkeit der Verteilung
mit den Verteilungen von Merkmalsausprä-
Anzahl der Tiere
25
25
{ {
20
{
{
Prozent
15
0
130 150 170 190 210
10 {
{
Länge (µm )
5 {
{ {
empirische Verteilung
{ { {
0
0 2 4 6 8 10 12 Normalverteilung
Geotaktische Werte Abb. 1.9: Verteilung der Längen von 300 Para-
maecien aus einer Zucht (Nachkommen
Abb. 1.8: Verteilung der geotaktischen Reaktions- eines einzigen Tieres; nach Kühn, 1961,
werte für Taufliegen (nach Hirsch, 1959). S. 24).
26
1 Grundlagen
Material reicht jedoch völlig aus, um die lierte These zu belegen, dass Verschiedenheit
generelle Gestalt- und Verhaltensdifferenzie- und Individualität grundlegende Fakten allen
rung auch im Bereich tierischen Lebens zu Lebens sind.
illustrieren und damit die eingangs formu-
1.3.1 Antike und Judentum Trinken zu beobachten: »Jeden, der mit der
Zunge von dem Wasser leckt, wie der Hund leckt,
den stelle beiseite; desgleichen jeden, der zum
In alten Texten finden sich nur sporadische Trinken niederkniet« (Richter 7,5). Hier wurde
Hinweise auf die Bedeutung, die zwischen- also eine Kombination von subjektiven und ob-
menschlichen Unterschieden beigemessen jektiven Reaktionen der Getesteten diagnostisch
verwertet: Die Selbsteinschätzung der Tapferkeit
wird. Dubois (1966) hat die Anfänge psy-
sollte die Bewährung im Kampf, das Trinkverhal-
chologischen Testens bis in die Zeiten des ten hingegen andere Merkmale wie Selbstbeherr-
alten China (um 1100 v.Chr.) zurückverfolgt. schung, Disziplin und Bildung vorhersagen.
Damals wurden Leistungsprüfungen vorge- Jedenfalls blieben nach Anwendung dieser se-
nommen, um aus den Bewerbern für geho- quentiellen Strategie ganze 300 Mann übrig; eine
erfolgreiche Selektion, denn die Schlacht wurde
bene Posten im Staatsdienst die Geeignetsten gewonnen.
ausfindig zu machen. Die Aufgaben bestan-
den aus Verhaltensstichproben, die zu den
fünf Künsten Musizieren, Bogenschießen, Festzuhalten ist, dass komplexe interindivi-
Reiten, Schreiben und Rechnen gehörten. duelle Differenzen mit Hilfe von Tests erfasst
werden können, um Verhalten in bedeu-
Ein anderes Beispiel für selektive Platzierung ist im tungsvollen Bewährungssituationen vorher-
Buch der Richter des Alten Testaments überliefert. zusagen, für die die im Alltag anfallenden
Dort sollte auf Gottes Geheiß der Feldherr Gideon Beobachtungsgelegenheiten nicht ausrei-
seine Rekruten zunächst grob vorselegieren durch chen. Ganz in diesem Sinne hat die Untersu-
den öffentlichen Aufruf: »Wer blöde und verzagt
ist, der kehre um!« und in einem zweiten Durch-
chung riesiger Personenzahlen mit psycholo-
gang die Verbliebenen (nur 10 000 von ursprüng- gischen Tests in den beiden Weltkriegen einen
lich 32 000!) zum Wasser führen, um sie dort beim völlig neuen Stellenwert erhalten.
27
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
28
1 Grundlagen
einem Vetter Darwins, ausgegangen. Als Um Messwerte von möglichst vielen Individuen zu
Biologe, Geograph, Statistiker, Meteorologe erhalten, richtete Galton 1885 auf der »Interna-
tional Health Exhibition« in London ein anthro-
und Weltreisender war Galton einer der pometrisches Laboratorium ein, in dem jeder
vielseitigsten und brillantesten Wissenschaft- Besucher gegen Entrichtung von threepence »get
ler des 19. Jahrhunderts und einer der Be- himself and his children weighed, measured and
gründer der wissenschaftlichen Untersu- rightly photographed, and have their bodyly
chung individueller Differenzen. faculties tested by the methods known to modern
science« (Galton, 1883). Über die Resultate bekam
Hauptsächlich an der Vererbung interes- man ein Messblatt ausgehändigt (c Kasten 1.1).
siert, übertrug er den Gedanken der Erblich-
keit physischer auf psychische Merkmale,
vor allem auf den Bereich der Intelligenz. In Galton beschäftigte sich in diesem Zusam-
seinem Buch »Hereditary Genius« zeigte er menhang auch mit der Analyse der Vertei-
unter Anwendung der Stammbaummethode lungsform von psychischen Variablen.
die Ballung spezifischer Begabungen in ein- Grundlage dafür war die von Gauß (1809)
zelnen Familien auf (Galton, 1869). mathematisch hergeleitete Normalvertei-
Um differenzierte Daten über Begabungs- lung, deren wahrscheinlichkeitstheoretische
unterschiede zu erhalten, waren an zahlrei- Grundlage Galton mit Hilfe des nach ihm
chen Personen objektive Messungen zu erhe- benannten Galton-Brettes veranschaulichen
ben. Dafür mussten spezielle Tests konstruiert konnte. Ebenso wie physische Maße sollten
und eingesetzt werden. Aber welche Merk- sich auch psychische Merkmale wie die Intel-
malsbereiche sollten geprüft werden? Galton ligenz normal verteilen. Einen wesentlichen
war stark vom Empirizismus John Lockes Beitrag zur quantitativen Analyse von Merk-
beeinflusst, dem zufolge jedes neugeborene malszusammenhängen leistete Galton mit
Kind zunächst einer »tabula rasa«, einem seiner Formulierung eines »Index of Correla-
»unbeschriebenen Blatt«, gleicht. Erst die tion«. Dieser wurde später von seinem Schü-
Sinneseindrücke im Laufe der Entwicklung ler Karl Pearson (1857–1936) zum heute
liefern die Grundlage für komplexere psychi- gebräuchlichen Korrelationskoeffizienten
sche Prozesse wie Denken und Urteilen: weiterentwickelt. Daneben entwarf Galton
das Konzept der statistischen Regression.
»Die einzige Information über äußere Ereignisse, Die Variabilität psychischer Leistungen
die uns erreicht, scheint den Weg über unsere Sinne zeigte sich eindrucksvoll in einem Vorfall in
zu nehmen; je empfänglicher die Sinne für Unter- der Sternwarte von Greenwich im Jahre
schiede sind, desto größer ist die Grundlage, auf
der unser Urteilsvermögen und unsere Intelligenz 1796. Der dortige Chef hatte seinen Assis-
agieren können« (Galton, 1883, S. 27, Überset- tenten entlassen, weil dieser im Vergleich zu
zung von den Verfassern). seinem Vorgesetzten die Durchgänge der
Sterne durch das Fadenkreuz im Teleskop
Entsprechend versuchte er, das Auflösungs- jeweils nur mit einer Verzögerung von 0,8
vermögen und die Abbildungsschärfe der Sek. zu registrieren vermochte. Zwanzig
Sinne zu prüfen. So entwickelte er Testver- Jahre später stieß der Königsberger Astro-
fahren für das Farbensehen sowie für das nom Bessel auf eine Notiz über den besagten
Unterscheidungsvermögen im visuellen, Vorfall, was ihn zu Vergleichsuntersuchun-
akustischen und kinästhetischen Bereich. gen der Reaktionszeit an seinen Kollegen und
Die berühmte Galton-Pfeife zur Prüfung der sich selbst veranlasste – wohl den ersten
Hörschwelle für hohe Töne ist ein bekanntes systematischen Messungen individueller
Beispiel. Er führte aber auch Gedächtnisprü- Differenzen überhaupt. Die Variabilität der
fungen, Assoziationsversuche und erste Fra- Reaktionszeiten zwischen verschiedenen Per-
gebogenerhebungen durch. sonen war beträchtlich. Bessel fand über die
29
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
30
1 Grundlagen
interindividuellen Differenzen hinaus noch durch das Verfahren der Satzergänzung bei
Schwankungen innerhalb einer Person über sinnvollen Texten.
verschiedene Messzeitpunkte und beschrieb Der größte Teil dieser früheren Arbeiten
damit erstmals systematisch intraindividuelle erwies sich für das angestrebte Ziel, Intelli-
Differenzen. genz zu messen, als unzulänglich. Denn
Mit der späteren Einführung von Chro- mehrere Reihenuntersuchungen um die Jahr-
nographen war es nicht nur möglich, eine hundertwende zeigten, dass bei ein- und
höhere Präzision, sondern – weit wichtiger – denselben Personen die Resultate verschiede-
die Unabhängigkeit ermittelter Werte von ner Tests stark unterschiedlich waren und
Beurteilern herzustellen. Intensive Studien kaum miteinander korrelierten, obgleich die
dieser Art wurden vor allem im ersten psy- Tests Ähnliches erfassen sollten. So teilte
chologischen Laboratorium durchgeführt, Wissler (1901) Korrelationen mit, die bei
das Wilhelm Wundt 1879 in Leipzig einge- einem mittleren Wert von r ¼ 0,09 zwischen r
richtet hatte. ¼ –0,28 und r ¼ þ0,39 variierten. Darüber
hinaus bestanden keine substantiellen Bezie-
hungen der Testwerte zu Intelligenzschätzun-
1.3.3 »Mental Tests« und ihre gen durch Lehrer oder zum Erfolg im Stu-
Folgen dium.
31
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Gelegenheit zur breiten Anwendung seiner Gesondert für jede Altersstufe von 3 bis
Verfahren. Nun konnte er prüfen, wie gut 10 Jahren waren inhaltlich heterogene und
mit ihrer Hilfe diejenigen Kinder herauszu- unterschiedlich schwere Aufgaben so zusam-
finden waren, die dem Unterricht infolge mengestellt, dass sie von 50 bis 75 % der
ihrer intellektuellen Grenzen nicht zu folgen Kinder der betreffenden Altersstufe gelöst
vermochten. werden konnten (c Abb. 1.10).
Bereits ein Jahr nach der Berufung in eine Im Prinzip war eine Aufgabe für eine
Arbeitskommission waren Binet und Simon Altersgruppe besonders gut dann geeignet,
(1905) in der Lage, eine Serie von 30 Aufga- wenn sie von möglichst vielen Kindern dieses
ben vorzustellen, mit deren Hilfe in einem Alters, noch nicht aber von jüngeren Kindern
Probelauf 30 minderbegabte von 50 normal gelöst werden konnte. Als Maß für die
begabten Kindern differenziert werden konn- Intelligenz wurde das Intelligenzalter (IA)
ten. definiert, das im Mittel über alle Kinder,
Eine noch stärkere Berücksichtigung des nicht aber im Einzelfall dem Lebensalter (LA)
altersbedingten Leistungsfortschritts fand in entsprechen musste.
den Revisionen von 1908 und 1911 statt.
32
1 Grundlagen
Altersgruppe 6:
(1) Kennt rechts und links, was durch Anfassen der Ohren erkennbar ist.
(2) Wiederholt einen Satz von 16 Silben.
(3) Wählt das hübschere Gesicht aus jedem von drei Paaren.
(4) Kennt Morgen und Nachmittag.
Altersgruppe 8:
33
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Altersgruppe 11:
Die Kritik an der Methode der Staffeltests eines halben Jahrhunderts faktisch gleichbe-
entzündete sich u.a. an der Gleichbehand- deutend mit der Vorgabe von Binet-Tests.
lung der Aufgaben, nach der es gleichgültig Standardisierungen in den USA wurden zwi-
war, ob ein neunjähriges Kind eine Aufgabe schen 1916 und 1972 an der Stanford Uni-
für Siebenjährige nicht, dafür aber eine für versity von Terman und Merrill vorgenom-
Elfjährige lösen konnte. Auch die hohe Sätti- men (»Stanford-Binet«); die neueste, fünfte
gung der Aufgaben mit verbalen Inhalten Auflage wurde 2003 publiziert.
und die damit einhergehende Abhängigkeit Der Eintritt der USA in den Ersten Welt-
vom sozioökonomischen Status des Eltern- krieg im Jahre 1917 führte zu der Notwen-
hauses wurden moniert. digkeit, viele hunderttausend Rekruten bin-
Von besonderem Nachteil war jedoch der nen kurzem hinsichtlich ihrer intellektuellen
Umstand, dass eine bestimmte Differenz Leistungsfähigkeit zumindest grob vorzuse-
zwischen IA und LA auf verschiedenen Al- legieren, um den jeweiligen Anforderungen
tersstufen etwas völlig anderes bedeutete: Ein der verschiedenen Waffengattungen und
Rückstand von zwei IA-Einheiten mochte bei Dienstgrade zu entsprechen. Dies verlangte
einem Zehnjährigen unauffällig sein; im neue Testverfahren: Gruppen-Tests waren
Alter von vier Jahren würde er dagegen auf das Resultat, zunächst der sog. Army-Al-
hochgradigen Schwachsinn hinweisen. pha-Test, kurz danach auch der sprachfreie
Um diese Verzerrungen zu vermeiden, Army-Beta-Test zur Untersuchung von An-
schlug der Hamburger Psychologe William alphabeten oder von Wehrpflichtigen, die des
Stern (1911a) vor, in dem Intelligenzquotien- Englischen nicht ausreichend mächtig waren.
ten (IQ) das IA zum LA in Beziehung zu setzen: Diese Verfahren konnten simultan einer gro-
IA ßen Zahl von Probanden vorgegeben wer-
IQ ¼ 100 (1.1) den; sie waren darüber hinaus ökonomisch
LA
in der Herstellung und Auswertung.
Damit gewährleistet der IQ die Vergleich- Später wurden diese Prinzipien auf andere
barkeit von über- bzw. unterdurchschnittli- Tests übertragen, die spezielle Funktionen
chen Leistungen auf verschiedenen Alters- und Fertigkeiten erfassen sollten, wie etwa
stufen. Allerdings setzt der Stern’sche IQ eine räumliches Vorstellungsvermögen und me-
mit dem Alter linear zunehmende Leistungs- chanisch-technisches Verständnis.
steigerung, also eine proportionale Zunahme
des IQ mit dem Alter voraus. Tatsächlich ist
jedoch ein negativ beschleunigter Entwick- 1.3.5 Erfassung der
lungsverlauf festzustellen. Dessen ungeachtet Persönlichkeit
wurde der Begriff des IQ außerordentlich
rasch populär. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die Binet-Tests fanden eine ungeahnte bildeten sich verschiedene Strömungen in der
Verbreitung; in vielen Ländern war Intelli- Psychologie heraus, die je eigene Auffassun-
genzmessung bei Jugendlichen während gen von der Natur des Menschen vertraten
34
1 Grundlagen
35
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
36
1 Grundlagen
Mitte der 1980er Jahre angegebenen Ver- denpluralismus, bei Dominanz der Fragebo-
läufe (c Tab. 1.3) zeigen, dass die heutige genmethodik und der Laborforschung, ge-
Situation durch einen ausgeprägten Metho- kennzeichnet ist.
Schwerpunkt Autor
Unbewusste Determinanten ● ○ ○ ○ ●
Lernprozesse ◗ ◗ ● ◗ ◗
Persönlichkeitsstruktur ● ○ ○ ● ●
Selbstkonzept ● ● ○ ● ◗
Biologische Konzepte ● ○ ◗ ● ●
Sozialwissenschaftliche Konzepte ● ◗ ○ ○ ●
Methoden Jahrzehnt
Laborforschung
Feldforschung
Fremdeinschätzung und
Verhaltensbeobachtung
Selbstbeschreibung und
Fragebögen
Projektive Techniken
37
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
In der Menschheitsgeschichte finden sich sehr viele Beispiele dafür, wie interindividuelle
Unterschiede absichtsvoll zur Bestenselektion systematisch eingesetzt wurden. Wenn es um
Selektionsaufgaben ging, die eine bestimmte Leistungsgüte oder ein bestimmtes Ausmaß
eines psychischen Merkmals wie zum Beispiel »Mut« betrafen, mussten interindividuelle
Unterschiede in möglichst standardisierten Prüfungs- bzw. Testbedingungen zuverlässig
erhoben werden können.
Mit Francis Galton und James McKeen Cattell begannen in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Bemühungen zur Messung der Intelligenz mithilfe von »mentalen Tests«.
Erst Binet und Simon gelang 1905 die Entwicklung des ersten modernen Intelligenztests,
mit dem minderbegabte von normalbegabten Schülern differenziert werden konnten. Das
»Intelligenzalter« eines Kindes gab an, wie alt Kinder zur Erbringung der von diesem Kind
erbrachten Testleistung im Durchschnitt waren. William Stern führte dann den Begriff des
Intelligenzquotienten ein, bei dem das Intelligenzalter durch das Lebensalter dividiert und
mit 100 multipliziert wurde. Damit konnte einer proportionalen Entwicklung des
Intelligenzalters mit dem Lebensalter Rechnung getragen werden, allerdings nur im Kindes-
und Jugendlichenalter.
Die Erfassung der Persönlichkeit erfolgte, anders als die Erfassung der Intelligenz, durch
sehr verschiedenartige Ansätze. Aus verschiedenen Konzepten der Persönlichkeit entwi-
ckelten sich auch eigenständige Erfassungsmethoden. Aus tiefenpsychologischer Perspektive
sind dies Traumanalyse, freie Assoziationen, projektive Tests, alltägliche Fehlleistungen und
die Verteilung von Libido in den psychosexuellen Entwicklungsstadien. In der phänome-
nologischen Perspektive wird besonderer Wert auf Selbstberichte sowie die Analyse von
biografischem Material gelegt. In der verhaltenstheoretischen Perspektive werden umschrie-
bene Verhaltensbeobachtungen, konkrete und gegenwartsbezogene Selbstberichte sowie
auch physiologische Messungen bevorzugt. Die dispositionelle Perspektive vertraut auf
standardisierte Selbstbeschreibungen über vergangenes Erleben und Verhalten mithilfe von
Fragebogen sowie auch Fremdeinschätzungen von Eigenschaften. Die genannten Methoden
zur Erfassung von Persönlichkeit weisen über die Jahrzehnte Entwicklungstrends auf. Bei
Dominanz der Fragebogenmethodik existiert heute ein ausgeprägter Methodenpluralismus.
38
1 Grundlagen
39
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
allerdings, dass der Korrelationsforschung, »schlecht drauf« war, heute aber »gut auf-
also der Frage »Was geht womit einher?«, die gelegt« ist, dass Verhalten in verschiedenen
mit Abstand meisten Beiträge galten, hat sich Kontexten unterschiedlich ausfällt etc.
bis heute nichts geändert. Um diesem Gesichtspunkt Rechnung zu
Allerdings ist eine Ergänzung des Schemas tragen, muss neben Individuen und Merk-
um den Modus der Zeit bzw. der Situationen malen eine dritte Dimension der zeitlichen
angeraten. Schon aus alltäglicher Erfahrung und/oder situativen Bedingungen einge-
ist geläufig, dass es Schwankungen des Emp- führt werden; der dadurch entstehende
findens und Erlebens gibt, man gestern Datenquader ist nachfolgend wiedergegeben
40
1 Grundlagen
A B C .. .. .. .. Z
A B C .. .. .. .. Z
a M
b
c
ein Individuum ..
Psycho-
in Bezug auf mehrere .. graphie
Merkmale ..
..
..
z
M
{
a M N
b
zwei oder mehr c
Komparations-
Individuen in Bezug auf
..
forschung
mehrere Merkmale ..
..
..
..
z
M N
{
Abb. 1.11: Methodische Zugänge zur Differentiellen Psychologie (nach Stern, 1921, S. 15/16).
(c Abb. 1.12) zusammen mit den Buchsta- Nachfolgend werden stichwortartig die me-
ben, die – dem Vorschlag von Cattell (1957) thodischen Ansatzpunkte im Einzelnen mit
entsprechend – für die Kennzeichnung der kurzen Beispielen erläutert; wenn dabei von
einzelnen Betrachtungsweisen innerhalb der »Vergleichen« gesprochen wird, ist stets
Differentiellen Psychologie üblicherweise be- die Ermittlung korrelativer Ähnlichkeiten
nutzt werden. zwischen den betrachteten Dimensionen
41
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Merkmale
j5
j4
Q-Technik
j3
S-Technik j2
Situa
tion j1
en k
onen
i4 Pers
5
k4
k3 i3
k2 i2
k1 i1
42
1 Grundlagen
gemeint, mithin das Ausmaß, in dem eine usw., Ähnlichkeit von Schülern hinsicht-
höhere Ausprägung auf der einen Variable lich ihrer Schulleistungen zu verschiede-
mit einer solchen auf der anderen einhergeht nen Zeitpunkten oder ihrer Höflichkeit
und umgekehrt (c Tab. 1.4). gegenüber Verwandten, Freunden, Be-
Im Folgenden werden typische Untersu- kannten, Fremden usw.
chungsbeispiele für die verschiedenen Korre- l T-Technik: Vergleich von Situationen hin-
lationstechniken gegeben: sichtlich eines Merkmals über verschie-
dene Personen, z. B. Untersuchung be-
l R-Technik: Vergleich verschiedener stimmter Situationen wie Besuch beim
Merkmale über mehrere Personen, z. B. Zahnarzt und Absolvierung einer Prü-
Untersuchung des Zusammenhanges zwi- fung hinsichtlich ihrer Angsterzeugung
schen Lügen und Stehlen, Schulleistungen bei den verschiedenen Personen.
in Latein und Mathematik, Beliebtheit und
Tüchtigkeit, physischer Attraktivität und Nachzutragen bleibt, dass die differential-
persönlicher Integrität, Intelligenz und Be- psychologische Perspektive nicht nur Unter-
rufserfolg, Erziehungsstil der Eltern und schiede zwischen einzelnen Personen, son-
Delinquenzneigung der Kinder usw. dern auch solche zwischen Gruppen von
l Q-Technik: Vergleich von Personen über Individuen beinhaltet. Der Terminus »Grup-
mehrere Merkmale, z. B. Untersuchung pe« bedeutet eine Klassifikation von Perso-
der Ähnlichkeit zwischen je zwei Schülern nen entlang eines oder mehrerer Merkmale.
aus einer Klasse hinsichtlich des Ab- Gebräuchlich sind Klassifikationen nach
schneidens in einer größeren Zahl von dem Geschlecht, dem Alter, der ethnischen
Tests, z. B. um Typen von Personen mit Herkunft, dem sozioökonomischen Status,
ähnlichen Begabungs- oder Interessen- der Konfession und dergleichen. Auch Klas-
schwerpunkten zu finden. sifikationen nach dem Ausprägungsgrad in
l O-Technik: Vergleich von Situationen bestimmten Variablen wie Intelligenz, Leis-
über Merkmale, z. B. Untersuchung an tungsmotiviertheit oder emotionale Stabilität
einem Studenten oder einer Studentin, (etwa »hoch«, »mittel« und »niedrig«) kön-
inwieweit typische Situationen im Stu- nen für eine entsprechende gruppenweise
dium wie Vorbereitung auf eine Prüfung, Zusammenfassung von Personen herangezo-
die Prüfung selbst, Warten im Hör- gen werden.
saal, Kommunikation mit Kommilitonen
und dergleichen hinsichtlich bestimm-
ter Merkmale wie Angstauslösung, Anre- 1.4.2 Zum Antagonismus
gungsbedingung, Sozialbezug usw. ähn-
zwischen Differentieller
lich sind.
l P-Technik: Vergleich von Merkmalen und Allgemeiner
einer Person über eine Reihe von Situa- Psychologie
tionen, z. B. Registrierung von Puls und
Atemfrequenz bei der Vorgabe verschie- Korrelationsforschung und Komparations-
den stark sexuell stimulierender Bilder. forschung stellen nach Stern Fragestellungen
l S-Technik: Vergleich von Personen in der Differentiellen Psychologie dar, die eine
einem Merkmal über verschiedene Situa- Analyse von Ähnlichkeiten von Variablen
tionen, z. B. Untersuchung der Ähnlich- bzw. Personen erfordern. Für die Quantifi-
keit von Personen hinsichtlich physi- zierung solcher Zusammenhänge sind ver-
scher Attraktivität während früher Kind- schiedene Korrelationskoeffizienten entwi-
heit, Jugend, Pubertät, Erwachsenenalter ckelt worden.
43
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Der damit gegebene korrelative Ansatz steht lich ein etwa glockenförmiges Aussehen
in einem gewissen Gegensatz zu einer ande- haben. Die nähere Beschreibung und Ana-
ren Methode des Erkenntnisgewinns, dem lyse dieser Wahrnehmungsunterschiede,
Experiment. Dieses wird üblicherweise als etwa ihr Zusammenhang mit Intelligenz
Via regia wissenschaftlichen Arbeitens ange- oder das Ausmaß an Gruppenunterschie-
sehen, weil nur damit Aussagen über kausale den, ist nun ein differentialpsychologisches
Abhängigkeiten zwischen zwei oder mehre- Problem.
ren Variablen möglich sind. Die Variation, die ggf. zwischen den
Unter Anwendung der üblichen Prinzipien Gruppen auftritt, geht hier nicht auf eine
experimentalpsychologischer Forschung Manipulation des Versuchsleiters zurück.
(z. B. Standardisierung der Bedingungen, Va- Die unabhängigen Variablen innerhalb eines
riation, Wiederholung usw.) hat beispiels- solchen Planes wären nicht systematisch
weise Müller-Lyer (1896) zeigen können, variierte Reize oder Bedingungen, sondern
dass bei der Vorlage der später nach ihm Merkmale, die bereits präexperimentell be-
benannten Linienkonfiguration von den Ver- standen (z. B. Geschlechtszugehörigkeit, Al-
suchspersonen die Strecke mit den nach ter usw.). Solche unabhängige Variablen
auswärts gekehrten Pfeilen (c b in Abb. 1.13) heißen quasi-experimentell.
regelmäßig größer als die mit den einwärts In dem Maße, wie durch Korrelations-
gekehrten Pfeilen wahrgenommen wird, ob- forschung und differentialpsychologische
wohl die beiden Streckenabschnitte a und b Gruppenvergleiche Differenzierungen allge-
objektiv gleich lang sind. meinpsychologischer Gesetze notwendig
sind, verlieren diese Gesetze ihre Allgemein-
gültigkeit. Deshalb war seit jeher die Allge-
meine Psychologie an individuellen Unter-
schieden nicht sonderlich interessiert und
a b verstand sie als experimentelle Fehler, die
das Auffinden allgemeinpsychologischer Ge-
Abb. 1.13: Täuschungsfigur nach Müller-Lyer. setze erschweren.
Allgemeine und Differentielle Psychologie
haben also insofern verschiedene Zielvorga-
Fast alle Versuchspersonen werden in ihrer ben, als Erstere sich für die Uniformität
Längenwahrnehmung der Strecken a und b menschlichen Verhaltens interessiert, die
durch die Stellung der Pfeile getäuscht. Dar- Differentielle Psychologie dagegen für inter-
aus lässt sich eine allgemeine Regel formu- individuelle Unterschiede. Daraus resultierte
lieren, etwa »Alle Personen sehen die Stre- häufig eine gewisse gegenseitige Behinderung
cken verschieden lang«. Solche Aussagen in der Entwicklung der beiden Fächer.
strebt die Allgemeine Psychologie an. Erst Cronbach (1957) wies auf die Vor-
In einem weiteren Experiment mögen die teile einer Kombination von experimentellem
rechten Pfeile verschiebbar sein. Die Ver- und korrelativem Ansatz hin. So werden im
suchspersonen werden nun gebeten, die experimentellen Teil eines Versuchsplans
Pfeile so zu platzieren, dass die Abschnitte persönlichkeitspsychologisch interessierende
a und b gleich lang erscheinen. Die Aus- Bedingungsvariationen vorgenommen, um
wertung wird zeigen, dass die Versuchsper- dann nachfolgend die interindividuellen
sonen in unterschiedlich starkem Maße der Unterschiede in einer abhängigen Variablen
Täuschung unterliegen. Dabei wird die Ver- getrennt für jede der Bedingungen korrelativ
teilung der Verschiebungsbeträge vermut- zu untersuchen.
44
1 Grundlagen
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch die Grundfragestellungen und
Methoden der Differentiellen Psychologie beschrieben. Stern unterschied die Methoden der
Variationsforschung, Korrelationsforschung, Psychographie und Komparationsforschung
(c Abb. 1.11). R. B. Cattell führte neben Merkmalen und Personen auch den Modus der
Zeit bzw. der Situationen ein und konnte damit sechs verschiedene Korrelationstechniken
sowie drei Variationstechniken unterscheiden.
Mit diesem methodisch differenzierten Forschungsprogramm steht die Differentielle
Psychologie in einem Spannungsfeld zu den nicht-differentiell vorgehenden Disziplinen der
Psychologie (Allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie, Biologische Psychologie), weil
allgemein-gesetzliche Aussagen durch die differentielle Forschung in ihrem Gültigkeitsbe-
reich eingeschränkt werden.
1.5.1 Variablen und Skalen tungsdaten eine solche zwischen den Zahlen
in eindeutiger Weise entspricht.
Unter Variablen werden veränderliche Grö- Je nach der Spezifität dieser Regel unter-
ßen wie Körpergröße, Zeugnisnoten, Intelli- scheidet man mehrere Zuordnungsvorschrif-
genz oder Extraversion verstanden. Personen ten, die zu verschiedenen Skalen oder Ska-
weisen auf einer Variable verschiedene Aus- lenniveaus führen (Bortz & Döring, 2002).
prägungsgrade in Einheiten einer Maßzahl Dabei bilden die »metrischen« Skalen die
auf. Häufig variiert der Ausprägungsgrad kontinuierlichen, die »nichtmetrischen« die
kontinuierlich, es sind also alle Abstufungen diskreten Ausprägungen von Variablen ab.
des beobachteten Merkmals messbar oder Die einfachste Art einer Zuordnung be-
doch wenigstens vorstellbar. Mehrfach tre- steht in der Zusammenfassung einer Gruppe
ten jedoch auch diskontinuierliche, diskrete von Beobachtungsdaten in einer Klasse, wo-
Abstufungen auf (wie männlich/weiblich bei bei es gleichgültig ist, welche Zahl der Klasse
der Variable »Geschlecht«). In diesen Fällen zugeordnet wird. Beispielsweise tragen in
sind die Ausprägungen nicht quantitativ, Fußballmannschaften die Torhüter stets die
sondern qualitativ abgestuft. Rückennummer 1, Mittelstürmer die 9 usw.
Die Bestimmung des spezifischen Ausprä- Hierbei wird eine Funktion, Platzierung oder
gungsgrades einer beobachtbaren Größe er- Aufgabe, die qualitative Differenzierungen
folgt im Vorgang des Messens, unter dem die erkennen lässt, quantitativen Einheiten oder
Zuordnung von Zahlen (»numerisches Rela- Zahlen zugeordnet. Jede andere Zuordnung
tiv«) zu empirischen Sachverhalten (»empiri- von Zahlen zu Positionen innerhalb des
sches Relativ«) verstanden wird. Ein solcher Teams wäre denkbar, ohne dass darüber die
Vorgang ist nur dann sinnvoll, wenn dabei Eigenschaften der Skala verändert würden.
eindeutige Regeln angewendet werden, so Solche einfachen Skalen heißen Nominalska-
dass der Beziehung zwischen den Beobach- len. Kennzeichnend für sie ist, dass der
45
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
quantitativen Abstufung der Zahlen qualita- gischen Bereich gern die Messwerte ge-
tive Unterschiede im registrierten Sachver- bräuchlicher Tests zur Erfassung von Intelli-
halt zugrunde liegen. genz, Emotionalität, Hilfsbereitschaft usw.
Bei den Ordinal- oder Rangskalen ent- zugeordnet.
spricht dagegen der Abstufung der Skalen- Den anspruchsvollsten Skalentyp, der in
werte eine bestimmte Abfolge in den Aus- der Psychologie nur selten erreicht wird,
prägungsgraden der Beobachtungsdaten bilden die Absolut-oder Verhältnisskalen,
(z. B. Reihung der Schüler einer Klasse nach die über die Eigenschaften der Intervallskalen
ihrer Beliebtheit oder Leistungsfähigkeit, hinaus auch einen natürlichen Nullpunkt wie
Platzierung des Einlaufens bei sportlichen etwa bei der Längen- oder Gewichtsmessung
Wettbewerben und dgl.). Über den Abstand aufweisen (der Messwert null bedeutet un-
von Kategorie zu Kategorie auf verschiede- endlich geringe Merkmalsausprägung). Des-
nen Abschnitten der Skala ist dabei nichts halb ist die Bildung von Verhältnissen zwi-
ausgesagt. Den Besten mögen vom Zweit- schen Messwerten entlang des Kontinuums
besten »ganze Welten« trennen, wohingegen und damit auch zwischen verschiedenen
der Zweite vom Dritten kaum zu unterschei- Skalen erlaubt (z. B. »halb so groß«).
den sein mag. Dennoch werden beide Diffe-
renzen durch denselben Sprung in den Maß-
zahlen wiedergegeben. Auf dem Rangskalen- 1.5.2 Konstrukte
niveau entsprechen somit Größer-Kleiner-
Relationen im numerischen Relativ solchen Grundlage jeder empirisch ausgerichteten
im empirischen Relativ. Durch diese Beson- Disziplin bilden Sachverhalte, die empiri-
derheit nehmen die Ordinalskalen eine Zwi- scher Natur sind, also beobachtet, aufge-
schenposition zwischen den nichtmetrischen zeichnet und berichtet werden können. Em-
und metrischen Skalen ein. pirische Sachverhalte sind z. B. das An-
Intervallskalen liegen dann vor, wenn die kreuzen von zehn Antwortmöglichkeiten in
Abstände (Intervalle) zwischen den Einheiten einem Rechentest, die Messung einer Puls-
der Zahlen denjenigen zwischen den Beob- frequenz von 160 Schlägen pro Minute, die
achtungsgrößen entsprechen (Temperatur, Beschreibung der Farbe des Gesichts oder die
Tonhöhe, Lautstärke und dgl.). Gleiche Wortfolge eines Berichts über Gefühle. Sach-
Differenzen zwischen Skalenwerten entspre- verhalte dieser Art werden in der Beob-
chen gleichen Differenzen von Ausprägungs- achtungssprache in sog. Protokollsätzen
graden. Die Festsetzung des Nullpunktes festgehalten (z. B. »Versuchsperson Malte
geschieht dabei ebenso willkürlich wie die Mager kreuzt in der Untersuchung vom
Wahl der Einheiten. So wurde im Falle der 11.03.2010 auf dem Formblatt C 10 rich-
Celsius-Temperaturskala die Merkmalsaus- tige Lösungen an«).
prägung für null Grad am Gefrierpunkt des Empirische Sachverhalte erklären sich
Wassers festgelegt und die Differenz zum jedoch nicht aus sich selbst heraus. Sie
Siedepunkt in 100 Einheiten unterteilt. Auf bedeuten etwas Verschiedenes, je nachdem,
verschiedenen Abschnitten der Skala weisen welche Randbedingungen bei der Beobach-
gleiche Veränderungen im empirischen Rela- tung gegeben waren; ob etwa nur 10 oder
tiv identische Veränderungen im numeri- 30 Aufgaben vorgegeben wurden, ob der
schen Relativ auf. Die Bildung von Verhält- Proband ermüdet oder frisch war etc. Erst
nissen (z. B. þ30°C zu þ15°C als »doppelt so der Bezugsrahmen in Form theoretischer
warm«) verbietet sich allerdings durch die Annahmen verleiht den empirischen Sach-
Willkürlichkeit der Nullpunktfixierung. Dem verhalten ihren Bedeutungsgehalt. Aus der
Typ der Intervallskala werden im psycholo- Beobachtung eines raschen Pulses und blas-
46
1 Grundlagen
sen Gesichts, aus der Wahrnehmung des Operationen für seine Herstellung und Re-
Satzes »Ich gehe weg« und dem Wissen, gistrierung vollständig definiert ist.
dass in 30 km Entfernung ein Atomkraft-
werk einen kritischen Zustand erreicht hat, Das ist etwa der Fall, wenn jemand in einem
schließen wir, dass der Betreffende Angst Weltmeisterschaftsturnier so viele gute Platzierun-
hat. Die Angst als aktueller Zustand ist gen erreichen konnte, dass er als »Weltmeister«
bezeichnet werden kann. Der Titel des Champions
selbst nicht direkt wahrnehmbar. Empiri- bedeutet hier lediglich, dass er in einer Reihe genau
sche Sachverhalte wie Atem- und Pulsfre- festgelegter Veranstaltungen mehr Punkte sam-
quenz, motorische Vollzüge und Äußerun- meln konnte als irgendein Konkurrent.
gen des Probanden sind lediglich Indikato-
ren, die für etwas stehen. Insofern stellt Wenn ein Konstrukt nicht vollständig auf
Angst etwas Theoretisches, Erdachtes, Protokollsätze rückführbar ist, weist es
Konstruiertes dar: Sie bildet ein theoreti- gegenüber der Beobachtungssprache einen
sches Konstrukt. Auch bei Intelligenz, »Bedeutungsüberschuss« auf. Fast alle Kon-
Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, emotiona- strukte der Differentiellen Psychologie gehö-
ler Stabilität, musischem Interesse usw. ren zu diesen »Konstrukten zweiter Art«. Sie
handelt es sich nicht um direkt zugängliche sind nicht vollständig operational definiert,
empirische Sachverhalte, sondern um Kon- bieten aber aufgrund ihres Bedeutungsüber-
strukte, die eine Reihe von Beobachtungs- schusses die Möglichkeit, Hypothesen abzu-
inhalten organisieren und ihnen ihren je leiten, die sich wiederum auf empirische
spezifischen Bedeutungsgehalt verleihen. Sachverhalte beziehen (»hypothetico-deduk-
Auf der anderen Seite »nehmen gewon- tives Vorgehen«). In dem Maße, in dem sich
nene empirische Gegebenheiten den theore- die Beobachtungsdaten als unvereinbar mit
tischen Annahmen ihre Beliebigkeit und den abgeleiteten Vorhersagen erweisen, müs-
Willkürlichkeit; das Theoretische wird sozu- sen das Konstrukt oder seine Operationali-
sagen durch das empirisch Gegebene kon- sierungen verändert werden.
trolliert. So kann sich Theoretisches im
Lichte empirischer Erfahrungen als falsch Bedeutungsüberschuss liegt etwa vor, wenn man
und untauglich erweisen« (Herrmann, jemanden, der einmal nicht die Wahrheit sagt, als
»Lügner« bezeichnet und einen anderen, der ein-
1976, S. 33). Deshalb sind empirische und mal etwas an sich nahm, als »Dieb«. Unterstellt
theoretische Sachverhalte im naturwissen- wird damit, dass die Person eine Eigenschaft
schaftlichen Forschungsprozess stets aufein- aufweise, die Lügen und Stehlen jetzt und in
ander bezogen. Zukunft hervorbrächte. Schließlich ist auch der
Bezeichnungen für theoretische Konstruk- Schluss auf »Unehrlichkeit« nicht durch protokol-
lierte Beobachtungen abgedeckt, selbst wenn man
te entstammen der Theoriesprache. Einige von jemandem weiß, dass er schon einmal gelogen,
Aussagen der Theoriesprache lassen sich gestohlen und betrogen hat.
vollständig auf Inhalte von Protokollsät-
zen der Beobachtungssprache zurückführen.
Derartige Aussagen stellen nur eine Abstrak- 1.5.3 Persönlichkeit
tion der empirisch gegebenen Sachverhalte
dar, gehen nicht über diese hinaus und sind Bei dem Konstrukt Persönlichkeit, das ver-
durch sie vollständig bestimmt (»Konstrukte schiedene Autoren in Abhängigkeit vom
erster Art«, Herrmann, 1973). Konstrukte Zeitalter und Sprachkreis außerordentlich
erster Art sind also »operational« definiert. verschieden definieren, handelt es sich um
Damit ist gemeint, dass sich das Konstrukt ein »extrem allgemeines Konstrukt« (Herr-
auf einen eindeutig beobachtbaren Sachver- mann, 1976, S. 34). Es stellt gleichsam die
halt bezieht, wobei dieser Sachverhalt durch Summe der auf menschliches Erleben und
47
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
geht mit dem Abheben auf die Antezedenz- Gleichzeitig müsste die Definition von Per-
und Konsequenz-Bedingungen über das un- sönlichkeit aber auch Raum geben für die
mittelbar Beobachtbare deutlich hinaus. Entstehung von interindividuellen Unter-
Die vorgenannten Definitionen von »Per- schieden. Die Definition in Kasten 1.5 stimmt
sönlichkeit« fußen alle auf der Besonderheit mit diesen Anforderungen überein.
48
1 Grundlagen
49
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
lich einzigartiges Individuum nicht erfassbar ren vorliegen. In der Regel werden solche
und unverständlich, letztlich nicht einmal als Fragen darauf hinauslaufen, nach Zusam-
Individuum erkennbar. Die nomothetische menhängen der Unterschiede in der einen
Methode kennt solche Probleme nicht. Sie Beschreibungsdimension mit solchen in
sieht von der Einmaligkeit des Individuums anderen zu suchen. So könnte geprüft wer-
ab und versucht, allgemeine Gesetze zu ent- den, ob die unterschiedliche Unfallhäufigkeit
wickeln, die für die Einzelnen gelten. von Verkehrsteilnehmern mit der Kenntnis
Eine erste Aufgabe der nomothetischen der Verkehrsregeln zusammenhängt.
Persönlichkeitspsychologie besteht darin, Be- Insofern ist die nomothetische Persön-
schreibungssysteme zu entwickeln, mit denen lichkeitsforschung differentialpsychologisch
alle Personen erfasst und kategorisiert wer- ausgerichtet, sie untersucht also interindivi-
den können. Beispielsweise gilt es festzustel- duelle Unterschiede. Damit unverträglich ist
len, ob alle Individuen mit Hilfe einer allge- jedoch der Umstand, dass individuelle Erfah-
meinen Dimension »Intelligenz« oder »Ge- rungen fast immer idiographischer Art sind,
fühlsbetontheit« beschrieben werden können sich also innerhalb einer Person abspielen.
oder ob stattdessen spezifische Klassifika- Um solchen Ereignissen gerecht zu werden,
tionssysteme zweckmäßig sind, die nur für bedarf es deshalb zwingend eines intraindi-
bestimmte Personengruppen Geltung haben. viduellen Ansatzes. Einige Erläuterungen
Beispielsweise ist eine Unterscheidung nach mögen dieses verdeutlichen: Üblicherweise
der »visuellen Wahrnehmungsschärfe« für erfolgen die Entscheidungen und Bewertun-
Blinde irrelevant, d. h., innerhalb dieser gen des Alltagslebens vor dem Hintergrund
Gruppe führt die Anwendung der besagten der jeweils eigenen, sehr persönlichen Be-
Beschreibungsdimension zu sinnfreien Resul- zugssysteme und weniger im Rahmen der
taten. Maßstäbe eines Forschers, der solche Ent-
Die Besonderheit der Person findet in scheidungen und Bewertungen Einzelner mit
nomothetischen Beschreibungssystemen Be- denjenigen anderer Personen vergleicht (in-
rücksichtigung dadurch, dass der Vorrat an dem er die Perspektive der zwischen Proban-
unterschiedlichen Plätzen für einzelne Perso- den bestehenden Unterschiede anlegt).
nen extrem groß ist. Einem Beispiel von
Hofstätter (1977) zufolge hält ein System Angenommen, Michael beschließt, seine Freundin
von zehn unabhängigen Beschreibungsdi- Lara zu heiraten. In einem solchen Fall wird er
mensionen (wie Autorität, Geiz, Aggressivi- wohl kaum darüber nachdenken, wie stark seine
Zuneigung gegenüber Lara ist im Vergleich zu den
tät usw.), von denen jede 10-fach abgestuft Gefühlen, die andere Männer ihr entgegenbrin-
ist, zehn Milliarden Plätze bereit, von denen gen. Stattdessen wird er allenfalls seine Liebe für
alle eine unterschiedliche Konfiguration der Lara mit derjenigen gegenüber anderen Frauen
zehn Beschreibungsdimensionen repräsentie- vergleichen. Oder Lara wählt eine bestimmte Form
von Urlaub aus. Dann wird sie kaum fragen, ob sie
ren. Dies würde ausreichen, um der Gesamt- daran stärker interessiert ist als eine durchschnitt-
heit der Menschheit individuelle Platzzuwei- liche andere Person, sondern maßgeblich für sie
sungen zu ermöglichen. ist, dass sie lieber das eine als das andere tut.
Die zweite Aufgabe nomothetischer Per-
sönlichkeitsforschung besteht darin, die mit Wenngleich nun kaum jemand explizit be-
Hilfe der Beschreibungsdimensionen erfass- hauptet, dass Menschen solche nomotheti-
ten Unterschiede in Form allgemeiner Geset- schen Erwägungen anstellen, folgt der dies-
ze zu erklären. Beispielsweise kann gefragt bezügliche Ansatz jedoch implizit genau die-
werden, wodurch die Unterschiede verur- sen Regeln, bei der jede einzelne Person auf
sacht werden, ob etwa Einflüsse der Ver- alle anderen bezogen wird. Daraus können
erbung oder von spezifischen Umweltfakto- beträchtliche Fehlschlüsse erwachsen.
50
1 Grundlagen
Angenommen, Studierende sollen sich auf 9-fach Lamiell (1981) hat aus der Zusammenzie-
abgestuften Skalen, deren theoretische Mitte bei 5 hung der Begriffe nomothetisch und idiogra-
liegt, sowohl hinsichtlich ihrer selbst wahrgenom-
men Intelligenz als auch der Leistungsmotivation
phisch die Wortneuschöpfung »idiothetisch«
einstufen. Eine Studentin kreuzte »6« bei Intelli- geprägt. Die fragliche Bezeichnung steht für
genz und »4« bei Leistungsmotivation an. Das eine Beschreibung einzelner Personen nach
bedeutet aus ihrem Verständnis eine überdurch- idiographischen Maßen, die aber eine inter-
schnittliche Intelligenz, aber unterdurchschnitt- individuelle Vergleichbarkeit gewährleisten
liche Motivation. Beträgt aber die mittlere Selbst-
einschätzung der anderen Studierenden in der sollen. Konkret besteht der Messvorgang
einen Skala »7« und in der anderen »3«, so kehren darin, das Individuum mit sich selbst zu
sich unter der nomothetischen Perspektive die vergleichen. Dabei wird eine Liste von Ver-
Gegebenheiten genau um. Aus der Warte der haltensweisen vorgelegt, die eine bestimmte
Befragungsperson und in den obigen Beispielen
von Michael und Lara handelte es sich aber
Eigenschaft in variierender Intensität kenn-
erlebnismäßig und vom Bezugsrahmen her ein- zeichnen können. Drei Informationen wer-
deutig um die Ebene »innerhalb« und nicht um den benötigt. (1) Die Person gibt an, welche
eine »zwischen« den Personen. Verhaltensweisen sie zutreffend beschreiben.
(2) Durch welche Verhaltensweisen wird eine
Die intraindividuelle Ebene erfordert Ver- minimale, (3) durch welche Verhaltenswei-
gleiche von Gedanken, Gefühlen und Ver- sen eine maximale Eigenschaftsausprägung
haltensweisen zu einem Zeitpunkt oder zwi- angezeigt? Durch den Quotienten [(1)–(2)]/
schen mehreren Zeitpunkten innerhalb einer [(3)–(2)] ergibt sich eine idiographische, von
Person. Dies wird gut in dem launigen Spruch den Ergebnissen anderer Personen unabhän-
gebündelt: »Life is a within-subjects design« gige Messung der Eigenschaft. Dies wird
(Pelham, 1993, S. 665). insbesondere dann deutlich, wenn jede Per-
Es kommt also darauf an, bei der Über- son selbst angibt, für wie bedeutsam sie jede
prüfung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten Verhaltensweise zur Messung der in Frage
auch idiographischen Prinzipien Rechnung stehenden Eigenschaft hält. Erst dann wer-
zu tragen. den die individuellen Quotienten interindivi-
duell verglichen.
Variablen sind veränderliche Größen, die psychische oder physische Merkmale in einem
bestimmten Ausprägungsgrad erfassen. Ein bestimmter Ausprägungsgrad wird im Vorgang
des Messens ermittelt. Messen ist die Zuordnung von Zahlen zu empirischen Sachverhalten
unter Verwendung von eindeutigen Regeln. Man unterscheidet Nominalskalen, Ordinal-
skalen, Intervallskalen sowie Verhältnisskalen. Die Skalen sind durch die auf ihnen
erlaubten Rechenoperationen definiert. Nur dann entsprechen die Relationen zwischen den
Zahlen auch den Relationen zwischen den Sachverhalten.
Empirische Sachverhalte können durch Beobachtung ermittelt und in »Protokollsätzen«
aufgezeichnet werden. Viele psychologische Konzepte können allerdings nicht beobachtet
werden, sie werden aus empirischen Sachverhalten erschlossen und als »Konstrukte«
bezeichnet. Konstrukte 1. Art lassen sich vollständig durch empirische Sachverhalte
definieren. Konstrukte 2. Art sind hingegen nur unvollständig operational definiert und
weisen deshalb eine »Überschussbedeutung« auf.
Ein zentrales Konstrukt ist das der »Persönlichkeit«. Viele Definitionen von Persönlich-
keit betonen die Einzigartigkeit von Persönlichkeitszügen, Verhalten und Erleben. Solche
51
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Definitionen speisen sich aus der Unterschiedlichkeit von einer Person zu anderen Personen.
Andere Definitionen verstehen unter Persönlichkeit die Organisation von Systemen
innerhalb einer Person; dafür ist das Postulat der Unterschiedlichkeit von einer Person zu
anderen Personen also nicht erforderlich. Nach McAdams sind für die vollständige
Erfassung von Individualität drei Ebenen zu berücksichtigen: Eigenschaften, charakteris-
tische Anpassungen sowie Selbst und Identität.
Welchen Status aber haben Eigenschaften, sind sie universell gültig und auf alle Personen
anwendbar (nomothetisch) oder sind sie spezifisch für jede einzelne Person (idiographisch)?
In der nomothetischen Persönlichkeitspsychologie werden interindividuell gültige Be-
schreibungssysteme verwendet und allgemeine Gesetze abgeleitet. Allerdings entspringen
das Erleben und die Verhaltensplanung stets in einer Person. Die Persönlichkeitsforschung
sollte also die Vorteile einer nomothetischen und einer idiographischen Herangehensweise
kombinieren. Nach Lamiell könnte eine Kombination (idiothetisch) durch die Verwendung
eines nomothetischen Beschreibungssystems und eines idiographischen Vergleichsmaß-
stabs erfolgen.
52
1 Grundlagen
nem Protokollsatz etwa in der folgenden Art Der Behaviorismus forderte die Objektivität
hätte festgehalten werden können: »Am 18. der Beobachtungsdaten, wonach nur solche
04. 2010 antwortet der Schüler A auf die Prozesse und Effekte als wissenschaftlich
Aussage des Lehrers, er habe soeben den verwendbar akzeptiert werden sollten, die
Unterricht durch einen Zwischenruf gestört, mit Hilfe von Apparaten und damit in ge-
mit den Worten: ›Das war nicht ich‹«. Ein wisser Weise unabhängig von der Person des
solcher Satz beschreibt den faktischen Vor- Untersuchungsleiters zu beobachten waren.
gang; Abstraktionen oder Schlussfolgerun- Zu diesen objektiv registrierbaren Gegeben-
gen sind nicht erkennbar. Bei den in solchen heiten zählten vor allem externe Reize auf der
Sätzen festgehaltenen Reaktionen handelt es einen, Reaktionen der Sinnesorgane, Mus-
sich um Verhaltensweisen oder »Beobach- keln und Drüsen des Organismus auf der
tungsprädikate« (Herrmann, 1973, S. 9). anderen Seite. Grundlegende Verhaltensein-
heit bildete die angeborene und artspezifische
Verbindung zwischen einem afferenten und
1.6.2 Verhaltensgewohnheiten einem efferenten Impuls: der Reflex.
Jeder Organismus verfügt über eine Reihe
Nur in den seltensten Fällen wird man es mit derartiger Reflexverbindungen, die je nach
einer Analyse auf der Ebene von Beobach- der Häufigkeit von Übertragungs- oder Ver-
tungsprädikaten bewenden lassen. Wissen- knüpfungsstellen als mono- bzw. polysynap-
schaft verlangt nach Verallgemeinerung, und tische Reflexe bezeichnet werden (Birbau-
schon im Alltag neigen wir dazu, von einem mer & Schmidt, 2005). Beim Menschen zäh-
Beobachtungsinhalt auf gleichartige Reak- len etwa der Patellar- und Achillessehnen-
tionen zu anderen Zeitpunkten und unter reflex zur ersteren, der Lidschlag-, Pupillar-,
anderen Kontextbedingungen zu schließen, Schluck-, Nies- und Atemreflex zur letzteren
etwa »Wer einmal lügt, dem glaubt man Gruppe. Kennzeichnend für die polysynapti-
nicht«. schen Reflexe ist u.a. der Umstand, dass die
Verallgemeinerungen auf zukünftige Zeit- Stelle der Reizung (z. B. beim Lidschlag-Reflex
punkte erfolgen sowohl in Bezug auf das die Hornhaut des Auges) nicht identisch ist
Verhalten in identischen als auch in nur mit dem Ort der Reaktion (im gewählten
»ähnlichen« Situationen. In beiden Fällen Beispiel: Lidschlag des Auges), mithin affe-
erwarten wir, dass eine bestimmte Person das rente und efferente Bahnen verschiedene Aus-
für sie typische Verhalten zeigt. Der erste gangs- bzw. Ansatzpunkte aufweisen. Noch
Gesichtspunkt, Verallgemeinerungen auf größere Bedeutung kommt dem Umstand zu,
identische Situationen, betrifft die Stabilität dass polysynaptische Reflexe nach dem Prin-
des Verhaltens. Der zweite Gesichtspunkt, zip der klassischen Konditionierung auch von
Verallgemeinerungen auf ähnliche Situatio- anderen als den biologisch »adäquaten« Rei-
nen, betrifft die Konsistenz des Verhaltens. zen ausgelöst werden können.
Beide Gesichtspunkte stellen die Prüfsteine Auf den russischen Physiologen Pawlow
einer jeden Eigenschaftstheorie dar. geht bekanntlich die auf systematische Ver-
Einen entscheidenden Beitrag zum Ver- suche gegründete Beobachtung zurück, dass
ständnis von Stabilität und Konsistenz leis- die Speichelsekretion von Hunden, die als
tete jene Forschungsrichtung, die die Intro- unwillkürliche, »unbedingte« Reaktion auf
spektion als Methode des Erkenntnisgewinns den Anblick von Futter (»unbedingter
wegen ihrer immanenten Subjektivität ab- Reiz«) bei allen Vertretern der Art in glei-
lehnte und mit dem Erscheinen des Aufsatzes cher Weise erfolgt, auf qualitativ anders-
von Watson (1913) ihren Namen erhielt: der artige Reize (»bedingte Reize«) übertragen
Behaviorismus. werden kann, wenn diese Reize, z. B. Töne
53
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
oder Lichtsignale, in zeitlicher Kontingenz druck-Aufgabe vor, bei der eine hungrige
und nach Möglichkeit wiederholt zusam- Maus nicht nur die zuvor bekräftigte linke,
men mit dem unbedingten Reiz auftreten sondern auch die rechte Vorderpfote zum
(Pawlow, 1953a, b). Auf diese Weise kön- Drücken eines Tasters für den Erhalt einer
nen unbedingte Reaktionen unter die Kon- Futterpille einsetzt.
trolle von Reizen gebracht werden, die bis Der Behaviorismus bedient sich der ge-
dahin neutral waren, d. h. auf die zur schilderten Prinzipien und beschreibt das
Diskussion stehende Reaktion keinen Ein- gesamte menschliche Verhalten, auch dasje-
fluss ausgeübt hatten. nige von höherem Komplexitätsgrad, als
Sehr bald entdeckte man zusätzlich, dass Sequenz einfacher Reiz-Reaktionsverbin-
nicht nur der bedingte Reiz, sondern auch dungen, deren Verkettungen und Verknüp-
diesem ähnliche Reize die betreffende Reak- fungen. Nach behavioristischer Auffassung
tion auslösen konnten. Wurde beispiels- erfolgt im Laufe der individuellen Entwick-
weise im Experiment zusammen mit einem lung die Ausbildung des Verhaltensreper-
Luftstoß auf das Auge der Versuchsperson toires dadurch, dass die unbedingten Reize
ein Ton von 1000 Hz dargeboten, war später durch bedingte ersetzt, bedingte Reaktionen
der Lidschlag auch bei Darbietung eines miteinander kombiniert und neue Verhal-
Tones von 500 oder 1500 Hz zu registrieren – tensweisen durch selektive Bekräftigung aus-
wenngleich gewöhnlich in verminderter In- geformt werden – das Ganze im Übrigen
tensität –, obwohl keine dieser Frequenzen ohne eine nennenswerte Steuerung durch das
der Versuchsperson zuvor in Verbindung mit Individuum selbst, sondern im Wesentlichen
dem Luftstoß dargeboten worden war (Dom- als zwangsläufige Folge der Lern- und Be-
jan, 2003). kräftigungsmuster, denen dieses ausgesetzt
Wenn eine Reaktion von mehreren be- wird.
dingten Reizen ausgelöst werden kann, Alle gelernten Verbindungen zwischen
spricht man von Reizgeneralisation. Ist das Reizen und Reaktionen werden als Verhal-
Spektrum der als Auslöser fungierenden tensgewohnheiten (engl. »habits«) bezeich-
Reize groß, liegt ein breiter Reizgeneralisa- net. Diese bilden gleichsam die Bausteine des
tionsgradient vor, bei einer geringen »Band- Verhaltens.
breite« der bedingten Reize ein entsprechend Verhaltensgewohnheiten sind verschieden
schmaler Gradient. Man spricht von Reak- stark je nach Wahrscheinlichkeit bzw. Inten-
tionsgeneralisation, wenn anstelle der ur- sität, mit der eine Reaktion von einem Reiz
sprünglich hervorgerufenen auch andere Re- ausgelöst wird (Hull, 1940, Postulat IV). Sie
aktionen von dem bedingten Reiz ausgelöst können auch als Tendenz oder spezifischer
werden. Letzteres spielt vor allem beim motivationaler Zustand verstanden werden,
operanten Konditionieren ein Rolle: Die eine bestimmte Reaktion oder ein Muster
Auftrittswahrscheinlichkeit bestimmter Ver- von Verhaltensweisen zu aktivieren, und
haltensweisen erhöht sich, wenn sie von zwar unter denjenigen Bedingungen, die
positiven Konsequenzen gefolgt wird. Durch während des Erlernens vorherrschend wa-
eine solche gezielte Bekräftigung können ren. Nur die eine Komponente, nämlich das
auch neuartige Verhaltenssequenzen ausge- aktuelle Verhalten, ist direkter Beobachtung
formt werden, die bis dahin im Verhaltens- zugänglich. Der andere Aspekt hingegen, die
repertoire fehlten (»shaping of behavior«). Bereitschaft, Disposition oder Tendenz, in
Beispielsweise hat man Tauben dazu ge- ganz bestimmter Weise zu reagieren, entzieht
bracht, miteinander Ping-Pong zu spielen sich der unmittelbaren Beobachtbarkeit und
oder Rollschuh zu laufen. Reaktionsgenera- wird hypothetisch angenommen: Hierbei
lisation liegt etwa im Falle einer Tasten- handelt es sich um ein Konstrukt. Sprechen
54
1 Grundlagen
wir also von Verhaltensgewohnheiten, ver- Bezeichnet jemand einen anderen als »hilfs-
lassen wir die Beobachtungsebene. bereit«, so finden darin spezifische Beobach-
Wichtig im Sinne der o.a. Prüfsteine jeder tungen ihren Niederschlag, etwa diejenigen,
Eigenschaftstheorie ist jedoch der Umstand, dass der Betreffende kürzlich einer alten
dass den Reiz-Reaktionstheorien zufolge Dame über den Weg half oder einem Nach-
Konstanz des Verhaltens immer dann zu barn in dessen Abwesenheit den Rasen mäh-
erwarten ist, wenn die Reaktionsmuster te. Gleichzeitig wird damit die Erwartung
durch vorangegangene Lernprozesse genü- ausgedrückt, die als »hilfsbereit« gekenn-
gend stabilisiert sind, etwa durch eine aus- zeichnete Person werde auch zukünftig unter
reichende Zahl von Wiederholungen, durch geeigneten Umständen Verhaltensweisen zei-
besondere Intensitäten der Reize und Mo- gen, die eine Etikettierung mit dem Begriff
tivationslagen des Organismus oder durch der Hilfsbereitschaft erlauben. Im Grunde
optimale zeitliche Kontingenzen und Bekräf- fassen wir also bestimmte konkret beobacht-
tigungspläne. Darüber hinaus tritt Konsis- bare Verhaltensweisen in Kategorien zusam-
tenz nach Maßgabe der Breite der Reiz- und men. Diese bezeichnen wir mit bestimmten
Reaktionsgeneralisationsgradienten in sol- Namen wie »Hilfsbereitschaft« oder »Intel-
chen Situationen auf, die denjenigen des ligenz« und nehmen innerhalb der betreffen-
Verhaltenserwerbs mehr oder minder ähn- den Kategorien eine Skalierung nach Häu-
lich sind (Guilford, 1974, S. 14–19). figkeits- und Intensitätsgesichtspunkten vor.
Ohne an dieser Stelle näher auf lernpsy- Zugleich verbinden wir damit die Erwar-
chologische Persönlichkeitstheorien einzuge- tung, dass sich eine Person in Zukunft gemäß
hen (s. Hall et al., 1998; Lundin, 1977), muss der ihr zugeschriebenen Eigenschaften ver-
als Defizit derartiger Konzepte die geringe halten werde.
Berücksichtigung von kognitiven Elementen Hilfsbereitschaft ist in einem solchen Falle
wie produktivem Denken oder Reflexion ebenso wenig direkt beobachtbar wie etwa
sowie aller Selbstregulationsprozesse (Ban- Faulheit oder Trunksucht. Die Erwartung
dura, 1989) ins Auge fallen. von bestimmten Verhaltensweisen bezieht
sich vielmehr auf Handlungsbereitschaften
oder Dispositionen, die sich selbst der Beob-
1.6.3 Dispositions- achtung entziehen. Derartige »Dispositions-
eigenschaften und prädikate« (Herrmann, 1973, S. 9) werden
Verhaltensmerkmale mithin aus dem Verhalten erschlossen.
Sie sind von den Verhaltensgewohnheiten
Immer dann, wenn im alltäglichen Leben hauptsächlich anhand der Spezifität der vor-
Mitmenschen einander hinsichtlich ihrer psy- angegangenen Bedingungen und aktuellen
chischen Eigenarten beschreiben und dabei Verhaltensweisen unterscheidbar: Die Dis-
Attribute verwenden wie etwa »intelligent«, positionen sind von allgemeinerer Art als die
»faul«, »gefräßig« oder »hilfsbereit«, benut- Verhaltensgewohnheiten. Dennoch ist die
zen sie implizit ein Konzept von Eigenschaf- Abgrenzung im Einzelfall oft schwierig, da
ten, sie unterstellen also es Eigenschaftskonzepte von sehr unter-
schiedlicher Breite gibt.
l interindividuelle Unterschiede in dem Hingegen bereitet die Abhebung der
Verhaltensmerkmal, Eigenschaften im Sinne von Dispositionsprä-
l Stabilität des Verhaltens in weitgehend dikaten von den Verhaltensweisen begrifflich
identischen Situationen sowie keine Probleme, da die Letzteren direkt
l Konsistenz des Verhaltens in verschieden- beobachtbare, die Ersteren hingegen gedank-
artigen Situationen. lich miteinander verbundene Sachverhalte
55
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
und konstruierte Zusammenhänge beinhal- Wie ausgeprägt ist eine Disposition bei einer
ten, also Konstrukte darstellen. Person? Um dieses abschätzen zu können,
Eigenschaften werden im Sprachgebrauch interessiert das Auftreten einer oder mehrerer
aus direkt beobachtbaren Verhaltensweisen Verhaltensweisen, die als manifeste Merk-
erschlossen (»diese Person hat das schwie- male der latenten Disposition anzusehen
rige Problem schnell und richtig gelöst«) und sind. Wenn solche Verhaltensweisen zeitlich
durch fortgesetzte Verdinglichung an die stabil und als Indikatoren der angezielten
Person gebunden: adverbial (»diese Person Disposition validiert worden sind, werden sie
verhält sich intelligent, aufgeschlossen«), »Verhaltensmerkmale« genannt. Verhal-
adjektivisch (»diese Person ist intelligent, tensweisen sind also alle durch Beobach-
aufgeschlossen«) oder substantivisch (»die tung feststellbaren Akte; Verhaltensmerk-
Intelligenz dieser Person ist überdurch- male sind diejenige Untergruppe davon, die
schnittlich«). für die Erfassung bzw. »Operationalisie-
Eine Umschreibung von Eigenschaften als rung« einer Disposition geeignet sind. Abbil-
relativ breite und zeitlich stabile Dispositio- dung 1.15 verdeutlicht den Unterschied gra-
nen zu bestimmten Verhaltensweisen, die fisch.
konsistent in verschiedenen Situationen auf-
treten, trifft sicher die Ansicht der Mehrheit
empirisch arbeitender Persönlichkeitsfor- Verhaltensmerkmale für A
scher. A
Dispositionsprädikate folgen stets zwei a g
wichtigen Prinzipien: e
c
d f
l Die Zusammenfassung vieler und ver-
schiedener Verhaltensweisen in gemein-
samen Kategorien (den Eigenschaften) b
gewährleistet Ökonomie. Würden sich
die Mitmenschen und die Differentielle Verhaltensweisen ohne Validität für A
Psychologie nur mit den einzelnen Ver-
haltensweisen beschäftigen, ergäben sich Abb. 1.15: Eine Disposition A wird durch die Ver-
beträchtliche Probleme daraus, der unge- haltensweisen c, d und e markiert, sie
heuren Fülle von Einzelbeobachtungen sind daher Verhaltensmerkmale. Ein
Teil der »Bedeutung« von A wird nicht
gerecht zu werden. durch diese Merkmale repräsentiert;
l Bedeutender noch ist die Aussicht, ge- A besitzt einen »Bedeutungsüber-
stützt auf eigenschaftstheoretische Fest- schuss«. Die Verhaltensweisen a, b,
stellungen und den in ihnen enthaltenen f und g sind keine Merkmale für A.
Bedeutungsüberschuss Vorhersagen für
solche Situationen machen zu können,
für die bislang keine Beobachtungsgele- Essenz von Eigenschaften
genheiten bestanden haben.
Zumindest im vorwissenschaftlichen Sprach-
Um zu dem eingangs gewählten Beispiel der gebrauch dienen Eigenschaftsattribute nicht
»Hilfsbereitschaft« zurückzukehren, würde nur zur Beschreibung, sondern auch zur
man für jemanden, dem diese Eigenschaft Erklärung des Verhaltens (Heider, 1958).
zugeschrieben wird, etwa prognostizieren, Von der adverbialen über die adjektivische
dass er ein Pannenauto abschleppt oder und schließlich substantivische Form der
einem Fremden den Weg zeigt. Eigenschaftsbeschreibung kommt es nicht
56
1 Grundlagen
selten zu der Annahme von essentiellen die Ansicht geäußert, dass »…psychische
Eigenschaften, die eine kausale Interpreta- Strukturen, welche die Beständigkeit des
tion des Verhaltens erlauben würden. Diesem Verhaltens begründen, in jeder Persönlich-
Muster zufolge stiehlt jemand, »weil er ein keit vorliegen« (S. 290). Eine Eigenschaft sei
Dieb oder Verbrecher ist«. Die Zuschreibung ein »verallgemeinertes und fokalisiertes
der Eigenschaft des Diebes erfolgt zunächst neuropsychisches System (das dem Individu-
aufgrund der Beobachtung von Diebstahl; um eigentümlich ist) mit der Fähigkeit, viele
anschließend wird diese Zuschreibung als Reize funktionell äquivalent zu machen und
kausal für das beobachtbare Verhalten er- konsistente äquivalente Formen von Hand-
achtet. Dabei handelt es sich natürlich um lung und Ausdruck einzuleiten und ihren
einen Zirkelschluss ohne Erklärungswert. Verlauf zu lenken« (S. 296). Eigenschaften
Im Forschungsbereich hat Allport (1959; wird damit eine biophysische Essenz unter-
zu Allport c Kasten 1.6) allerdings explizit stellt.
57
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Zwei Aspekte der Allport’schen Definition l Als reale Struktur haben die Eigenschaf-
sind hervorzuheben: ten die Funktion, die wahrgenommenen
Reize aus der Umwelt auf die durch sie
l Nach Allport stellen Eigenschaften nicht vermittelte »funktionelle« Bedeutung für
nur gedankliche und abstrakte Konstruk- das Individuum zu analysieren und zu
tionen dar, sondern empirisch-materielle klassifizieren sowie darauf äquivalente
Realitäten in Form anatomischer, neura- Reaktionen zu produzieren (c Abb. 1.16).
ler und psychischer Strukturen sowie Dem Verhalten wird damit Richtung und
internaler Vermittlungsprozesse. Sie ha- Konsistenz verliehen; den Eigenschaften
ben eine biophysische Existenz oder Es- kommt auf diese Weise eine motivationale
senz, unabhängig vom Beobachter, sind Komponente zu.
also »wirklich vorhanden«.
Reize Reaktionen
Begegnung mit
einem Fremden
mitteilsam, liebenswürdig
arbeiten mit
hilfreich, ermutigend
Gleichaltrigen Eigenschaft
Freundlichkeit warm, interessiert
die Familie
besuchen aufmerksam, teilnahmsvoll
Abb. 1.16: Eine Eigenschaft verbindet Reize und Reaktionen miteinander (nach Mischel, 1971, S. 16).
Hauptsächlich wegen der Unbestimmtheit Aussagen über ihre Herkunft oder ihre Essenz
der postulierten »neuropsychischen« Struk- (vgl. Abschn. 12.1.4). Viele Persönlichkeits-
turen haben sich nur wenige Autoren eine forscher neigen daher zu einem solchen Ver-
essentialistische Auffassung von Eigenschaf- ständnis von Eigenschaften als Dispositionen.
ten zu eigen gemacht. Die Mehrzahl der Wie können Eigenschaften nun aber kon-
empirischen Persönlichkeitsforscher verzich- kret bestimmt werden?
tet hingegen entweder völlig auf eine formelle
Definition des Eigenschaftsbegriffs oder
Bestimmung von Eigenschaften durch
hält zumindest Aussagen über die Ursachen
rationale Variablenreduktion
der Verhaltenskonsistenzen für entbehrlich.
Eigenschaften verstanden als Dispositionen, Eigenschaftsbegriffe sind abstrakte Katego-
also als Verhaltensbereitschaften, die unter rien für (konkret beobachtbare) Verhaltens-
bestimmten kontextuellen Bedingungen aus- weisen. In ihnen findet eine Zuordnung oder
gelöst werden können, erfordern noch keine Zusammenfassung der Verhaltensweisen
58
1 Grundlagen
nach bestimmten Regeln konzeptueller Ähn- delt oder aber die Ähnlichkeitskriterien in
lichkeit statt. Dabei lassen sich drei Aspekte einem weiten Sinne gehandhabt werden,
intuitiven Vorgehens voneinander unter- erhält man schmale bzw. breite Eigenschaf-
scheiden (nach Buss, 1989). ten. Die relative Breite von Eigenschaften
kann als Kontinuum aufgefasst werden, das
l Verschiedenartige Verhaltensweisen mö- bei einer einzelnen Verhaltensweise beginnt,
gen dieselben Konsequenzen haben. Etwa z. B. andere zu schlagen. Fügt man treten,
führen Schlagen und Treten, obwohl vom kratzen, beißen, spucken und würgen hinzu,
Ablauf der Bewegung und den beteiligten so resultiert daraus eine Eigenschaft, die
Körperteilen und Muskelgruppen her vielleicht als körperliche Aggressivität be-
recht verschieden, gleichermaßen zu zeichnet werden könnte. Durch die zusätzli-
physischem Schmerz, hingegen Beleidi- che Aufnahme auch von verbalen Gemein-
gungen, Flüche und Verwünschungen zu heiten und der Präferenz, sich verschiedener
psychischem Unbehagen. Das Beispiel Waffen zu bedienen, würde sich dieses
zeigt, wie aus der breiten Kategorie »Ag- Konzept beträchtlich erweitern zu der sehr
gressivität« durch Ausdifferenzierung die breiten Disposition von allgemeiner Aggres-
engeren Eigenschaften von körperlicher sivität.
und verbaler Aggressivität entstehen. Ob relativ schmale oder breite Eigenschaf-
l Verschiedenartige Verhaltensweisen mö- ten von Vorteil sind, hängt von den jeweili-
gen topographische Ähnlichkeiten auf- gen Zielen ab, die damit verfolgt werden.
weisen. Den verbalen Aggressionen Schmale Eigenschaften sind intern homogen
kommt als identische Qualität zu, dass und erlauben gewöhnlich genauere Vorher-
sie mit der Stimme vermittelt werden. Die sagen spezifischer Verhaltensweisen. Die
Eigenschaft »Geschwindigkeit« beinhal- Leistung im Tennis ist besser vorhersag-
tet schnelles Reden, Schreiben, Lesen, bar aus einem Probematch als aus der allge-
Essen und Gestikulieren. Insofern stiften meinen körperlichen Fitness. Aber schmale
Oberflächenmerkmale von Verhaltens- Eigenschaften mögen Verhaltensweisen be-
weisen die Grundlage für das zu bildende inhalten, deren Auftretenshäufigkeit nur sehr
Eigenschaftssystem. niedrig ist. Damit sind die Anhaltspunkte für
l An verschiedenartigen Verhaltensweisen eine Bestimmung der Eigenschaftsausprä-
mögen gemeinsame Prozesse beteiligt sein. gung sehr gering. Breite Eigenschaften ver-
Beispielsweise liegt den folgenden mentalen sprechen demgegenüber eher die Vorhersag-
Prozessen dieselbe Ausrichtung der Auf- barkeit von sehr vielen Verhaltensweisen in
merksamkeit auf private Aspekte des Selbst verschiedenen Kontexten, wenngleich zulas-
zugrunde: Erforschung der eigenen Beweg- ten der Genauigkeit der einzelnen Prognose.
gründe für ein bestimmtes Verhalten, Re- Die Ergebnisse einer Suche nach Beschrei-
flektieren über die Vergangenheit, Prüfung bungsdimensionen mittels der rationalen
der momentanen Befindlichkeit oder Tag- Methode hängen weitgehend vom Sprach-
träumen. Interindividuelle Unterschiede in verständnis der Beurteiler ab. Werden in
diesen mentalen Prozessen definieren die einem frühen Stadium der Attribute-Sichtung
Eigenschaft der »privaten Selbstaufmerk- irrtümlich bestimmte Begriffe ausgeschieden,
samkeit« (s. Abschn. 12.2). In anderen Fäl- etwa deshalb, weil sie nicht »relevant«, »zu
len mögen es Prozesse sein, die für Intelli- speziell« oder »synonym« sind, gehen die
genz, Kreativität oder Eigennutz stehen. damit verbundenen Bedeutungen verloren.
Die betreffenden Dispositionsunterschiede
Je nachdem, ob nur wenige und/oder einan- können dann später nicht erfasst oder abge-
der recht ähnliche Verhaltensweisen gebün- bildet werden (c Kasten 1.7).
59
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Schon vor geraumer Zeit schätzten Allport und Odbert (1936) die Zahl von Wörtern im
Englischen, die geeignet seien, Personen und ihr Verhalten zu charakterisieren, auf mehr als
17 000. Ausgehend von dieser Grundgesamtheit versuchten sie, durch die Eliminierung von
Synonymen und dem Anschein nach weniger relevanten Begriffen einen Kern von
Attributen als ökonomisches System von Beschreibungselementen festzulegen. Allport
(1961) fühlte sich der idiographischen Methode verpflichtet. Dieser Ansatz erlaubt nur die
Ableitung von Gesetzen, die ausschließlich für den Einzelfall Geltung haben. Entsprechend
sind persönliche Dispositionen nach Überzeugung Allports im Unterschied zu Eigenschaf-
ten nicht generell, sondern nur für die jeweilige Person gültig. Folgerichtig muss jedes
Individuum zum Teil mit eigenen Begriffen beschrieben werden. Für diesen Zweck wurde
u.a. die Sammlung von Attributen angelegt.
Ausgehend von dem Allport-Odbert-Katalog von Eigenschaftsbegriffen konzipierte
Cattell (1943) vor dem Hintergrund des nomothetischen Ansatzes einen Pool von
Beschreibungsdimensionen, von denen jede durch mehrere Attribute näher definiert war.
Meist waren lediglich die Pole der jeweiligen Dimensionen bezeichnet, z. B.
l zynisch – idealistisch
l verächtlich, nihilistisch, herablassend – vornehm, erhaben
l sorgenvoll – ausgeglichen
l ängstlich, gestresst, gereizt, irritiert, Unheil beschwörend – sorgenfrei, schicksalsergeben
Aus der Kombination der Attribute ist ersichtlich, dass die Beschreibungsdimensionen auf
Eigenschaften abzielen, die nicht identisch sind mit einem der jeweiligen Begriffe.
Bestimmung von Eigenschaften durch Variablen ausdrückt (s. Abschnitte 2.1.3 und
analytische Variablenreduktion 2.1.4). Bestehen zwischen den Variablen
keinerlei Zusammenhänge, bedarf es zur
Eine andere Technik, um zu Beschreibungs- Erfassung der interindividuellen Unterschie-
dimensionen für Eigenschaften zu gelangen, de ebenso vieler Faktoren, wie Variablen
stellt die Faktorenanalyse dar. Deren allge- vorhanden sind. Die Faktoren sind in diesem
meines Prinzip besteht darin, die in einem Fall mit den Variablen identisch. Bei hohen
Satz von Variablen enthaltene Information Zusammenhängen zwischen den Variablen
(z. B. individuelle Punktwerte in mehreren reicht bereits ein Faktor aus, um alle interin-
Intelligenztests) auf eine möglichst geringe dividuellen Unterschiede abzudecken. In al-
Zahl von hypothetischen Dimensionen oder ler Regel liegen die empirischen Ergebnisse
Faktoren zu reduzieren. Dieses geschieht zwischen diesen herausgegriffenen Extre-
durch die Gruppierung der Variablen in men: Meist ist die Zahl der Faktoren kleiner
möglichst unabhängige, einander nicht über- als die der Variablen, aber größer als eins,
lappende Klassen. oder mit anderen Worten: Mehrere Variab-
Grundlage der Gruppierung ist die Ähn- len markieren einen Faktor.
lichkeit zwischen den Variablen; als Maß Die Bedeutung einer solchen Dimension,
dafür dient der Korrelationskoeffizient, der der Eigenschaft im faktorenanalytischen
die Enge des Zusammenhangs zwischen den Sinne, muss aus den Variablen erschlossen
60
1 Grundlagen
werden, die ihn definieren. In späteren Sta- ter Ordnung (»Sekundärfaktoren«) und da-
dien der Forschung ist eine Validierung jedes mit Eigenschaften, die zahlenmäßig geringer,
Faktors an externen, nicht in die Analyse von größerer Breite und höherem Abstrak-
miteinbezogenen Variablen anzustreben. tionsniveau sind als die Eigenschaften der
Da auf Einzelheiten der Methode in Ab- Faktoren erster Ordnung (»Primärfakto-
schnitt 2.1.4 gesondert eingegangen wird, ren«). Eigenschaften auf dem Niveau von
genügen nachfolgend zunächst einige allge- Sekundärfaktoren erklären die Ähnlichkeit
meine Bemerkungen zu Ansätzen, Ergebnis- zwischen den Eigenschaften auf dem Niveau
sen und Problemen. von Primärfaktoren und werden von ver-
Da die mit Hilfe der faktorenanalytischen schiedenen Autoren (z. B. Eysenck, 1967) als
Technik ermittelten Eigenschaften direkt von Typen bezeichnet (c Abb. 1.17).
den zu ihrer Ermittlung benutzten Informa-
tionen abhängen, ist Repräsentativität der
herangezogenen Personen- und auch Varia- Bestimmung von Eigenschaften durch
blenstichproben unerlässlich. Gegen beide Analyse von Handlungshäufigkeiten
Anforderungen wird allerdings oft versto-
ßen, etwa wenn ausschließlich studentische In den beiden vorangegangenen Abschnitten
Gelegenheitsstichproben verwendet werden. wurden Ansätze geschildert, mit deren Hilfe
Ebenso wenig repräsentativ ist oft die man von einzelnen Verhaltensweisen zu Dis-
Auswahl der Variablen. Einen besonders positionseigenschaften gelangt. Den umge-
hohen Anspruch auf Repräsentativität for- kehrten Weg beschritten Buss und Craik mit
mulierte Cattell. Die aus den verschiedenen der Analyse von Handlungshäufigkeiten
Datenquellen – Fragebogendaten, Beobach- (»Act Frequency Approach«) (Buss & Craik,
tungsdaten, Fremdbeurteilungen, Testdaten – 1980, 1981, 1983). Dieser Ansatz besteht
erhaltenen faktorenanalytischen Dimensio- darin, Eigenschaften als kognitiv repräsen-
nen sollten weitgehend übereinstimmen tierte Handlungsklassen vorauszusetzen und
(Cattell, 1957), anderenfalls würde die eine Strukturanalyse nach der Häufigkeit der
Datenquelle an sich eine entscheidende Ein- sie konstituierenden behavioralen Akte vor-
flussgröße darstellen. zunehmen. Die Grundthese lautet dabei, dass
Im Weiteren beeinflusst auch die verwen- die einzelnen Handlungen in unterschiedli-
dete Technik der Faktorenanalyse die Art der cher Weise für eine Eigenschaft kennzeich-
Resultate. Neben speziellen Modellannah- nend sind, manche dem Konzept also sehr
men spielt hierbei vor allem eine Rolle, ob in »nah«, andere eher »peripher« sind. Im
einer Faktorenlösung Korrelationen zwi- Einzelnen erfolgt die Analyse nach den fol-
schen den Faktoren zugelassen werden sollen genden Schritten:
oder nicht. Cattell (1957) vertrat stets die
Ansicht, dass die Forderung nach Unabhän- l Zunächst werden Probanden gebe-
gigkeit der Faktoren nur dem Bestreben ten, sich drei Personen aus ihrem Be-
einiger Autoren entspränge, die Faktoren kanntenkreis vorzustellen, bei denen be-
leichter interpretieren zu können. Damit stimmte Eigenschaften (z. B. Geselligkeit
könne man aber der eigentlichen Struktur oder Dominanz) besonders ausgeprägt
der Daten nicht gerecht werden. sind.
Wenn Korrelationen zwischen den fakto- l Sodann sollen die Probanden solche Ver-
riell bestimmten Eigenschaften zugelassen haltensweisen aufschreiben, die von ihren
werden, können diese Korrelationen erneut Bekannten schon einmal gezeigt worden
einer Faktorenanalyse unterzogen werden. sind und die die jeweilige Eigenschaft
Auf diese Weise erhält man Faktoren zwei- besonders gut charakterisieren.
61
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Abstraktionsniveau
Sekundärfaktoren: Extraversion
Typen
Verhaltens-
Vg.n-1
Vg.1
Vg.2
Vg.3
Vg.4
Vg.5
Vg.n
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
gewohnheiten
Spezifische
S.R.1
S.R.2
S.R.3
S.R.4
S.R.n-1
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
...
Reaktionen
S.R.n
Abb. 1.17: Hierarchisches Modell der Persönlichkeitstypen als übergeordnete Konzepte (auf dem Niveau
der Sekundärfaktoren), die aus den Ähnlichkeiten zwischen den Eigenschaften (auf dem
Niveau der Primärfaktoren) abgeleitet werden (nach Eysenck, 1967, S. 36).
l Die Liste der so gesammelten Verhaltens- lung danach vorgelegt, wie prototypisch
weisen wird schließlich einer anderen jede Handlung für eine Eigenschaft ist
Stichprobe von Personen zur Beurtei- (c Kasten 1.8).
Die sehr hohe Übereinstimmung zwischen nen Struktur der Eigenschaften. Dazu zählt
den Versuchspersonen in der Abgabe der die Entscheidung, ob eine Verhaltensweise
Prototypen-Urteile kann als Beleg für die zweckmäßigerweise einer Eigenschaft A oder
allgemeine Verbreitung von Vorstellungen B zugeordnet wird. Darüber hinaus liefern
über Eigenschaften und die sie konstituieren- die Prototypen-Urteile eine Richtschnur für
den Verhaltensweisen gewertet werden. die Ableitung von »Multiple-Act-Criteria«,
Die bislang referierten Untersuchungs- also von Kriterien, wie sich aufgrund meh-
schritte erlauben eine Bestimmung der inter- rerer beobachteter Verhaltensweisen zukünf-
62
1 Grundlagen
tiges Verhalten vorhersagen lässt (vgl. gen gibt. Ungeachtet dessen erweist sich das
Abschn. 12.2). Eigenschaftskonzept dann als nützlich, wenn
Die Liste der für eine Eigenschaft charak- es (a) zu Erklärungen der interindividuellen
teristischen Verhaltensweisen kann auch als Unterschiede in der Ausprägung von Eigen-
Skala verwendet werden, bei der Befragungs- schaften führt und (b) das Eigenschaftskon-
personen angeben sollen, ob sie diese Hand- zept Vorhersagen des konkreten Verhaltens
lungen schon einmal gezeigt haben. Aus der in solchen Situationen erlaubt, für die noch
über mehrere Verhaltensweisen gebildeten keine Beobachtungsgelegenheiten bestanden
Summe von »Ja«-Antworten ergibt sich ein haben.
individueller Handlungshäufigkeiten-Index.
Dieser Punktwert steht mit herkömmlichen Beispielsweise liegt es nahe, für Überwachungs-
Tests, die dieselben Konstrukte meist mit funktionen in Kernkraftwerken nur solche Perso-
trendmäßig formulierten Fragen (»meis- nen einzusetzen, die Eigenschaften wie Konzen-
tration, Umsicht und Belastbarkeit in hohem
tens«, »selten« usw.) erfassen, in besonders Maße aufweisen. Dann könnte die Vorhersage
enger korrelativer Beziehung, wenn es sich angemessen sein, dass diese Personen auch im Fall
um sehr prototypische Verhaltensweisen einer vorab nicht simulierbaren Störung umsichtig
handelt. Hingegen sind auf der Basis von reagieren.
untypischen Verhaltensweisen kaum Korre-
lationen zu beobachten (Buss & Craik, 1984; Die Vorhersage von Verhalten durch Eigen-
Angleitner & Demtröder, 1988). schaften erfordert zweierlei:
Block (1989) monierte in einer eingehen-
den Kritik des Ansatzes von Handlungshäu- l Kenntnis von der quantitativen Ausprä-
figkeiten u.a., dass nicht so sehr Handlungen gung einer Person auf einer Eigenschaft
als Erinnerungen an Handlungsausführun- sowie die
gen untersucht würden, die unter techni- l Korrelation zwischen der Eigenschaft und
schem Aspekt entweder inakzeptabel oder dem vorherzusagenden Verhalten.
vom Inhalt herkömmlicher Items nicht zu
unterscheiden seien. Wenn diese Korrelation maximal ist, d. h. bei
Broughton (1984) sah in der Bestimmung vollständig reliablen Messungen von Eigen-
der »Prototypizität« die entscheidende Neue- schaft und Verhalten plus oder minus 1
rung gegenüber der traditionellen rationalen beträgt, können die interindividuellen Unter-
Methode. Der Prüfstein für den Ansatz der schiede in der Intensität oder Häufigkeit
Handlungshäufigkeiten liegt letztlich darin, des Verhaltens zur Gänze auf Unterschiede in
ob die hierbei gewährleistete enge Verknüp- der Eigenschaftsausprägung zurückgeführt
fung der Definition von Eigenschaftskon- werden. Wenn die Korrelation zwischen der
strukt und Testkonzept eine erweiterte Vor- Eigenschaft und dem vorherzusagenden Ver-
hersagbarkeit des Verhaltens ermöglicht (s. halten größer als null, aber nicht maximal ist,
dazu Abschn. 12.2). können interindividuelle Unterschiede in
dem betrachteten Verhalten nur zu einem
Teil auf Unterschiede in der Eigenschaftsaus-
1.6.4 Verhaltensvorhersage prägung zurückgeführt werden. Beträgt die
Korrelation schließlich null, besitzt die
Die in Abschnitt 1.6.3 diskutierte Frage nach Eigenschaft keine Vorhersagekraft für das
der Essenz von Eigenschaften hat bereits in Frage stehende Verhalten.
deutlich gemacht, dass es über das Wesen, die Worauf sind interindividuelle Unterschie-
Grundlagen und Auswirkungen von Eigen- de im Verhalten zurückführbar, die nicht
schaften durchaus verschiedene Auffassun- durch Eigenschaften erklärt werden können?
63
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Hier sind vor allem situative Faktoren zu werden, lehrt nun, dass es Bereiche mensch-
nennen, wobei zwischen lichen Verhaltens gibt, in denen die Annahme
von Dispositionseigenschaften für die erfolg-
l interindividuell gleichartigen Situation- reiche Vorhersage in sehr heterogenen Le-
Verhaltensverknüpfungen und benssituationen sinnvoll und zweckmäßig
l interindividuell verschiedenartigen Situa- ist. Beispielsweise zeigen die Punktwerte in
tion-Verhaltensverknüpfungen Verfahren zur Erfassung von Intelligenz
substantielle Korrelationen mit Maßen aus
unterschieden werden muss. Gleichartige Situationen wie Arbeit und Spiel, Schule und
Situation-Verhaltensverknüpfungen treten Freizeit, Ausbildung und Beruf.
anschaulich bei der Auslösung von Reflexen, Demgegenüber bestehen in anderen Ver-
aber auch in kulturell stark normativen haltensbereichen weniger eindeutige Entspre-
Situationen auf; die Verhaltensbreite ist sehr chungen. So zeigten etwa Personen mit hoher
gering. Verschiedenartige Situation-Verhal- Leistungsmotiviertheit eine hohe Ausdauer
tensverknüpfungen sind eher die Regel als die in Aufgaben, die ihnen leicht erschienen. Bei
Ausnahme: Dieselbe Situation wird etwa Aufgaben, die als schwer bezeichnet worden
verschieden aufgefasst, interpretiert und waren, war die Ausdauer dagegen sehr ge-
mental repräsentiert, zudem haben sich mög- ring. Bei niedrig motivierten Personen waren
licherweise im Verlauf der individuellen die Ergebnisse gerade umgekehrt (Feather,
Lerngeschichte sehr individuelle Situation- 1961). Für hoch und niedrig motivierte
Verhaltensverknüpfungen gefestigt. Personen waren also verschiedenartige Situa-
tion-Verhaltensverknüpfungen zu beobach-
Ein einfaches Beispiel mag den Unterschied zwi- ten.
schen interindividuell gleichartigen und verschie-
denartigen Situation-Verhaltensverknüpfungen
verdeutlichen. Es werden Autofahrer beim Passie-
ren einer Ampel beobachtet. Springt die Ampel auf 1.6.5 Zustände
Rot, halten die Fahrer; wechselt die Ampel auf
Grün, fahren sie an. Beim Eintritt dieser Situatio-
Erstmals hat Cattell (1950; s. auch Cattell &
nen verhalten sich die Autofahrer in der Regel
völlig gleichartig. Anders ist die Verhaltensbreite, Scheier, 1961) eine Unterscheidung zwischen
wenn die Ampel von Grün auf Gelb wechselt. relativ stabilen »Eigenschaften« und zeitlich
Manche Fahrer bremsen stark ab, während andere fluktuierenden »Zuständen« (engl. »states«)
beschleunigen, um die Ampel noch »zu schaffen«. vorgenommen.
Hier ist also eine für alle Fahrer einheitliche
Situation eingetreten, auf die sie jedoch mit unter- Die Zustände entsprechen in grober An-
schiedlichen Verhaltensweisen reagieren. näherung dem umgangssprachlichen Stim-
mungsbegriff; es handelt sich hierbei um
Diejenigen Verhaltensunterschiede, die durch temporäre Zustände von Aktivation, Ent-
Persönlichkeitsmerkmale nicht erklärt wer- spannung, Stimmung und dgl. Für die Unter-
den können, werden also situativen Faktoren suchung von Zuständen, intraindividuell
und deren Auswirkungen zugeschrieben. definiert als die situations- oder zeitbedingten
Komplementär dazu stellt Persönlichkeit die Unterschiede im Verhalten oder Erleben
Gesamtheit nichtsituativer Verhaltensbedin- einer Person, sind verschiedene Instrumente
gungen dar (Cattell, 1950). Diese Auffassung entwickelt worden. Gewöhnlich handelt es
lässt allerdings außer Acht, dass intraindivi- sich dabei um Listen von Eigenschaftswör-
duell geprägte Situation-Verhaltensverknüp- tern, die in alternativer Form (auf den mo-
fungen ebenfalls zur Persönlichkeit gehören. mentanen Zustand zutreffend oder nicht)
Die vorliegende Befundliteratur, aus der oder anhand abgestufter Skalen zu bearbei-
u.a. in den Teilen II und III Belege referiert ten sind.
64
1 Grundlagen
Zentral darin sind meist Dimensionen für geho- Variabilität (aggregiert über drei Wochen)
bene und gedrückte Stimmung, Aktivierung vs. aufwiesen, Introvertierte dagegen die ge-
Desaktivierung, Extravertiertheit vs. Introvertiert-
heit, Müdigkeit, Traurigkeit oder Ängstlichkeit.
ringste. Andere Autoren brachten die intra-
Anhand solcher Instrumente werden Veränderun- individuelle Variation mit alltäglichen Be-
gen über die Zeit aufgezeigt, etwa Rhythmen in schwerden (Larsen & Kasimatis, 1991),
Abhängigkeit von der Tageszeit (Watson et al., Stress und Aktivitäten (Watson, 1988; De-
1999), dem Wochentag (Larsen & Kasimatis, Longis et al., 1988) sowie verschiedenen
1990) oder der Jahreszeit (Spoont et al., 1991).
Leistungsmaßen (Hill & Smith, 1991) in
Verbindung.
Die faktorenanalytische Konstruktion von Wie groß ist die interindividuelle Unter-
Tests zur Erfassung von Zuständen geht von schiedlichkeit in den intraindividuellen Zu-
der Korrelation von Variablen über Mess- ständen? Natürlich wird diese Frage je nach
zeitpunkte oder Situationen hinweg aus. Die Probanden- und Zeitstichproben sehr unter-
erhaltenen Zustandsfaktoren gelten dann schiedlich ausfallen müssen. Unter Bezug-
nur für die betreffende Person oder, sofern nahme darauf äußerte bereits Stern (1911b)
die Daten vorher über Probanden gemittelt die Vermutung, dass »unzweifelhaft diejeni-
worden waren, für eine fiktive Durch- gen Merkmale, die im Individuum stark zum
schnittsperson. Zustandsreliabilität ist ein Variieren neigen, auch im Vergleich der
Maß dafür, inwieweit intraindividuelle Individuen untereinander größere Unter-
Unterschiede bei erneuter Realisation der schiede liefern (werden) und umgekehrt«.
Situationen reproduzierbar sind. Solche Vor- Amelang (1996) schätzte, dass das Ausmaß
gaben erfordern Längsschnittstudien oder der intraindividuellen Variation in groben
Untersuchungen in verschiedenen Situatio- Zügen demjenigen der interindividuellen
nen, mit daran ansetzenden P-Analysen Unterschiedlichkeit entspräche. In der Unter-
(c Tab. 1.4). suchung von Cooper und McConville
(1990), die auf der täglichen Einschätzung
Obwohl diese Prinzipien allgemein bekannt sind, von positiver und negativer Stimmung durch
wurden sie nur selten umgesetzt. Im deutschen
49 Probanden während eines Monats beruh-
Sprachraum hat Becker (1988) 10 Probanden die
Eigenschaftswörterliste von Janke und Debus te, nahmen die interindividuellen Unterschie-
(1978) vorgegeben mit der Instruktion, an etwa de 25 % der Varianz aller Stimmungs-
100 aufeinanderfolgenden Tagen die aktuelle Be- schwankungen über der Zeit ein. Aus diesem
findlichkeit einzuschätzen. Mit Hilfe von P-Ana- relativ hohen Anteil schlussfolgerten die
lysen wurden 28 Items identifiziert, die sich zu den
drei Faktoren »Aktiviertheit«, »Gedrückte vs. Autoren, dass sich die Abschätzung der
Gehobene Stimmung« und »Gereiztheit« grup- Intensität einer Stimmung für eine gegebene
pierten. In anderen Untersuchungen ergaben sich Person anhand von Normentabellen verbie-
inhaltlich zum Teil etwas andere Faktoren. Die tet, wie sie bei Eigenschaftstests verwendet
Inkonsistenzen zwischen diesen Arbeiten mögen
verursacht sein durch die unterschiedlichen, häu-
werden. Außerdem ergaben sich bedeutsame
fig gar nicht kontrollierten situativen Gegebenhei- Korrelationen zwischen Stimmung und
ten, unter denen die Befindlichkeit jeweils einge- Eigenschaftsmaßen.
schätzt wurde.
65
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
zeitgebundenen Charakteristika sprechen, vierten Eigenschaft die Auswahl und die Vor-
die beide allerdings auf einem Kontinuum bereitung spezifischen Verhaltens vermitteln
angeordnet sind. Zwischen Eigenschaften (Stemmler, 1997). Zustände könnten in ihrer
und Zuständen gäbe es fließende Übergänge Intensität und Qualität also durch die akti-
mit einer willkürlichen Grenzziehung zwi- vierten Eigenschaften eingegrenzt werden.
schen ihnen. Von da aus ist es nur noch ein
kleiner Schritt zu der Auffassung, dass jedes
psychologische Attribut sowohl Eigen- 1.6.6 Typen
schafts- als auch Zustandskomponenten auf-
weist und interindividuelle Unterschiede in Typen als Abschnitte auf
beiden Komponenten bestehen (s. z. B. Steyer Beschreibungsdimensionen
et al., 1992).
Am Beispiel der hierarchischen Struktur von
In eindrucksvoller Weise hat Fleeson (2001) diese Beschreibungsdimensionen (c Abb. 1.17) ist
Sichtweise mit Hilfe von Erhebungen demon- bereits erläutert worden, dass eine Reihe von
striert, in denen sich Probanden viele Tage lang
Autoren für Faktoren zweiter Ordnung die
jeweils in Abständen von mehreren Stunden wie-
derholt auf Adjektiven wie gesprächig oder ver- Bezeichnung »Typen« (engl. »types«) ver-
trauensvoll beschreiben sollten. Für jedes Adjektiv wendet. Mit dem Namen für einen solchen
ließ sich die Stabilität über die Zeit und die Typ wird dann lediglich ein Pol der jeweili-
intraindividuellen Schwankungen errechnen, gen Dimension bezeichnet: Typen in diesem
darüber hinaus der Mittelwert aus den eine Eigen-
schaft konstituierenden Adjektiven (Eigenschafts- Sinne stellen also lediglich Bezeichnungen
wert). Dabei zeigte sich, dass nicht nur der Eigen- für extreme Merkmalsausprägungen dar
schaftswert, sondern auch die individuellen und unterscheiden sich insofern nicht grund-
Schwankungen der Adjektive über die Zeit stabil sätzlich von anderen Beschreibungsdimen-
waren. Vor diesem Hintergrund fasste der Autor
Eigenschaften als Dichte-Funktionen von Zustän-
sionen innerhalb der Persönlichkeitspsycho-
den auf, deren intraindividuelle Variation sich logie.
zwischen einzelnen Personen unterscheidet. Je nachdem, ob sich für die Kennzeich-
nung der Endpunkte des Kontinuums polare
Aus evolutionspsychologischer Sicht (Buss, Gegensatzpaare anbieten oder nicht, unter-
2002) gehen Eigenschaften auf evolvierte scheidet man dabei zwischen bipolaren und
psychologische Mechanismen zurück, die unipolaren Typendimensionen. Im Falle des
spezifische Adaptationsprobleme im Dienste Attributes »extravertiert« ist schon aus dem
des Überlebens und der Reproduktion lösen alltäglichen Sprachgebrauch der Gegenpol
helfen. Diese Mechanismen sind von affekti- »introvertiert« geläufig. Die Typen der Ex-
ven Zuständen begleitet. Etwas spezifischer travertierten und Introvertierten markieren
sind nach einer »differenzierenden« Sichtwei- damit die Endpunkte eines Kontinuums, die
se Eigenschaften Abstraktionen, die Möglich- gegenüber seinem – wenn auch empirisch am
keiten der Kontingenz zwischen individuell häufigsten vertretenen – Mittelbereich wenig
repräsentierter Situation und Verhaltensant- aussagekräftig sind.
wort angeben. Eigenschaften werden akti- Demgegenüber legt man Leistungsunter-
viert, wenn die individuell repräsentierte schieden, wie auch solchen in bestimm-
Situation eine Auswahl zwischen mögli- ten Persönlichkeitsbereichen, eher unipolare
chen Verhaltensweisen verlangt. Zustände Achsen zugrunde und kennzeichnet nur den
sind hingegen konkrete, situationsgebundene Pol der höchsten Merkmalsausprägung.
intraindividuelle psychophysische Prozesse Dennoch wäre auch hier eine Bipolarisierung
(Fridhandler, 1986), die im Rahmen der akti- etwa im Sinne von »intelligent/dumm«,
66
1 Grundlagen
»groß/klein« ohne weiteres vorstellbar, da Häufig handelt es sich bei multimodalen Vertei-
davon die Anordnung der Messwertträger lungsformen um zusammengesetzte Skalen, von
denen jede eine qualitativ verschiedene Klasse
auf dem Kontinuum nicht betroffen wäre. von Merkmalsträgern in Normalverteilungsform
Liegt eine Normalverteilung der Mess- abbildet (z. B. Schwimmer und Nichtschwimmer
werte (c Abb. 1.18a) nicht vor, sondern gibt bei der Länge eines Tauchversuchs). In solchen
es mehrere Verteilungsgipfel (c Abb. 1.18b), Fällen ist es zweckmäßig, eine weitere Skala zu
sprechen Cattell et al. (1966) von »modalen benutzen, die es erlaubt, die Zugehörigkeit der
jeweiligen Gruppierungen zu den einzelnen Typen
Typen«. zu bestimmen. Deren Punktwert liefert Aufschluss
darüber, nach welcher weiteren Dimension aus
einer Reihe von Möglichkeiten der oder die Pro-
(a) banden zu klassifizieren sind.
Temperament
mehreren Beschreibungsdimensionen
Typ A Typ B
Neben der bisher erläuterten univariaten
Definition von Typen ist auch deren multidi-
mensionale Bestimmung möglich. Hierbei
erfolgt eine Klassifizierung der Messwertträ-
ger nach der Ähnlichkeit ihrer Merkmals-
(b) ausprägungen in einem Satz von Eigenschaf-
Typ A Typ B Typ C ten (c Abb. 1.18c).
Anzahl
67
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
sicus unterschied. Bekannter ist Galens, sind, ist der wissenschaftliche Wert solcher
von der Dominanz der Körpersäfte ausge- Typologien gering. So hat denn bereits
hende Charakterisierung der melancholi- Wundt (1903) versucht, das klassische Vier-
schen, cholerischen, phlegmatischen und felderschema in ein dimensionales System zu
sanguinischen Temperamente, die später verwandeln, indem er die beiden Achsen
Kant (1912/1798) recht eindrucksvoll skiz- »Stärke der Gemütsbewegungen« und
ziert hat. »Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbe-
Soweit es sich hierbei lediglich um begriff- wegungen« eingeführt hat. Das System kann
liche oder sprachliche Differenzierungen als früher Vorläufer der Eysenck’schen Ty-
handelt und darüber hinaus keine Hand- pologie gelten, in der die Dimensionen dann
lungsanweisungen für eine Messung und »Neurotizismus« und »Extraversion« hei-
Kategorisierung vorliegen oder gar möglich ßen.
68
1 Grundlagen
schaften) abgeleitet. Bei der Analyse von Handlungshäufigkeiten geht man von Eigen-
schaften als kognitiv repräsentierten Handlungsklassen aus und stellt empirisch fest, welche
Verhaltens- und Erlebensweisen bestimmten Eigenschaften sehr nah und welche anderen
eher distant sind.
Verhaltensvorhersagen erfordern einerseits die Kenntnis von quantitativen Ausprägun-
gen einer Person auf einer Eigenschaft als auch die Korrelation zwischen Eigenschaft und
dem vorherzusagenden Verhalten. Oftmals sind Verhaltensvorhersagen deutlich subopti-
mal, was vor allem dann entsteht, wenn es interindividuell verschiedenartige Situation-
Verhaltensverknüpfungen gibt.
Von relativ stabilen Eigenschaften sind zeitlich fluktuierende Zustände zu unterscheiden.
Neben der Frage, welche und wie viele Zustände es vermutlich gibt, kann auch die
interindividuelle Unterschiedlichkeit von Zuständen untersucht werden. Eigenschaften und
Zustände könnten demnach sehr wohl aufeinander bezogen sein.
Typen können auf einzelnen Beschreibungsdimensionen polar oder modal (mehrgipflig),
auf mehreren Beschreibungsdimensionen als Dichtezentren von Personenpunkten beschrie-
ben werden.
Besonders häufig, vor allem auch im vorwissenschaftlichen Bereich, wenn Typen als
qualitative Beschreibungsklassen verstanden. Deren wissenschaftlicher Wert ist allerdings
trotz großer Eingängigkeit meistens gering.
69
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
70
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
den Mittelwert, genauer das arithmetische oben oder unten vorliegen, je mehr Extrem-
Mittel Mx der Variable X werte also auftreten.
Die Varianz bzw. Standardabweichung
P
n
xi eines Merkmals wird demnach umso größer,
i¼1 je größer solche Abweichungen im Schnitt
Mx ¼ (2.1)
n sind und je häufiger gerade die großen Ab-
weichungen vorkommen.
gekennzeichnet wird. Formel (2.1) besagt,
Dass die Standardabweichung SD(X) und
dass der durchschnittliche Wert (arithmeti-
die Varianz Var(X) nebeneinander als Varia-
sches Mittel Mx) der im Merkmal X unter-
suchten n Personen durch Bildung der Sum- bilitätsmaße gebraucht werden, hat formale
Gründe, auf die im Folgenden kurz einge-
me aus allen n Messwerten und durch Divi-
gangen werden muss.
sion dieser Summe durch die Anzahl n der
Messwerte bzw. Personen errechnet wird.
Standardabweichung
und Normalverteilung
2.1.2 Zwei Maße für die
Variabilität eines In Kapitel 1 wurde darauf hingewiesen, dass
Merkmals die meisten Merkmale in der Biologie und
vermutlich auch in der Psychologie eine sehr
charakteristische Verteilungsform aufwei-
Zur Kennzeichnung der Verteilungsbreite
sen: Die meisten Fälle besitzen eine mittlere
haben sich in der modernen Forschungssta-
Merkmalsausprägung, so dass die Häufig-
tistik wegen ihrer mathematischen Beziehung
keitsverteilung im Mittelbereich am höchsten
zu theoretischen Wahrscheinlichkeitsvertei-
ist. Je extremer die Werte werden, umso
lungen zwei miteinander verwandte Kenn-
seltener treten die entsprechenden Fälle auf.
werte durchgesetzt, die Standardabweichung
Die ungefähr symmetrischen Verteilungsfor-
SD(X) und die Varianz Var(X) eines Merk-
men ähneln einer Glocke und damit jener
mals X.
theoretischen Wahrscheinlichkeitsverteilung,
Die Varianz Var(X) ist definiert als Mit-
die als Normalverteilung oder Gauß’sche
telwert aller quadrierten Abweichungen der
Verteilung bekannt ist.
Messwerte von ihrem Mittelwert.
Die Normalverteilung stellt ein mathema-
P
n
tisches Modell für das Zustandekom-
ðxi Mx Þ2
i¼1 men kontinuierlicher Variablen und ihrer
VarðXÞ ¼ (2.2)
n Häufigkeitsverteilungen dar, ein Modell, das
für die meisten differentialpsychologischen
Die Standardabweichung SD(X) ist definiert Merkmale wie Intelligenz oder bestimmte
als positive Wurzel aus der Varianz Var(X). Persönlichkeitsmerkmale angemessen zu sein
vffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi scheint.
uP
un Im Folgenden sollen die Modellannahmen
u ðxi Mx Þ2
ti¼1 für das Normalverteilungsmodell grob erläu-
SDðXÞ ¼ (2.3) tert werden: Stellen wir uns zunächst dazu
n
vor, die Ausprägung irgendeines Merkmals
Aus diesen Definitionen ist ersichtlich, dass würde lediglich durch zwei Faktoren A und B
Var(X) und SD(X) umso größer werden, je beeinflusst. Die mittlere Ausprägung betrage
mehr große Abweichungen |xi – Mx| der 10 Einheiten in einem hypothetischen Maß
Messwerte xi von ihrem Mittelwert Mx nach (z. B. cm, kg, s, Punktwerte in einem Test)
71
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
und jeder der beiden Faktoren könnte nur es nur vom Zufall ab, ob er den Zustand »þ«
zwei Zustände (»þ« und »«) annehmen. oder »« annimmt. Die Wahrscheinlich-
Der Zustand »þ« führte zu einer Erhöhung keit, »þ« oder »« anzunehmen, ist jeweils
der Ausprägung um genau eine Einheit, der p(þ) ¼ p() ¼ 0,5. Welche Merkmalsaus-
Zustand »« zu einer Verringerung um eine prägungen aufgrund dieses Zufallsmodells
Einheit, und zwar sowohl bei Faktor A wie resultieren können, zeigt Tabelle 2.1.
bei Faktor B. Bei jedem Faktor, Awie B, hinge
Tab. 2.1: Wahrscheinlichkeitsverteilung für ein Merkmal xi, das durch zwei Faktoren A und B im Sinne
höherer (þ) oder geringerer () Merkmalsausprägung beeinflusst wird (Erläuterungen im Text).
Es gibt insgesamt vier mögliche Konstella- Man sieht, die Merkmalsausprägung variiert
tionen der beiden Faktoren A und B, wobei wieder zwischen 8 und 12 Einheiten, diesmal
zwei, nämlich » þ« und »þ «, zum aber in feineren Abstufungen von je einer
Mittelwert 10 führen, die anderen beiden Einheit. Die Wahrscheinlichkeit p(xi) für die
Konstellationen zum Ergebnis 8 bzw. 12. Da Werte 8, 10 und 12 ist gegenüber den
jede der vier Konstellationen mit gleicher entsprechenden Werten in Tabelle 2.1 kleiner
Wahrscheinlichkeit zufällig auftreten kann, geworden.
hängt die Wahrscheinlichkeit einer bestimm- Wären es nun 8 Faktoren, die Verände-
ten Merkmalsausprägung von der Anzahl rungen der Merkmalsausprägung von jeweils
der zu dieser Ausprägung führenden Fakto- plus oder minus 0,25 Einheiten bewirkten, so
renkonstellationen ab. Daraus resultiert die erhielte man analog zu obigen beiden Bei-
in der Spalte p(xi ) der Tabelle 2.1 wiederge- spielen die Wahrscheinlichkeitsverteilung der
gebene Zufallsverteilung oder Wahrschein- Tabelle 2.3.
lichkeitsverteilung des Merkmals X als Zu- Die Verteilungen in den Tabellen 2.1, 2.2
fallsvariable. und 2.3 sind spezielle Binomialverteilungen
Nehmen wir nun an, das Merkmal X mit unterschiedlichen Faktorenzahlen, die
würde durch vier Faktoren bedingt. Wiede- für das Zustandekommen der verschiedenen
rum sei die Wahrscheinlichkeit p(þ) ¼ p() Werte der Zufallsvariablen X angenommen
¼ 0,5 für jeden der vier Faktoren. Jeder wurden. Lässt man die Anzahl dieser Fakto-
Faktor bewirke nun aber eine Veränderung ren unendlich groß, die Wirkung jedes Fak-
der Merkmalsausprägung von plus oder mi- tors unendlich klein werden, bei Beibehal-
nus 0,5 Einheiten. Die aus diesen Modellan- tung der Annahme, dass jeder Faktor mit
nahmen resultierende Wahrscheinlichkeits- einer Wahrscheinlichkeit von p(þ) ¼ p() ¼
verteilung des Merkmals X als Zufallsvaria- 0,5 wirkt, so geht die Binomialverteilung in
ble ist analog zu Tabelle 2.1 in Tabelle 2.2 die damit in ihrer Herleitung skizzierte Nor-
konstruiert. malverteilung über.
72
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
Tab. 2.2: Wahrscheinlichkeitsverteilung für ein Merkmal xi, das durch vier Faktoren A, B, C und D im Sinne
höherer (þ) oder geringerer () Merkmalsausprägung beeinflusst wird (Erläuterungen im Text).
8 1/16 ¼ 0,062
þ
þ
9 4/16 ¼ 0,250
þ
þ
þ þ
þ þ
þ þ
10 6/16 ¼ 0,375
þ þ
þ þ
þ þ
þ þ þ
þ þ þ
11 4/16 ¼ 0,250
þ þ þ
þ þ þ
þ þ þ þ 12 1/16 ¼ 0,062
Tab. 2.3: Binomialverteilung der Zufallsvariablen In Abbildung 2.1 ist die Binomialverteilung
xi für 8 Faktoren, p(þ) ¼ p() ¼ 0,5, jeder der Tabelle 2.3 grafisch als Histogramm dar-
Zustand »þ« bzw. »« bewirkt eine Ver-
änderung der Merkmalsausprägung um gestellt und jene Normalverteilung darüber
0,25 Einheiten (Erläuterungen im Text). gezeichnet, die bei gleicher Fläche, gleichem
Mittelwert und gleicher Standardabwei-
Ausprägung des Wahrscheinlichkeit p(xi)
chung resultiert.
Merkmals xi
Für die Differentielle Psychologie stellt das
8 1/256 ¼ 0,004 Modell der Normalverteilung insofern ein
8,5 8/256 ¼ 0,031 plausibles mathematisches Modell dar, als
die Annahme einer kontinuierlichen anstelle
9 28/256 ¼ 0,109
einer sprunghaften Variation für viele Merk-
9,5 56/256 ¼ 0,218 male sinnvoll erscheint. Ebenso ist die An-
10 70/256 ¼ 0,273 nahme realistisch, dass es sehr viele (im
10,5 56/256 ¼ 0,218
Modell der Normalverteilung unendlich
viele) Faktoren sind, die in zufälliger Kombi-
11 28/256 ¼ 0,109 nation zusammentreffen und Einfluss auf die
11,5 8/256 ¼ 0,031 Ausprägung eines Merkmals nehmen.
Für die Interpretation einer Standardab-
12 1/256 ¼ 0,004
weichung hat die Annahme, dass eine psy-
73
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
74
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
0,3
0,2
y (Häufigkeit)
0,1 34 % 34 %
14 % 14 %
2% 4% 10 % 15 % 19 % 19 % 15 % 10 % 4% 2%
0
70 77,5 85 92,5 100 107,5 115 122,5 130
z-Wert –2 –1 0 +1 +2
cum p(x) 0,02 0,06 0,16 0,31 0,50 0,69 0,84 0,94 0,98
Abb. 2.2: Flächenproportionen unter der Normalverteilungskurve für eine Variable mit dem arithme-
tischen Mittel Mx ¼ 100 Einheiten und einer Standardabweichung von SD(X) ¼ 15 Einheiten
(in der Abbildung wird die Standardabweichung mit sx bezeichnet). In der unteren Hälfte der
Grafik sind die zugehörigen kumulierten Wahrscheinlichkeiten cum p(xi) eingetragen, die
angeben, wie groß die Wahrscheinlichkeit für den entsprechenden x-Wert oder einen
kleineren Wert ist.
In der Forschungsstatistik spielt jene Stan- liche (positive Werte) oder unterdurchschnitt-
dardisierung von Rohwerten xi mit dem liche (negative Werte) Merkmalsausprägun-
Mittelwert Mx und der Standardabweichung gen handelt. Ferner kann man bei Zugrunde-
SD(X) eine besondere Rolle, die erreicht, dass legung der Normalverteilungsannahme ent-
die standardisierten Werte zi einen Mittel- sprechend Abbildung 2.2 die relative Position
wert Mz ¼ 0 und eine Standardabweichung eines bestimmten z-Wertes zu allen anderen
SD(z) ¼ 1 bekommen. Das wird durch leicht bestimmen. Die relativen Positionen der
folgende Umrechnung eines Rohwertes xi in Messwerte zueinander werden durch diese z-
den entsprechenden Standardwert zierreicht: Transformation der X-Werte nicht verändert
(lineare Transformation).
xi Mx
zi ¼ (2.4) Erst die Umrechnung in z-Werte oder
SDðxi Þ
anders definierte Standardwerte ermöglicht
Darin bedeuten zi den standardisierten Mess- somit die Interpretation individueller Mess-
wert der Person i und xi den Rohwert dieser werte (z. B. Testwerte) im Sinne niedriger,
Person i. mittlerer oder hoher Merkmalsausprägung.
Die so berechneten Standard- oder z-Werte In Abbildung 2.2 wurden die entsprechenden
zeigen sofort, ob es sich um überdurchschnitt- z-Werte eingetragen.
75
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Die Varianz und ihre Additivität Setzt sich also eine Variable additiv aus zwei
anderen, voneinander unabhängigen Variab-
Obwohl die Standardabweichung als Var- len zusammen, ergibt sich die Varianz der
iabilitätsmaß, wie gerade gezeigt wurde, neuen Variable durch Addition der Varian-
anschaulich interpretiert werden kann, nicht zen der sie konstituierenden Variablen. Die-
jedoch die Varianz, wird für bestimmte For- ser Sachverhalt wird als »Additivität von
schungsfragen auch die Varianz Var(X) als Varianzen« bezeichnet.
Variabilitätsmaß verwendet. Dies hat seinen Die psychologische Forschung, speziell die
Grund darin, dass nur die Varianz Var(X) differentialpsychologische, macht sich diesen
und nicht die Standardabweichung SD(X) formalen Sachverhalt der Additivität von
additiv ist. Damit ist Folgendes gemeint: Varianzen zunutze und versucht, den umge-
Nehmen wir – stark vereinfachend – an, kehrten Weg zu gehen: Ihr Ziel ist, die
die Leistungen in einem Geschicklichkeitstest Varianz eines Merkmals in Varianzanteile
würden von zwei Fähigkeiten der Testperso- unterschiedlicher Herkunft additiv zu zerle-
nen abhängen, einmal von ihrer motorischen gen. Ein viel diskutiertes Beispiel dafür ist der
Genauigkeit X, zum anderen von der Ge- Versuch, den Erbanteil der Intelligenz zu
nauigkeit ihrer Wahrnehmungsleistungen Y. bestimmen (s. dazu Kap. 13). Die Aussage
Nehmen wir außerdem an, wir könnten diese »P % der Intelligenz sind vererbt« ist nur vor
beiden Fähigkeiten unabhängig voneinander dem Hintergrund der eben dargestellten Va-
fehlerfrei messen, so könnten wir die Varianz rianzadditivität verständlich. Sie bedeutet,
der Testwerte T des Geschicklichkeitstests dass man sich die Gesamtvarianz der Intel-
nach Formel (2.5) berechnen, ohne sie aus ligenz Var(IQ) additiv zusammengesetzt vor-
den Testwerten T selbst zu bestimmen, wenn stellt aus einem Varianzanteil Var(E), der auf
weiter gilt, dass T ¼ X þ Y, die Geschick- Unterschiede in den Erbanlagen zurückge-
lichkeitstestleistungen T sich also additiv aus führt werden kann, und einem anderen Va-
den Leistungswerten X der motorischen und rianzanteil Var(U), der auf unterschiedliche
den Leistungswerten Y der Wahrnehmungs- Umwelteinflüsse zurückzuführen ist, so dass
genauigkeit zusammensetzen: Var(IQ) ¼ Var(E) þ Var(U) ist, wobei Var(E)
einen bestimmten Prozentanteil P % der Ge-
VarðTÞ ¼ VarðXÞ þ VarðYÞ samtvarianz Var(IQ) ausmacht:
þ 2CovðX; YÞ (2.5)
VarðEÞ
P¼ 100%
VarðIQÞ
Formel (2.5) besagt, dass sich die Testvarianz
Var(T) ebenfalls additiv zusammensetzt aus Ungeachtet der Problematik dieses Beispiels,
den Varianzen Var(X) und Var(Y) der beiden auf die in Kapitel 13 näher eingegangen
Leistungen X und Y. Der Ausdruck Cov(X,Y) werden wird, sei hier noch eine Interpreta-
in Formel (2.5) bedeutet die sogenannte tion des Satzes »P% der Intelligenz sind
Kovarianz zwischen X und Y, die ein Maß vererbt« aufgezeigt: Er bedeutet nämlich,
für die statistische Abhängigkeit der beiden dass sich die Varianz der Intelligenz auf P%
Variablen darstellt. von Var(IQ) reduzieren würde, könnte man
Sind die beiden Variablen voneinander alle Umwelteinflüsse auf den IQ konstant
unabhängig, gehen hohe Werte in X also halten. Eine Aussage über ein bestimmtes
nicht systematisch z. B. mit hohen Werten in Individuum lässt sich daraus zunächst aber
Y einher, so ist Cov(X,Y) ¼ 0. Für diesen Fall nicht herleiten.
vereinfacht sich die Formel (2.5) zu Das Ausmaß der Bedeutung einer Va-
rianzquelle (hier Vererbung) eines Merkmals
VarðTÞ ¼ VarðXÞ þ VarðYÞ (2.6) (hier Intelligenz) wird also mit Maßen der
76
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
P
Unterschiedlichkeit zwischen Merkmalsträ- z x zy
gern (hier Personen) gemessen. Das dafür ¼1
n
brauchbare Maß der Unterschiedlichkeit ist
Dass dies so sein muss, kann man sich so
aufgrund ihrer Additivitätseigenschaft die
verdeutlichen: Für den Fall der Gleichheit
Varianz.
von zx und zy (zx ¼ zy) ist das mittlere
Produkt
P P 2
2.1.3 Beschreibung bivariater zx zy z
n ¼ n
Merkmalsverteilungen:
Korrelationsforschung Da z-Werte Abweichungswerte vom Mittel-
wert Mz ¼ 0 darstellen, entspricht der Aus-
druck
Neben der Beschreibung von Unterschieden P 2
z
zwischen Individuen in jeweils einem Merk-
n
mal besteht ein wichtiges Anliegen der Diffe-
rentiellen Psychologie darin zu untersuchen, gemäß Formel (2.2) der Varianz der z-Werte.
wie stark verschiedene Merkmale zusam- Wegen Formel (2.4) muss diese eins sein:
menhängen. Ist es tatsächlich so, dass rund- Var(z) ¼ 1.
liche Menschen (Pykniker) gesellig sind und Umgekehrt ergäbe das mittlere Produkt
lange, schlanke Menschen (Leptosome) sich P
zx zy
lieber zurückziehen, wie die Typologie von
n
Kretschmer (s. Abschn. 7.1.2) behauptet?
Und wenn dem so ist, wie stark ist der den Wert –1, wenn extrem Ungesellige (zy ¼
Zusammenhang zwischen Körperbau und 2,5) entsprechend extrem rundlich (zx ¼
Geselligkeit? þ2,5) statt schlank wären und mäßig Gesel-
Empirisch lässt sich eine solche Frage lige (zy ¼ þ0,5) entsprechend mäßig schlank
untersuchen, indem man in einer großen, (zx ¼ 0,5). Man sieht, dass das mittlere
repräsentativen Stichprobe von Personen an Produkt der Standardwerte zweier Variablen
jeder Person sowohl ein Maß für das Di- zwischen den beiden Extremen þ1 und –1
ckenwachstum X – es wurden mehrere variieren kann. Im ersten Fall hätten wir
Körperbaumaße für Kretschmers Typologie einen maximal positiven, im zweiten Fall
vorgeschlagen (Anastasi, 1976, S. 175) – als einen maximal negativen linearen Zusam-
auch ein Maß für die Geselligkeit Y erhebt. menhang zwischen den Variablen X und Y
Um die beiden Maße vergleichbar zu ma- vorliegen. Diese mittlere Produktsumme
chen, rechnet man beide Variablen X und Y wird als Produktmomentkorrelationskoeffi-
in Standardwerte zx und zy nach Formel zient rxy bezeichnet:
(2.4) um. P
n
Bestünde nun ein maximaler Zusammen- zxi zyi
hang zwischen X und Y, müsste jede Ver- rxy ¼ i¼1
suchsperson denselben zx- wie zy-Wert ha- n
ben: Extrem Ungesellige (z. B.: zy ¼ 2,5) rxy ist ein Maß für den linearen Zusammen-
müssten entsprechend extrem schlank sein hang zwischen zwei Variablen X und Y
(zx ¼ 2,5), mäßig Gesellige (z. B.: zy ¼ deshalb, weil rxy nur dann maximal (þ1
þ0,5) entsprechend rundlich (zx ¼ þ0,5). oder 1) werden kann, wenn alle Versuchs-
Für diesen Fall der Gleichheit von zx und personen in einem bivariaten Streuungsdia-
zy wäre das mittlere Produkt aus zx und zy gramm entsprechend Abbildung 2.3 auf einer
gleich eins: Geraden (linear!) liegen.
77
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
In der Forschungspraxis wird man maximale tionskoeffizient von null nach þ1 oder –1
Korrelationen (rxy ¼ þ1,0 oder 1,0) prak- abweicht.
tisch nie finden: Die Versuchspersonen- Um ein besseres Verständnis für die Be-
punkte werden sich im bivariaten Streu- deutung bestimmter Korrelationen zu be-
ungsdiagramm angenähert ellipsenförmig kommen, müssen die Interpretationsmög-
(cAbb. 2.3c) verteilen. Je breiter eine solche lichkeiten der Produktmomentkorrelation
Ellipse wird, umso kleiner wird der Betrag der im Folgenden kurz erläutert werden.
Korrelation: rxy < |1| (|1| bedeutet þ1 oder –1),
umso weniger eng ist dann der Zusammen-
hang zwischen den beiden Variablen X und Y. Die inhaltliche Interpretation von
Bei kreisförmiger Verteilung der Punkte be- Korrelationskoeffizienten
steht keine Korrelation, der Produktmoment-
korrelationskoeffizient rxy wird 0. Dies be- Was eine Korrelation ungleich null, rxy 6¼ 0,
deutet, dass hohe Merkmalsausprägung in X bedeutet, kann nur inhaltlich-theoretisch
etwa gleich oft mit hoher wie mit niedriger überlegt werden. Auf keinen Fall darf ein
Merkmalsausprägung in Y einhergeht. Korrelationskoeffizient als empirischer Beleg
Man kann also festhalten, dass der Zu- für eine Kausalbeziehung zwischen den kor-
sammenhang zwischen zwei Variablen X relierten Variablen X und Y angesehen wer-
und Y umso enger ist, je mehr der Korrela- den: Eine Korrelation zwischen Schulleistung
A Z 3 B Z y3
y
2 2
Gxy
1 1
–3 –2 –1 1 2 3 –3 –2 –1 1 2 3
Zx Zx
–1 –1
G xy
–2 –2
r = + 1,0 r = –1,0
xy –3 Xy –3
C Zy3 D Z y3
2 2
1 1
–3 –2 –1 1 2 3 –3 –2 –1 1 2 3
Zx Zx
–1 –1
–2 –2
r xy = + 0,8 r xy = 0
–3 –3
Abb. 2.3: Bivariate Streuungsdiagramme: Jeder Punkt gibt die beiden Standardwerte zx und zy je einer
Versuchsperson durch seine Lage im Koordinatensystem wieder.
78
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
Variablen
2.1.4 Beschreibung A B C D E
D – 0,950
Die Faktorenanalyse stellt ein Verfahren dar,
das die Differentielle Psychologie und Per- E –
sönlichkeitspsychologie innerhalb der letzten
Jahrzehnte entscheidend geprägt hat. Andere
Methoden und Modelle zur Analyse multi- Tabelle 2.4 beinhaltet alle möglichen Korre-
variater Merkmalszusammenhänge wurden lationen zwischen fünf Merkmalen. Die
nicht so häufig eingesetzt. Es wird daher das Selbstkorrelationen der Variablen müssten
Hauptgewicht auf die Darstellung der (ex- in der Diagonale dieser Matrix stehen. Da die
ploratorischen) Faktorenanalyse gelegt. Er- Korrelation einer Messwertreihe (Variablen)
gänzend wird das Verfahren der sogenannten mit sich selbst immer 1,0 betragen muss, dies
konfirmatorischen Faktorenanalyse weiter aber keine Aussagekraft hat, sind in den
unten übersichtsmäßig erläutert, um es von Diagonalzellen keine Eintragungen gemacht.
der traditionellen exploratorischen Fakto- In die Zellen unterhalb der Diagonale könnte
renanalyse abzugrenzen und den Bezug man die entsprechenden Werte der Zellen
zur übergeordneten Methodologie linearer über der Diagonale eintragen, da ja z. B. die
Strukturgleichungsmodelle herzustellen. Al- Korrelation zwischen Variable A und Va-
len diesen Modellen ist gemeinsam, dass von riable B, rAB ¼ 0,990, gleich ist der Korre-
den beobachteten Variablen auf latente lation zwischen der Variablen B und der
79
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Variablen A, rBA ¼ 0,990. Der Übersicht- analytischen Methoden haben zum Ziel,
lichkeit wegen wurden die Zellen unter meist ausgehend von Korrelationsmatrizen,
der Diagonale leer gelassen. Das Beispiel in die betrachteten Variablen nach dem Ausmaß
Tabelle 2.4 wurde so konstruiert, dass dar- ihrer Gemeinsamkeiten in möglichst wenige
aus Folgendes leicht ersichtlich ist: Relativ Gruppen zusammengehöriger Variablen zu-
hohe Korrelationen untereinander weisen die sammenzufassen. Diese Zusammenfassung
Variablen A, B und C auf (rAB ¼ 0,990, rAC ¼ soll so erfolgen, dass ein möglichst großer
0,800, rBC ¼ 0,876), während die Variablen A Teil der gemeinsamen Varianz der untersuch-
und B mit den Variablen D und E im Vergleich ten Variablen dabei berücksichtigt wird.
dazu relativ niedrige Korrelationen zeigen Der folgende Abschnitt soll in die Grund-
(rAD ¼ 0,320, rAE ¼ 0, rBD ¼ 0,447, rBE ¼ gedanken und grundlegenden Modellvorstel-
0,140). Ebenfalls relativ hohe Korrelationen lungen der Faktorenanalyse einführen. Auf
untereinander zeigen die Variablen C, D und die Unterschiede zwischen speziellen fakto-
E (rCD ¼ 0,814, rCE ¼ 0,600, rDE ¼ 0,950). renanalytischen Modellen sowie auf die ma-
Diese grobe Beschreibung der korrelativen thematischen Berechnungsmethoden wird
Beziehungen zwischen den fünf Variablen nicht eingegangen. Dazu sei auf die einschlä-
lässt sich weiter vergröbernd auch so zusam- gige Lehrbuchliteratur verwiesen (z. B. Bortz,
menfassen: Die Variablen A, B und C haben 2005; Gorsuch, 1983; Tabachnick & Fidell,
relativ viel gemeinsam (erfassen Ähnliches, 2006). Ziel der Darstellung ist es, den Leser
haben viel gemeinsame Varianz). Ebenso in die Lage zu versetzen, faktorenanalytische
haben die Variablen C, D und E Gemeinsa- Ergebnisse selbständig formal und inhaltlich
mes. Die Variablen A und B zeigen hingegen interpretieren zu können sowie die Probleme
wenig Gemeinsamkeit mit den Variablen D und Unzulänglichkeiten der faktorenanalyti-
und E. Die Variable C hat offenbar mehr schen Methode zu verstehen.
Gemeinsamkeit mit der Variablengruppe A
und B als mit der Variablengruppe D und E,
zu der sie aber auch Ähnlichkeiten zeigt. Die geometrische Darstellung
Eine derartige formale, wenn auch sehr von Korrelationen im
grobe Beschreibung der Beziehungen zwi- Versuchspersonenraum
schen den fünf Variablen könnte nun Grund-
lage für die psychologische Interpretation der Im Abschnitt 2.1.3 dieses Kapitels wurde in
Beziehungen und der Gemeinsamkeiten die- Abbildung 2.3 die geometrische Darstellung
ser Merkmale sein. einer Korrelation im Variablenraum bespro-
Man kann sich leicht vorstellen, dass für chen: Die Variablen stellten die Koordinaten
weniger eindeutig strukturierte Korrelations- eines zweidimensionalen Koordinatensystems
matrizen, vor allem aber für Korrelations- (Variablenraum) dar, die Punkte repräsentier-
matrizen größerer Variablenmengen, das Er- ten die Versuchspersonen, die Lage der Punkte
kennen von Beziehungen zwischen den zeigte die Messwerte jeder Versuchsperson in
Merkmalen oder eine Gruppierung der den beiden Variablen an. Der Korrelation
Merkmale nicht mehr so möglich ist wie im zwischen den beiden Variablen entsprach in
hier gegebenen konstruierten Beispiel. dieser Darstellung die Breite der aus den
Um dennoch möglichst ökonomisch und Versuchspersonenpunkten gebildeten Korre-
auch präziser als im obigen Beispiel die Zu- lationsellipse. Der geometrischen Darstellung
sammenhänge zwischen einer Vielzahl von des Faktorenanalysemodells unterliegt eine
Variablen darstellen zu können, hat man die andere Veranschaulichung des Korrelations-
verschiedenen Modelle und Methoden der koeffizienten, und zwar die Darstellung von
Faktorenanalyse entwickelt. Die faktoren- Korrelationen im Versuchspersonenraum. Bei
80
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
diesem stellen die n Versuchspersonen einer Tab. 2.5: Messwerte von drei Versuchspersonen
Untersuchung die Koordinaten eines n-dimen- in drei Variablen (z-Werte). Die Korre-
lationen zwischen den Variablen B, C
sionalen Raumes dar. Jede Variable ist durch und D entsprechen denen in Tabelle 2.4.
einen Punkt in diesem Koordinatensystem
repräsentiert. Die Lage eines Variablenpunk- Versuchsperson Variablen
tes im n-dimensionalen Versuchspersonen- B C D
raum ist durch die Messwerte der n Versuchs-
1 1,113 0,556 0,283
personen in dieser Variablen bestimmt. Ver-
bindet man jeden Variablenpunkt mit dem 2 0,199 0,848 1,283
Ursprung des Koordinatensystems, erhält
3 1,312 1,404 1,058
man für jede Variable eine Gerade mit defi-
nierter Lage und Länge. Diese Geraden nennt M 0 0 0
man Variablenvektoren, die Variablenpunkte SD 1 1 1
deshalb auch Variablenvektorendpunkte. Für
den Fall, dass die Variablen nicht in Rohwer-
ten, sondern in Standardwerten (in z-Werten Abbildung 2.4 zeigt, dass dem konstruierten
nach Formel (2.4), die für die n Versuchsper- Beispiel zufolge die drei Variablenvektoren in
sonen der Untersuchung bestimmt wurden) einer Ebene liegen. Das muss natürlich nicht
gemessen sind, kann man zeigen, dass der so sein! Das Beispiel wurde wegen seiner
Kosinus des Winkels zwischen zwei Variab- leichteren Darstellbarkeit so gewählt. Die
lenvektoren dem Korrelationskoeffizienten von den drei Variablenvektoren aufgespann-
dieser Variablen gleich ist. te Ebene ist in Abbildung 2.5 ohne perspek-
Zur Veranschaulichung dieses Sachverhal- tivische Verzerrung wiedergegeben.
teswollenwirdieVariablenB,CundDausder Aus Abbildung 2.5 ist zu ersehen, dass der
Korrelationsmatrix in Tabelle 2.4 betrachten. Winkel zwischen zwei Variablenvektoren
Damit die Korrelationen zwischen diesen umso größer ist, je kleiner die Korrelation
Variablen als Winkel der Variablenvektor- zwischen den Variablen ist:
endpunkte im Versuchspersonenraum darge-
stellt werden können, müssen die diesen Kor- rBC ¼ 0,876 ¼ cos 29°
relationen zugrundeliegenden Messwerte von rCD ¼ 0,814 ¼ cos 35°
n Versuchspersonen als z-Werte bekannt sein. rBD ¼ 0,447 ¼ cos 64°
Um weiterhin den zu demonstrierenden Sach-
verhalt geometrisch darstellen zu können, Weisen zwei Variablenvektoren im Versuchs-
müssen wir uns auf den unrealistischen, für personenraum in ähnliche Richtungen und
die Forschungspraxis völlig unbrauchbaren schließen so einen spitzen kleinen Winkel ein,
Fall von n ¼ 3 Versuchspersonen beschrän- bedeutet dies, dass die Versuchspersonen in
ken, weil ja ein mehrdimensionaler Raum diesen beiden Variablen ähnliche Messwerte
nicht mehr veranschaulicht werden kann. haben, was ja einer hohen Korrelation ent-
Unter diesen Einschränkungen könnten die spricht.
in z-Werten ausgedrückten Messwerte für die Die Nullkorrelation entspricht in dieser
drei Variablen B, C und D und die drei geometrischen Darstellung einem Winkel
Versuchspersonen 1, 2 und 3 so aussehen von 90° (cos 90° ¼ 0), die Korrelation von
(c Tab. 2.5), um die in Tabelle 2.4 wiederge- eins einem Winkel von 0° (cos 0° ¼ 1), die
gebenen Korrelationskoeffizienten zu ergeben: Versuchspersonen haben dann identische z-
Die Darstellung der Daten aus Tabelle 2.5 Werte in den beiden Variablen. Negative
im dreidimensionalen Versuchspersonen- Korrelationen werden durch stumpfe Winkel
raum gibt Abbildung 2.4 wieder: dargestellt.
81
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
C
B
D 1,0
C3 B3
D3
0,5 B'
B1
C'
–1,0
D2
C2
–1,0 C1
D' –0,5
B2
–0,5
D1
0,5
0,5
1,0
2
1,0 –0,5
1
Abb. 2.4: Darstellung der Daten aus Tabelle 2.5 im dreidimensionalen Versuchspersonen-Raum: Die
drei Variablenvektoren B, C und D liegen in einer Ebene, ihre Endpunkte sind durch einen
Kreisbogen verbunden. Die Projektionen der Vektorendpunkte auf die Ebene, die durch
die Koordinaten 1 und 2 aufgemacht wird, sind mit B’, C’ und D’ gekennzeichnet.
Die Länge der Variablenvektoren im stan- ser Variablen aus. Die Variablen und ihre
dardisierten Versuchspersonenraum ist im- Interkorrelationen werden entsprechend der
mer gleich der positiven Wurzel von n, da die eben dargestellten geometrischen Interpreta-
Summe der quadrierten Koordinatenwerte tion als Bündel von Variablenvektoren im n-
der Variablen j über die n Versuchspersonen i dimensionalen Versuchspersonenraum auf-
dem Quadrat der Variablenvektorlänge l2zj gefasst. Die Konfiguration der Variablenvek-
entspricht. toren zueinander ist vom Koordinatensystem
des Versuchspersonenraumes aber unabhän-
Xn
z2ij ¼ n ¼ lz2j (2.8) gig, wie Abbildung 2.5 im Vergleich mit
i¼1 Abbildung 2.4 verdeutlicht.
Mit der Faktorenanalyse erreicht man das
Ziel, Variablen nach ihrer Ähnlichkeit zu
Faktorenlösung: Faktorenraum gruppieren, dadurch, dass man in das Bündel
und Faktorladungen von m Variablenvektoren ein neues Koordi-
natensystem legt, das möglichst wenige Di-
Die Faktorenanalyse eines Satzes von Va- mensionen hat. Auf jeden Fall soll es weniger
riablen geht von der Korrelationsmatrix die- Dimensionen aufweisen als der Versuchsper-
82
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
D I
D
C
β II
α B
0 C
83
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
qffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi
Tab. 2.6: Faktorladungsmatrix einer Faktorenlö-
sung aus der Korrelationsmatrix in
hj ¼ a2jI þ a2jII ;
Tabelle 2.4. Die Ladungszahlen entspre-
chen den Projektionen der Variablen- Wobei ajI die Faktorladung der Variablen j im
vektorendpunkte der Abbildung 2.6 auf Faktor I und ajII die im Faktor II ist. Der
die Faktoren I und II. Erläuterung der
Spalte h2 siehe Text. quadrierte Wert h2j entspricht der durch die
Faktoren erklärten Varianz der Variablen j.
Variable Faktoren
Dies ist aber immer nur dann der Fall,
I II h2 wenn die Anzahl der extrahierten Faktoren
A 0,71 0,71 1,00 völlig genügt, um alle Variableninterkorrela-
tionen fehlerfrei darzustellen. Das wird in der
B 0,60 0,80 1,00
Realität praktisch kaum jemals der Fall sein.
C 0,15 0,99 1,00 Abbildung 2.7 zeigt einen Fall, in dem erst ein
D 0,45 0,89 1,00 zusätzlicher dritter Faktor III die Korrelatio-
nen der Variablen A bis E mit einer sechsten
E 0,71 0,71 1,00
Variablen F vollständig darstellen kann.
III
aFIII F
F'
0
rAF C
FA
Abb. 2.7: Um die Korrelationen der Variablen A bis E mit einer sechsten Variablen F vollständig
darzustellen, muss eine dritte Dimension (Faktor III) dem zweidimensionalen Faktorenraum
hinzugefügt werden. Im zweidimensionalen Faktorenraum bildet sich der Variablenvektor F
verkürzt bis zum Punkt F’ ab. Die Korrelation zwischen A und F, rAF , stellt sich jetzt nicht nur als
Kosinus des Winkels zwischen den Variablenvektoren F und A, sondern auch als Verhältnis der
Strecke 0FA: 0A dar, rAF ¼ 0FA. Wenn 0A ¼ 1, ist rAF ¼ 0FA.
84
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
In der Realität werden wegen des in Abbil- erschließbare neue Variable ist aber nur dann
dung 2.7 veranschaulichten Sachverhalts in möglich, wenn ein Faktor eine inhaltsähn-
einer Faktorenlösung mit weniger Faktoren liche Variablengruppe möglichst gut reprä-
als Variablen die Variablenvektorlängen sentiert, selbst also im Bündel oder nahe am
praktisch immer kleiner als 1 sein, weil die Bündel der entsprechenden Variablenvekto-
extrahierten Faktoren eine vollständige Lö- ren liegt. Diese Forderung wird in der Fakto-
sung nur annähern. renlösung der Abbildung 2.6 und Tabelle 2.6
Die Variablenvektorlängen oder ihre Qua- nicht erfüllt: Faktor I liegt von allen Variab-
drate h2j stellen Maße für die Genauigkeit lenvektoren ziemlich weit entfernt, Faktor II
dieser Näherungslösung dar. Wie der liegt nur in der Nähe von Variable C.
h2j -Wert und die Faktorladungen mit der Diese Lage der Faktoren I und II ist meist
Varianz einer Variablen zusammenhängen, völlig willkürlich und durch den Algorith-
wird weiter unten noch näher erläutert. mus der Extraktionsmethode bestimmt. Die
Forderung nach einer Lage der Faktoren, die
Faktorenrotation: orthogonale Lösung eine bessere Repräsentation der Variablen-
gruppen durch je einen Faktor ermöglicht,
Das Ziel einer Faktorenanalyse, viele Variab- kann meist mit mehr oder weniger guter
len einigen wenigen Gruppen inhaltsähnli- Annäherung durch Rotationen je zweier
cher Variablen zuzuordnen, wird durch die Faktoren in der von ihnen aufgespannten
Faktorladungsmatrix erreicht: Variablen mit Ebene erfüllt werden. Ein dritter Faktor und
ähnlichen Faktorladungsmustern über alle weitere Faktoren bleiben durch ebenenweise
extrahierten Faktoren bilden eine solche in- Rotationen in ihrer Lage unverändert. Für
haltsähnliche Gruppe. Die Variablen liegen unser Beispiel aus Abbildung 2.6 würde eine
im Faktorenraum beisammen. Eine inhalt- Rotation der beiden Faktoren um 45° im
liche Interpretation eines Faktors als hypo- Sinne des Uhrzeigers zu dem Ergebnis führen,
thetische, aus den beobachteten Variablen das in Abbildung 2.8 wiedergegeben ist.
I'
E
D
I II
A
II'
Abb. 2.8: Rotierte Faktorenlösung aus Abbildung 2.6: Die Faktoren wurden um 45° im Sinne des
Uhrzeigers rotiert. Die unrotierten Faktoren sind strichliert wiedergegeben.
85
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Der rotierte Faktor I’ geht jetzt genau durch Inhaltliche Interpretation rotierter
die Variable E, der rotierte Faktor II’ durch Faktoren
die Variable A. Für alle Variablen, bis auf
Variable C, ist damit erreicht, dass sie auf Bei der inhaltlichen Interpretation eines Fak-
einem Faktor möglichst hohe, auf dem ande- tors versucht man theoretisch-spekulativ das
ren möglichst niedrige Ladungen zeigen, wie Gemeinsame zu erschließen, das den auf
Tabelle 2.7 verdeutlicht. diesem Faktor hoch ladenden Variablen zu-
kommt. Dieses Gemeinsame als theoreti-
scher, abstrakter Begriff, als Konstrukt, wäre
Tab. 2.7: Faktorladungsmatrix für die orthogo- mit dem Faktor zu identifizieren.
nal rotierte Faktorenlösung der
Die Beziehung dieses faktoriellen Kon-
Abbildung 2.8.
struktes zu den empirischen Variablen ist
Variable I’ II’ h2 durch die Faktorenanalyse und ihre Modell-
A 0,00 1,00 1,00 annahmen exakt definiert. Ein einfaches Bei-
spiel soll die inhaltliche Interpretation eines
B 0,14 0,99 1,00 faktorenanalytischen Ergebnisses illustrie-
C 0,60 0,80 1,00 ren.
D 0,95 0,32 1,00
86
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
wurden für jeden Gesichtspunkt und jeden und k den jeweiligen Faktor spezifiziert.
Schüler gemittelt, die resultierenden Mittel- Diese Faktorladungen ajk haben wir in der
werte (10 pro Schüler) wurden als Messwerte geometrischen Darstellung als Koordinaten
für die 10 Merkmale betrachtet und einer der Variablenvektorendpunkte im Faktor-
Faktorenanalyse unterzogen. Die zwei Fak- raum eingeführt (c Abb. 2.6 und 2.8). Eine
toren können nun so interpretiert werden: solche Koordinate erhält man, indem man
Auf Faktor I laden die Merkmale Gesprä- vom Variablenvektorendpunkt das Lot auf
chigkeit, Offenheit, Unternehmungslust, Ge- den Faktor fällt. Hierbei schließen Variab-
selligkeit, Fantasiereichtum und Unnachgie- lenvektor und Faktor einen Winkel ein, des-
bigkeit (nachgiebig mit negativem Vorzei- sen Kosinus gleich der Korrelation zwischen
chen!) mit ihren höchsten Ladungen. Eine Variable und Faktor ist. Aus diesem Grund
Person, die alle diese Merkmale in hohem kann die Koordinate und damit die Faktor-
Maße zeigt, entspricht recht gut dem Typus ladung als Korrelationskoeffizient zwischen
des »Extravertierten« (s. Kap. 7). Faktor I der Variable und dem Faktor interpretiert
kann also als »Extraversionsfaktor« bezeich- werden. Mit anderen Worten, nach einer
net werden. Was unter »Extraversion« hier orthogonalen Rotation sind die Ladungen ajk
verstanden wird, ist zunächst durch die Art der Variablen j auf den Faktoren k gleich den
der erhobenen Daten und durch die fakto- Korrelationen zwischen den Variablen und
renanalytische Methode definiert. Verknüp- den Faktoren. Mit Blick auf das inhaltliche
fungen mit theoretischen Überlegungen und Beispiel des vorangegangenen Abschnittes
anderen empirischen Ergebnissen würden die heißt dies also, dass die Variable »gesprä-
Bedeutung »Extraversion« erweitern, was chig« mit dem Faktor I (»Extraversion«) zu
zusätzlicher Forschungsbemühungen bedarf, 0,95 korreliert (c Tab. 2.8). Dieser Sachver-
die es zum Thema »Extraversion« aber be- halt erleichtert natürlich die Interpretation
reits in großem Umfange gibt. Das Gemein- von Faktorladungsmatrizen insofern, als die
same der Merkmale, die auf Faktor II laden meisten Psychologen mit Korrelationskoeffi-
(aufgeregt, verletzbar, ängstlich, niederge- zienten sehr gut vertraut sind.
schlagen), scheint mit der Emotionalität der Aus dieser wichtigen formalen Eigen-
Beschriebenen zu tun zu haben. Am reinsten schaft des orthogonalen Faktormodells er-
lädt das Merkmal »verletzbar«. Dies legt gibt sich sofort ein weiterer wichtiger Zu-
nahe, dass Faktor II als »emotionale Labili- sammenhang. Eine positive Korrelation zwi-
tät« interpretiert werden könnte. schen zwei Größen indiziert, dass diese bei-
den Größen gleichsinnig kovariieren (ist die
eine besonders groß, dann ist die andere auch
Formale Eigenschaften des eher groß; ist die eine besonders klein, dann
Faktorenmodells: orthogonale ist die andere auch eher klein). Eine positive
Faktorenlösung Korrelation verweist also auf eine gemeinsa-
me Varianz der beiden Größen. Wie viel
Wie wir bislang gesehen haben, sind die Prozent der Varianz einer Größe diese mit
Faktorladungen der rotierten Lösung eines einer anderen gemeinsam hat, kann einfach
der wichtigsten Ergebnisse der Faktorenana- durch Quadrieren des Korrelationskoeffi-
lyse. Die Tabelle 2.8 zeigt beispielhaft eine zienten ermittelt werden (quadrierte Korre-
Matrix solcher Faktorladungen für eine lationen werden auch als Determinationsko-
zweifaktorielle Lösung. Jede Variable hat effizienten bezeichnet). In unserem Datenbei-
eine Ladung auf jedem Faktor, und diese spiel (c Tab. 2.8) weist die Variable »gesprä-
Ladungen können allgemein mit ajk bezeich- chig« also eine gemeinsame Varianz von
net werden, wobei j die jeweilige Variable 0,952 ¼ 90 % mit dem Faktor I auf sowie –
87
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
88
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
89
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Modellannahmen und damit die Ergebnisse hiert werden, desto mehr der Gesamtvarianz
sind, wird nicht überprüft. aller Variablen wird extrahiert, aber die
Die wichtigste Modellannahme, die be- Faktorlösung wird zunehmend unökono-
reits in die Berechnung der Korrelationsma- misch: Es werden immer mehr Faktoren mit
trix eingeht, besteht darin, dass die Bezie- immer kleineren Eigenwerten extrahiert.
hungen zwischen den Variablen in Form Eine hundertprozentige Varianzaufklärung
linearer Berechnungen sinnvoll darstellbar kann nur erreicht werden, indem genauso
sind. Ein kurvenlinearer Zusammenhang viele Faktoren extrahiert werden, wie Va-
etwa derart, dass hohe und niedrige Ausprä- riablen vorhanden sind – eine extrem un-
gung in der Variablen X mit niedriger Aus- ökonomische Lösung. Es muss also ein
prägung in der Variablen Y einhergeht und Kompromiss gefunden werden, der darin
mittlere Ausprägung in X mit hoher in Y, ist besteht, so viel Faktoren wie nötig und so
mit Produktmomentkorrelationen und da- wenig Faktoren wie möglich zu extrahieren.
mit auch im skizzierten Faktorenmodell nicht Zur Bestimmung der optimalen Anzahl an
darstellbar. Auch die mögliche Abhängigkeit Faktoren muss also der Verlauf der Eigen-
linearer Korrelationen von weiteren Variab- werte über alle maximal extrahierbaren Fak-
len, sogenannten Moderatorvariablen, wird toren betrachtet werden.
im Faktorenmodell nicht berücksichtigt. Zwar gibt es formalisierte und in diesem
Sinne objektive Abbruchkriterien, doch ist
Probleme der Berechnung von die Wahl eines Abbruchkriteriums selbst
Faktorenanalysen nicht völlig objektiv möglich. Auch lassen
manche häufig verwendeten Abbruchkrite-
Von einer empirisch-wissenschaftlichen Me- rien subjektiven Interpretationen Spielraum
thode wird Objektivität (s. u. Abschn. 2.2.1) (z. B. der Scree-Test von Cattell, 1966). Pro-
verlangt. Darunter versteht man die Unab- blematisch erscheint dieses Dilemma vor
hängigkeit des Ergebnisses, das eine Metho- allem deshalb, weil rotierte Faktorenlösungen
de liefert, von demjenigen, der die Methode unterschiedlicher Faktorenzahl aus denselben
verwendet. Ausgangsdaten recht unterschiedliche inhalt-
Völlig objektiv jedoch ist die Verwendung liche Interpretationen erbringen können.
faktorenanalytischer Methoden nicht. Ein Ebenso ist das Problem der Faktorenrota-
Hauptproblem stellt nämlich die Bestim- tion nicht völlig objektiv zu lösen. Zwar gibt
mung der Anzahl zu extrahierender Fakto- es heute objektive, rein rechnerisch durchzu-
ren (»Abbruchkriterium«) dar. Die gängigs- führende Rotationsmethoden mit exakt defi-
te Methode zur Bestimmung der Anzahl der nierten Rotationskriterien, doch hat zumin-
zu extrahierenden Faktoren ist eine Analyse dest die Entscheidung, ob orthogonal oder
des sogenannten Eigenwertverlaufs. Der oblique rotiert werden soll, möglicherweise
»Eigenwert«eines Faktors ist die Varianz, Einfluss auf die inhaltliche Faktoreninterpre-
die der Faktor für eine Erklärung der Ge- tation (Gorsuch, 1983; Tabachnick & Fidell,
samtvarianz aller Variablen beisteuert. Der 2006).
Eigenwert kann (nach orthogonaler Rota-
tion) einfach berechnet werden, indem die
quadrierten Ladungen eines Faktors über alle Die Aussagekraft faktorenanalytischer
Variablen aufsummiert werden. Der Faktor, Ergebnisse
der über alle Variablen hinweg also die
höchsten Ladungen aufweist, hat auch den Ein Haupteinwand, der gegen die Faktoren-
höchsten Eigenwert. Je mehr Faktoren extra- analyse vorgebracht wurde, bezieht sich auf
90
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
Intelligenztest B
Intelligenztest A
Abb. 2.12: Korrelationshöhe in Abhängigkeit von der Homogenität der Vpn-Stichprobe: Selegiert man
nur überdurchschnittlich intelligente Personen, wird die Korrelationsellipse der homogenen
Stichprobe runder als sie in der unausgelesenen Stichprobe ist. Das bedeutet eine Reduzie-
rung der Höhe des entsprechenden Korrelationskoeffizienten.
91
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
92
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
untersucht, ob alle in das Modell eingeführten et al., 1988) vorgelegt, der einen Faktor für
Annahmen mit den empirischen Daten ver- Positiven Affekt sowie einen Faktor für Ne-
einbar sind. Ist die Passung von Daten und gativen Affekt erfasst (für eine Beschreibung
Modell hinreichend genau, braucht das Mo- dieses Messinstruments s. Abschn. 8.4.1; für
dell nicht verworfen zu werden. eine ausführliche Beschreibung der hier ver-
Im Gegensatz zur explorativen Faktoren- wendeten Daten, s. Hagemann, 1999). Es
analyse, die selten exakt theoriegeleitet ein- soll nun mit einem einfachen Strukturglei-
gesetzt wird, erfordert der konfirmatorische chungsmodell überprüft werden, ob die drei
Ansatz bereits sehr elaborierte Vorstellungen Items »aktiv«, »interessiert« und »freudig
über die Struktur innerhalb der Daten. Je erregt« demselben Faktor »Positiver Affekt«
elaborierter das Modell ist, umso aussage- (PA) zugeordnet werden können.
kräftiger ist ein Ergebnis, das mit den Daten Hierfür wird das in Abbildung 2.13 dar-
vereinbar ist, also eine gute Anpassung gestellte Strukturgleichungsmodell aufge-
(engl. »fit«) an die Daten aufweist. Dabei stellt. Teil A der Abbildung zeigt das entspre-
stellen konfirmatorisch-faktorenanalytische chende Pfaddiagramm, in dem die tatsäch-
Modelle nur einen vergleichsweise einfachen lich gemessenen Größen – also die drei
Spezialfall einer allgemeineren Methodo- Items – als manifeste Variablen Y1, Y2 und
logie dar, die als Strukturgleichungsmodelle Y3 dargestellt werden und das theoretische
(Structural Equation Modeling, SEM) be- Konstrukt PA als latente Variable eingeführt
zeichnet werden. Dieser Ansatz erlaubt es, wird (die Messfehler, die mit jedem Item
nicht nur Beziehungen zwischen manifesten verbunden sind, wurden in diesem Pfaddia-
Variablen (also direkt beobachtbaren bzw. gramm als latente Variablen e1, e2 und e3
messbaren Größen) zu untersuchen, sondern eingeführt). Schließlich sind die manifesten
auch Beziehungen mit latenten Variablen und latenten Variablen in diesem Diagramm
(also hypothetischen Konstrukten wie z. B. durch Pfade (dargestellt als Pfeile) miteinan-
Faktoren) zu formulieren und zu testen. der verknüpft. Diese Verknüpfungen haben
Im Folgenden sei kurz das Grundprinzip jeweils einen numerischen Wert, nämlich den
von Strukturgleichungsmodellen anhand Pfadkoeffizienten. Bei diesen Pfaden handelt
eines einfachen Beispiels beschrieben (für es sich um direkte Effekte der einen Variablen
umfassendere Einführungen s. Eid, 1999; (hier latente Variable) auf die andere (hier
Hoyle, 1995; Ullman, 2001). In einer Studie manifeste Variable), wobei die Richtung des
wurde 61 Probanden der »Positive and Ne- Pfeils die Richtung des Zusammenhangs
gative Affect Schedule« (PANAS; Watson anzeigt. Aus Gründen der Einfachheit sind
Abb. 2.13: Strukturgleichungsmodell für ein 1-Faktor-Modell für drei manifeste Variablen. Zur Verein-
fachung sind in diesem Modell mit einer Ausnahme alle Pfadkoeffizienten auf 1 fixiert.
93
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
in diesem Diagramm alle Pfadkoeffizienten Schritt die unbekannten Größen (die sog.
auf den Wert 1 fixiert, mit Ausnahme des Modellparameter) in den Gleichungen für die
Pfades, der von der latenten Variable PA auf Varianzzerlegung geschätzt werden (in die-
den Indikator Y1 führt. sem Beispiel handelt es sich hierbei um die
Dieses Pfaddiagramm behauptet nun, Varianzen der latenten Variablen sowie um
dass sich die manifeste Variable Y1 additiv den Pfadkoeffizienten b1). Ausgangspunkt
aus den beiden latenten Variablen PA und e1 dieser Schätzung ist die beobachtete Kova-
zusammensetzt, wobei PA mit dem Koeffizi- rianzmatrix der manifesten Variablen, die
enten b1 gewichtet wird; analoge Zerlegun- sich sofort aus den Daten berechnen lässt.
gen gelten auch für die anderen Variablen des Somit sind die Varianzen und Kovarianzen
Pfaddiagramms. Darüber hinaus behauptet der manifesten Variablen – die linke Seite der
das Pfaddiagramm auch, dass die drei Feh- Gleichungen in Teil C der Abbildung 2.13 –
lervariablen e1 , e2 und e3 miteinander un- gegeben. Mit einem iterativen Algorithmus
korreliert sind und dass sie auch nicht mit der werden nun für die Modellparameter – die
latenten Variable PA korrelieren (andernfalls unbekannten Größen auf der rechten Seite
wären diese Variablen jeweils durch einen dieser Gleichungen – Werte gesucht, so dass
Doppelpfeil miteinander verbunden, s. z. B. die Gleichungen bestmöglich erfüllt werden.
c Abb. 2.14). Die Gesamtheit all dieser Be- Natürlich wird das nicht vollständig gelingen
hauptungen über das Zusammenhangsge- und eine gewisse Diskrepanz zwischen der
füge der manifesten und latenten Variablen linken und rechten Seite der »Gleichungen«
kann algebraisch in Form von Definitions- wird sich nicht vermeiden lassen. Der itera-
gleichungen dargestellt werden, wie Teil B tive Algorithmus sucht solange nach den
der Abbildung 2.13 veranschaulicht (diese Modellparametern, bis diese Diskrepanz zwi-
Gleichungen definieren das Strukturglei- schen Daten und Modell minimiert ist; die
chungsmodell). resultierenden Werte für die Modellparame-
Als mathematische Konsequenz aus die- ter dienen als deren Schätzer.
sen Definitionsgleichungen lässt sich nun Die verbleibende Diskrepanz könnte auf
ableiten, dass sich auch die Varianz der einen systematischen Unterschied zwischen
manifesten Variable Y1 additiv aus den Va- Modell und Daten hinweisen, mit anderen
rianzen der latenten Variablen PA und e1 Worten: Möglicherweise ist das Modell nicht
zusammensetzen muss (wobei nun die Va- gültig. Um dies zu untersuchen, kann nun ein
rianz von PA mit b2I gewichtet wird). Ganz Modelltest durchgeführt werden. Im vorlie-
analog lassen sich auch die Varianzen der genden Datenbeispiel wurde der Modelltest
anderen beiden manifesten Variablen in die mit χ2(df ¼ 1) ¼ 0,23 und p ¼ 0,63 nicht
Varianzen ihrer manifesten latenten Bestand- signifikant, und deshalb könnte das Modell
teile zergliedern. Schließlich kann als Konse- akzeptiert werden (es gibt keine signifikante
quenz der Definitionsgleichungen auch ge- Abweichung zwischen Modell und Daten).
zeigt werden, dass die Kovarianzen aller Neben dem Modelltest kann die Passungs-
manifesten Variablen gleich der Varianz der güte eines Modells auch anhand von soge-
latenten Variable PA sein müssen (teilweise nannten Passungsgüteindikatoren bestimmt
gewichtet mit b1). Diese Zerlegung aller werden, wobei es sich um standardisierte
Varianzen und Kovarianzen der manifesten Maße für die Diskrepanz zwischen Daten
Variablen in Varianzen der latenten Variab- und Modell handelt. Häufig verwendete
len ist in Teil C der Abbildung 2.13 abgebil- Passungsgüteindikatoren sind der »Good-
det. ness-of-Fit Index« (GFI), der »Adjusted
Um die erhobenen Daten mit diesem Modell Goodness-of-Fit Index« (AGFI) und der
zu analysieren, müssen in einem ersten »Comparative Fit Index« (CFI). Für das hier
94
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
eingeführte Datenbeispiel ergaben sich für renanalyse am Beispiel des PANAS aufge-
die Passungsgüteindikatoren folgende Werte: führt. Dieser Fragebogen besteht aus insge-
GFI ¼ 0,99, AGFI ¼ 0,98, CFI ¼ 1,00 und samt 20 Items, wobei jeder der beiden Fak-
RMSEA ¼ 0,00. Insgesamt sprechen diese toren PA und NA durch jeweils 10 Items
Statistiken also für eine gute Modellpassung, erfasst werden soll. Abbildung 2.14 zeigt das
was ja im Einklang mit dem Ergebnis des Pfaddiagramm einer exploratorischen Fak-
Modelltests steht. torenanalyse für diesen Fragebogen, wobei
Um die Vorteile der konfirmatorischen zwei Faktoren extrahiert wurden. Nach einer
Faktorenanalyse zu verdeutlichen, seien noch Extraktion von 2 Faktoren und einer ortho-
einmal einige der (üblicherweise ungeteste- gonalen Rotation konnten insgesamt 53 %
ten) Annahmen der exploratorischen Fakto- der Varianz aufgeklärt werden.
Abb. 2.14: Pfaddiagramm und Ergebnis einer explorativen Faktorenanalyse für den PANAS an 61
Versuchspersonen.
95
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Dargestellt sind die 20 manifesten Variablen Dies ist bei einer konfirmatorischen Fakto-
(Item1 bis Item20), die beiden extrahierten renanalyse anders. Abbildung 2.15 zeigt ein
Faktoren FI und FII, sowie die spezifischen entsprechendes Strukturgleichungsmodell
Faktoren (Fehler; e1 bis e20), die mit jedem für den PANAS. Dieses konfirmatorisch-
Faktor verbunden sind. Die Ladungen der faktorenanalytische Modell resultiert aus
manifesten Variablen auf den Faktoren sind dem in Abbildung 2.14 dargestellten explo-
wieder durch die Pfeile dargestellt; jedem rativen Modell durch Weglassen aller Neben-
dieser Pfeile in Teil A der Abbildung 2.14 ladungen. Dies wird erreicht, indem im
entspricht eine Ladung in Teil B dieser Ab- zunächst umfassenderen exploratorischen
bildung. Darüber hinaus enthält dieses Pfad- Modell bestimmte Restriktionen eingeführt
diagramm alle in der explorativen Faktoren- werden: Die Pfadkoeffizienten aller Neben-
analyse nötigen Annahmen: ladungen werden auf den Wert 0 fixiert. Es
resultiert ein Modell, in dem sämtliche ver-
l Alle manifesten Variablen werden durch bleibenden Annahmen der explorativen Fak-
alle Faktoren beeinflusst (von jedem ge- torenanalyse (wie beispielsweise die ange-
meinsamen Faktor zieht ein Pfeil zu jeder nommene Unkorreliertheit der spezifischen
manifesten Variable). Faktoren) als Teil des Modells empirisch
l Alle manifeste Variablen werden zusätz- überprüft werden können. Die oben aufge-
lich durch einen spezifischen Faktor (Feh- listeten Annahmen müssen also nicht mehr
ler) beeinflusst. bloß hingenommen werden, sondern sie
l Die Zusammenhänge zwischen den Va- werden auf ihre Verträglichkeit mit den
riablen bzw. Faktoren sind linearer Art. Daten untersucht. Dies ist der entscheidende
l Die spezifischen Faktoren (Fehler) der Vorteil der konfirmatorisch-faktorenanalyti-
manifesten Variablen sind unkorreliert schen Vorgehensweise.
(es gibt keinen Doppelpfeil zwischen den Abbildung 2.15 listet schließlich auch die
spezifischen Faktoren). Ergebnisse einer solchen konfirmatorischen
l Alle gemeinsamen Faktoren sind unkor- Faktorenanalyse für das obige Datenbeispiel
reliert mit sämtlichen spezifischen Fakto- mit dem PANAS auf. Wie aus den Ergebnissen
ren (es gibt keinen Doppelpfeil zwischen des Modelltests sowie den Passungsgüteindi-
spezifischen Faktoren und gemeinsamen katoren abgelesen werden kann, ist das kon-
Faktoren). firmatorische Faktorenmodell nicht mit den
Daten vereinbar. Dies kann naturgemäß ver-
Bemerkenswerterweise ist die erste dieser schiedene Ursachen haben. Beispielsweise
Annahmen theoretisch überflüssig, da beim könnten einige der Nebenladungen, die in
PANAS davon ausgegangen wird, dass alle diesem Modell auf null gesetzt wurden, sta-
10 Items für den Faktor PA auch nur auf tistisch bedeutsam sein, auch wenn die kon-
diesem Faktor substantiell laden, während zeptuellen Annahmen zum PANAS dies nicht
alle 10 Items für den Faktor NA spezifisch für nahelegen. Eine andere Erklärung könnte
den Faktor NA sein sollten. Alle Nebenla- darin bestehen, dass die Unkorreliertheit der
dungen in diesem Modell (also Ladungen, die spezifischen Faktoren eine unzutreffende An-
ein Item auf einem Faktor hat, zu dem es nahme darstellt. Diese und weitere Erklä-
theoretisch gar nicht zugeordnet ist) sind rungshypothesen über das unbefriedigende
folglich keine Konsequenz von inhaltlichen Ergebnis der konfirmatorischen Faktoren-
Annahmen, sondern eine rein mathematische analyse könnten nun mit weiteren Modellen
Notwendigkeit des explorativ-faktorenana- untersucht werden, bei denen einige der ge-
lytischen Modells (bei dem ja stets alle Items machten Restriktionen aufgehoben und er-
auf allen Faktoren Ladungen aufweisen). neut Modelltests durchgeführt werden. So
96
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
PA Item PA NA
1 aktiv 0,81 –
2 interessiert 0,85 –
3 freudig erregt 0,87 –
4 stark 0,64 –
5 angeregt 0,88 –
6 stolz 0,77 –
7 begeistert 0,90 –
8 wach 0,75 –
9 entschlossen 0,73 –
10 aufmerksam 0,81 –
11 bekümmert – 0,69
12 verärgert – 0,73
13 schuldig – 0,83
NA 14 erschrocken – 0,74
15 feindselig – 0,50
16 gereizt – 0,74
17 beschämt – 0,87
18 nervös – 0,72
19 durcheinander – 0,57
20 ängstlich – 0,89
Abb. 2.15: Pfaddiagramm und Ergebnis einer konfirmatorischen Faktorenanalyse für den PANAS an 61
Versuchspersonen.
kann man über mehrere Zwischenschritte genügt – wobei gelegentlich auch die Theorie
schließlich zu einem endgültigen Modell modifiziert werden muss. Deshalb stellen
gelangen, das sowohl dem Kriterium der Strukturgleichungsmodelle ebenfalls eine
Modellpassung als auch der Interpretierbar- wichtige Methode zur Theorieentwicklung
keit im Sinne der zugrundeliegenden Theorie dar.
97
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
98
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
iert werden, sondern in den Individuen und wird dann das deskriptive Konstrukt aufge-
deren Organismen bereits variiert vorliegen, fasst, das erklärt werden soll, als unabhän-
nennt man solche Variablen als Faktoren in gige Variable jenes, das Erklärungswert ha-
Experimenten auch Organismusvariablen. ben soll.
Immer dann, wenn in einem mehrfaktoriel- Dieser Umstand bringt innerhalb be-
len Experiment neben »Reizvariablen« auch stimmter Grenzen eine gewisse Willkürlich-
»Organismusvariablen« als unabhängige Va- keit mit sich: Eine Vielzahl von Untersuchun-
riablen vorkommen, handelt es sich um ein gen hat beispielsweise belegt, dass zwischen
differentialpsychologisches Experiment. Intelligenz und schulischer Lernfähigkeit
Von Ex-post-facto-Untersuchungen korrelative Zusammenhänge bestehen in
spricht man in Anlehnung an Campbell und der Höhe zwischen r ¼ 0,30 und 0,45 (so
Stanley (1963) dann, wenn ein als unabhän- z. B. Janssen, 1979; Kühn, 1983). Unter
gige Variable aufgefasstes Merkmal nicht Bezugnahme auf diese Resultate wäre es
vom Versuchsleiter variiert und manipu- deshalb möglich, Unterschiede in der schuli-
liert werden kann, wie das bei allen Orga- schen Lernfähigkeit auf solche in der Intelli-
nismusvariablen der Fall ist. Danach stellen genz zurückzuführen, sie durch diese zu
alle korrelationsstatistischen Untersuchun- erklären, da zwischen beiden Variablen Ko-
gen Ex-post-facto-Untersuchungen dar. Ihr variations- oder Abhängigkeitsbeziehungen
Problem besteht darin, dass streng genom- bestehen. Wie ersichtlich, liegt hier ein Erklä-
men statt Dependenz- nur noch Interdepen- rungsversuch vor, der sich auf Gruppen von
denzinterpretationen zulässig sind. Aber Individuen bezieht.
auch alle Versuchspläne, die statt auf korre- Nicht weniger berechtigt wäre in dem
lationsstatistische Auswertungen auf Mittel- eben erwähnten Beispiel ein spiegelbildliches
wertsvergleiche hinauslaufen, als unabhän- Vorgehen, also die Intelligenz mit Hilfe der
gige Variablen aber Organismusvariablen Lernfähigkeit zu erklären, sie darauf zurück-
untersuchen, stellen Ex-post-facto-Untersu- zuführen. Jedes der beiden deskriptiven
chungen dar und können oft nur als Interde- Konstrukte Intelligenz und Lernfähigkeit,
pendenzanalysen aufgefasst werden. für das das beobachtbare Ankreuzen be-
stimmter Antwortalternativen in einem Test
bzw. das Verhalten in der Schule nur Indika-
Das Erklärungsproblem toren sind, kann also je nach der eingenom-
menen Perspektive oder theoretischen Posi-
Da das typische Experiment in der Differen- tion die Rolle des Erklärten bzw. Erklären-
tiellen Psychologie das Ex-post-facto-Experi- den übernehmen. Dient ein deskriptives
ment ist oder häufig gar keine Experimente Konstrukt zur Erklärung eines anderen, be-
im Sinne von Dependenzanalysen, sondern zeichnet man es als explikatives (erklärendes)
nur korrelative Studien, also Interdependenz- Konstrukt; Gleiches bedeuten die Begriffe
analysen, durchgeführt werden können, sind Explanandum bzw. Explanans (s. Herr-
Erklärungen im Sinne des Zurückführens auf mann, 1976, S. 64).
Bedingungen in der Differentiellen Psycho- Allerdings findet die Beliebigkeit in der
logie viel schwieriger als in der Allgemeinen Setzung, was als deskriptives und was als
Psychologie. Die Unterscheidung von unab- explikatives Konstrukt fungieren soll, dort
hängiger und abhängiger Variable wird zwar eine Grenze, wo eindeutige Sukzessionen
oft trotzdem getroffen, doch ist sie nicht identifizierbar sind, und zwar solche, die
mehr operational durch die Datengewinnung das Konstrukt selbst und nicht nur dessen
definiert, sondern stellt bereits eine theoreti- Erfassung mit Hilfe bestimmter Operationen
sche Deutung dar: Als abhängige Variable betreffen.
99
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Ausgehend von dem Grundsatz, dass nur worden ist (zusammenfassend etwa Ame-
zeitlich Früheres zeitlich Späteres beeinflus- lang, 1986) und die Intelligenz in ihrer
sen kann, wäre es beispielsweise möglich, jeweiligen Ausprägung zum Zeitpunkt des
Intelligenz durch Vererbung zu erklären, und sozial abweichenden Verhaltens bereits als
damit das zeitlich Spätere auf zeitlich Frühe- entwickelt angesehen werden darf, mag eine
res zurückführen, ohne dass das Umgekehrte derartige Interpretation naheliegen. Aller-
gleichermaßen sinnvoll wäre. dings korrelieren sowohl Intelligenz als auch
In diesem Sinn hat etwa McClelland Normenkonformität mit dem sozioökono-
(1953) das Leistungsstreben von Kindern mischen Status als »dahinter stehender«
auf den Erziehungsstil der Eltern zurückge- Drittvariable (Anastasi, 1966; Opp, 1968),
führt, Sears (1961) die Selbstaggressivität bei so dass der sozioökonomische Status als
Jungen auf die Aggressionsintoleranz ihrer explikatives Konstrukt gleichermaßen für
Mütter, Eysenck (1976) die Delinquenznei- Intelligenz und Delinquenzneigung in Be-
gung von Personen auf deren – weitgehend tracht kommt und die anfänglich intendierte
genetisch bedingte – Langsamkeit bei der Erklärung von Delinquenz durch Intelligenz
Ausbildung konditionierter Reaktionen, zumindest uneindeutig macht.
Braucht et al. (1973) den Rauschmittelab- Eine Erklärung ist demnach immer dann
usus Jugendlicher auf zerrüttete Familienver- nicht eindeutig, wenn es gelingt, eine Spu-
hältnisse usw. Die Beispiele verdeutlichen im renkorrelation des deskriptiven und explika-
Übrigen, wie schwer oft eine eindeutige tiven Konstruktes zu mindestens einer wei-
zeitliche Abfolge zu bestimmen ist, da sich teren Variablen nachzuweisen (Popper,
etwa ein Erziehungsstil, zumindest im Fall 1994). Da solche Spurenkorrelationen im
von Erstgeborenen, zeitlich kaum vor dem Sinne fehlender interner Validität im diffe-
Verhalten der zu Erziehenden manifestieren rentialpsychologischen Experiment oder bei
kann und vermutlich auf der Wechselwir- Korrelationsstudien aber wohl immer zu-
kung zwischen Merkmalen des Erziehers und mindest denkbar sind, setzen Erklärungen in
des Erzogenen resultiert. der Differentiellen Psychologie immer kom-
Korrelative Beziehungen zwischen Expla- plexere Annahmegefüge voraus. Für eine
nans und Explanandum sowie Eindeutigkeit ausführliche und formale Darstellung der
der zeitlichen Sukzession von explikativem Kausalitätsproblematik, auch im Kontext
und deskriptivem Konstrukt einmal voraus- nichtexperimenteller Untersuchungen, sei
gesetzt, muss darüber hinausgehend eine hier auf die »Theorie kausaler Regressions-
weitere Voraussetzung für hinreichend halt- modelle« (Steyer, 1992) verwiesen.
bare Erklärungen erfüllt sein: Damit ein Die soweit erörterten Prinzipien gelten
Konstrukt ein anderes erklärt, darf der ur- für das Zurückführen eines Konstruktes auf
sprünglich existierende Zusammenhang zwi- ein anderes, was im konkreten Fall stets
schen den beiden Variablen nicht verschwin- Daten aus Gruppen von Personen (z. B.
den, wenn der Einfluss anderer Variablen auf Schulleistungen einer ganzen Reihe von
jede der beiden Variablen ausgeschlossen Kindern, Intelligenz-Punktwerte ihrer Eltern
wird (»Spurenkorrelation«, engl. »lack of usw.) voraussetzt. Häufig aber stellt sich die
spuriousness«). Frage, wie ein spezifischer Einzelfall (etwa
Beispielsweise wurde versucht, antisoziale die mangelnde Schulleistung eines bestimm-
Verhaltenstendenzen auf die geringe Intelli- ten Kindes) zu erklären ist. In einem solchen
genz der Betreffenden zurückzuführen. Da in Fall muss zunächst – darin den gruppensta-
der Literatur mehrfach über einen negativen tistischen Erklärungen gleich – eine hinrei-
Zusammenhang zwischen Delinquenznei- chend bestätigte empirische Regel vorliegen
gung und intellektuellen Leistungen berichtet (etwa derart: »Die Schulleistungen von Kin-
100
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
dern korrelieren hoch mit der Intelligenz hohe Intelligenz der Eltern, können damit
ihrer Eltern«). Darüber hinaus müssen die niedrigen Schulleistungen ihres Kindes
ebenfalls gut gesicherte und logisch »pas- natürlich nicht erklärt werden. In einem
sende« Feststellungen über die spezifischen solchen Fall müsste nach anderen Erklä-
Randbedingungen des zu erklärenden Er- rungsmöglichkeiten gesucht werden. Bei-
eignisses gemacht werden können, etwa spielsweise könnte die empirisch bestätigte
derart: »Die Eltern des Kindes haben einen Regel, wonach Schulleistungen mit Auf-
sehr niedrigen IQ«. Sind die Aussagen zur merksamkeit und Konzentration korrelie-
empirischen Regel in einer Gruppe und den ren, herangezogen und die Konzentrations-
Randbedingungen des Einzelfalles schlüssig, leistung des Kindes geprüft werden. Würden
so gilt das einzelne Phänomen als »erklärt«. Konzentrationsmängel diagnostiziert, wären
Sprechen die verfügbaren Evidenzen hin- damit die mäßigen Schulleistungen indivi-
gegen in dem geschilderten Fall für eine duell »erklärt«.
Die Verteilung von Messwerten wird mindestens durch den Mittelwert und die Varianz
beschrieben. Im Falle einer Normalverteilung der Messwerte bestimmen Mittelwert und
Varianz die Messwerteverteilung vollständig. Das Modell der Normalverteilung nimmt an,
dass sich ein Messwert aus vielen kleinen Effekten zu Grunde liegender Faktoren ergibt. Je
mehr Faktoren Einfluss nehmen, desto feiner sind die möglichen Abstufungen der
Messwerte. Ein weiterer Vorteil der Normalverteilungsannahme – gegeben Mittelwert
und Varianz – besteht in der leichten Ableitbarkeit von Anteilen der Population mit
bestimmten Messwertausprägungen. Unter Zuhilfenahme von Mittelwert und Standard-
abweichung (der Wurzel aus der Varianz) können beliebig skalierte Messwerte auf einer
Standardskala einheitlich abgebildet werden. Aus dem Satz der Additivität von Varianzen
ergeben sich im Falle unkorrelierter Variablen interessante Möglichkeiten zur Bildung von
Koeffizienten, zum Beispiel des Erblichkeitskoeffizienten.
Die Korrelation ist ein Maß für den linearen Zusammenhang zwischen zwei Variablen.
Je schmaler und langgezogener die Ellipse der Personenpunkte im Streuungsdiagramm der
beiden Variablen ist, desto höher ist der Absolutbetrag der Korrelation. Die Korrelation
sagt nichts über Kausalität – zum Beispiel X verursacht Y – aus. Die Korrelationen zwischen
mehreren Variablen werden in einer Korrelationsmatrix zusammengestellt. Geometrisch
gesehen enthält die Korrelationsmatrix die Information über die Winkel zwischen den
Variablenvektoren. Mithilfe der Faktorenanalyse werden die Achsen (Faktoren) des
Raumes (bzw. eines Unterraumes davon) bestimmt, in dem die Variablenvektoren liegen.
Faktoren sollen aber möglichst so im Raum gelegt werden, dass sie inhaltlich gut
interpretiert werden können. Dies ist oftmals dann der Fall, wenn ein Faktor durch ein
Bündel verschiedener Variablenvektoren hindurchgeht (Einfachstruktur). Hierfür werden
rechtwinklige (orthogonale) oder schiefwinklige (oblique) Rotationen vorgenommen. Die
Länge der Variablenvektoren im Raum, der durch die Faktoren aufgespannt wird, heißt
»Kommunalität«. Die Faktorstrukturmatrix und die Faktorgefügematrix enthalten die
Korrelationen zwischen Variablen und Faktoren bzw. die Regressionsgewichte von
Variablen auf Faktoren. Bei der Berechnung von exploratorischen Faktorenanalysen sind
verschiedene Entscheidungen zu treffen, darunter zum Problem der Faktorenzahl und der
Faktorenrotation. Die Selektion von Probanden und von Variablen hat auf die Ergebnisse
101
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
102
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
103
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
104
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
105
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Eine andere Schlussart liegt der Inhaltsvali- empirisch in Experimenten und Korrelations-
dität zugrunde. Ein Test, für den Inhaltsvali- studien überprüft. Dabei wird man auch
dität in Anspruch genommen wird, wird als konkurrierende Theorien heranziehen, um
repräsentative Stichprobe aus jener Popula- zu überlegen, ob das Testverhalten durch
tion von Verhaltensweisen aufgefasst, auf die andere Konstrukte nicht ebenso gut oder
man vom Test aus schließen will. Der Test ist besser erklärt werden kann.
dann so valide, wie die mit ihm erfasste Experimente zur Stützung der Konstrukt-
Verhaltensstichprobe repräsentativ für den validität eines Tests würden etwa Verhal-
interessierenden Verhaltensbereich ist. Diese tensunterschiede zwischen Personen mit ho-
Repräsentativität kann nicht gemessen wer- hen und niedrigen Testwerten untersuchen,
den. Sie muss – am sinnvollsten durch Ex- wenn solche Verhaltensunterschiede aus der
perten – geschätzt werden. Für Wissenstests, Theorie des Konstruktes vorhergesagt wer-
Geschicklichkeitstests oder Tests zur Erfas- den können. In Korrelationsstudien mit dem
sung bestimmter Fertigkeiten wie Schreibma- zu validierenden Test würde man die Über-
schinenschreiben wird man Inhaltsvalidität einstimmung des Tests mit anderen empiri-
in Anspruch nehmen können, da diese Tests schen Indikatoren desselben Konstruktes
meist selbst am besten den intendierten Ver- prüfen. Dabei wird auch oft die Faktoren-
haltensbereich definieren. In der empirischen analyse (s. o. Abschn. 2.1.4) eingesetzt: Der
Forschung wird sehr oft den verwendeten zu validierende Test muss dann auf demsel-
Variablenoperationalisierungen implizit In- ben Faktor laden wie andere konstruktnahe
haltsvalidität unterstellt. Ob den erhobenen Variablen (»faktorielle Validität«). Aber
Maßen Inhaltsvalidität auch wirklich zu- auch die Unabhängigkeit von Variablen, die
kommt, ist sehr oft ein Problem der genauen mit dem Konstrukt nach der Theorie nicht
Definition der Population von Verhaltens- zusammenhängen dürften, muss korrela-
weisen (Aggressionsakte, Gedächtnisleistun- tionsstatistisch untersucht werden (»diskri-
gen, Hilfeleistungen), auf die man schließen minante Validität«). Versucht man das in
will. Nur bei genauer Definition des inten- Frage stehende Konstrukt mit mehreren Me-
dierten Verhaltensbereiches kann die oben thoden (einschließlich des zu validierenden
genannte Repräsentativität geschätzt werden. Tests) zu erfassen und korreliert diese ver-
Handelt es sich bei der Inhaltsvalidität um schiedenen Tests, so deutet eine hohe Korre-
das Problem des Schlusses auf eine mehr oder lation schließlich auf eine »konvergente Vali-
weniger genau umschriebene Population dität« der Tests. Erst vor dem Hintergrund
prinzipiell beobachtbarer Verhaltensweisen, vieler solcher Untersuchungen und nach dem
so bezieht sich das Konzept der Konstrukt- Versuch, ihre Ergebnisse auch anders als
validität auf den Schluss von einem Test oder durch das interessierende Konstrukt zu
einem anderen empirischen Indikator auf ein erklären, kann eine Einschätzung der Kon-
theoretisches Konstrukt, das nicht direkt struktvalidität eines Tests vorgenommen
beobachtbar ist. Die Rechtfertigung dieses werden (s. Hogan & Nicholson, 1988).
Schlusses muss sowohl theoretisch aus der Für die Beurteilung empirischer Forschung
Theorie über das Konstrukt wie empirisch ist die kritische Einschätzung gerade der Vali-
begründet sein. Für die empirische Begrün- dität der verwendeten Maße und Variablen-
dung gibt es keine verbindlichen Richtlinien. operationalisierungen essentiell wichtig. Da in
Im Allgemeinen wird man die Konstruktva- der Grundlagenforschung vor allem das Kon-
lidität empirisch so untersuchen, dass man zept der Konstruktvalidität als Argumenta-
aus der Theorie, in die das Konstrukt einge- tionsbasis empirischer Untersuchungen ver-
bettet ist, Vorhersagen über das Verhalten im wendet wird, sollte den Belegen dafür beson-
Test macht und diese Vorhersagen dann dere Aufmerksamkeit gewidmet und die dafür
106
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
vor allem in der Psychologischen Diagnostik insofern müssen diese Faktoren nicht allein durch
entwickelten Verfahren zur Anwendung ge- unsystematische Messfehler im Sinne der Klassi-
schen Testtheorie erklärt werden. Natürlich lassen
bracht werden (s. dazu Amelang et al., 2002). sich entsprechende Beispiele für die Situationsab-
hängigkeit psychologischer Messungen nicht nur
für Leistungstests aufzeigen, sondern auch für
Persönlichkeitstests.
2.2.4 Die
Situationsabhängigkeit
Wenn die mit diesen Verfahren gewonnenen
empirischer Testwerte nun meist ein »Gemisch« aus einer
Forschungsdaten Eigenschaft und situationsspezifischen Fak-
toren darstellen, so stellt sich die Frage, wie
In dem Abschnitt 1.6.4 wurden Zustände als diese beiden Einflussgrößen in empirischen
situations- oder zeitbedingte Unterschiede im Untersuchungen getrennt werden können.
Verhalten innerhalb einer Person definiert, Schließlich sollten empirische Forschungs-
während Eigenschaften als stabile Verhal- daten idealerweise nur zu einem geringen
tensdispositionen aufgefasst werden, die Teil durch situative Faktoren beeinflusst
konsistent in verschiedenen Situationen auf- werden, um im Sinne von Eigenschaften
treten. Dabei suggeriert diese Begriffsbestim- interpretiert werden zu können.
mung eine klare Trennung zwischen Zustän- Zur Erfassung der Situationsabhängigkeit
den und Eigenschaften, wie sie in empiri- menschlichen Verhaltens und Erlebens sind
schen Messungen nicht wirklich gegeben ist. die Klassische Testtheorie und das Rasch-
Insbesondere die Messung von Eigenschaften Modell ungeeignet, da sie von einem stabilen,
wird durch die Situationsabhängigkeit von latenten Personenmerkmal (»wahrem Wert«)
psychologischen Messungen erschwert. Psy- ausgehen. Als Erweiterung der Klassischen
chologische Messungen finden nie in einem Testtheorie haben Steyer und Mitarbeiter
situativen Vakuum statt, sondern immer (Steyer, 1987; Steyer et al., 1992) mit der
unter bestimmten situativen Bedingungen, »Latent State-Trait-Theorie« verschiedene
die die Erfassung psychologischer Merkmale Modelle entwickelt, mit denen die Situa-
beeinflussen können. tionsabhängigkeit von Messergebnissen be-
stimmt werden kann. Dabei handelt es sich
um spezielle Strukturgleichungsmodelle, die
Bearbeitet beispielsweise eine Person einen Intelli-
genztest, so wird der resultierende Testwert eine Zerlegung von gemessenen (manifesten)
nicht nur durch ihre Intelligenz im Sinne einer Variablen in verschiedene unbeobachtete
Eigenschaft bestimmt, sondern auch durch un- (latente) Variablen gestatten (zur Einführung
erwünschte situative Faktoren beeinflusst. Wird in die Methode der Strukturgleichungsmo-
die Person einer lärmreichen Umgebung ausge-
setzt, während sie den Test bearbeitet, so wird sie
delle s. Abschn. 2.1.4).
vermutlich einen geringeren Wert erzielen, als Das allgemeinste dieser Modelle ist das
wenn sie denselben Test in ruhiger Umgebung »Latent State-Trait-Modell«. Um es spezifi-
durchführt. Hat die Person in der Nacht vor dem zieren zu können, muss ein psychologisches
Test wenig geschlafen und viel Alkohol konsu- Konstrukt mit wenigstens zwei parallelen
miert, so wird sie sicherlich ebenfalls eine schlech-
tere Leistung zeigen, als wenn sie den Test ausge- Tests i (die beide im Wesentlichen dasselbe
ruht und nüchtern absolviert. Ist die Person wenig Konstrukt messen) in wenigstens zwei Mess-
motiviert, so wird sie ebenfalls einen geringeren gelegenheiten k erhoben worden sein. Es
Testwert erzielen. Diese verschiedenen Faktoren resultiert eine Testwertvariable Yik, deren
(Lärm, wenig Schlaf, geringe Motivation) sind
situative Variablen, die den wahren Testwert der
entsprechendes Latent State-Trait-Modell in
Person systematisch verzerren (in diesem Beispiel Abbildung 2.16 dargestellt ist. Wie diesem
immer in Richtung einer verminderten Leistung) – Modell zu entnehmen ist, erfolgt die Zerle-
107
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
gung der manifesten Testwertvariablen in In einem zweiten Schritt werden die beiden
zwei Schritten. wahren Zustandswerte Sk in eine latente
Eigenschaft T sowie latente Zustandsresi-
duen Rk zerlegt,
e11 Y11 R1
Sk ¼ T þ Rk :
S1
Die latente Variable T repräsentiert dabei
e21 Y21 jenen Anteil an den beiden Zustandswerten
T Sk, den diese über die beiden Messgelegen-
heiten hinweg gemeinsam haben – die latente
e12 Y12 Variable T wird also nicht mehr durch die
situativen Effekte der einzelnen Messgele-
S2 genheiten beeinflusst, sondern ist der trans-
e22 Y22 R2 situativ konsistente und zeitlich stabile Anteil
an den wahren Zustandswerten Sk. In diesem
Abb. 2.16: Latent State-Trait-Modell für Test- Sinne kann also die Variable T als Eigen-
wertvariablen Yik in zwei Parallelfor- schaft der Person interpretiert werden. Im
men i aus zwei Messgelegenheiten k. Gegensatz dazu entsprechen die latenten
Sk sind die latenten Zustandswerte, T Variablen Rk all jenen Effekten, die jeweils
ist der latente Traitwert, Rk sind die
spezifisch für die einzelnen Messgelegenhei-
latenten Zustandsresiduen, und eik
sind die latenten Messfehler. ten k sind. Dies sind also die Effekte der
jeweiligen Situation (sowie die Effekte der
Interaktion zwischen Person und Situation)
In einem ersten Schritt wird separat für jeden auf die Ausprägung der wahren Zustands-
Messzeitpunkt die Testwertvariable Yik in werte Sk, wobei die Variable Rk auch als
einen latenten Zustandswert Sk sowie in »latentes Zustandsresiduum« bezeichnet
einen Messfehler eik zerlegt: wird (also als jener Anteil des latenten Zu-
stands Sk, der nicht durch die Eigenschaft T
Yik ¼ Sk þ eik : »erklärt« werden kann).
Liegen die empirischen Daten von zwei
Dabei repräsentiert die latente Variable Sk Paralleltests aus zwei Messgelegenheiten für
jenen Anteil an den Testwertvariablen Yik, eine Stichprobe von Versuchspersonen vor,
den die beiden Testwertvariablen innerhalb so lassen sich die Varianzen der latenten
einer Messgelegenheit k gemeinsam haben – Variablen des Latent State-Trait-Modells mit
nämlich den latenten Zustand der Person der Methodik der Strukturgleichungsmo-
in dieser Messgelegenheit k (wobei es hier delle schätzen (s. Abschn. 2.1.4). Anhand
keine Rolle spielt, in welchem Ausmaß dieser der geschätzten Varianzen können dann die
Zustand durch situative Faktoren oder »Latent State-Trait-Parameter« berechnet
durch eine Verhaltensdisposition oder deren werden. Diese wurden von Steyer (1987)
Interaktion verursacht wird). Im Gegensatz definiert, um den Anteil an der Varianz einer
dazu repräsentieren die latenten Variablen Testwertvariable zu erfassen, der auf konsis-
eik jene Anteile an den Testwertvariablen Yik, tente und stabile interindividuelle Unter-
die jeweils spezifisch für die einzelnen Test- schiede bzw. messgelegenheitsspezifische
wertvariablen sind und die sich als Messfeh- Einflüsse zurückgeht.
ler der Testwertvariablen interpretieren las- Eine weiterführende Einführung in die
sen. Latent State-Trait-Theorie sowie eine Über-
108
2 Methoden der Persönlichkeitsforschung
Die Objektivität empirischer Forschungsdaten entspricht dem Grad, in dem die Ergeb-
nisse einer Beobachtung unabhängig vom Beobachter sind. Der Grad der Abhängigkeit
wird durch die Bestimmung von Zusammenhangsmaßen zwischen den Beobachtern
ermittelt. Unter Reliabilität versteht man das Ausmaß, in dem ein Messverfahren das, was
es misst, genau misst. In der Klassischen Testtheorie bezeichnet die Reliabilität einer
Variablen Y den Anteil der wahren Varianz von Y an der Gesamtvarianz von Y. Zur
Bestimmung der Reliabilität werden die Testwiederholungsmethode, die Paralleltestme-
thode oder die Testhalbierungsmethode verwendet, oder es wird die interne Konsistenz
bestimmt.
Die Validität empirischer Forschungsdaten gibt an, wie gut eine Messung das misst, was
sie messen soll. Man unterscheidet Kriteriumsvalidität (prädiktive und konkurrente
Validität), Inhaltsvalidität und Konstruktvalidität (faktorielle, diskriminante und konver-
gente Validität).
Viele Messungen des Verhaltens und des Erlebens erfassen zwei Einflussfaktoren, die
sich gleichzeitig auf die Messung auswirken: die Dispositionseigenschaft einer Person und
ihr Zustand. Die wünschenswerte Trennung beider Einflussfaktoren kann mit einem
Strukturgleichungsmodell (»Latent State-Trait-Modell«) erfolgen, sofern mindestens zwei
Messgelegenheiten (Zeitpunkte) und zu jedem Zeitpunkt zwei Parallelmessungen vorge-
nommen werden können.
109
3 Gewinnung empirischer Daten
110
3 Gewinnung empirischer Daten
für beobachtetes Verhalten verschiedener weil mit ihrer Hilfe auch in den Extrembereichen
Personen nur dann, wenn die Bedingungen, der jeweiligen Dimension zwischen den Merk-
malsträgern unterschieden werden kann.
unter denen eben dieses Verhalten provoziert
wird, bei allen Individuen (weitgehend) iden-
tisch sind. Herkömmliche Tests gewährleis- Ohne jeden Nutzen für die Differentielle
ten eine Standardisierung durch Gleichheit Psychologie sind solche Items, die wegen zu
des Materials, Identität der Instruktionen, niedriger oder zu hoher Lösungswahrschein-
genaue Anleitungen zur Durchführung und lichkeit überhaupt nicht differenzieren (z. B.
Auswertung. »3 þ 2 ¼ ?« bzw. »Wie viele Einwohner hatte
Dennoch ist evident, dass nicht alle denk- Heidelberg am 01.01.1935?«). Diese bedeu-
baren Einflussgrößen oder Störfaktoren ten lediglich das Hinzufügen eines für alle
strikt kontrolliert werden können. In dem Merkmalsträger konstanten Betrages auf der
Maße, in dem sich Bedingungen der Kon- jeweiligen Dimension. Sofern ihnen nicht
trolle des Untersuchungsleiters entziehen, eine besondere Funktion zukommt, etwa als
wird die Objektivität des Verfahrens (s. »Eisbrecher« oder zur Verschleierung der
Abschn. 2.2.1) beeinträchtigt, was letztlich Messintention der anderen Items, werden sie
auch Minderungen der Reliabilität und Vali- deshalb aus Ökonomiegründen gewöhnlich
dität zur Folge hat. Im Idealfall erweist sich eliminiert.
die jeweilige Methode der Datengewinnung Einen Sinn erhalten die gewonnenen
als hoch sensitiv gegenüber den Phänomenen Messwerte nur durch den Bezug auf eine
oder Variablen, an denen man aus theoreti- Theorie. Schon der Inhalt theoretischer Kon-
schen Gründen interessiert ist, aber als ro- zeptionen bestimmt in gewissem Ausmaß die
bust und unempfindlich gegenüber allen Technik der Informationsgewinnung und die
anderen Faktoren. Art der zu erhebenden Messwerte. Ein Bei-
Die mit Hilfe von Tests realisierten Bedin- spiel: Weil Galton davon überzeugt war, dass
gungen werden gewöhnlich so gewählt, dass die Denk- und Vorstellungstätigkeit dann
die interindividuelle Variabilität des Verhal- umso effizienter erfolgen könnte, wenn be-
tens maximal ist. Diese Differenzierung, reits die Bausteine und Elemente dafür be-
ebenfalls eine Grundvoraussetzung jeder Ge- sonders differenziert wären, musste er sich
winnung von sinnvollen Informationen, ist folgerichtig für die Präzision visueller, audi-
dann am größten, wenn Tests oder ihre tiver und taktiler Unterscheidung interessie-
Bestandteile (Aufgaben, Untertests) eine mitt- ren. In anderem als dem geschilderten Zu-
lere Lösungswahrscheinlichkeit aufweisen. sammenhang würden alle erwähnten Maße
wenig Sinn ergeben; erst durch die theoreti-
Um dieses zu veranschaulichen: Wenn eine be- sche Einbettung erhalten sie ihre Bedeutung.
stimmte Aufgabe von 50 Probanden aus einer
Stichprobe von N ¼ 100 gelöst wird, so differen-
Deshalb ist eine Persönlichkeitstheorie, die
ziert diese Aufgabe zwischen jedem der 50 Pro- nicht Implikationen für die Ermittlung von
banden, die das Item richtig beantworten, und Daten über Individuen aufweist, ebenso un-
jedem der 50 Probanden, bei denen das nicht brauchbar wie Informationen sinnfrei sind,
der Fall ist. Eine solche Aufgabe hat also insgesamt die nicht auf eine Theorie bezogen werden
50 50 ¼ 2500 Unterscheidungen getroffen.
Wenn andererseits ein Item nur von 20 der 100 können – Theorie und Empirie stehen in
Probanden in einer bestimmten Richtung be- einem Verhältnis wechselseitiger Abhängig-
antwortet wird, so unterscheidet es zwischen keit und gegenseitiger Befruchtung.
20 80 ¼ 1600 Probandenpaaren. Noch schwie- Dem allgemeinen Aufbau des Buches ent-
rigere Aufgaben in Leistungstests bzw. solche mit
sehr seltenen Beantwortungen sind trotz ihrer
sprechend werden nachfolgend für die inner-
damit gegebenen verminderten Differenzierungs- halb der Persönlichkeitspsychologie unter-
kraft in fast allen Verfahren deshalb enthalten, scheidbaren theoretischen Grundströmun-
111
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
gen und Forschungsansätze einige Verfahren (z. B. »Schwierige Aufgaben reizen mich mehr als
zur Datengewinnung beispielhaft skizziert. einfache« oder »Ich kann mich lange konzentrie-
ren, ohne müde zu werden«). Aufwendiger ist es,
sich nicht auf die verbalen Antworten auf derartige
Fragen zu verlassen, sondern eigens Beobachtun-
3.1.2 Allgemeines zur gen zu den einzelnen Aspekten anzustellen und
etwa zu prüfen, mit welcher Ausdauer selbstge-
Entwicklung von steckte berufliche Ziele verfolgt werden, wie lange
Verfahren der Betreffende schläft, Urlaub macht und dgl.
Auf die allgemeinen Kennzeichen von Eigen- Um sichergehen zu können, dass beispiels-
schaftstheorien braucht an dieser Stelle nicht weise mit den Fragen das jeweils interessie-
noch einmal gesondert eingegangen zu wer- rende Konstrukt auch getroffen wird und die
den (s. dazu Abschn. 1.6.3). Es genügt der Probanden angemessen antworten, bedarf es
Hinweis, dass bestimmte Verhaltensmerk- der Validierung rational entwickelter Skalen
male als Indikatoren für Verhaltensbereit- nach den in Abschnitt 2.2.2 dargestellten
schaften bzw. Dispositionen gewertet und zu Methoden.
Eigenschaften (übergreifenden Kategorien
wie z. B. Intelligenz, Ängstlichkeit) zusam-
mengefasst werden. Je nach Häufigkeit und/ Kriterienorientierte Skalenkonstruktion
oder Intensität der Verhaltensmerkmale
kann dann eine quantitative Abstufung der Kennzeichnend für die kriterienorientierte
Eigenschaft vorgenommen werden. Skalenkonstruktion ist das weitgehende Feh-
Sowohl im Leistungs- wie im Persönlich- len von theoretischen Vorstellungen. Eine
keitsbereich sind drei Grundmuster bei der grundlegende Voraussetzung stellt die Exis-
Entwicklung von Tests für die fraglichen tenz eines Kriteriums dar, in dem sich min-
Eigenschaften zu erkennen: Die Skalenkon- destens zwei Gruppen von Personen ersicht-
struktion kann rational, kriterienorientiert lich voneinander unterscheiden (z. B. Ge-
oder faktorenanalytisch erfolgen. schlecht, Beruf, Ausbildung, psychiatrische
Diagnose, Schulleistungen). Den Angehöri-
gen derartiger Gruppen werden sodann »ir-
Rationale Skalenkonstruktion gendwelche« Items zur Bearbeitung vorgelegt
in der Hoffnung, dass sich darunter einige
Die rationale Skalenkonstruktion beginnt befinden werden, die zwischen den Gruppen
mit der Definition eines Konstrukts. Dabei differenzieren. Jene Items werden dann aus-
ist es unerlässlich, auch über die Verhaltens- gewählt und zu Skalen zusammengestellt, die
weisen nachzudenken, die dafür als Indika- zwischen den Gruppen überzufällig unter-
toren fungieren. scheiden. Nur für solche Differenzierungs-
aufgaben sind die Skalen später streng ge-
Nehmen wir an, es sei das Konstrukt der »Leis- nommen brauchbar. Die Validität dafür ist
tungsmotiviertheit« definiert worden. Gemäß den gegeben, weil sie im Sinne der Differenzierung
Vorstellungen der Forscher gehöre dazu Strebsam-
keit, Fleiß, Unfähigkeit zu langem Schlaf oder zwischen Gruppen den Ausgangspunkt der
Untätigkeit im Urlaub, Freude auf die Arbeit und Skalenkonstruktion bildet. Vom Format und
dgl., also Teilfacetten oder Eigenschaften von den angesprochenen Sachverhalten her mö-
geringerer Breite, für die konkrete Verhaltensmerk- gen die in den Skalen vereinigten Items extrem
male oder bestimmte Verhaltenstendenzen Indika-
torfunktion aufweisen. Im einfachsten Fall können
heterogen sein. Eine Interpretation der Items
Fragen nach diesen Merkmalen formuliert und in im Sinne des darin thematisierten Erlebens
einen entsprechenden Test aufgenommen werden oder Verhaltens (dass also beispielsweise je-
112
3 Gewinnung empirischer Daten
113
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Zahlen-Symbol A B C D E
T
»Bitte tragen Sie unter die Buchstaben möglichst schnell die zuge-
hörigen Symbole ein«
C A D E A E B D C A D B E C A D E E A
Bilderordnen »Bitte bringen Sie die Bilder so in eine Reihenfolge, dass sich eine
sinnvolle Geschichte ergibt«
Figurenlegen »Bitte setzen Sie die einzelnen Teile zu einer Figur zusammen:«
114
3 Gewinnung empirischer Daten
Kasten 3.2: Aufgaben zur Sozialen Intelligenz (nach Guilford und Chapin)
»Jede Aufgabe dieses Tests zeigt eine Strichfigur, die ein Gefühl, einen Gedanken oder eine Ab-
sicht zum Ausdruck bringt. Sie sollen diejenige der drei nebenstehenden Strichfiguren auswäh-
len, welche das gegenteilige Gefühl oder die gegenteilige Absicht ausdrückt.
Die vorgegebene Strichfigur drückt Aufmerksamkeit aus. Die Alternativen 1 und 3 drücken auf
andere Art und Weise ebenfalls Aufmerksamkeit aus. Alternative 2 ist die richtigere, weil sie eine
lässige Haltung und Langeweile zum Ausdruck bringt. Das ist das Gegenteil des Ausdrucks der
vorgegebenen Strichfigur. Bitte kreuzen Sie die Zahl unter der ausgewählten Strichfigur an.«
»In Restaurants und Gaststätten ist Herr Müller im Allgemeinen recht unfreundlich zu den Kell-
nern. Bestellungen gibt er im Befehlston auf, am Service hat er immer etwas auszusetzen. Wegen
seines herrischen und überkritischen Wesens hat er nur wenige Freunde. Herr Müller arbeitet als
kaufmännischer Angestellter in einem Büro. Dort verhält er sich folgendermaßen:
a) Er setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen ein.
b) Er macht sich gerne bei seinem Arbeitgeber beliebt und verhält sich eher unterordnend.
c) Er stellt die Zweckmäßigkeit vieler Anordnungen und die Unabänderlichkeit bestimmter
Sachzwänge in Frage.
d) Er versucht, seinen Kollegen Anweisungen zu erteilen, die ihnen nur ihr Vorgesetzter zu geben
berechtigt ist.« (Aufgabe: Ankreuzen der nach Meinung des Pb wahrscheinlichsten Alterna-
tive)
115
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
116
3 Gewinnung empirischer Daten
Schwäche dieser Liste war ihre leichte Ver- way et al., 2000). Diese Autoren legten zu-
fälschbarkeit durch die Probanden. nächst eine Liste von 1000 Items an, die sich
Nach der rationalen Methode entwickelte auf allgemeine Gesundheit, familiäre und
später auch Taylor (1953) die bekannte eheliche Beziehungen, sexuelle und religiöse
»Manifest Anxiety Scale« als Vorläufer und Einstellungen sowie emotionale Zustände
Vorbild vieler heute gebräuchlicher Ängst- bezogen und letztlich psychopathologische
lichkeitstests. Nach einer Definition des Symptome erfassen sollten. Gruppen von
Konstrukts sammelte die Autorin dafür zu- klinisch auffälligen Personen, die von Psy-
nächst einen Satz von 200 geeignet erschei- chiatern als Schizophrene, Hysteriker, Hypo-
nenden Items. Nur jene Fragen bildeten aber chonder usw. diagnostiziert worden waren,
die endgültige Skala, die von einer Gruppe bearbeiteten die Items ebenso wie klinisch
von klinischen Psychologen als geeignet unauffällige Personen. Jene 550 Items wurden
angesehen wurde. schließlich zu zehn klinischen Skalen ver-
Ausgesprochen kriterienorientiert erfolgte einigt, die die Patienten von den Kontrollper-
hingegen die Konstruktion des »Minnesota sonen am besten differenzierten. Abbil-
Multiphasic Inventory (MMPI)« von Hatha- dung 3.1 gibt das Mittelwertsprofil einer
way und McKinley (1951; deutsch: Hatha- Gruppe von neurotischen Probanden wieder.
Ein typischer Vertreter für faktorenanalyti- Jeder der fünf globalen Persönlichkeitsfakto-
sche Skalenkonstruktion ist das NEO- ren (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit
Persönlichkeitsinventar von Ostendorf und für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewis-
Angleitner (2004). Es orientiert sich an senhaftigkeit) wird durch sechs Teilskalen
dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlich- beschrieben, die sich auf Facetten des jewei-
keit von Costa und McCrae, das unter ligen Faktors beziehen (beispielsweise im Fall
Abschnitt 7.5 ausführlicher dargestellt wird. von Neurotizismus: Ängstlichkeit, Reizbar-
117
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
keit, Depression, Soziale Befangenheit, Im- Item die Beobachtung von sich selbst und ein
pulsivität und Verletzlichkeit). Die insgesamt Urteil darüber, wie oft bzw. intensiv die
240 Items sind auf fünffach abgestuften erfragten Sachverhalte bei ihnen vorkom-
Skalen zu beantworten (jeweils von »starker men. Dabei sind die von den Testpersonen
Ablehnung« über »Ablehnung«, »neutral« erbetenen Urteile hinsichtlich ihrer Komple-
und »Zustimmung« bis zu »starke Zustim- xität außerordentlich verschieden.
mung«). Eine Besonderheit des Verfahrens Der einfachste Fall beinhaltet lediglich ein
besteht darin, dass es in zwei Formen vor- kurzes Nachdenken darüber, ob ein bestimm-
liegt, nämlich einer zur Selbst- und einer zur tes Phänomen bereits beobachtet wurde oder
Fremdbeurteilung (z. B. »Ich bin leicht zu nicht (z. B. bei der Frage »Haben Sie schon
erschrecken« bzw. »Er/Sie ist leicht zu er- einmal Stimmen gehört, ohne dass jemand im
schrecken«). Mit der Fremdbeurteilungsver- Haus war?«). Hingegen setzt bereits eine
sion lassen sich sehr gut Kriteriumswerte für Antwort auf die Frage: »Leiden Sie unter
die Validierung von Tests gewinnen. vielen Ängsten?« einen vielschichtigen Ent-
Die Entwicklung des im deutschen Sprach- scheidungsprozess voraus, bei dem u.a. be-
raum besonders verbreiteten »Freiburger Per- rücksichtigt werden muss, welche Vorgänge
sönlichkeits-Inventars« (FPI-R; Fahrenberg zu Angst zählen und was unter »oft« zu
et al., 2001) orientierte sich nicht an einer verstehen ist. Zudem sind Skalenabstufungen
spezifischen Persönlichkeitstheorie, sondern (c Kasten 3.3) wie »häufig«, »oft«, »selten«,
an den Interessen der Autoren an bestimmten »nie« und dgl. nicht eindeutig definiert und
Dimensionen des Verhaltens, und zwar teils hängen darüber hinaus auch von dem Vor-
im Hinblick auf die theoretischen Grundla- gang ab, in dessen Zusammenhang sie stehen
gen (insbesondere Extraversion und Neuro- (»häufiger« Kopfschmerz ist etwas anderes
tizismus), teils im Hinblick auf deren Impli- als »häufiger« Streit mit dem Partner).
kationen für das soziale Zusammenleben
(z. B. Aggressivität) und das subjektive Wohl- Die Bereitstellung von mehr als zwei Antwort-
befinden oder Zurechtkommen mit Anforde- möglichkeiten im Sinne abgestufter Urteile ist
kaum ein geeignetes Mittel, dem Probanden aus
rungen (z. B. Lebenszufriedenheit, Beanspru-
seinen Entscheidungsnöten zu helfen; vielmehr
chung). Die Skalenkonstruktion bzw. die handelt es sich dabei in erster Linie um einen
Auswahl der Items erfolgte teils nach fakto- Kunstgriff des Untersuchungsleiters, der ihn davor
renanalytischen, teils nach Trennschärfeprin- schützen soll, am Ende einer Studie im Falle nur
zipien; daneben spielten inhaltliche und prak- alternativer Antwortkategorien keine ausreichen-
de Differenzierung erzielt zu haben. Mehrere
tische Erwägungen eine Rolle. anstelle weniger Antwortkategorien führen zwar
Damit ist ein Eindruck darüber vermittelt in aller Regel zu höheren Varianzen in den Ant-
worden, wie verschiedenartig im konkreten worten auf eine Frage, doch stellt sich in Bezug
Fall der Entwicklung eines Tests die Kon- darauf die Frage, inwieweit die höheren Varianzen
auch reliabel sind, für die interessierende Eigen-
struktionsgesichtspunkte sein mögen.
schaftsdimension stehen und nicht durch eine
interindividuell unterschiedliche Bevorzugung
extremer Urteilskategorien bedingt sind.
3.1.5 Selbst- und
Fremdeinschätzungen Noch schwieriger dürfte es sein, etwa auf das
Item »Gehen Sie gern auf Partys?« eine
Selbsteinschätzungen: Methodische angemessene Antwort zu finden, muss dabei
und interpretative Probleme doch zunächst an alle möglichen Ereignisse
gedacht werden, die in die fragliche Veran-
Die soweit kurz angesprochenen Verfahren staltungskategorie fallen und ganz verschie-
verlangen von den Testpersonen bei jedem dene Implikationen für die Beantwortung
118
3 Gewinnung empirischer Daten
Man hat mich schon mal als faul bezeichnet stimmt stimmt nicht weiß nicht
nein ja
119
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
haben können. Den höchsten Komplexitäts- unter »Ambulantes Assessment« näher beschrie-
grad erreichen schließlich solche Beurteilun- ben werden (s. Abschn. 3.3.2).
gen, die unmittelbar eine Einstufung auf
der entsprechenden Eigenschaftsdimension
erfordern. Werden Personen gefragt, ob sie Fremdeinschätzungen: Methodische
»zu etwas tendieren«, wie oft sie etwas und interpretative Probleme
empfunden haben oder in welchem Ausmaß
sie freundlich, geizig oder fremdenfeindlich In der einen oder anderen Form werden
sind, müssen sie zunächst an zahlreiche Beobachtungen und Urteile nicht nur zur
Situationen denken, in denen sie einschlägi- eigenen Person verlangt, sondern auch zu den
ges Verhalten gezeigt haben, und auf dieser Einstellungen und Verhaltensweisen anderer
Basis eine globale Selbsteinschätzung ablei- Menschen, meist Freunden und Bekannten
ten, in der sich Erinnerungsinhalte mit Häu- (Fremdeinschätzungen). Solche Urteile sind
figkeits- und Intensitäts-Aspekten mischen. es häufig, die das Außenkriterium par excel-
Die Uneindeutigkeit der Wortbedeutun- lence für Tests darstellen; sie gelten als be-
gen ist nur ein Problem. Ein anderes ergibt sonders wertvoll dann, wenn die Beurteiler in
sich aus der Funktionsweise des autobiogra- ihren Einschätzungen wechselseitig gut über-
phischen Gedächtnisses. Untersuchungen einstimmen.
haben gezeigt, dass es sich beim Erinnern Bei der Vielschichtigkeit der geforderten
nicht lediglich um die Aktivierung von Ge- Entscheidungen bleibt es auch hier nicht aus,
speichertem handelt, sondern um die dass subjektive Faktoren, die mit dem Be-
Rekonstruktion vergangener Ereignisse mit obachtungsgegenstand nichts zu tun haben,
heuristischen Strategien (Schwarz & Sud- die abgegebenen Urteile beeinflussen. Nach-
man, 1994; Shiffman, 2000). Dabei kommt folgend sollen insbesondere die Rolle der
es schon während des Einspeicherns, später sogenannten Impliziten Persönlichkeitstheo-
auch beim Abruf zu Ungenauigkeiten und rien und der Einfluss semantischer Faktoren
systematischen Verzerrungen der Gedächt- dargestellt werden.
nisinformation. Dafür stehen Begriffe wie
salience, recency, telescoping und effort after Ein denkwürdiges Experiment stammt von Passini
meaning (d. h., Inhalte werden besonders gut und Norman (1966). Diese Autoren ließen Pro-
erinnert, wenn sie hervorstechen oder nur banden, die ohne die Möglichkeit zu wechselsei-
tigen Gesprächen kurze Zeit gemeinsam in einem
kurze Zeit zurückliegen, im Weiteren besteht Raum verbracht hatten, sich gegenseitig beurtei-
eine Tendenz zur zeitlichen und sinngeben- len auf Dimensionen wie »soziabel/zurückgezo-
den Verzerrung). Zudem ist der Einfluss von gen«, »kooperativ/negativistisch« usw. Da die
aktuellen Stimmungen und des situativen Probanden einander nicht kannten, musste die
Aufgabe als eine zur Einfühlung und Vorstel-
Kontexts nachgewiesen.
lungsfähigkeit deklariert werden. Die faktorielle
Struktur der so erzeugten Urteile stimmte fast
Aufgrund dieser und zahlreicher weiterer For- völlig mit derjenigen überein, die sich bei der
schungsbefunde können die retrospektiven Aussa- Beurteilung von Personen ergab, die den Beurtei-
gen über Verhalten nicht gleichgesetzt werden mit lern bekannt waren. Die Autoren kamen deshalb
dem Verhalten selbst. Vielmehr handelt es sich nur zu dem Schluss, dass die den Beurteilern verfüg-
um mentale Repräsentationen von subjektivem bare Information hauptsächlich aus dem bestan-
Erleben und Verhalten, die als solche in inhaltli- den habe, »…whatever they carried in their
cher und psychometrischer Hinsicht eine eigene heads«. Solch’ schlimme Befürchtungen scheinen
Qualität aufweisen, aber eben nicht objektiv dennoch nicht berechtigt zu sein, da zahlreiche
für das Verhalten selbst stehen können. Um die- Untersuchungen sinnvolle Übereinstimmungen
ses Verhalten selbst präziser zu erfassen, sind mit unabhängigen Eigenschaftseinschätzungen
gesonderte Techniken entwickelt worden, die (engl. »ratings«) aufzeigen.
120
3 Gewinnung empirischer Daten
Passini und Norman (1966) fanden auch, schen den Schätzurteilen über reale Personen
dass die von den Versuchspersonen formu- unter Verwendung derselben Begriffe, sofern
lierten Hypothesen über den Zusammen- die besagten Urteile auf der Basis von Ge-
hang zwischen einzelnen Eigenschaften und dächtnisinformation angegeben werden.
Verhaltensmerkmalen recht gut mit den Ge- Hingegen ist die Übereinstimmung gering,
gebenheiten übereinstimmten, die sich bei wenn anstelle von Informationen aus dem
der Einschätzung tatsächlich existierender Gedächtnis aktuell beobachtetes Verhalten
Personen finden ließen. Dieses individuelle als Vergleichsgröße dient. Diesen Sachver-
Netzwerk von Vorstellungen und Annahmen halt hat Shweder (1982) in einem Experi-
wird als Implizite Persönlichkeitstheorie ment demonstriert, das sich auf eine 30 Mi-
(IPT) bezeichnet. Gegenstand dieser subjek- nuten währende videographierte Interaktion
tiven Theorien sind Annahmen über den zwischen vier Angehörigen einer Familie
Zusammenhang zwischen Eigenschaften, stützte. Das Verhalten der agierenden Perso-
etwa dass eine stille Person furchtsam sei nen wurde anhand von sechs Kategorien
oder eine glückliche Person freundlich. Die qualifiziert (Rat geben, informieren, nahele-
Vorteile einer IPT sind offenkundig: Sie gen, fragen, kritisieren und nicht überein-
erlauben es den Menschen, aufgrund nur stimmen), und zwar entweder während der
weniger Informationen ein ganzes Eigen- Exposition des Bandes fortlaufend und auf
schaftsprofil von anderen »abzuleiten«, sich jede behaviorale Äußerung bezogen (»aktu-
ein rasches Persönlichkeitsbild zu machen. ell«) oder im Nachhinein in Gestalt eines
Strittig ist die Frage nach den Ursachen summarischen Urteils (»gedächtnisbasiert«).
dieses Phänomens. Einige Autoren vermuten, Außerdem wurde ein Ähnlichkeitsrating für
dass sich die Versuchspersonen bei ihren alle Paarkombinationen der kategorialen Be-
Vermutungen in angemessener Weise an den zeichnungen vorgenommen.
Beziehungen zwischen den Eigenschaften In jenen Fällen nun, wo die semantische
orientieren, wie sie sich bei anderen Personen Ähnlichkeit den Interkorrelationen zwischen
beobachten lassen (z. B. Lay & Jackson, den aktuellen Verhaltensweisen widersprach,
1969, S. 19; Stricker et al., 1974, S. 204). folgten die Interkorrelationen zwischen den
Im Unterschied dazu spricht Mirels von der gedächtnisbasierten Urteilen mehr den se-
»illusory nature of IPT« und von »Täu- mantischen Ähnlichkeiten als den Interkor-
schungsschlüssen«. Die Urteile der Proban- relationen zwischen den aktuellen Verhal-
den über den Zusammenhang von Verhal- tensweisen. Shweder und D’Andrade (1980;
tensmerkmalen (Mirels, 1982a, b) könnten Shweder, 1982) formulierten zur Erklärung
zumindest partiell von anderen Faktoren als dieser Befunde die »Systematische Verzer-
den empirisch festgestellten Zusammenhän- rungshypothese«, wonach alle gedächtnisge-
gen beeinflusst – und verfälscht – werden. stützten Eigenschaftsurteile nur die semanti-
Als ein potentieller Faktor dafür kommen sche Ähnlichkeit zwischen den verwendeten
die semantischen Ähnlichkeiten zwischen Begriffen wiedergeben. Im Sinne dieses Kon-
den Bezeichnungen für Eigenschaften in Be- zeptes sind alle Korrelationen zwischen
tracht. Diese lassen sich ermitteln über Ver- Eigenschaften auf IPT zurückzuführen.
suche mit der paarweisen Vorgabe von Wör- »Korrelationen zwischen Eigenschaften auf
tern für Eigenschaften (z. B. »gesellig« – Basis von Selbst- oder Fremdeinschätzungen
»sorgenfrei«) und der Instruktion an Pro- spiegeln die konzeptuelle oder semantische
banden, die Bedeutungsähnlichkeit zwischen Ähnlichkeit zwischen Eigenschaftskatego-
den Paarlingen zu beurteilen. Die so be- rien, nicht aber individuelle Unterschiede in
stimmte semantische Ähnlichkeit korrespon- der Persönlichkeit oder dem Verhalten
diert meist hoch mit den Korrelationen zwi- wider« (Shweder & D’Andrade, 1980).
121
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Insbesondere die These von der Irrelevanz schätzungen und objektiv erhobenen Verhal-
individueller Unterschiede erscheint überzo- tensdaten nicht erwarten können. Was
gen, da eine Vielzahl korrelativer Beziehun- den Zusammenhang zwischen Selbst- und
gen zwischen Selbsteinschätzungen auf der Fremdeinschätzungen angeht, muss zusätz-
einen Seite, Fremdbeurteilungen und beha- lich Folgendes bedacht werden: Bei Selbst-
vioralen Indikatoren auf der anderen belegt einschätzungen stehen einer Person Informa-
ist, was nicht durch semantische Ähnlichkeit tionen aus früheren Erfahrungen sowie über
oder systematische Verzerrung zu erklären Gedanken, Gefühle und Motive zur Verfü-
ist. Unvereinbar damit sind auch die trotz gung, zu denen Fremdbeurteiler keinen Zu-
wechselnder Beurteiler selbst über längere gang haben. Ferner sind wir bei der Bearbei-
Zeitabschnitte beobachteten Stabilitäten tung und Bewertung des Selbst stärker Ich-
für zahlreiche Persönlichkeitstests (s. Backte- beteiligt als bei der Einschätzung anderer;
man & Magnusson, 1981), da eine extreme von daher mögen Selbstbeobachtungen gra-
Formulierung der IPT besagt, dass die Zu- vierender durch motivationale Faktoren wie
schreibung einer Eigenschaft nur auf Merk- Selbstwertgefühle beeinflusst werden, die bei
malen des Beurteilers, nicht aber des Be- Fremdeinschätzungen nicht dieselbe Rolle
urteilten beruht. spielen. All diese Gesichtspunkte lassen es
Borkenau (1989) ging in mehreren auf- erwarten, dass die Übereinstimmung zwi-
wendigen Untersuchungen der Haltbarkeit schen Fremdbeurteilern höher ist als diejeni-
der SDH nach und stellte ihr die »Systema- ge zwischen Selbst- und Fremdurteilen.
tische Überlappungshypothese« gegenüber. Die Übereinstimmung zwischen Selbst-
In der Zusammenschau aller Befunde geben und Fremdurteilen ist nach vielen Untersu-
die Korrelationen zwischen Eigenschaften chungen (s. Spinath, 2000) hoch, und zwar
vermutlich Strukturmerkmale sowohl der sowohl in Tests als auch in direkten Beurtei-
Sprache als auch des Verhaltens wieder (s.a. lungsskalen für Eigenschaften. Um nur weni-
Borkenau, 1986). Im Zuge der besagten ge Beispiele zu geben: Für das Freiburger
Studien konnten Borkenau und Ostendorf Persönlichkeits-Inventar berichteten Schmidt
(1987) zudem zeigen, dass die IPT zutreffend und König (1986) eine über die Skalen
nicht nur die Korrelationen zwischen den gemittelte Korrelation zwischen Testwerten
gedächtnisbasierten, sondern auch diejeni- und Bekannteneinschätzungen von rtc ¼
gen zwischen den aktuell registrierten Ver- 0,38. Für andere Tests gelten ähnliche, mit-
haltenshäufigkeiten widerspiegelt, und dass unter auch höhere Werte (s. Amelang &
den Beurteilern lediglich gewisse Fehler bei Schmidt-Atzert, 2006, S. 259–278). Wood-
der Schätzung bedingter Wahrscheinlichkei- ruffe (1985) errechnete für die Übereinstim-
ten aus den beobachteten Basisraten unter- mung zwischen der Selbstbeschreibung an-
laufen. hand von Adjektiven und gemittelten Fremd-
einschätzungen über mehrere Eigenschaften
hinweg einen durchschnittlichen Koeffizien-
Zusammenhang von Selbst- ten von r ¼ 0,56. Der Zusammenstellung von
und Fremdeinschätzungen McCrae et al. (2004) zufolge liegen die
Koeffizienten für das NEO-Persönlichkeits-
Ungeachtet ihrer systembedingten Vorzüge inventar meist etwas über 0,40.
sind also sowohl Selbst- als auch Fremdein- Das Ausmaß der Übereinstimmung zwi-
schätzungen mit verschiedenen methodi- schen Selbst- und Fremdurteilen wächst mit
schen Problemen behaftet. Vor diesem Hin- der Menge an Information, die den Fremd-
tergrund wird man eine perfekte Korrelation beurteilern zur Verfügung steht. Letzring
(r nahe 1,0) zwischen Selbst- oder Fremdein- et al. (2006) konnten dieses Ergebnis expe-
122
3 Gewinnung empirischer Daten
rimentell aufzeigen. Auch war die Qualität als leicht einzuschätzen bezeichnet. Weitere
der Information, also ihre persönlichkeits- Konstrukte mit einem maßgeblichen Einfluss
psychologische Relevanz, von Bedeutung. auf die Übereinstimmung zwischen Selbst-
Außerhalb des Labors wird gern der Be- und Fremdeinschätzungen sind die individu-
kanntheitsgrad zwischen Fremdbeurteiler elle Zentralität und Angemessenheit (Zu-
und Zielperson als Indikator für die Infor- ckerman et al., 1988; bzw. Amelang &
mationsmenge der Fremdbeurteiler herange- Borkenau, 1985; Details dazu s. Abschn.
zogen, schließlich wissen nahestehende Per- 12.2).
sonen mehr von einander als flüchtige Sind Eigenschaften hingegen in stärkerer
Bekannte. Entsprechend nimmt die Korrela- Weise sozial erwünscht, so mindert das nicht
tion zwischen Testwerten und Fremdein- nur die Übereinstimmung zwischen verschie-
schätzungen mit dem Bekanntheitsgrad denen Fremdeinschätzern, sondern mehr
zwischen Zielperson und Fremdbeurteilern noch diejenige zwischen Selbst- und Fremd-
zu (Schmidt & König, 1986; Biesanz et al., beurteilern. Wenn die Beurteilung in deutli-
2007). Die Übereinstimmung zwischen chem Maße wertende Aspekte enthält, wei-
Selbst- und Fremdeinschätzungen steigt von chen offenkundig die Prozesse zur Wahrneh-
Freundschafts-Dyaden über lose Partner- mung des Selbst von denen der Fremdwahr-
schaften zu Ehepaaren an (Watson et al., nehmung ab, und zwar möglicherweise
2000). Freunde sind sich in ihrem Urteil nicht deshalb, weil in solchen Fällen durch die
nur einiger als Bekannte, sie stimmen auch Ich-Beteiligung affektive und defensive Vor-
mit den Selbsteinschätzungen von Zielperso- gänge zum Schutze der Aufwertung der
nen besser überein (Colvin & Funder, 1991). eigenen Person aktiviert werden (c Abb. 3.2).
Darüber hinaus nimmt die Übereinstimmung
auch längsschnittlich mit der Dauer der
0,4
Beurteiler-Übereinstimmung
123
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
kannten und die Urteile deshalb auf der Basis ihnen und den Selbsteinschätzungen der
äußerst spärlicher Informationen erfolgen Zielpersonen ist nur denkbar, wenn es Merk-
musste. Dieses erstaunliche Phänomen, das male des Ausdrucksverhaltens gibt, die als
auch Implikationen für die Interpretation der vermittelnde Glieder zwischen der Selbst-
o.a. Befunde von Passini und Norman (1966) und Fremdsicht in Betracht kommen
aufweist, wird als »Validität bei fehlender (c Abb. 3.3). Eine experimentelle Variation
Bekanntschaft« (engl. »consensus/validity at der Informationshaltigkeit dieser vermitteln-
zero acquaintance«) bezeichnet. Eine solche den Glieder müsste dementsprechend vor-
Übereinstimmung nicht nur zwischen den hersagbare Auswirkungen auf die Höhe der
Fremdbeurteilern, sondern auch zwischen Validität haben.
Merkmal 1
Merkmal 2
Selbsteinschätzung Fremdeinschätzung
der Eigenschaft der Eigenschaft
Merkmal 3
de Va s
r M lid au
g n
er ität n
u e
km er al
al o lg km
e Merkmal 4 s f e r
us M
hl n
Sc de
Abb. 3.3: Adaptierte Version des Linsenmodells von Brunswik (nach Borkenau & Liebler, 1992b, S. 647).
124
3 Gewinnung empirischer Daten
mente und ließen neben Eigenschaftsdimen- möglich ist, systematisch »nach oben« zu
sionen auch physische Merkmale einschät- betrügen, also eine höhere Zahl richtiger
zen. Grundlage der Beurteilungen bildeten Lösungen zu erzielen, als es dem eigenen
Videobänder, auf denen die Zielpersonen u.a. Fähigkeitsniveau entspricht, sind die Frage-
einen Standardtext vorlasen. Neben den Be- bogen sensitiv gegenüber einer absichtlichen
dingungen Video mit und ohne Ton gab es Verfälschung in jeder Richtung. Instruktio-
zwei weitere, in denen die Beurteiler Stand- nen in dem Sinne, die Testperson solle sich
bilder aus den Videobändern sahen oder nur mit ihren Angaben möglichst positiv bzw.
den gesprochenen Text hörten. Erneut ergab negativ darstellen (»fake good« bzw. »fake
sich auch hier ein hoher Konsens zwischen bad«), haben Resultate zur Folge, die sich
den Beurteilern. Extraversion war unter »Vi- nicht nur voneinander, sondern auch jeweils
deo mit Ton« mit der Selbsteinschätzung der von den unter Normalinstruktion erhaltenen
Zielpersonen zu 0,51 korreliert; das Ausblen- Mittelwerten unterscheiden. Darüber hinaus
den des Tons reduzierte den Koeffizienten nur bereitet anscheinend auch die instruktions-
auf 0,47. Für »Standbild« und »nur Ton« gemäße Übernahme verschiedener Rollen
lauteten die Koeffizienten immerhin noch den Probanden keinerlei Probleme.
jeweils 0,33. Fremdbeurteiler erschließen die
Eigenschaftsausprägung also auch aus physi- Hoeth et al. (1967) gaben mehreren Gruppen von
schen Merkmalen der Zielpersonen wie Kör- Probanden Skalen zu Extraversion, Neurotizis-
mus und Rigidität vor mit der Aufforderung, die
perbau, Mimik, Stimmmelodie oder auch Fragen so zu beantworten, wie dieses typische
Kleidung und Frisur (Borkenau, 1993). In Angehörige einzelner Berufsgruppen (z. B. Ver-
der Mehrzahl der Fälle stellten Borkenau und käufer, Büroangestellte usw.) vermutlich täten,
Liebler (1992a) zudem eine »cross-modale« und wie es zweckmäßig wäre, um eine in diesen
Bereichen ausgeschriebene Stelle zu erhalten. Die
Konsistenz insofern fest, als auch die Ein- Mittelwerte der Tests zeigten in Abhängigkeit von
schätzung von Eigenschaften über verschie- den vorgegebenen Rollen klare Differenzierungen.
dene Informationsquellen hinweg (cross-mo-
dal) konvergierten. Etwa korrelierten die Solche Befunde weisen darauf hin, dass auch
Einschätzungen der Eigenschaftsdimension unter Normalinstruktion absichtliche Verfäl-
»gesprächig – still« zwischen den Bedingun- schungstendenzen eine Rolle spielen könn-
gen Tonkassette und Stummfilm zu r ¼ 0,31; ten. Ob daher vom Einsatz von Persönlich-
zwischen den Bedingungen Tonkassette und keitstests bei Selektionsentscheidungen, etwa
Standbild lautete der betreffende Koeffizient bei der Auslese von Stellenanwärtern, abzu-
0,30. Insgesamt war diese cross-modale Kon- raten ist, ist allerdings eine andere Frage.
sistenz unterschiedlich für die verschiedenen Denn es gibt Hinweise darauf, dass Mess-
Bedingungen und höher für Extraversion als werte, die unter Fake-good-Instruktion zu-
andere Eigenschaften, aber sie belegt, dass es stande gekommen sind, nur geringfügig
Elemente in Aussehen und Verhalten der weniger valide sind als die unter Normalin-
Zielpersonen geben muss, die den Konsens struktion erhaltenen. Amelang et al. (2002)
auf Seiten der Beurteiler stiften. fanden gegenüber Fremdeinschätzungen nur
geringfügig gesunkene Validitäten, die aber
mit Werten um 0,43 noch immer signifikant
3.1.6 Fehlerfaktoren und numerisch in ausreichender Höhe lagen.
In ihrer Meta-Analyse von Fragebogenstu-
Absichtliche Verstellung dien zur Vorhersage von Berufserfolg gelang-
ten Ones und Viswesvaran (1998) zu dem-
Offenkundig sind Fragebogen leicht ver- selben Ergebnis. Pauls und Crost (2005)
fälschbar. Während es in Leistungstests un- konnten zeigen, dass instruktionsgemäßes
125
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Verfälschen eine adaptive Fähigkeit ist, die Inanspruchnahme der ersteren Verhaltens-
mit Intelligenz und flexibler Situationserfas- weisen für die eigene Person und Leugnung
sung zusammenhängt. Allerdings wiesen der letzteren gilt als Tendenz zu SE-Reaktio-
Rosse et al. (1998) nach, dass sich durch nen.
bewusste Verstellung die Rangreihe von Be- Eine allgemeine Empfehlung geht dahin,
werbern durchaus ändern kann. die Testprotokolle von Personen mit hohen
SE-Werten auszuschließen, weil diese mög-
licherweise uninterpretierbar sind. Dafür
Soziale Erwünschtheit müsste zunächst gezeigt werden, dass SE-
Skalen (auch Lügenskalen genannt) die Vali-
Soziale Erwünschtheit bezeichnet die indivi- dität inhaltlicher Skalen moderieren. Damit
duell unterschiedliche Tendenz, Antworten ist gemeint, dass die Validität der inhaltlichen
im Sinne dessen zu geben, was in der Gesell- Skalen in einer Abhängigkeit vom SE-Skalen-
schaft als erwünschtes Verhalten gilt. Ed- wert steht: Für Personen mit höheren SE-
wards (1953) ließ 152 männliche und weib- Werten besäßen die inhaltlichen Skalen eine
liche Beurteiler einschätzen, wie sehr die in geringere Validität, für Personen mit niedri-
jedem von 140 Items des MMPI-Typs be- gen SE-Werten eine höhere Validität. Entspre-
schriebene Verhaltensweise sozial erwünscht chende Untersuchungen haben indessen nur
sei. Die so bestimmte Wertigkeit an Sozialer vereinzelt die erwarteten Befunde erbracht.
Erwünschtheit (SE) korrelierte mit der Häu-
figkeit der »Ja«-Antworten bei einer anderen In einer umfangreichen Erhebung an 344 Proban-
Gruppe von Versuchspersonen unter der den mit hohen bzw. niedrigen SE-Werten unter-
schieden sich die Korrelationen von Fragebogen-
üblichen Selbstinstruktion über die Items in werten mit Fremdeinschätzungen für Extraversion
einer Höhe von r ¼ 0,87. Die Wahrschein- und Neurotizismus mit rtc ¼ 0,35 bzw. 0,46
lichkeit einer Selbstzuschreibung der jeweili- geringfügig in der erwarteten Richtung (Ame-
gen Verhaltensweise ist also in hohem Maße lang & Borkenau, 1981). Über gleichsinnige Er-
gebnisse an mehr als 400 Studenten berichtete
abhängig von deren SE-Gehalt.
Holden (2007). Allerdings fiel der Unterschied
Seitdem sind verschiedene Skalen zur ge- zwischen Gruppen mit hohen bzw. niedrigen SE-
sonderten Erfassung der Tendenz, Antwor- Werten nur in der Neurotizismus-Dimension des
ten im Sinne von SE zu liefern, konstruiert NEO-Persönlichkeitsinventars signifikant aus. In
worden (s. insbesondere Stöber, 2001). Das einer sorgfältigen Studie, die mehrere SE-Skalen
sowie die fünf Faktoren des NEO-Persönlichkeits-
Gemeinsame besteht darin, solche Verhal- inventars beinhaltete, konnten Borkenau und Os-
tensweisen in Itemform zu kleiden, die tendorf (1992) ebenfalls nur den moderierenden
Effekt von SE auf Neurotizismus replizieren. Zu
l eine nur geringe Auftretenswahrschein- weithin negativen Resultaten gelangten Piedmont
et al. (2000). Auch in der Studie von Kurtz et al.
lichkeit haben, aber sozial erwünscht sind
(2008) gingen höhere SE-Werte nicht mit einer
(z. B. sich über die Eignung von Kandida- geringeren Übereinstimmung zwischen Selbst- und
ten gründlich informieren, bevor ein Ur- Fremdeinschätzungen einher.
teil über sie abgegeben wird; nie vorge-
ben, mehr zu wissen, als es den tatsäch- Die kontroverse Befundlage erschwert eine
lichen Gegebenheiten entspricht; gefun- verbindliche Bewertung; anscheinend spielen
dene Gegenstände abliefern), die verwendeten Skalen ebenso eine Rolle wie
l häufig vorkommen, gleichwohl sozial un- die herangezogenen Personengruppen. Viel-
erwünscht sind (z. B. zu spät zu Verabre- leicht aktivieren die Situationen der indivi-
dungen kommen; nicht immer die Wahr- duellen Testung für Forschungszwecke nicht
heit sagen; ein Versprechen nicht halten, in hinreichender Weise Motive für eine be-
weil dessen Einlösung zu schwer fällt). schönigende Selbstdarstellung.
126
3 Gewinnung empirischer Daten
127
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
128
3 Gewinnung empirischer Daten
129
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
nur begrenzt zugänglich ist. Die impliziten Die mit derartigen Anordnungen (inzwi-
Repräsentationen des assoziativen Systems schen gibt es auch solche mit unipolaren
sind kognitiv weniger elaboriert. Durch den Konzepten) ermittelten Resultate sind intern
begrenzten kognitiven Zugang – und daraus konsistent, wenngleich die Retest-Stabilität
ergibt sich die zweite grundsätzliche Limitie- noch unbefriedigend ist. Die IATs binden
rung – können sie mit Hilfe der herkömmli- erhebliche Varianz zugunsten der Methoden-
chen direkten Verfahren nicht abgebildet spezifität und können durchaus verfälscht
werden. Hierzu bedarf es einer gesonderten werden. Ihre konvergente Validität mit expli-
Kategorie, die als indirekte Verfahren be- ziten Selbstberichten ist allenfalls mäßig (zu
zeichnet werden. Dem dargelegten Modell den Details der hier angeschnittenen Proble-
entsprechend sind diese Verfahren auf die me s. Schnabel et al., 2008; Borkenau et al.,
Erfassung von impliziten Assoziationen ge- 2005). Von daher ist nicht daran zu denken,
richtet und heißen deshalb »Implizite Asso- mit IATs etwa Selbstberichte zu ersetzen,
ziationstests« (engl. »implicit association aber eine ergänzende Funktion kommt für sie
tests«, IAT). sehr wohl in Betracht.
Konkret besteht die Anordnung in einer Eine aussagestarke Untersuchung von
Kategorisierungsaufgabe unter Aufzeich- Asendorpf et al. (2002) mag dieses belegen:
nung der Reaktionszeit. Üblicherweise wer- An 139 Testteilnehmern, die in einer experi-
den den Testteilnehmern am Bildschirm mentellen Situation ihre Schüchternheit
Wörter vorgegeben, die sie durch Drücken überwinden und Souveränität unter Beweis
einer linken oder rechten Reaktionstaste stellen sollten, korrelierten die IAT-Werte in
einer Objektkategorie (z. B. Zielperson Ich mittlerer Höhe mit den gleichfalls erhobenen
vs. Andere) und danach in einer Folgephase expliziten Selbsteinschätzungen für Schüch-
einer Attributkategorie (z. B. schüchtern vs. ternheit. Allerdings sagten sie spontanes
nicht schüchtern) zuordnen müssen. In einer Schüchternheitsverhalten vorher, nicht aber
dritten Phase sind die Reaktionstasten dop- kontrolliertes. Umgekehrt sagten die explizi-
pelt belegt (z. B. linke Taste Ich – schüch- ten Selbsteinschätzungen für Schüchternheit
tern, rechte Taste Andere – nicht schüch- nur das kontrollierte, nicht hingegen das
tern). Erneut werden Worte vorgegeben, die spontane Schüchternheitsverhalten vorher –
kategorisiert werden müssen. In der vierten eine idealtypische Bestätigung der theoreti-
Phase wird die Objektzuordnung auf die schen Vorannahmen.
Tasten umgekehrt (z. B. Zielperson Andere Die Entwicklung von IATs begann erst in
vs. Ich) und in der letzten Phase dann die den 1990er Jahren, sie befindet sich also
umgekehrte doppelte Belegung der Reak- noch im Frühstadium. Doch sind der An-
tionstasten vorgenommen (z. B. linke Taste satz und der bisherige Ertrag bereits viel-
Andere – schüchtern, rechte Taste Ich – versprechend in dem Sinne, dass einige der
nicht schüchtern). Für die Auswertung wer- Schwächen direkter Methoden zur Erfas-
den die Reaktionszeiten der dritten und der sung individueller Unterschiede überwun-
letzten Phase verglichen. Die allgemeine den werden können. Einen besonderen
Hypothese lautet, dass besonders kurze Einsatzbereich stellen die Einstellungs- und
Reaktionszeiten dann auftreten, wenn zwei Stereotypie-Forschung dar, wo es häufig
Konzepte, zwischen denen besonders enge gilt, sensible Fragen zu beantworten (z. B.
Assoziationen bestehen, ein- und derselben Einstellungen gegenüber Angehörigen von
Reaktionstaste (und nicht verschiedenen) ethnischen Minoritäten oder Migranten
zugeordnet sind. usw.).
130
3 Gewinnung empirischer Daten
131
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Psychoanalytische oder tiefenpsychologische Instanzen Es, Ich und Über-Ich, die sich in
Theorien unterscheiden sich von Eigen- permanentem und heftigem Widerstreit mit-
schaftskonzepten der empirischen Persön- einander befinden. Die dabei maßgeblichen
lichkeitsforschung in vielerlei Gesichtspunk- Triebe und Motive erlangen über den nervö-
ten. Ohne auf diese hier schon im Detail sen und muskulären Apparat des Organis-
einzugehen, kann als ein wesentliches Unter- mus gewöhnlich nur einen indirekten Aus-
scheidungsmerkmal bereits die statische vs. druck. Das Verhalten erfolgt nicht rational,
dynamische Betrachtungsweise festgehalten sondern irrational, getrieben und determi-
werden. Die Kategorisierung von Verhal- niert durch Impulse. Verbale Mitteilungen
tensweisen in Klassen mehr oder minder über die eigenen Empfindungen und Beweg-
großer Homogenität als ein wesentliches gründe sind nicht repräsentativ für die wah-
Kennzeichen der eigenschaftsorientierten ren Gegebenheiten, sondern stellen Defor-
Persönlichkeitsforschung ist vorwiegend mationen, Abänderungen und Symbolisie-
statischer Natur. Hingegen versteht die Psy- rungen des tatsächlichen Geschehens dar.
choanalyse (s. Abschn. 9.1) alles Verhalten Das Bewusstsein ist nicht Zentrum der Per-
als verursacht durch Konflikte zwischen den sönlichkeit, sondern allenfalls mit der Spitze
132
3 Gewinnung empirischer Daten
eines Eisbergs vergleichbar, dessen Haupt- haltlich nicht festgelegt, also mehrdeutig
masse verborgen bleibt und als Unbewusstes sind. Konfrontiert mit solchen Materialien
die entscheidenden Impulse für unser Verhal- würden die Probanden, so lautet auch heute
ten liefert. Die bestimmenden Faktoren für noch die Grundthese, entsprechend der Be-
unser Erleben und Handeln erklären sich aus deutung reagieren, die die Materialien für sie
Vorgängen in der Vergangenheit (wie Trieb- besitzen. Demgemäß liegt das »Wesen eines
versagung, Verlust der Mutterbindung, Er- Projektiven Verfahrens darin, dass es etwas
lebnisse während der Stillzeit oder Reinlich- hervorruft, was – auf verschiedene Art –
keitserziehung usw.), doch können die Per- Ausdruck der Eigenwelt des Persönlichkeits-
sonen selbst in aller Regel darüber keine prozesses der Versuchsperson ist« (Frank,
Auskunft geben. 1948, S. 46–47).
Aus dem Einschub »auf verschiedene
Weise« wird jedoch deutlich, dass die Bezie-
3.2.1 Projektive Tests hung zwischen dem Indikator und dem Indi-
kanden zumindest in der zitierten Umschrei-
Psychodynamisch orientierte Verfahren die- bung nicht näher bestimmt und damit das
nen dem Ziel, die unbewussten Prozesse und einzelne diagnostische Zeichen nicht eindeu-
Konflikte der Persönlichkeit aufzudecken, tig interpretierbar ist.
Abwehrmechanismen und Widerstände zu Freud hatte sich in Bezug auf den Vorgang
überwinden und die dem Verhalten zugrun- der Projektion eindeutig festgelegt und dar-
deliegenden nichtbewussten Motive zu iden- unter einen Abwehrmechanismus verstan-
tifizieren. Zunächst fungierten in diesem den, der insofern angstreduzierend wirke, als
Sinne die klassischen Techniken Psychoana- er eigene angstauslösende Triebimpulse,
lyse, Traumdeutung und freie Assoziation. Emotionen und Einstellungen anderen Men-
Die mit diesen Methoden verbundene enge schen zuschreibt. Seit geraumer Zeit ist aber
Therapeut-Klient-Beziehung gewährleistet die Verwendung dieses Begriffs im Zusam-
gewöhnlich eine interpersonale Atmosphäre, menhang mit Tests nicht mehr länger einge-
die einer Aufhebung von Hemmungen und engt auf verdrängte Phänomene. Vielmehr
Widerständen förderlich ist. Allerdings wird zählt auch die »attributive« Projektion dazu,
dazu außerordentlich viel Zeit benötigt, die unter die allgemein die Zuschreibung eigener
gewöhnlich für Behandlungsversuche zur Motive, Gefühle und Verhaltensweisen auf
Verfügung steht, nicht aber für Forschungs- andere Personen fällt.
zwecke.
Befruchtet von der Tiefenpsychologie, in
der Folge dann aber meist nur in geringer 3.2.2 Einige Beispiele
theoretischer Verbindung damit, wurden die
»projektiven Verfahren« propagiert. Mit ih- Einer der bekanntesten projektiven Tests ist
rer Hilfe sollte auf ökonomische und stan- der Formdeuteversuch von Rorschach
dardisierte Weise gleichsam die Gesamtheit (1921). Die Testperson erhält dabei Klecks-
der unbewussten Hindernisse und mehr oder bilder der in Abbildung 3.4a wiedergegebe-
weniger absichtlichen Verfälschungen, Mas- nen Art vorgelegt mit der Frage: »Was könnte
kierungen und Verzerrungen der zugrunde- das sein?«. Für jede einzelne der zehn Karten
liegenden Konflikte überlistet und direkt zum sind beliebig viele Antworten möglich. Diese
Unbewussten vorgestoßen werden. können sich zudem auf die gesamte Vorlage,
Günstig dafür schienen Materialien als nur Teile oder gar Kleindetails beziehen, die
Testvorlagen zu sein, die dem Einzelnen »Figur« oder den »Grund« zum Inhalt haben
nicht vertraut und – wichtiger noch – in- usw. Die gelieferten Deutungen werden spä-
133
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
ter nach spezifischen Regeln signiert. Dazu ist Die Instruktion verlangt gewöhnlich von den
es zum Teil erforderlich, der Testperson noch Testpersonen das Erfinden einer Geschichte
einmal ihre Antworten vorzulesen und diese zu der abgebildeten Szene, wobei auch be-
zu fragen, auf welches Element der Vorlage richtet werden soll, was zu der augenblick-
sich die jeweilige Deutung bezog. Anhand lichen Situation geführt hat und wie alles
der Signierungen erfolgt schließlich die Inter- weitergehen wird. Die Interpretation erfolgt
pretation im Hinblick auf Merkmale wie in der Regel ausgehend von der Person des
Zwangsvorstellungen, sexuelle Fantasien, jeweiligen »Helden«, dessen Motive (z. B.
Todeswünsche und dgl. Macht- oder Leistungsstreben, Angst vor der
Zukunft o.Ä.) erkundet werden. Obwohl
(a) Rorschach-Test und TAT noch heute zu den
gebräuchlichsten Persönlichkeitstests gehö-
ren (s. Schorr, 1995), existieren weder zu
dem einen noch dem anderen Verfahren
befriedigende Normdaten.
Das gilt auch für weitere projektive Tests:
Im Satzergänzungsverfahren muss der Pro-
band vorgegebene Sätze (z. B. »Meine Mut-
ter…« oder »Meine größte Angst ist…«) zu
Ende führen. In anderem Zusammenhang
sollen Wünsche geäußert werden (z. B. »Ich
möchte gern ein Tier sein, weil…«). Manche
(b) Verfahren verlangen den Umgang mit pup-
penartigen Figuren, die für die Mitglieder der
Familie stehen sollen, oder das Hantieren mit
Spielzeug verschiedener Art, um eine indivi-
duelle Welt zu entwerfen.
3.2.3 Gütekriterien
134
3 Gewinnung empirischer Daten
135
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
136
3 Gewinnung empirischer Daten
»angemessene Repräsentation von Reizsitu- Sofern das Verhalten selbst die Grundlage
ationen« (Goldfried & Kent, 1976) herge- von Verhaltensvorhersagen ist, verfügen
stellt. Für die Messung von Angst bedeutet behavioristische Methoden über einige offen-
das z. B., dass solche Stimulationsbedingun- kundige Vorzüge: Absichtliche oder unab-
gen mit Hilfe von Filmen, Dias oder schrift- sichtliche Verfälschung sind weniger wahr-
lichen Beschreibungen realisiert werden, die scheinlich, da es schwerer fallen dürfte, das
repräsentativ für Angstinduktion sind. Ent- Verhalten selbst zu verstellen und nicht nur
sprechend spielt das Konzept der Inhaltsva- einen Bericht darüber zu verfälschen. Ferner
lidität für behaviorale Tests eine wichtige ergibt sich weniger als bei der eigenschafts-
Rolle (zu den Details s. Schulte, 1976; orientierten Messung die Frage nach der
Pawlik, 1976). Fairness von Tests (Tent & Stelzl, 1993; s.
Als besonders fruchtbar hat sich der ver- Amelang & Schmidt-Atzert, 2006, S. 167–
haltenstheoretische Ansatz bei der Modifi- 174). Schließlich ist auch der Gesichtspunkt
kation von Verhalten erwiesen. Während einer Wahrung der persönlichen Intimität
die eigenschaftsorientierte Diagnostik als und individuellen »Privatheit« weniger akut,
Hauptziel eine Klassifikation der Personen da nicht in die »Tiefen« einer Person einge-
gemäß ihrer Messwerte in taxonomische drungen wird.
Einheiten verfolgt (wie z. B. »Schizophre-
nie«, »Paranoia« und dgl.), daraus aber noch
keinerlei Handlungsanweisungen für eine 3.3.2 Beobachtetes Verhalten
Beeinflussung des Verhaltens bereitstellt, lie-
fert der lerntheoretische Ansatz Informatio- Fremdbeobachtetes Verhalten
nen, die aufgrund ihrer höheren Spezifität
und Situationsbezogenheit wesentlich mehr Einigen Behavioristen gilt eine motorische
Bedeutung für jegliche Intervention besitzen. Reaktion als das unter Messaspekten erstre-
Das zentrale Instrument zur Erfassung der benswerte Ideal einer Verhaltensäußerung,
situativen Faktoren, die das Verhalten kon- da hier vorgeblich keine weitere Validie-
trollieren und es hervorbringen, stellt dabei rung vonnöten ist. Aus den bereits in Ab-
die funktionale Analyse (Kanfer & Saslow, schnitt 3.1.5 erwähnten Gründen besteht
1976, S. 34ff.) dar. aber die Gefahr, dass in solchen Fällen keine
Inzwischen gehört diese Methode zum psychologisch sinnvollen Maße entstehen.
Standardrepertoire jeder lerntheoretisch be- Die Entscheidung zwischen einem weniger
triebenen Therapie. Sie beinhaltet eine Unter- wertvollen Gegenstand, der sofort erhältlich
suchung des Kontextes, in dem ein kritisches ist, und einem wertvolleren, der aber erst
Verhalten (z. B. Bettnässen) auftritt, seine nach Ablauf einer bestimmten Zeit erreich-
Qualität und Intensität, die Folgen des Ver- bar ist, stellt eine Verhaltensweise dar, die
haltens für den Betreffenden wie seine Um- dem vorgenannten Ziel recht nahekommt
welt, die Möglichkeiten der Person und ihrer und die unter relativ standardisierten Bedin-
Umwelt für eine Modifikation, schließlich gungen von verschiedenen Forschergruppen
die möglichen Rückwirkungen einer Verhal- untersucht wurde. Diese sehen darin eine
tensänderung auf den Betreffenden und seine Manifestation des Persönlichkeitsmerkmals
Umwelt. Die Informationen für die funktio- Belohnungsaufschub. Eine Einführung in die
nale Verhaltensanalyse rühren aus Interviews Ergebnisse und Theorienbildung dieses Be-
mit dem Patienten und dessen Bekannten, reiches findet sich in Abschnitt 10.3.
Testergebnissen und Verhaltensbeobachtun- Auch innerhalb der Aggressionsforschung
gen, einer Erkundung der Vorgeschichte des wurden vielfach Situationen realisiert, um
Klienten und anderen Quellen. den Einfluss verschiedener Reizbedingungen
137
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
auf die Auslösung spezifischer Verhaltens- zur Beobachtung besteht (z. B. Interaktionen
weisen zu untersuchen. Namentlich die zwischen Ehepartnern unter bestimmten
Gruppe um Bandura (1973) hat geprüft, ob Stressbedingungen).
die Wahrnehmung aggressiv agierender Mo-
dellpersonen bei Kindern zu einem Anstieg
an Aggressionen führt, was im Umgang mit Selbstbeobachtetes Verhalten
Puppen, Spielzeug oder anderen Personen
direkt beobachtbar ist. In Abschnitt 9.4.4 Neben Protokollbogen, die Probanden in
wird darüber mehr zu sagen sein. Bezug auf bestimmte Verhaltensklassen nach
Sehr verbreitet ist die Technik der Verhal- definierten Regeln bearbeiten müssen (z. B.
tensbeobachtung, und zwar vor allem in der immer beim Rauchen einer Zigarette), sind
Arbeits- und Organisationspsychologie so- auch auf dem Boden der Verhaltenstheorien
wie in der Klinischen Psychologie, wo häufig zahlreiche Fragebogen entstanden. Einige
das Personal einer therapeutischen Institu- beschäftigen sich mit dem Angstgehalt ver-
tion im Hinblick auf die Behandlung einge- schiedener Situationen. Eine besonders
hende Verhaltensbeobachtungen anstellt (ein große Verbreitung im klinischen Bereich
Beispiel dazu s. Abschn. 12.1.2). hat das von Wolpe und Lang (1964) publi-
Verschiedene Hilfsmittel erleichtern die zierte »Fear Survey Schedule« (FSS) erfahren
Registrierung von Häufigkeit und Dauer der (c Kasten 3.4). Desgleichen sind Skalen zur
interessierenden Verhaltenskategorien (z. B. Selbstbehauptung in frustrierenden Situatio-
Sitzen, Gehen, Lachen, Reden usw.). In aller nen gebräuchlich. Auszüge aus dem »Asser-
Regel werden dabei die gebildeten Klassen tiveness Schedule« von Rathus und Nenid
möglichst verhaltensnah definiert, um die (1977) finden sich ebenfalls in Kasten 3.4.
externen Beobachter hinsichtlich der von Schließlich werden auch Ereignisse erfragt,
ihnen geforderten Kategorisierungsleistun- die ein bestimmtes Verhalten ggfs. ausfor-
gen nicht zu überfordern oder mehr als men und stabilisieren können. Die bei Schul-
unvermeidlich subjektive Momente einflie- te (1976, S. 264ff.) wiedergegebene Liste
ßen zu lassen (zu Verhaltensbeobachtung (Auszug daraus c Kasten 3.4) gliedert sich
und Verhaltensbeurteilung, s. Kap. 2 in West- nach solchen Verstärkern, die (a) unmittel-
hoff et al., 2005). bar in der Therapiesituation eingesetzt wer-
Eine weitere Variante zur Gewinnung den können und (b) für den Patienten außer-
behavioraler Informationen stellt die Situa- halb der Therapiesituation erreichbar sind;
tion des Rollenspiels dar. Gewöhnlich wird außerdem finden sich noch (c) allgemeine
darauf zurückgegriffen, um in kurzer Zeit soziale und verbale Verstärker sowie (d)
Anhaltspunkte über Verhalten in Situationen besonders häufig ausgeführte Gedanken und
zu gewinnen, in denen kaum Gelegenheit Tätigkeiten.
138
3 Gewinnung empirischer Daten
Würmer □ □ □ □ □
Tiere □ □ □ □ □
Versagen □ □ □ □ □
Leute mit Missbildungen □ □ □ □ □
Eine Straße überqueren □ □ □ □ □
Weite offene Räume □ □ □ □ □
Laute Stimmen □ □ □ □ □
Einem Kampf zusehen □ □ □ □ □
Menschliches Blut □ □ □ □ □
Bei einer Operation zusehen □ □ □ □ □
(aus Schulte, 1976, S. 256)
l Die meisten Leute sind aggressiver und zeigen mehr Durchsetzungsvermögen als ich.
l Wenn ich um etwas gebeten werde, bestehe ich darauf zu erfahren, warum.
l Über schlechten Service im Restaurant oder woanders beschwere ich mich.
Verstärker-Liste
»Nachfolgend finden Sie eine Aufzählung von bestimmten Dingen, Erfahrungen, Hobbys,
Situationen und Tätigkeiten, die von Ihnen und Ihren Mitmenschen in einem unterschied-
lichen Ausmaß als angenehm oder evtl. auch als unangenehm empfunden werden. Lesen Sie
bitte jede angegebene Tätigkeit gut durch und entscheiden Sie nach Ihrer gegenwärtigen
Einstellung, wie gern Sie diese Tätigkeit ausführen. Sollte sich das Angegebene derzeit nicht
verwirklichen lassen, so versuchen Sie dennoch anzugeben, wie gern Sie es – unter anderen
Umständen – ausführen würden.«
a) Kreuzworträtsel lösen □ □ □ □ □
Musik hören □ □ □ □ □
Zeitungen lesen □ □ □ □ □
b) Fernsehen □ □ □ □ □
Sexfilme □ □ □ □ □
In die Oper gehen □ □ □ □ □
c) Gelobt werden □ □ □ □ □
Mit jemandem flirten □ □ □ □ □
Jemandem helfen □ □ □ □ □
d) (Gedankeninhalte müssen in freier Beantwortung aufgezählt werden)
(aus Schulte, 1976, S. 264 ff.)
139
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die zur diagnostischen Erfassung von Persön-
Situation-Reaktion(S-R)-Fragebogen, die, lichkeitsunterschieden basiert auf Selbstbe-
ausgehend von der Gruppe um Endler, zu richten. Diese Methode erfreut sich einer
verschiedenen Merkmalen (z. B. Ängstlich- großen Beliebtheit wegen des geringen Auf-
keit und Aggression) entwickelt wurden. Vor wandes, der vonnöten ist, um eine Vielzahl
dem Hintergrund der behavioristischen von Informationen gewinnen zu können.
Theorie wird in den S-R-Inventaren folge- Wenn es darum geht, Einstellungen zu und
richtig geprüft, welche Reaktionen vorgege- kognitive Repräsentationen über sich, andere
bene Situationen in verschiedenen Verhal- Personen oder bestimmte Sachverhalte zu
tensbereichen hervorrufen. ermitteln, mag die Technik des Selbstberichts
durchaus angemessen sein; mitunter bietet sie
Beispielsweise muss der Proband zu der Situation den einzigen Zugang überhaupt (z. B. »Ha-
»Sie sind nachts allein im Wald« oder »Sie stehen
auf, um vor einer größeren Gruppe eine Rede zu
ben Sie schon einmal Stimmen gehört, ob-
halten« usw. auf einer 5-stufigen Skala angeben, wohl niemand anderes im Raum war?«).
wie stark seine Reaktion in jedem der Bereiche Anders verhält es sich, wenn retrospektive
»Mund wird trocken«, »Herz schlägt schneller«, Aussagen über die Häufigkeit oder Intensität
»Gefühl der Übelkeit« usw. ist. In Aggressivitäts- von Erlebnis- und Verhaltensweisen sowie
fragebogen lauten die Situationen z. B. »Man
versucht zu lernen, aber es besteht anhaltender deren zeitliche Platzierung oder Erstreckung
Lärm«, »Jemand anderes hat die persönliche Post verlangt werden (z. B. »Wie häufig hatten Sie
geöffnet« usw. Das von Zuckerman (1977) ent- durchschnittlich pro Woche Magenschmer-
wickelte »Inventory of Personal Reactions« sieht zen im letzten Monat?«»Wie schwer waren
eine Beantwortung sowohl unter Eigenschafts- als
auch unter Zustandsinstruktion vor. Im ersteren
die Schmerzen durchschnittlich?«). Hier tau-
Fall beziehen sich die Antworten der Testpersonen chen sofort ernsthafte Probleme auf, weil es
auf die Vergangenheit, im letzteren auf die aktuelle sich dabei um gedächtnisgestützte Urteile
Gegenwart. von mehr oder weniger hoher Komplexität
handelt, bei deren Zustandekommen teils
Mit der Vorstellung des »S-R Inventory of
unbeabsichtigte Fehlerquellen, teils systema-
General Trait Anxiousness« (Endler & Oka-
tische Verzerrungen auftreten.
da, 1975) wurde eine gewisse Abkehr von
So haben die Untersuchungen zum auto-
allzu spezifisch formulierten Situationen er-
biographischen Gedächtnis gezeigt, dass es
kennbar; sie bestehen nur noch aus vier Items
sich beim Erinnern nicht lediglich um die
der Art »Sie befinden sich in einer neuen oder
Aktivierung von Gespeichertem handelt,
fremdartigen Situation« oder »Sie befinden
sondern um die Rekonstruktion vergangener
sich in einer Situation, die Interaktionen
Ereignisse mit heuristischen Strategien (Ross,
mit anderen Leuten enthält«. Damit erfolgte
1989; Schwarz & Sudman, 1994; auch
wieder eine Annäherung an den Aufbau
Shiffman, 2000). Dabei kommt es schon
herkömmlicher Fragebogenitems. Nach die-
während des Einspeicherns, später auch beim
ser Umorientierung besteht der entscheiden-
Abruf zu Ungenauigkeiten und verschiede-
de Unterschied der behavioralen gegenüber
nen Verzerrungen der Gedächtnisinforma-
den eigenschaftsorientierten Fragebogen
tion. Zudem ist der Einfluss von aktuellen
mehr im Ziel der Messung als in der Art
Stimmungen und des situativen Kontexts
und Weise, in der diese erfolgt.
nachgewiesen (Teasdale & Fogarty, 1979).
Außerdem spielen soziale Erwünschtheit und
Ambulantes Assessment Antworttendenzen eine Rolle.
Aufgrund all dieser und zahlreicher weite-
Der ganz überwiegende Teil der differential- rer Forschungsbefunde können die retrospek-
psychologischen Literatur sowie derjenige tiven Aussagen über Verhalten nicht gleich-
140
3 Gewinnung empirischer Daten
gesetzt werden mit dem Verhalten selbst. bestimmter physiologischer oder psycholo-
Vielmehr handelt es sich nur um mentale gischer Messwerte durch aktives Eingreifen
Repräsentationen von subjektivem Erleben reagieren), im Weiteren gezielt in bestimm-
und Verhalten, die als solche in inhaltlicher ten, vorab ausgewählten Situationen, das
und psychometrischer Hinsicht eine eigene Ganze sowohl im Labor als auch im Feld. Für
Qualität aufweisen, aber eben nicht objektiv die Erhebung bedarf es gesonderter Ver-
für das Verhalten selbst stehen können. suchspläne und für die Auswertung der meist
Vor dem Hintergrund dieser Problematik zahlreichen Daten gesonderter Strategien
bedarf es eines Ansatzes, der auf gedächtnis- (Schwartz & Stone, 1998) und – selbstver-
gestützte Information nach Möglichkeit ver- ständlich als Grundvoraussetzung – der
zichtet. Dieses ist bei Fragen nach dem erforderlichen elektronischen Ausstattung.
aktuellen Verhalten und Erleben, dem »Hier Gewiss erfordert ambulantes Assessment
und Jetzt« – »capturing life as it is lived« einen wesentlich höheren Aufwand als Frage-
(Bolger et al., 2003, S. 579)–, weitestgehend bogenerhebungen, doch scheint dieser durch
der Fall. Authentische Berichte darüber ver- die Aussicht auf höhere Validitäten vertretbar
langen zwar Zugang zu den relevanten zu sein. In der Medizin ist durch fortlaufendes
Informationen (z. B. die Fähigkeit, ein be- Monitoring an großen Probandenzahlen ent-
stimmtes Gefühl wahrzunehmen) und die deckt worden, dass ca. 10 % der Personen nur
Bereitschaft zu einem unverfälschten Bericht, beim Arzt, nicht aber in ihrem Alltag, eine
aber keinen Abruf von Gedächtnisinhalten. Hypertonie zeigen (sog. Weißkittel-Hyperto-
Lange Zeit galten dafür Tagebucheintra- nie) und dass umgekehrt etwa der gleiche
gungen als Methode der Wahl. Die Entwick- Prozentsatz von Hypertonikern beim Arzt
lung tragbarer Mikrocomputer in den letzten normale, im alltäglichen Kontext hingegen
Jahrzehnten revolutionierte allerdings die erhöhte Blutdruck-Werte aufweist. Die dar-
zeitnahe Beschreibung konkreten Erlebens aus resultierenden Gefahren im Sinne von
und Verhaltens, und zwar zunächst in gravierenden Fehlmedikationen für weite
der Medizin, wo dieser Ansatz als »ambu- Teile der Bevölkerung sind augenfällig.
lantes Monitoring« bezeichnet wird. In der Für die Psychologie sind derart krasse
deutschsprachigen Psychologie überwiegt Beispiele bislang nicht aufgezeigt worden.
dafür die Bezeichnung »ambulantes Assess- Von großem Belang sind allerdings schon die
ment« (s. Fahrenberg et al., 2002; Fahren- frühen Befunde von Buse und Pawlik (1984)
berg & Myrtek, 2001; Pawlik & Buse, 1996). sowie Pawlik und Buse (1992): Sie stellten
Dieser Begriff steht für: »Die Verwendung zum einen fest, dass sich Personen mit unter-
spezieller feldtauglicher, heute meist elektro- schiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen be-
nischer Geräte und computer-unterstützter vorzugt in bestimmten Situationstypen auf-
Erhebungsmethoden, um Selbstberichtdaten, hielten. Zum anderen entdeckten sie, dass
Verhaltensbeobachtungsdaten, psychometri- nur sehr wenige Person x Situation-Interak-
sche Verhaltensmaße, physiologische Mess- tionen auftraten. Beide Resultate stehen in
werte sowie situative und Setting-Bedingun- Gegensatz zu Annahmen bzw. Forschungs-
gen im Alltag der Untersuchten zu erfassen« resultaten aus der sogenannten Interaktionis-
(Fahrenberg et al., 2007, S. 13). mus-Debatte (vgl. Abschn. 12.1.3).
Die hohe Leistungsfähigkeit der Compu-
ter im Taschenformat und heute schon
von Smartphones erlaubt ganz verschiedene Gütekriterien
Techniken des Monitorings, z. B. kontinuier-
lich, zeit- oder ereignisabhängig, interaktiv Angesichts der Heterogenität der erwähnten
(dabei muss der Proband beim Auftreten Ansätze können zusammenfassende Aussa-
141
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
gen nur sehr allgemein ausfallen. Festhalten erbrachten, bestätigen das außerdem. Auch
kann man vielleicht, dass Verhaltensstichpro- die hohen Retest-Korrelationen (s. z. B. Ler-
ben eine mäßige Reliabilität zeigen, wenn sie mer, 1979) belegen die Stabilität der Mes-
sich nur auf einzelne Ereignisse stützen. Erst sungen. Daraus kann geschlossen werden,
durch Verlängerung des Beobachtungsinter- dass es sich eher um Eigenschaften handelt,
valls ist eine akzeptable Zuverlässigkeit ge- wenngleich um solche von wesentlich gerin-
währleistet (Epstein, 1979). Aus der Kumu- gerer Breite.
lierung reliabler Varianzanteile von Zustän- Eine Untersuchung von Zuckerman
den gehen allmählich Eigenschaften hervor. (1979b) verglich die Validität von jeweils
Von unmittelbarer Bedeutung für Verhal- mehreren Eigenschafts-, Zustands- und S-R-
tensstichproben ist die Übereinstimmung der Fragebogen bei der Vorhersage von Angstre-
unabhängigen Beurteiler. Je nach Problem- aktionen in drei tatsächlich realisierten Situa-
stellung und Vorgehensweise spielen hier tionen (räumliche Annäherung an eine Schlan-
verschiedene Fehlerquellen eine mehr oder ge sowie an den offenen Treppenabsatz eines
minder gewichtige Rolle (Bühner, 2005; 16-geschossigen Hauses, Verweildauer in ei-
Goldfried & Linehan, 1977; Schmidt-Atzert, nem dunklen Raum). Aus dem Verhalten in
2005). den Situationen wurde zusätzlich ein kombi-
Die internen Konsistenzen von Fragebo- nierter Punktwert gebildet (»Fremdeinschät-
gen wie dem FSS sind erstaunlich hoch (um zung«). Die Validitäten sind in Tabelle 3.1
0,90) für Tests, die vorgeben, spezifische auszugsweise zusammengestellt.
Angstauslöser zu erfassen. Dieses verweist Eindeutig erweisen sich die Verfahren bei
darauf, dass die Eigenschaftsidee auch in der Vorhersage bestimmter Verhaltenswei-
solchen Inventaren noch durchschlägt. Ge- sen mit zunehmender Spezifität der Fragen
sondert angestellte Faktorenanalysen, die als immer besser geeignet; insofern scheint
Unterfaktoren für Furcht vor Tieren, sozialen der Anspruch behavioraler Instrumente er-
Situationen usw. oder Kategorien von asser- füllbar zu sein, für eng umrissene Situationen
tivem Verhalten (s. Lorr & More, 1980) gültigere Prognosen liefern zu können.
Trait-Tests
State-Tests
142
3 Gewinnung empirischer Daten
stellen, die unabhängig von Selbst- und tionen«, Foerster et al., 1983). Damit können
Fremdeinschätzungen, aber auch von Selbst- durch psychophysiologische Registrierungen
und Fremdbeobachtungen sind. In erster Beiträge zur individuellen Situationswahr-
Linie ist an Korrelate von individuellen nehmung erfolgen, etwa zu der Frage, welche
Unterschieden in persönlichkeitspsychologi- Situationen auf der physiologischen Ebene
schen Konstrukten mit solchen im Bereich für eine Person funktionell äquivalent sind.
der Psychophysiologie zu denken, etwa die So konnten Ofek und Pratt (2005) zeigen,
Korrelation einer Eigenschaft mit Herzrate, dass auditorische Reize mit vorhandener im
Cortisol oder der Dicke des dorsolateralen Vergleich zu fehlender subjektiver Bedeutung
Frontalkortex. Eine solche psychophysiolo- eine spezifische elektrokortikale Reaktion in
gische Korrelateforschung wird dann zuneh- bestimmten Hirnarealen auslösten.
mend zu einer psychophysiologischen Me- Psychophysiologie erforscht die durch
chanismenforschung werden, in der z. B. die physiologische Regulation erst ermöglichte
Prozesse der Vorbereitung und Durchfüh- spezifische behaviorale Anpassung des Orga-
rung von Verhalten, von Emotionen, von nismus an die jeweils aktuelle Situation und
Entscheidungen oder des Denkens in Ab- Umwelt. Ein solcher funktionaler Blickwin-
hängigkeit von der Persönlichkeit untersucht kel fragt nach den Effekten physiologischer
werden. Reaktionen auf nachfolgendes Verhalten.
Psychophysiologie ist gekennzeichnet Diese Reaktionen sind das Resultat einzelner
durch die verwendeten Variablen sowie die oder mehrerer Gehirnfunktionen, z. B. per-
Methoden und Prozeduren zu ihrer Erfas- zeptiver, kognitiver, motivationaler oder
sung, Analyse und Interpretation (Übersich- emotionaler Prozesse. Daher können mit
ten in Andreassi, 2006; Cacioppo et al., einer physiologischen Messung die mit einem
2007; Fahrenberg, 2001; Fahrenberg & Verhalten assoziierten Prozesse zumindest
Myrtek, 2005; Rösler, 2001; Schandry, ausschnittweise beschrieben werden.
2006; Stemmler, 2001). Variablenbereiche
umfassen genetische Polymorphismen, bild- Luu et al. (2000) konnten bspw. zeigen, dass
gebende Verfahren der Gehirnaktivität, Ver- negative Stimmung und zugehörige Verhaltens-
fahren zur Erfassung der elektrischen und muster (abnehmende Geschwindigkeit und Ge-
nauigkeit von Richtig-falsch-Reaktionen auf ins-
magnetischen Aktivität des Gehirns, Verfah- gesamt 800 Entscheidungsaufgaben) mit exekuti-
ren zur Erfassung der Aktivität des autono- ven Prozessen des Frontalhirns zusammenhängen.
men und somatischen Nervensystems sowie Die exekutiven Prozesse wurden durch ein ereig-
Verfahren zur Erfassung von endokrinen und niskorreliertes Hirnrindenpotential (»error-rela-
ted negativity«, ERN) gemessen. Die ERN diffe-
immunologischen Reaktionen. renzierte darüber hinaus zwischen frühen und
Wenn verschiedene solcher psychophysio- späten Phasen des Experiments, und sie korrelierte
logischer Variablen registriert werden, ist signifikant mit der Persönlichkeitseigenschaft
eine der ersten Fragen, welche physiologi- »Negative Affektivität«.
schen Reaktionsmuster bestimmte Reize aus-
lösen und ob diese Reaktionen reliabel und
konsistent sind. Tatsächlich weisen viele Interindividuelle Unterschiede in
physiologische Reaktionen eine mittlere bis Konstitution, Aktiviertheit und
hohe Reliabilität auf; damit sind sie für die Aktivierung
differentielle Forschung geeignet. Was die
Konsistenz angeht, so rufen Reize und allge- Zwischen Personen bestehen beträchtliche
mein Situationen spezifische und konsisten- Unterschiede in den physiologischen Niveau-
te physiologische Reaktionsmuster hervor werten (»Aktiviertheit«, z. B. die Herzrate in
(»Situationsspezifität physiologischer Reak- einer Ruhephase) und Reaktionen auf einen
143
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
144
3 Gewinnung empirischer Daten
Tab. 3.3: Korrelation physiologischer Variablen nach der R- und der P-Korrelationstechnik.
145
Teil I Grundlagen und Forschungsmethoden
146
Teil II Interindividuelle Differenzen
im Leistungsbereich
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Was ist Intelligenz? Gibt es verschiedene Formen der Intelligenz? Falls ja, wie hängen diese
zusammen? Diese Fragen bilden die zentrale Motivation eines Forschungsbereiches, der
sich einer Analyse der Struktur von Intelligenz widmet. Was aber bedeutet hier Struktur?
Die Antwort darauf ist bereits im Abschnitt 2.1.4 gegeben worden: Es geht hier um die
Korrelationsmuster, die beobachtet werden können, wenn verschiedene kognitive Leis-
tungstestvariablen in derselben Stichprobe erhoben und korreliert werden. Diese Korre-
lationsmuster lassen sich mit Hilfe der Faktorenanalyse aufdecken, die deshalb auch als ein
strukturentdeckendes Verfahren bezeichnet wird. Dementsprechend nimmt die faktoren-
analytische Intelligenzforschung (die gelegentlich auch als psychometrische Intelligenzfor-
schung bezeichnet wird) in diesem Kapitel eine zentrale Rolle ein. Zunächst muss natürlich
angesprochen werden, was denn in der Psychologie unter Intelligenz verstanden wird (4.1)
und wie die Intelligenz von Erwachsenen gemessen werden kann (4.2). Daran schließt sich
ein (historischer) Abriss der faktorenanalytischen Intelligenzforschung an, in dem –
ausgehend von Spearmans Pionierarbeiten Anfang des letzten Jahrhunderts – aufgezeigt
wird, wie mit immer besseren Intelligenztestbatterien und statistischen Analysemethoden
Schritt für Schritt die Struktur der Intelligenz aufgeklärt werden konnte (4.3). Tatsächlich
steht heute als Resultat dieser Forschung fest, dass sich Intelligenz am besten als eine
hierarchische Struktur darstellen lässt. Dabei weisen die verschiedenen Intelligenzfaktoren,
die in diesem Forschungsprozess aufgefunden werden konnten, durchaus unterschiedliche
Entwicklungsverläufe auf, wenn sie über die Lebensspanne betrachtet werden (4.4).
Ebenfalls deutet sich in der empirischen Befundlage an, dass in verschiedenen Intelligenz-
faktoren spezifische Geschlechtsunterschiede bestehen könnten – selbst wenn hier das letzte
Wort in der Forschung noch nicht gesprochen ist (4.5).
Ohne Zweifel handelt es sich bei Intelligenz Gesellschaften westlicher Lebensart besteht.
um ein besonders wichtiges Merkmal. Zahl- Den Anforderungen von Ausbildung und
reiche Beobachtungen belegen, dass ein Zu- beruflicher Tätigkeit entsprechen hier in der
sammenhang zwischen der individuellen Regel jene Personen eher, die aufgrund wel-
Ausprägung in dieser Variablen und verschie- cher Faktoren auch immer als »intelligent«
denen Kriterien für das Fortkommen in bezeichnet werden können. Umgekehrt min-
149
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
dert eine geringe Intelligenz die Aussicht auf unter zweckmäßiger Verfügung über Denk-
schulische Unterrichtung, einen Arbeitsplatz, mittel auf neue Forderungen einzustellen«.
Geschlechtspartner usw. und kann im Ex- Alle diese Definitionen (s. auch Sternberg
tremfall geistiger Behinderung eine lebens- & Detterman, 1986), die z. T. aus der Allge-
lange Abhängigkeit von Hilfe gewährenden meinen Psychologie stammen und an der
Personen oder Institutionen bedeuten. Im engen Beziehung der Intelligenz zum Denken
Hinblick darauf hat Hofstätter (1957, anknüpfen, sind jedoch aus mehreren Grün-
S. 173) von Intelligenz als den Fähigkeiten den wenig hilfreich. Ersetzt man nämlich die
gesprochen, die innerhalb einer bestimmten Begriffe »zweckvoll«, »vernünftig«, »pro-
Kultur den Erfolgreichen gemeinsam sind, duktiv«, »erfolgreich« usw. durch das Attri-
womit zugleich auf den gesellschaftlichen but »intelligent«, das sie umschreiben sollen,
Bezug und die jeweiligen spezifischen Normen erweisen sie sich sogleich als sinnfreie Tau-
für Erfolg verwiesen wurde. Nicht nur das: tologien. Entsprechend haben verbale Defi-
Mit höherer Intelligenz geht allem Anschein nitionen letztlich keinen substantiellen Bei-
nach auch ein längeres Leben einher (Deary & trag zum Verständnis und der Erforschung
Der, 2005). Auf globaler Ebene wird für des Konstruktes Intelligenz leisten können.
den wirtschaftlichen Erfolg in dem Wettbe- Die wesentlichen Impulse für die Intelli-
werb zwischen Unternehmen und Nationen genzforschung sind nicht von verbalen Defi-
allem Ermessen nach Intelligenz eine entschei- nitionen, sondern vielmehr von den Verfah-
dende Rolle spielen (Detterman, 1994). ren selbst ausgegangen, die zur Erfassung des
Seit alters her kreist deshalb das Interesse Merkmals konzipiert wurden. Die Definition
von Laien wie Fachleuten um Begriff und des theoretischen Konstrukts erfolgt somit
Art, Entwicklungsbedingungen, Konsequen- über die Spezifizierung der zum Zwecke
zen und Förderungsmöglichkeiten der Intel- seiner Messung ausgeführten empirisch-ex-
ligenz. Wie in den Abschnitten 1.3.3 und perimentellen Handlungen.
1.3.4 dargestellt wurde, galten folglich die Die Notwendigkeit und Berechtigung von
ersten ernst zu nehmenden Bemühungen um derartigen operationalen Definitionen hat
die quantitative Erfassung individueller erstmals der amerikanische Physiker Bridg-
Eigenarten gerade diesem Merkmal. man (1938) ausführlich begründet. Auf die
Binet und Simon (1905) verstanden unter Psychologie und den hier interessierenden
Intelligenz »die Art der Bewältigung einer Gegenstandsbereich übertragen wäre Intelli-
aktuellen Situation«, konkreter: »gut urtei- genz dasjenige, was der betreffende Intelli-
len, gut verstehen und gut denken«. Ähnli- genztest misst. Entsprechend existieren,
ches beinhaltet die Definition von Wechsler überspitzt formuliert, so viele Intelligenzen
(1944, S. 13): »Intelligenz ist die zusammen- wie Verfahren zu ihrer Erfassung.
gesetzte oder globale Fähigkeit des Individu- Auch eine solche Definition, die Boring
ums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu (1923) anlässlich ihrer Formulierung nicht
denken und sich mit seiner Umgebung wir- ohne Ironie gebrauchte, lässt durchaus Fra-
kungsvoll auseinander zu setzen«. gen offen. Denn das Problem, wodurch sich
Andere Autoren akzentuieren mehr die ein Verfahren zur Messung von Intelligenz
Neuartigkeit der zu lösenden Probleme. Für qualifiziert, müsste durch gesonderte Unter-
Stern etwa ist »Intelligenz das Vermögen, die suchungen geklärt werden (s. dazu Abschn.
(se) Bedingungen des Lebens selber umzuge- 5.3). Andererseits erlaubt die operationale
stalten und produktive Leistungen zu erbrin- Definition einen Einstieg in das Problemfeld
gen« oder wie es an anderer Stelle (1950, und eine unzweideutige Kommunikations-
S. 424) heißt: »…die personale Fähigkeit, sich basis der Wissenschaftler.
150
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Bislang liegen freilich keine Befunde vor, die gering ist, über identische Repertoires zu
eine Abkehr vom Konstrukt »Intelligenz« verfügen.
als zweckmäßig oder gar zwingend geboten Um angesichts der Kontroversen um den
erscheinen ließen. Im Gegenteil, solange die Intelligenzbegriff eine verlässliche Basis von
zugrundeliegende (biologische) Essenz nicht wissenschaftlich begründbaren Aussagen zu-
geklärt ist, erscheint eine pragmatisch-beha- sammenzustellen, hat die American Psycho-
viorale Sicht zweckmäßig, etwa wenn Intel- logical Association in den 1990er Jahren eine
ligenz definiert wird als das »erworbene Arbeitsgruppe eingerichtet. Eines der Ergeb-
Repertoire von intellektuellen (kognitiven) nisse dieser Arbeitsgruppe war eine verbale
Fertigkeiten und Wissensbeständen, die ei- Umschreibung von Intelligenz, der vermut-
ner Person zu einem gegebenen Zeitpunkt lich die meisten Intelligenzforscher zustim-
verfügbar sind« (Humphreys, 1994, S. 180). men würden:
Für die Erfassung dieses Repertoires bedarf
es einer möglichst breiten und repräsentati- Individuals differ from one another in their ability
ven Stichprobe von Elementen oder Items. to understand complex ideas, to adapt effectively
to the environment, to learn from experience, to
In dem Maße, in dem diese Elemente zu- engage in various forms of reasoning, to overcome
gleich auch Stichproben von schulischen obstacles by taking thought (Neisser et al., 1996,
und beruflichen Anforderungen darstellen, S. 77).
sind positive Korrelationen von Intelligenz-
tests mit derartigen externen Kriterien zu Im Kern geht es bei diesen Definitionen der
erwarten, darüber hinaus etwa auch Mit- Intelligenz also um die Fähigkeit, Probleme
telwertsunterschiede zwischen Gruppen von durch Nachdenken mehr oder weniger gut
Personen, die nicht dieselben Umgebungs- lösen zu können. Welcher Art diese Probleme
und Anregungsbedingungen erfahren haben sind, wird dabei zunächst offen gelassen
und für die deshalb die Wahrscheinlichkeit (c Kasten 4.1).
Neben der Auffassung von fachpsychologisch Kundigen darüber, was unter Intelligenz zu
verstehen ist, dürfen die Vorstellungen von Laien nicht unbeachtet bleiben. Vermutlich
erfolgen im Zuge alltäglicher Interaktionssituationen wie der Diskussion mit Arbeitskol-
legen, der Unterhaltung mit Bekannten auf einer Party und dergleichen viele implizite
Beurteilungen der Intelligenz des Gegenübers, die nicht notgedrungen der explizit in
entsprechenden Tests erfassten Messung der Intelligenz entsprechen. Die impliziten
Kategorisierungen sind nichtsdestotrotz ein Teil der sozialen Realität.
Sternberg et al. (1981) sind dieser Frage nachgegangen und haben Experten wie Laien
Verhaltensweisen auflisten lassen, die nach Meinung der Befragungspersonen für Intelli-
genz sprechen. Beide Gruppen zeigten durchgängig eine recht hohe Übereinstimmung. Auch
bestanden hohe Ähnlichkeiten zwischen den konstitutiven Merkmalen für Intelligenz,
akademische Intelligenz und Alltagsintelligenz. Die Einschätzung der für eine idealtypisch
intelligente Person als besonders charakteristisch erachteten Verhaltensweisen ergab
ungeachtet der jeweiligen Beurteilerstichprobe und des einzustufenden Konzeptes drei
Faktoren. Nachfolgend (c Tab. 4.1) sind die behavioralen Indikatoren dafür ausschnitt-
weise wiedergegeben.
151
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Tab. 4.1: Einstufungen der für idealtypisch intelligente Personen als charakteristisch angesehenen
Verhaltensweisen.
Faktor Faktorladung
1. Praktische Problemlösefähigkeit
2. Verbale Fähigkeit
3. Soziale Kompetenz
Das Auftreten einer sozialen Komponente ist aufschlussreich und bemerkenswert. Diesem
Aspekt widmen die wissenschaftlichen Theorien nämlich ausgesprochen wenig Beachtung.
Vielleicht liegt es daran, dass bislang in faktorenanalytischen Studien ein Faktor der
»sozialen Intelligenz« nicht hinreichend belegt werden konnte (Probst, 1982). Da auch
Jäger und Sitarek (1986) bei der Analyse der impliziten Fähigkeitskonzepte von Laien eine
soziale (sowie zusätzlich eine manuell-praktische) Komponente fanden, ist der Geltungs-
bereich der impliziten Intelligenztheorien somit umfassender als derjenige der wissen-
schaftlich begründeten Modelle (Einzelheiten dazu s. Abschn. 4.3). Um deren ökologische
Repräsentativität zu erhöhen, müssten die Leistungsbereiche von sozialer und praktischer
Intelligenz also verstärkt berücksichtigt werden.
152
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
4.2.1 Quantitative Maße für Der Umstand, dass es sich beim Intelligenz-
Allgemeine Intelligenz alter ebenso wie beim Lebensalter nur um
Punktwerte handelt, bei denen die Wahl und
Ein entscheidender Beitrag von Stern (1911) Bezeichnung der Einheit letztlich beliebig ist,
zur Kennzeichnung der individuellen Leis- hat der Anschaulichkeit und Verbreitung die-
tung mit den sogenannten Staffel-Tests des ses Maßes keinen Abbruch getan. Im Unter-
Binet-Typs bestand darin, das »Intelligenz- schied zum Intelligenzalter lieferte der Intelli-
alter« (IA) auf das »Lebensalter« (LA) zu genzquotient einen vom Alter unabhängigen
beziehen und dadurch den Intelligenzquo- Bezugsmaßstab.
tienten (IQ) zu bilden (s. Abschn. 1.3.4). Um
ganze Zahlen zu erhalten, wird der resultie- Angenommen, die Minderleistung eines Proban-
rende Wert üblicherweise mit dem Faktor 100 den gegenüber seiner Altersgruppe bleibt über die
multipliziert. Werte um 100 sind gleichbedeu- Jahre unverändert. Dann bleibt auch der IQ des
Probanden numerisch gleich. Wer etwa als Vier-
tend mit altersgemäßer, durchschnittlicher jähriger ein Intelligenzalter von drei Jahren auf-
Leistung, Werte darüber mit einem gewissen wies, würde bei Invarianz seiner Position gegen-
Vorsprung, Werte darunter entsprechend mit über den Altersgleichen zwar als Sechsjähriger ein
einem Defizit gegenüber der mittleren Leis- Intelligenzalter von viereinhalb und als Zwölfjäh-
riger ein solches von neun zeigen, doch fiele der IQ
tung der Altersgleichen. Der durchschnitt- mit 75 auf allen Altersstufen gleich aus (Konstanz
liche IQ muss deshalb definitionsgemäß 100 des IQ bei verändertem absoluten IA und dessen
betragen. Darüber hinaus zeigte der IQ in Differenz zum LA). Verbunden damit war die
empirischen Untersuchungen eine Streuung Voraussetzung, dass sich die Standardabweichung
der IA-Werte mit zunehmendem Lebensalter ver-
von ungefähr 15 IQ-Punkten.
153
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
154
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Häufigkeitsdichte
Wechsler (1964)
Schwachsinn niedrige hohe extrem hohe
Intelligenz Intelligenz Intelligenz
sehr niedrige durchschnittliche sehr hohe
Intelligenz Intelligenz Intelligenz
155
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
4.3 Strukturmodelle
156
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
vorgegeben wurden. Darüber hinaus muss- die als eine der bedeutendsten Einzelarbeiten
ten die Versuchspersonen nicht weniger als unseres Faches gilt. Darin führte Spearman
22 verschiedene Verfahren innerhalb von als inzwischen 41-jähriger Doktorand von
45 Minuten bearbeiten. Die daraus resultie- Wundt zwei Werkzeuge zusammen, die be-
renden Fehlerquellen und Messungenauig- reits Galton gekannt und mit entwickelt,
keiten hätten zu einer mangelhaften Reliabi- aber nicht explizit aufeinander bezogen
lität der Maße geführt. Infolgedessen konn- hatte, nämlich »mental tests« und das Kon-
ten die Maße auch keine bedeutsamen Kor- zept der Korrelation. Als Ergebnis mehrerer
relationen mit anderen Variablen aufweisen, Versuchsreihen an Kindern kam er zu der
was den Befund von Wissler als wenig Schlussfolgerung, »that there really exists a
aussagekräftig erscheinen ließ. something that we may provisionally term…
Im selben Jahr legte Spearman (c Kasten a ›General Intelligence‹« (Spearman, 1904,
4.2) dann eine Arbeit vor (Spearman, 1904), S. 272; Hervorheb. v. V.).
Das mit »g« bezeichnete Etwas komme in schiedlichem Ausmaß. Die Höhe der Ladun-
allen Funktionen zum Tragen, die sich an den gen von g in einzelnen Tests ließ sich mit Hilfe
Intellekt richteten, wenngleich in etwas unter- einer von ihm konzipierten Vorläuferversion
157
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
158
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
g
psychomotor
abilities
k:m
(i)
v:ed
physical
p abilities
f w n
spatial mechanical
v abilities abilities
creative abilities
reading, spelling
linguistic and
mathematical scientifical
clerical abilities
abilities abilities
Abb. 4.3: Vernons hierarchisches Intelligenzmodell. Die einzelnen Buchstaben stehen für Faktoren. Die
Allgemeine Intelligenz g gliedert sich in die beiden größeren Gruppenfaktoren v:ed (»verbal-
educational«) und k:m (»spatial and motor abilities«) auf.
Die Faktoren v und w beziehen sich auf linguistische bzw. literarische Fähigkeiten, f bedeutet
fluency, n numerical, p perceptual und i inductive.
159
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Wichtig ist der Umstand, dass sich die Kon- Gemeinsamkeiten finden, rechnerisches Den-
zeptualisierung eines hierarchischen Struk- ken, Zahlennachsprechen etc.). Aufgrund der
turmodells dann anbietet, wenn zuvor die korrelativen Zusammenhänge zwischen den
Entscheidung zugunsten einer besonders Ergebnissen dieser Tests können diese auf
präzisen Erfassung der »minor« oder auch einer höheren Hierarchieebene zu einem
»major group factors« gefallen ist. Dann sind »Verbal-IQ« sowie einem »Handlungs-IQ«
die resultierenden Faktoren mit relativ hoher zusammengefasst werden. Die positive Kor-
Interpretationssicherheit identifizierbar, zu- relation zwischen diesen beiden Intelligenz-
dem sind sie miteinander noch korreliert. faktoren gestattet schließlich auf der höchs-
Erst diese Faktorinterkorrelationen erlauben ten Hierarchieebene die Berechnung eines
die erneute Extraktion von weiteren, allge- »Gesamt-IQ«. Nach einer Befragung von
meineren Faktoren. Zwischen den Alternati- praktisch tätigen Psychologen durch Steck
ven, entweder einen varianzstarken g-Faktor (1997) sind die Wechsler Intelligenztests in
und einige mehr oder minder spezifische der deutschsprachigen diagnostischen Praxis
Gruppenfaktoren zu extrahieren oder aber weiter verbreitet als jeder andere Intelli-
zulasten des Generalfaktors die Gruppenfak- genztest, was die praktische Bedeutung der
toren zu akzentuieren, gibt es keine allgemein Gruppenfaktormodelle nachdrücklich unter-
verbindliche, allein richtige Entscheidung. streicht.
Beide Lösungen sind mathematisch äquiva-
lent und ineinander überführbar. Aus diesem
Blickwinkel stellen hierarchische Modelle
4.3.3 Das Modell mehrerer
eine Art Kompromiss oder Synthese dar
zwischen der Zwei-Faktoren-Theorie Spear- gemeinsamer Faktoren
mans und dem nachfolgend skizzierten Mo-
dell mehrerer gemeinsamer Faktoren von Gibt man die Forderung nach der nichtüber-
Thurstone. lappenden Trennbarkeit einzelner Variablen-
Eine Gruppierung von vielen spezifischen gruppen auf, geht das Gruppenfaktoren-Mo-
Intelligenzfaktoren in wenigen und breiteren dell in jenes mehrerer gemeinsamer Faktoren
Faktoren höherer Ordnung stellen die gängi- über. Diesem Modell zufolge sind beim
gen Intelligenztests des amerikanischen Psy- Lösen von Denkaufgaben immer mehrere
chologen David Wechsler dar. Dieser hat Gruppenfaktoren in wechselnden Gewich-
über Jahrzehnte hinweg eine Reihe von In- tungsverhältnissen beteiligt. Um deren Zahl
telligenztests für Kinder im Vorschulalter, für und Spezifität zu ermitteln, entwickelte
Schulkinder und für Erwachsene entwickelt Thurstone (1931; s. a. 1947) das Verfahren
und ständig weiterentwickelt. Auch im deut- der Multiplen Faktorenanalyse.
schen Sprachraum sind diese Tests in entspre- Grundlegend dafür war die Annahme,
chender Übersetzung weit verbreitet. So liegt dass die Zahl von Primärfähigkeiten (engl.
beispielsweise der neueste dieser Tests für »primary abilities«; eine von Thurstone als
Erwachsene (Wechsler Adult Intelligence äquivalent zu den Gruppenfaktoren gewähl-
Scale III, WAIS III; Wechsler, 1997) unter te Bezeichnung) stets niedriger als die Zahl
der Bezeichnung »Wechsler Intelligenztest für der in einer Untersuchung eingesetzten
Erwachsene« (WIE) in einer Übertragung Tests ist, mehrere Tests sich also zu einer
durch Aster et al. (2006) vor. Bei diesem Primärfähigkeit zusammenschließen kön-
Verfahren werden mit 14 Untertests auf der nen. Weiterhin geht als Voraussetzung ein,
untersten Hierarchieebene eher spezifische dass die Leistung in einer bestimmten Auf-
kognitive Fähigkeiten bestimmt (die Tests gabe nicht zugleich von allen vorhandenen
heißen z. B. Bilderergänzen, Wortschatz-Test, Primärfähigkeiten determiniert werde.
160
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Mit diesen Annahmen markierte Thurstone, (s. Abschn. 2.1.4). Als Konsequenz werden
seinerzeit Assistent des berühmten Erfinders die Faktoren so gewählt, dass die Variablen
Edison, gleichsam eine Gegenposition zu entweder eine recht hohe oder aber sehr
Spearmans Zwei-Faktoren-Modell. Wie bei niedrige Ladung aufweisen, was die Interpre-
diesem waren die nachgeschalteten statisti- tation der Faktorlösung natürlich verein-
schen Analysen und Prüfverfahren direkt facht. Gesucht wird also nach solchen Fak-
abhängig von den theoretischen Vorannah- toren, mit denen insgesamt möglichst wenige
men. Für Thurstone lieferten sie zugleich ein Tests, diese dafür aber möglichst hoch kor-
Ziel der mathematischen Prozeduren, um aus relieren.
einer Matrix von Interkorrelationen die Aufgrund der ersten großen Untersu-
minimale Zahl der Faktoren zu identifizieren, chung, die sich auf eine Batterie von 56 Tests
die für die Erklärung der Interkorrelationen und eine Stichprobe von 218 College-Studen-
notwendig ist: das Kriterium der Einfach- ten stützte, identifizierte Thurstone (1938)
struktur. Es sieht vor, in einer Faktorla- neun Faktoren. Die in späteren Arbeiten am
dungsmatrix die Anzahl von Null-Ladungen besten gesicherten Faktoren bilden die be-
in jeweils einem Faktor zu maximieren bei rühmten sieben Primary Mental Abilities
simultaner Maximierung der Ladungszahlen (Merkvers: »Mein schlauer Vetter ringt nach
der davon nicht betroffenen Variablen passenden Worten«; c Tab. 4.2).
1) Identische Zahlen 0,42 0,40 0,05 –0,02 –0,07 –0,06 –0,06 0,08
10) Wörter mit gleichen 0,12 –0,03 0,63 0,03 –0,02 0,00 0,00 –0,08
Anfangsbuchstaben
11) Wörter mit vier 0,02 –0,05 0,61 –0,01 0,08 –0,01 0,04 –0,05
Buchstaben
12) Wörter mit gleichen 0,04 0,03 0,45 0,18 –0,03 0,03 –0,08 0,10
Nachsilben
13) Fahnen 0,04 0,05 0,03 –0,01 0,68 0,00 0,01 –0,07
14) Figuren 0,02 –0,06 0,01 –0,02 0,76 –0,02 –0,02 0,07
15) Karten 0,07 –0,03 –0,03 0,03 0,72 0,02 –0,03 0,13
161
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
16) Addition 0,01 0,64 –0,02 0,01 0,05 0,01 –0,02 –0,03
17) Multiplikation 0,01 0,67 0,01 –0,03 –0,05 0,02 0,02 0,01
18) Drei–Mehr 0,05 0,38 –0,01 0,06 0,20 –0,05 0,16 –0,12
19) Buchstabenfolgen 0,03 0,03 0,03 0,02 0,00 0,02 0,53 0,02
20) Oberbegriffe 0,02 –0,05 –0,03 0,22 –0,03 0,05 0,44 –0,02
21) Buchstaben- 0,06 0,06 0,13 –0,04 0,01 –0,06 0,42 0,06
gruppierung
v: verbal comprehension. Kenntnis von Wörtern und ihrer Bedeutung sowie deren angemessene Ver-
wendung im Gespräch.
w: word fluency. Rasches Produzieren von Wörtern, die bestimmten strukturellen oder symbolischen
Erfordernissen entsprechen.
n: number. Geschwindigkeit und Präzision bei einfachen arithmetischen Aufgaben.
s: space. Bewältigung von Aufgaben, die räumliches Vorstellen und Orientieren sowie das Erkennen von
Objekten unter anderem Bezugswinkel erfordern (der Faktor untergliedert sich entsprechend dieser
Beschreibung häufig in zwei oder drei speziellere s-Faktoren).
m: memory (associative). Behalten paarweise gelernter Assoziationen.
p: perceptual speed. Geschwindigkeit beim Vergleich oder der Identifikation visueller Konfigurationen.
i: induction oder r: reasoning, general. Schlussfolgerndes Denken im Sinne des Auffindens einer
allgemeinen Regel in einer vorgegebenen Abfolge von Zahlen oder Symbolen und Anwendung der-
selben bei der Vorhersage des nächstfolgenden Elementes. Verschiedenen Untersuchungen zufolge
liegt bei r der Akzent auf arithmetischen Problemen.
Fettgedruckt sind Faktorladungen > :0,30:.
Aus Thurstone und Thurstone (1941, S. 91).
Wie den Erläuterungen in Tabelle 4.2 zu stets mehrere Primärfaktoren gemeinsam die
entnehmen ist, weisen die einzelnen Primär- Leistung eines Probanden bestimmen (und
fähigkeiten eine höchst unterschiedliche nicht etwa durch einen übergeordneten, allen
Breite auf. Während einige relativ spezifisch Tests gemeinsamen Superfaktor g).
für bestimmte Material- oder Problemberei- Als Thurstone seinerzeit seine Resultate
che sind (z. B. p bzw. m), laden andere in publizierte, sah er sich selbst im Gegensatz
Aufgaben verschiedener Formate und ver- zu Spearman. Die Existenz der sehr unter-
meintlich unterschiedlicher Anforderungen schiedlichen Primärfaktoren verbot seiner
(z. B. v und i). Davon abgesehen stellen alle Auffassung nach die Berechnung eines ein-
Faktoren innerhalb des Modells gleichbe- zelnen Kennwertes für Intelligenz. Intelli-
rechtigte Bausteine dar, die nebeneinander genz müsste vielmehr als Profil der Ausprä-
stehen insofern, als nicht der eine Faktor auf gungsgrade in jeder der Primärfähigkeiten
der Existenz des anderen aufbaut. Darüber dargestellt werden. Damit war auf die alte
hinaus sind die Primärfaktoren nach Thurs- Frage nach dem, was unter Intelligenz zu
tone relativ unabhängig voneinander. Die verstehen sei, eine neue Antwort gegeben
Korrelationen zwischen den verschiedenen worden.
Leistungstests würden vor allen Dingen da- Allerdings müssen mindestens zwei weite-
durch verursacht, dass in jedem Leistungstest re Gesichtspunkte beachtet werden.
162
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Analogien
Es werden drei Wörter vorgegeben, von denen die ersten beiden in einer bestimmten Beziehung
zueinander stehen. Aus fünf Wahlwörtern soll das Wort herausgefunden werden, das zu dem
dritten vorgegebenen Wort in ähnlicher Beziehung steht.
Beispiel: Wald : Bäume = Wiese : ?
a) Gräser b) Heu c) Futter d) Grün e) Weide
Rechenaufgaben I
Es werden Rechenaufgaben der folgenden Art vorgegeben. Das Ergebnis der Rechnung wird auf
dem Antwortbogen eingetragen.
Beispiel: 60 − 10 = ?
Rechenaufgaben II
Zahlen auf der linken Seite einer Gleichung sollen mit dem Ziel verbunden werden, das hinter
dem Gleichheitszeichen stehende Ergebnis zu erhalten.
Beispiel: 6 ? 2 ? 3 = 5
Zahlenreihen
Es werden nach einer bestimmten Regel aufgestellte Zahlenreihen vorgegeben, die nach dieser
Regel fortgesetzt werden müssen.
Beispiel: 2 4 6 8 10 12 14 ?
Figurenauswahl I
Es sind fünf geometrische Figuren gegeben. Darunter sind die Figuren in Teile zerlegt dargestellt.
Der Proband soll angeben, welche der Figuren man durch das Zusammenfügen der einzelnen
Teile erhält.
Beispiel:
163
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Figurenauswahl II (Matrizen)
Auf der linken Seite findet sich eine Reihe von Figuren, die in einer bestimmten Regel aufgebaut
sind. Es muss aus fünf Auswahlfiguren jene Figur herausgefunden werden, die anstelle des Frage-
zeichens eingesetzt werden muss.
Beispiel:
Würfelaufgaben
Fünf Würfel − a bis e − deren Seiten verschiedene Muster tragen, sind so vorgegeben, dass jeweils
drei Seiten eines Würfels sichtbar sind. Darunter befinden sich die gleichen Würfel in veränderter
Lage. Jeder dieser Würfel muss einem der Würfel a bis e zugeordnet werden, von dem er sich nur
durch die Lage unterscheidet. Der Würfel kann gedreht, gekippt oder gedreht und gekippt wor-
den sein.
Beispiel:
Merkaufgaben
Der Proband hat 1 Minute Zeit, um je fünf Namen von Sportarten, Nahrungsmitteln, Städten,
Berufen und Bauwerken auswendig zu lernen.
l Thurstone (1938) stützte sich auf relativ Höhe von immerhin ca. r ¼ 0,35. Solche
homogene Versuchspersonenstichproben Zusammenhänge aber erlauben die
(College-Studenten), was die Interkorre- Durchführung von Sekundäranalysen mit
lationen der einzelnen Tests vermindert der Extraktion von Faktoren zweiter
und damit auch die Aussichten, einen Ordnung. Eine vorsichtigere Interpreta-
varianzstarken g-Faktor zu finden. tion, der wohl auch Thurstone zustimmen
l Die Faktorenlösungen wurden im Bestre- könnte, geht dahin, dass mehrere sehr
ben, möglichst klare Einfachstrukturen allgemeine Gruppenfaktoren auffindbar
für die einzelnen Dimensionen zu erhal- sind. Damit ist die scheinbare Unverein-
ten, schiefwinklig rotiert, d. h., es be- barkeit zwischen dem Generalfaktormo-
stehen zwischen den ermittelten Primär- dell und dem Modell mehrerer gemeinsa-
faktoren noch Korrelationen in einer mer Faktoren überwunden und ein Groß-
164
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
teil der Divergenzen als Folge der ange- mehrerer gemeinsamer Faktoren aufgefasst
wendeten Analysemethode erklärt. werden: Wie bei Spearman wird ein g-Fak-
tor angenommen, dessen Existenz aus
Amthauer bezog sich beim Entwurf von den interkorrelierenden Primärfaktoren
Aufgaben für den »Intelligenz-Struktur-Test Thurstone’scher Prägung erschlossen wird.
(IST)« (Amthauer, 1953) auf die originalen Sekundäranalysen an Stichproben hin-
Arbeiten von Thurstone. Da der IST (aktuell länglich replizierter Primärfaktoren zeigten
in der Fassung I-S-T 2000 R; Amthauer etwa die folgenden, der Arbeit von Horn
et al., 2001) zu den gebräuchlichsten diffe- und Cattell (1966) entnommenen Resultate
rentiellen Leistungstests zählt, sind Beispiel- (c Tab. 4.3).
aufgaben, die einen Teil der o. a. Primärfak- Nur die beiden ersten Faktoren sollen hier
toren abdecken sollen, in Kasten 4.3 wie- näher interessieren; diese wurden nämlich
dergegeben. interpretiert als fluide (engl. »fluid«, gf ) bzw.
kristallisierte (engl. »crystallized«, gc) Allge-
meine Intelligenz. Erstere spiegele mehr die
4.3.4 Das Modell der fluiden Fähigkeit wider, sich neuen Problemen oder
und kristallisierten Situationen anzupassen, ohne dass es dazu in
wesentlichem Ausmaß früherer Lernerfah-
Allgemeinen Intelligenz
rungen bedürfe. Hingegen vereinige gc kog-
von Cattell nitive Fertigkeiten, in denen sich die kumu-
lierten Effekte vorangegangenen Lernens
Die von Cattell, einem früheren Assistenten kristallisiert und verfestigt hätten. Die fluide
Spearmans, im Laufe der Jahre seit 1941 Intelligenz entfalte sich im individuellen Le-
konzipierten Modellvorstellungen zur Struk- benslauf rascher und sei die Voraussetzung
tur der Intelligenz können als eine Synthese für die Entwicklung der kristallisierten Intel-
der Zwei-Faktoren-Theorie und des Modells ligenz.
Tab. 4.3: Ladungen der Sekundärfaktoren der Intelligenz und die sie konstituierenden Primärfaktoren.
Primärfaktoren Sekundärfaktoren
gf gc gv gs C F
165
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Tab. 4.3: Ladungen der Sekundärfaktoren der Intelligenz und die sie konstituierenden Primärfaktoren.
– Fortsetzung
Primärfaktoren Sekundärfaktoren
gf gc gv gs C F
VZ Veranschaulichung 0,58
P Wahrnehmungsgeschwindigkeit 0,48
Sc Bearbeitungsgeschwindigkeit 0,63
C Sorgfalt 0,60
Nach der von Horn (1968) zusammengestell- Wissenstest als Marker für kristallisierte
ten Übersicht mehrerer Sekundärfaktorana- Intelligenz.
lysen ist die fluide Intelligenz vor allem durch Darüber hinaus laden mehrere Primärfak-
die Primärfaktoren »Figural Relations«, toren sowohl auf gc wie auf gf und bedingen
»Memory Span« und »Induction« gekenn- dadurch die Korrelation der beiden Dimen-
zeichnet. Diese Faktoren lassen sich ver- sionen miteinander in Höhe von ca. r ¼ 0,50.
meintlich relativ kulturfrei (engl. »culture Im Falle von zusätzlichen Analysen ist des-
fair«) deshalb erfassen, weil dabei Materia- halb ein weiterer Faktor mit noch größerem
lien verwendet werden können, die den Allgemeinheitsgrad zu erwarten –gf(h) (»gf
Mitgliedern verschiedener Gesellschaften historical«) oder letztlich Spearmans g. Für
gleich gut vertraut sind, die spezielle Aufgabe gf(h) forderte Cattell (1971) höhere Ladungen
gleichwohl neuartigen Charakter aufweist. von gf als von gc, da die fluide Intelligenz
Der Culture Fair Test (c Kasten 4.4) von während früher Lebensjahre von größerer
Cattell soll gf erfassen (Weiß, 1971). Dem- Bedeutung sei; bestätigende Resultate in die-
gegenüber wird gc hauptsächlich durch sem Sinne liegen vor.
Wortverständnis, Satzbildung und Satz- Die Lokalisation von gf und gc innerhalb
ergänzung markiert, die in hohem Maße des Gesamtmodells, das zusätzlich Interessen-
kulturspezifische Elemente beinhalten. Fol- und Gedächtnisfaktoren vorsieht sowie ent-
gerichtig wählten Amthauer et al. (2001) für wicklungspsychologischen Gesichtspunkten
die Aktualisierung des ISTeinen Matrizentest Rechnung trägt (s. vor allem Cattell & Kline,
als Markiervariable für fluide und einen 1977), ist aus Abbildung 4.4 ersichtlich.
166
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Beispiel: a b c d e f
a b c d e f
classification = Klassifikationen
Beispiel:
a b c d e
a b c d e
matrices = Matrizen
Beispiel:
a b c d e f
a b c d e f
Beispiel:
a b c d e
a b c d e
167
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Fluid intelligence
(present day)
Variables
Culture fair General cognitive Scholastic Achievement
subtests subtests measures
Abb. 4.4: Cattells Intelligenzmodell; Pfeile veranschaulichen die Richtung einer Wirkung (durchgezo-
gene Linien stehen für stärkeren Einfluss; se ¼ schulische und erzieherische Erfahrungen).
Insgesamt handelt es sich bei Cattells Modell 1956, 1967). Wie bei den bereits erwähnten
um eine Konzeption von hohem heuristi- Autoren stellt die Faktorenanalyse auch bei
schem Wert und empirischer Stimmigkeit; ihm die zentrale Forschungsmethode dar,
viele Arbeiten der Gegenwart beziehen sich doch wird sie hier weniger als Instrument
deshalb auf die Unterscheidung von fluider zum Auffinden einer Struktur als vielmehr im
und kristallisierter Intelligenz und die sich im Sinne der Hypothesenprüfung eingesetzt. Die
Zusammenhang damit stellenden Fragen. Rotationen erfolgen vorwiegend orthogonal;
entsprechend schwer oder unmöglich ist das
Auffinden eines g-Faktors, von dem deshalb
4.3.5 Das »Structure of auch praktisch nicht die Rede ist.
Intellect«-Modell von Mit dem »Structure of Intellect«-Modell
Guilford wollte Guilford intellektuelle Prozesse glei-
chermaßen beschreiben, klassifizieren wie
Eine deutliche Abkehr von hierarchischen auch erklären. Das Modell beschreibt die
Modellvorstellungen zur Struktur der Intel- Informationsverarbeitung kognitiver Prozes-
ligenz hat Guilford vorgenommen (Guilford, se, da auf Seiten der intellektuellen Faktoren
168
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
unterschieden wird zwischen Input-, Opera- Hoepfner, 1971) zwischen vier Inhaltsberei-
tions- und Output-Variablen. chen, deren Komplexitätsgrad verschieden
Die Art der Darbietung eines Materials ist: figural (F), symbolisch (S), semantisch
oder sein »Inhalt« ist der Eingangsseite (M), behavioral oder verhaltensmäßig (B).
des Systems zuzurechnen; diesbezüglich Die Buchstaben stehen für die von Guilford
unterscheidet Guilford (s. auch Guilford & benutzten Abkürzungen (c Kasten 4.5).
Operationen
Hauptarten intellektueller Aktivitäten oder Prozesse; etwas, was der Organismus beim
Verarbeiten von Information tut. Dabei wird Information definiert als das, »was der
Organismus unterscheidet«.
Kognition (C). Schnelles Entdecken, Bewusstheit, Wiederentdeckung oder Wieder-
erkennen von Information in den verschiedenen Formen, Verständnis oder Begreifen.
Gedächtnis (M). Fixierung der neugewonnenen Information im Speicher. Die Operatio-
nen des Gedächtnisses sind vom Gedächtnisspeicher zu unterscheiden.
Divergente Produktion (D). Entwicklung logischer Alternativen aus gegebener Infor-
mation, wobei die Betonung auf der Verschiedenheit, der Menge und der Bedeutung der
Ergebnisse aus der gleichen Quelle liegt. Beinhaltet wahrscheinlich auch die Erinnerung an
Transfer (ausgelöst durch neue Hinweise).
Konvergente Produktion (N). Entwicklung logischer Schlussfolgerungen aus gegebener
Information, wobei die Betonung auf dem Erreichen der einzigen oder im üblichen Sinne
besten Lösung liegt. Es ist wahrscheinlich, dass die gegebene Information (der Hinweis) das
Ergebnis wie in der Mathematik oder der Logik vollständig determiniert.
Evaluation (E). Vergleich von Informationen, in Begriffen von Variablen und Urteilen,
ob ein Kriterium erreicht ist (Korrektheit, Identität, Konsistenz usw.).
Inhalte
Breite, substantielle, grundlegende Arten oder Bereiche der Information.
Figural (F). Vorliegen von Information in konkreter Form, wie sie in der Form von
Vorstellungen wahrgenommen oder erinnert werden. Der Begriff »figural« impliziert
mindestens die Figur-Grund-Organisation der Wahrnehmung. Verschiedene Sinnesquali-
täten können beteiligt sein, visuelle, auditive, kinästhetische oder möglicherweise andere.
Symbolisch (S). Vorliegen der Information in der Form von Zeichen, die keinen Sinn in
sich oder für sich allein haben, wie Buchstaben, Zahlen, Musiknoten, Kodes und Wörter
(als geordnete Buchstabenkombinationen).
Semantisch (M). Vorliegen von Informationen in der Form von Begriffen oder geistigen
Konstrukten, auf die Wörter oft angewendet werden. Sehr wichtig beim verbalen Denken
und der verbalen Kommunikation, aber nicht notwendigerweise abhängig von Worten.
Bedeutungsvolle Bilder enthalten ebenfalls semantische Informationen.
Verhalten (B). Vorliegen von Informationen, im Wesentlichen nicht figural und nicht
verbal, die bei menschlichen Interaktionen eine Rolle spielen, wo Einstellungen und
Bedürfnisse, Wünsche, Stimmungen, Absichten, Wahrnehmungen, Gedanken usw. von
anderen und uns selbst eingeschlossen sind.
169
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Produkte
Grundlegende Formen, die Informationen durch die Aktivität des Organismus beim
Verarbeiten annehmen.
Einheiten (U). Relativ getrennte und abgegrenzte Teile oder »Brocken« von Information,
die »Dingcharakter« haben. Kann dem Konzept der Gestaltpsychologie »Figur auf Grund«
nahe kommen.
Klassen (C). Begriffe, die Sätzen von Informationen, die nach ihren gemeinsamen
Merkmalen gruppiert werden, zugrunde liegen.
Beziehungen (R). Verbindungen zwischen Informationen, die sich auf Variablen oder
Berührungspunkte anwenden lassen. Explizite Verbindungen lassen sich eher definieren als
implizite.
Systeme (S). Organisierte oder strukturierte Ansammlungen von Informationen, Kom-
plexe von zusammenhängenden oder sich beeinflussenden Teilen.
Transformationen (T). Veränderungen verschiedener Art (Redefinitionen, Übergänge
und Wechsel) bei vorhandenen Informationen.
Implikationen (I). Zufällige Verbindungen zwischen Informationen, wie Kontiguität,
oder eine andere Bedingung, die »Zugehörigkeit« zur Folge hat.
(nach Guilford & Hoepfner, 1971, S. 4 f.).
170
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Evaluation
Vorgang: konvergente Produktion
divergente Produktion
F
Gedächtnis
S
Erkenntnisvermögen
M
B
Einheiten U
Klassen C
Produkt: Beziehungen R
Systeme S
Transformationen T
Implikationen I
E
N
figural D
M
Inhalt: symbolisch C
semantisch
verhaltens-
mäßig
171
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
172
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Operative Fähigkeiten
Verarbeitungskapazität (K). Verarbeitung komplexer Informationen bei Aufgaben, die
ein Stiften vielfältiger Beziehungen, ein formallogisch korrektes Denken sowie eine
sachgerechte Beurteilung von Informationen benötigen.
Einfallsreichtum (E). Flexibles Produzieren neuer und nützlicher Ideen, das die
Verfügbarkeit vieler Informationen sowie ein Reichtum an Vorstellungen und die Fähigkeit
voraussetzt, ein Problem von vielen Seiten zu sehen; dieser Faktor zielt auf divergentes
Denken und Kreativität.
Merkfähigkeit (M). Aktives Einprägen und kurzfristiges Wiedererkennen oder Repro-
duzieren von Gedächtnisinhalten mit einer Fokussierung auf kurzfristige Behaltensleistun-
gen.
Bearbeitungsgeschwindigkeit (B). Arbeitstempo, rasche Auffassungsgabe sowie gute
Konzentrationsfähigkeit beim Lösen einfacher Denkaufgaben.
Inhaltsgebundene Fähigkeiten
Sprachgebundenes Denken (V). Umfang und Verfügbarkeit von Sprache beim Lösen von
sprachlichen Denkaufgaben.
Zahlengebundenes Denken (N). Umfang und Verfügbarkeit des Zahlensystems und von
arithmetischen Operationen beim Lösen von numerischen Denkaufgaben.
Anschauungsgebundenes Denken (F). Fähigkeit zum Lösen von Aufgaben, die figural-
bildhafte oder räumliche Vorstellungen benötigen.
173
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Unter diesen Studien befanden sich auch die ziatives Gedächtnis (z. B. Lernen von se-
Originalarbeiten von Thurstone, Guilford mantisch unzusammenhängenden Wort-
und Vernon. Die in diesen Einzelstudien paaren, anschließend wird ein Paarling
berichteten Korrelationen zwischen den Leis- vorgegeben, und der zugehörige andere
tungstests wurden dann von Carroll (1993) Paarling muss reproduziert werden: Nagel
einer gemeinsamen hierarchischen Faktoren- – Ameise, Nagel – ?), Gedächtnis für
analyse unterzogen. bedeutungsvolle Zusammenhänge (anstatt
Als Ergebnis dieser Analysen präsentierte von semantisch unzusammenhängenden
er ein hierarchisches Intelligenzmodell, das Wortpaaren werden nun semantisch zu-
drei Schichten aufweist (drei entsprechende sammenhängende Wortpaare verwendet:
Schichten gab es interessanterweise schon im Nagel – Hammer; Nagel – ?), Gedächtnis
Gruppenfaktormodell von Burt und Ver- für freie Reproduktion (z. B. eine Wortliste
non). Die Abbildung 4.7 zeigt dieses Modell. lernen und anschließend so viele Worte
Auf der untersten Ebene, die als »Stra- wiedergeben wie möglich), Visuelles Ge-
tum I« bezeichnet wird, stehen ca. 65 Einzel- dächtnis (z. B. wird ein Film gezeigt und
faktoren der Intelligenz, die jeweils recht anschließend müssen einzelne Details erin-
spezifisch sind. Zu diesen Faktoren gehören nert werden) und Lernfähigkeit (Verbes-
beispielsweise das generelle sequentielle serung der Gedächtnisleistung nach wie-
Schlussfolgern, lexikalisches Wissen, Ge- derholten Lerndurchgängen).
dächtnisspanne, Genauigkeit von Längen- l Visuelle Wahrnehmung bezieht sich auf
schätzungen, Hörschwelle, Assoziationsflüs- die Wahrnehmung und Verarbeitung von
sigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit und Bildern und beinhaltet z. B. die Fähigkeit
die Reaktionsgeschwindigkeit. Intelligenzfak- zur Längenschätzung und zum Erkennen
toren ähnlicher Spezifität finden sich auch im von räumlichen Beziehungen, aber auch
»Structure of Intellect«-Modell von Guilford. bildliches Vorstellungsvermögen und eine
Anders als bei Guilford werden diese effiziente räumliche Suche.
engen Faktoren aus Stratum I jedoch auf- l Auditive Wahrnehmung beinhaltet so-
grund ihrer Korreliertheit weiter unterteilt wohl die Fähigkeit zu psychophysischen
und gebündelt zu insgesamt acht Faktoren Diskriminationsleistungen (z. B. Entde-
der mittleren Hierarchieebene, die also dem ckung von Unterschieden in der Lautstär-
»Stratum II« zugeordnet werden. Die folgen- ke, Höhe und Dauer von Tönen) als auch
de Übersicht informiert über diese Faktoren. zu komplexeren auditiven Verarbeitun-
gen (z. B. Unterscheidung von unter-
l Fluide Intelligenz bezeichnet hier die Fä- schiedlicher Musik oder Gedächtnis für
higkeit zum schlussfolgernden Denken Klangmuster).
und entspricht in etwa dem Faktor gf l Retrieval (Wiederauffinden von Inhalten
von Cattell. aus dem Langzeitgedächtnis) bezieht sich
l Kristallisierte Intelligenz bezieht sich auf auf die Verfügbarkeit von längst gelernten
eine Reihe verbaler Fertigkeiten der ge- Konzepten, Ideen und Namen. Dieser
schriebenen und gesprochenen Sprache, Faktor beinhaltet unter Anderem die Stra-
wie Leseverständnis, Lesegeschwindig- tum-I-Faktoren Wortflüssigkeit (z. B.
keit und Buchstabieren, aber auch lexi- Wörter produzieren, die mit »H« anfan-
kalisches Wissen, Hörverständnis und gen und mit »S« aufhören), Konzeptflüs-
Sprachflüssigkeit. sigkeit (z. B. Bezeichnungen für runde
l Gedächtnis und Lernen beinhaltet die Stra- Objekte produzieren) oder Namensflüs-
tum-I-Faktoren Gedächtnisspanne (z. B. sigkeit (z. B. Farbnamen produzieren),
Nachsprechen einer Zahlenreihe), Asso- aber auch Originalität/Kreativität.
174
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Fluide Allgemeine
Sequentielles Schlussfolgern –
Induktives Schlussfolgern – Intelligenz Intelligenz
…–
Leseverständnis – Kristallisierte
Lexikalisches Wissen – Intelligenz
…–
Gedächtnisspanne – Gedächtnis
Assoziatives Gedächtnis – & Lernen
…–
Wortflüssigkeit – Retrieval
Konzeptflüssigkeit –
…–
175
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
l Kognitive Schnelligkeit bezieht sich auf gemessen werden kann. Vielmehr lädt jeder
die Bearbeitungszeiten von Leistungstests einzelne Intelligenztest in der Regel auf meh-
und beinhaltet auch einen Faktor für reren Faktoren aus unterschiedlichen Schich-
Wahrnehmungsgeschwindigkeit. ten (Carroll, 2005). Dies erinnert an theore-
l Verarbeitungsgeschwindigkeit schließlich tische Vorstellungen Thurstones, der ja eben-
umfasst die Geschwindigkeit, mit der falls davon ausging, dass in jeder Intelligenz-
einfache Reaktionen oder Entscheidun- testaufgabe mehrere gemeinsame Faktoren
gen erfolgen (z. B. Reaktionszeit beim beteiligt sind (daher ja der Name seines
Tastendruck nach Aufleuchten einer Modells). Carroll (2005) sieht den Wert
Lampe oder Entscheidungszeit bei der seines Modells dann auch vor allem für eine
Beurteilung, ob ein vom Versuchsleiter Kartierung von kognitiven Leistungstests:
benanntes Objekt lebendig ist oder nicht). Die Ladungen eines gegebenen Leistungstests
auf den Faktoren der drei Schichten ermög-
Hinsichtlich der Anzahl dieser Faktoren, ihrer lichen eine präzise Bestimmung dessen, was
Breite und ihres Inhalts gibt es lose Entspre- der Leistungstest misst.
chungen mit den Primärfähigkeiten von Zusammenfassend bildet die »Three Stra-
Thurstone. Anders als in Thurstones Modell tum«-Theorie der Intelligenz eine empirische
mehrerer gemeinsamer Faktoren ursprüng- (und durchwegs »datengetriebene«) Synopse
lich vorgesehen lassen sich die Stratum-II- der meisten vorangehenden Intelligenz-
Faktoren in Carrolls Theorie aufgrund ihrer theorien, besonders der Konzeptionen von
Korreliertheit ein weiteres Mal bündeln, nun Spearman, Thurstone, Burt und Vernon,
zu einem übergeordneten Faktor der Allge- sowie Horn und Cattell. Die größte Differenz
meinen Intelligenz. Dieser alleinstehende Fak- sieht Carroll (2005) selbst zum »Structure of
tor ist auf der höchsten Hierarchieebene in Intellect«-Modell von Guilford, da Letzterer
Carrolls Theorie angesiedelt, nämlich in Stra- einer hierarchischen Organisation der Intel-
tum III. Dieser Faktor beinhaltet all das, was ligenz ablehnend gegenüberstand.
den Stratum-II-Faktoren gemeinsam ist, und
kann deshalb als g-Faktor im Sinne Spear-
mans interpretiert werden. Allerdings tragen 4.3.8 Abschließende
nicht alle Stratum-II-Faktoren in gleichem Bemerkungen
Ausmaß zur Allgemeinen Intelligenz bei: Die
Ladungen der Stratum-II-Faktoren unter- Trotz der Kürze der Darstellung wird deutlich
scheiden sich, wobei die Faktoren Fluide und geworden sein, dass – wie in jedem anderen
Kristallisierte Intelligenz die höchsten Ladun- naturwissenschaftlichen Forschungsbereich
gen auf der Allgemeinen Intelligenz aufweisen auch – die angewendete Methode in nicht
(und diesesomit am besten markieren) unddie unerheblichem Ausmaß die erhaltenen Resul-
Kognitive Schnelligkeit und Verarbeitungsge- tate determiniert. Werden einzelne Merk-
schwindigkeit die niedrigsten Ladungen ha- malsbereiche in die Stichprobe vorgegebener
ben (und somit die Allgemeine Intelligenz am Skalen nicht mit einbezogen, kann verständ-
schlechtesten definieren). licherweise kein Faktor entsprechenden In-
Bislang liegt für Carrolls Intelligenztheorie halts bei der späteren Analyse auftreten.
noch keine Operationalisierung im Sinnes Umgekehrt wirken breite Merkmalsgruppen
eines etablierten Intelligenztests oder einer in Richtung differenzierter Strukturen, relativ
Testbatterie vor. Die Entwicklung einer sol- homogene hingegen zugunsten eines globalen
chen Operationalisierung wird dadurch er- Generalfaktors. Die Zusammensetzung der
schwert, dass kaum einer der vielen Intelli- Probandengruppen nach der Leistungsbreite
genzfaktoren aus Carrolls Theorie »rein« ist für die Ergebnisse ebenso von Belang wie
176
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Beginnend mit den Pionierarbeiten von Charles Spearman konnten im Laufe von etwa 100
Jahren verschiedene Modelle entwickelt werden, die alle versuchen, die Korrelationsmuster
von Intelligenztestleistungen zu erklären. Dabei wurden mit zunehmender Breite der
eingesetzten Leistungstests sowie mit zunehmender Verfeinerung der statistischen Ana-
lysemethoden auch die aus den Daten abgeleiteten Modelle immer komplexer. So
beobachtete Spearman zunächst selbst, dass unterschiedliche Leistungstestvariablen regel-
haft positiv miteinander korrelieren, wenn auch die Korrelationskoeffizienten einige
Schwankungen aufwiesen. Diese positive manifold wurde von ihm mit einer frühen Form
der Faktorenanalyse untersucht und führte zur Aufdeckung eines generellen Intelligenz-
faktors g. Etwas später verwendeten Cyril Burt und Philip E. Vernon einen moderneren
Ansatz der Faktorenanalyse und konnten weitere Faktoren aus den Korrelationen
unterschiedlicher Leistungstestvariablen extrahieren. Da diese Korrelationen je nach
betrachteten Tests mal größer oder kleiner ausfallen, lassen sich die Tests so gruppieren,
dass die Korrelationen von Tests innerhalb einer Gruppe relativ groß sind und die
Korrelationen zwischen Tests aus unterschiedlichen Gruppen relativ klein ausfallen. Die
Tests innerhalb einer Gruppe können dann jeweils auf einen Faktor pro Gruppe reduziert
werden (beispielsweise lassen sich verschiedene sprachliche Tests auf einen Faktor für
verbale Intelligenz reduzieren und verschiedene Rechentests auf einen Faktor für nume-
rische Intelligenz; s. beispielhaft Abb. 4.3). Diese Faktoren niedriger Ordnung korrelieren
selbst untereinander und können in einem nächsten Schritt zu Faktoren höherer Ordnung
177
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
178
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Testleistung
Innerhalb der Standardisierungsstichpro-
be des Wechsler-Tests erzielten Mitte der 40
1950er Jahre die einzelnen Altersgruppen die
in Abbildung 4.8 wiedergegebenen Leistun-
gen; die Höhe der Wertpunkte stellt eine Handlungsteil
direkte Funktion der Zahl gelöster Aufgaben 30
dar. Der Mittelwertsverlauf ist typisch für 15 30 45 60
Wachstumskurven, wie sie für zahlreiche Alter
Funktionen zu beobachten sind (Oerter &
Abb. 4.9: Veränderung der Leistungen im Verbal-
Montada, 2008). Der anfänglich relativ steile
und Handlungsteil des Wechsler-In-
Anstieg verlangsamt sich im Kindes- und telligenztests über den Altersbereich
Jugendalter und geht nach einem Hochpla- von 15 bis über 60 Jahren.
teau in einen allmählichen Abfall über.
100
läufe für gf und gc. In guter Übereinstim-
mung mit seiner Theorie zeigte sich, dass die
80 Entwicklung von gf um das 14. bis 15.
Mittelwerte
Lebensjahr zum Stillstand kommt. Im
Wertpunkte
179
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
T-Werte
ren Ernährungs- und Bildungsmöglichkeiten 50 Querschnitt
im Laufe ihres Lebens noch nie eine höhere
Leistung erzielt hatten.
Um diese Konfundierung von Lebensalter 45
180
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
l Drittens zeigte sich ein Anstieg von 25 bis Rückgang in der Geschwindigkeit der Infor-
ins mittlere Lebensalter und eine Stabilität mationsverarbeitung diskutiert. Diese Auf-
bis ins hohe Lebensalter in Tests für fassung fände Unterstützung, wenn die intra-
verbale und numerische Fähigkeiten. individuellen Veränderungen in mentaler
Diese Leistungen können dem gc -Faktor Geschwindigkeit mit den Einbußen in fluider
zugerechnet werden. Abbildung 4.11 Intelligenz korrelieren würden. Für diese
zeigt die beiden unterschiedlichen Ent- Hypothese konnten in den letzten 15 Jahren
wicklungsverläufe für fluide und kristal- beeindruckende Belege gesammelt werden.
lisierte Intelligenz im Längsschnitt. In einer Serie von empirischen Einzelarbei-
ten sowie nach Integration dieser Befunde
mit Daten anderer Forscher konnte Salthouse
60
Induktives (1996a, b) nachweisen, dass die alterskorre-
Schlussfolgern
lierten Einbußen in unterschiedlichen kogni-
55
tiven Leistungsvariablen nahezu vollständig
z z z z
z
verschwinden, wenn die mentale Geschwin-
T-Werte
50
z z
Verbale
Fähigkeiten
digkeit statistisch kontrolliert wird. Im Ein-
z
zelnen konnte er aus den Befunden folgende
45 z
Schlüsse ziehen:
40
l Erstens beeinflusst das Alter spezifische
35 Faktoren der Intelligenz (Stratum II) nur
25 32 39 46 53 60 67 74 81 in dem Maße, in dem auch die Allgemeine
Alter Intelligenz (Stratum III) durch das Alter
beeinflusst wird. Wurde nämlich bei der
Abb. 4.11: Altersentwicklung von verbalen Fä-
Analyse der Altersveränderung in spezifi-
higkeiten und induktivem Schlussfol-
gern aufgrund von kombinierten
schen Intelligenzfaktoren die Altersverän-
Quer- und Längsschnittplänen der derung der Allgemeinen Intelligenz statis-
Seattle Longitudinal Study (nach tisch kontrolliert, so reduzierte dies die
Deary, 2001; Schaie, 2005). Altersveränderung in den spezifischen In-
telligenzfaktoren in erheblichem Umfang.
Aufgrund solcher Befunde ist die Auffassung l Zweitens wird der Altersabbau in der
von einem nennenswerten generellen Abfall Allgemeinen Intelligenz in großen Teilen
der Intelligenz vor dem siebten Lebensjahr- durch eine Verlangsamung der mentalen
zehnt nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Prozesse bedingt. Wird nämlich bei den
beobachtbaren Minderungen betreffen vor- entsprechenden Analysen die mentale Ge-
rangig geschwindigkeitsbetonte Aufgaben schwindigkeit statistisch kontrolliert, so
und (deshalb) mehr solche der fluiden als resultierte eine deutliche Reduktion der
der kristallisierten Intelligenz (s. z. B. Linden- alterskorrelierten Leistungseinbußen in
berger & Baltes, 1995; Rudinger & Rietz, der Allgemeinen Intelligenz. So zeigte sich
1995; zu der Unterscheidung zwischen den beispielsweise in einer Stichprobe von Per-
beiden Intelligenzkomponenten s. Abschn. sonen im Alter von 20 bis 80 Jahren eine
4.3.4). Sofern es zu einem Abfall der kristal- negative Korrelation zwischen Lebens-
lisierten Intelligenz kommt, scheint dieser auf alter und der Leistung in Ravens Matri-
Minderungen der fluiden Intelligenz zu beru- zentest in Höhe von zunächst r ¼ 0,57.
hen (Ghisletta & Lindenberger, 2003). Diese Korrelation schrumpfte auf r ¼
Als eine der zentralen Ursachen für Intelli- 0,24, nachdem die mentale Geschwin-
genzminderungen im höheren Alter wird der digkeit statistisch kontrolliert wurde.
181
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
l Zusammenfassend führt der Alterspro- erwies sich in einer Berliner Untersuchung, die sich
zess also zunächst zu einer Verlangsa- auf 516 Personen im Alter von 70 Jahren und
darüber stützt, das Vorliegen einer Krankheit
mung der mentalen Prozesse. Diese Ver- (darunter Diabetes, koronare Herzerkrankungen,
langsamung mindert dann die Allgemeine Schlaganfall) als das stärkste Korrelat von Intelli-
Intelligenz (Stratum III). Die so beein- genzminderungen (Verhaeghen et al., 2003).
trächtigte Allgemeine Intelligenz verringt Schon früher hatten Reimanis und Green (1971)
dann entsprechend das Niveau in spezifi- an einer Stichprobe von hospitalisierten Veteranen
im Alter von 68 Jahren beobachtet, dass eine
schen Intelligenzfaktoren (Stratum II). starke Minderung gegenüber einem 5 bis 10 Jahre
zuvor ermittelten IQ ein Indikator für den baldi-
Konsistent mit diesen Überlegungen korre- gen Tod der Probanden war. Bei Wilkie und
lierten auch im Material einer Heidelberger Eisdorfer (1973) korrelierten hoher diastolischer
Blutdruck und Intelligenzabbau während eines
Längsschnittstudie die Altersveränderungen 10-Jahre-Intervalls im siebten Lebensjahrzehnt.
in der mentalen Geschwindigkeit mit den Darüber hinaus fallen nachlassende Intelligenz-
Einbußen in fluider Intelligenz mit einem leistungen zeitlich mit dem Einsetzen von Sehbe-
Korrelationskoeffizienten von 0,53 (Zim- einträchtigungen zusammen (Rott, 1995). Im Wei-
teren sind auch der Familienstand (verheiratet/
prich & Martin, 2002; s. a. Zimprich,
verwitwet), nicht aber die Höhe des Intelligenz-
2002). In diesen Zusammenhang fügt sich niveaus von Belang (Christensen et al., 1997;
auch die Beobachtung, wonach niedrigere Rabbitt et al., 2003).
Intelligenz mit früherem Tod einhergeht und
diese Beziehung offenkundig über die indivi- Schließlich konnten auch in der Seattle Lon-
duelle Reaktionsgeschwindigkeit vermittelt gitudinal Study einige Faktoren identifi-
wird (Deary & Der, 2005). Generell scheinen ziert werden, die dem alterskorrelierten In-
für alterskorrelierte Beeinträchtigungen telligenzabbau entgegenstehen, nämlich (1)
spezifische Hirnareale maßgeblich zu sein, keine kardiovaskuläre oder chronische
nämlich insbesondere die Funktionstüchtig- Krankheit zu haben, (2) in einem sozial
keit des dorsolateralen Frontalkortex (Phil- gehobenen Umfeld zu leben, (3) mit einem
lips & Della Sala, 1998). Diese Hirnregion komplexen und intellektuell stimulierenden
spielt eine wichtige Rolle für exekutive Funk- Umfeld zu interagieren, (4) in der Lebens-
tionen wie das Arbeitsgedächtnis, und so mitte über einen flexiblen Persönlichkeitsstil
kann es nicht überraschen, dass in neueren zu verfügen, (5) mit einem überdurchschnitt-
Arbeiten von Salthouse (2005) ein altersbe- lich intelligenten Partner zusammenzuleben,
dingter Abbau des Arbeitsgedächtnisses als (6) sich eine hohe mentale Geschwindigkeit
zusätzlicher Faktor für die Intelligenzminde- zu erhalten und (7) im mittleren Lebensalter
rung im höheren Lebensalter identifiziert über eine hohe Lebenszufriedenheit zu ver-
wurde. Dieser Abbau im Arbeitsgedächtnis fügen (Schaie, 1994, 1996).
wirkt sich unabhängig vom Abbau der men-
talen Geschwindigkeit intelligenzmindernd
aus.
4.4.2 Differentielle Stabilität
Interessant ist hierbei die in verschiedenen
Studien gemachte Beobachtung, dass die der Intelligenz
Gesundheit eine wichtige Rolle beim Intelli-
genzabbau spielt. Von jedem Testverfahren, das ein Charakte-
ristikum der Person erfassen soll, wird man
In der Bonner Längsschnittstudie des Alterns eine hohe differentielle Stabilität der Test-
verzögerte gutes gesundheitliches Allgemeinbefin- ergebnisse erwarten können. Darunter ver-
den das Absinken der Leistungen im Handlungs- steht man das Ausmaß, in dem die Personen
teil des Wechsler-Tests (Rudinger, 1987). Ähnlich ihre Positionen in der Verteilung der Merk-
182
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
malsträger beibehalten – selbst wenn die vor, die das bisher skizzierte Bild weiter
Verteilung »wandert«, sich also der Mittel- ausgestalten können. So berichteten Weinert
wert der Testwerte über die Zeit ändert. Hat und Hany (2003) zusammenfassend über
z. B. eine Person bereits als Kind eine über- eine bemerkenswerte Studie, in der eineiige
durchschnittliche Intelligenz, dann sollte und zweieiige Zwillinge längsschnittlich
diese Person auch als Erwachsener und selbst untersucht wurden. Dieser Untersuchungs-
im höheren Lebensalter immer noch über- aufbau gestattete die Kombination von ent-
durchschnittliche Intelligenztestwerte auf- wicklungspsychologischen und verhaltensge-
weisen – selbst wenn die absolute Leistungs- netischen Analysemethoden (s. Kap. 13). Die
fähigkeit von der Kindheit zum Erwachse- Probanden dieser Studie bearbeiteten jeweils
nenalter zunimmt und gegen Ende der Le- im Alter von 41 und 66 Jahren einen Wechs-
bensspanne wieder abnimmt. Eine solche ler-Intelligenztest. Aus dem »Mosaiktest«
Konstanz der individuellen Unterschiede und dem »Zahlen-Symboltest« formten die
zwischen den Altersgenossen kann mit Autoren ein Maß für gf und aus den Unter-
einer Test-Retest-Korrelation rtt quantifiziert tests »Wortschatz« und »Allgemeinwissen«
werden (die Korrelation ist nämlich invariant eine Maß für gc. Mit Strukturgleichungsmo-
gegenüber Verschiebungen der Mittelwerte). dellen (s. Abschn. 2.1.4) trennten die Autoren
Wird der gleiche Intelligenztest derselben die latenten Konstruktvariablen gf und gc zu
Stichprobe mit einem zeitlichen Intervall von jedem Messzeitpunkt von ihren Messfehlern
einem Jahr wiederholt vorgelegt, so zeigen und analysierten die Zusammenhänge dieser
die Testwerte in aller Regel bei den gebräuch- latenten Variablen über die Zeit.
lichen Intelligenztests eine Stabilität von rtt ¼ Die Abbildung 4.12 zeigt einen Teil der
0,90 oder darüber. Dieser hohe Wert im- Befunde, der folgendermaßen zusammenge-
poniert auch deshalb, weil unsystematische fasst werden kann:
Messfehler infolge einer nicht perfekten
Reliabilität der Messungen eine solche Test- l Erstens lässt sich für die fluide Intelligenz
Retest-Korrelation mindern muss. Selbst bei der direkte Zusammenhang (gf1→gf2→
längeren Intervallen ist noch eine gute Über- und der indirekte Zusammenhang (gf1
einstimmung der Werte gewährleistet: Con- →gc1→gf2) zu einem Stabilitätskoeffizi-
ley (1984) hat entsprechende Arbeiten ge- enten aufaddieren, der einer Korrelation
sichtet, darunter eine solche mit einem Inter- von rtt ¼ 0,95 entspricht. Analog dazu
vall von 42 Jahren (rtt dort 0,77), und aus den lassen sich auch für die kristallisierte
Resultaten eine jährliche Stabilität der wah- Intelligenz der direkte Zusammenhang
ren Werte des Intelligenzkonstrukts von 0,99 (gc1→gc2) und der indirekte Zusammen-
abgeleitet. Das bislang längste Wiederho- hang (gc1→gf2→gc2) zu einem Stabilitäts-
lungsintervall mit 67 Jahren wurde an einer koeffizienten von rtt ¼ 0,96 aufaddieren.
Stichprobe von Personen realisiert, die erst- Diese Befunde sprechen für eine nahezu
mals im Alter von 11 und erneut als 77- perfekte differentielle Stabilität der Intel-
Jährige untersucht wurden (Deary et al., ligenz über einen Zeitraum von 25 Jahren
2000). Die Korrelation zwischen beiden im Erwachsenenalter.
Messungen belief sich auf rtt ¼ 0,63. Dieser l Zweitens verweisen die verhaltensgeneti-
Wert stieg auf 0,73, nachdem eine Korrektur schen Daten darauf, dass die Stabilität
für die bei den noch angetroffenen Proban- von gf durch einen genetischen Faktor
den etwas verminderte Streuung vorgenom- bedingt wird, während die Stabilität von
men worden war. gc das Resultat eines Umweltfaktors ist.
Zur differentiellen Stabilität im mittleren Dies deckt sich sehr gut mit den theore-
Lebensalter liegen mehrere neuere Befunde tischen Vorstellungen von Cattell.
183
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
0,74
gf1 gf2
0,48
0,43 0,22
gc1 gc2
0,83
Alter 41 Alter 66
Abb. 4.12: Modell der längsschnittlichen Zusammenhänge zwischen fluider und kristallisierter Intelli-
genz nach Weinert und Hany (2003).
Im Kindesalter sinkt erwartungsgemäß auch Dennoch berichteten Sontag et al. (1958) für 140
die Stabilität des Merkmals, da einerseits die Kinder vom 3. zum 4. Lebensjahr eine Stabilität
des mit dem Stanford-Binet-Test ermittelten IQ
Durchführungsbedingungen von Leistungs- von rtt ¼ 0,83. Die Korrelationen später erhobe-
tests weniger stringent zu standardisieren ner Testwerte mit denen des 3. Lebensjahres
und die Kinder angemessen zu motivieren nahmen in dem Ausmaß ab, in dem das Intervall
sind, andererseits die anfangs sehr raschen länger wurde, beliefen sich aber auch im Ver-
gleich des 3. und 12. Lebensjahrs noch auf rtt ¼
Entwicklungsvorgänge zu tiefer greifenden 0,46.
Veränderungen führen.
184
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
185
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
186
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Zuwachs war aber nicht von Dauer, bereits antworten (Jensen, 1989; Locurto, 1991a).
nach zwei bis drei Jahren unterschieden sich Eine kritische Bestandsaufnahme von »Head
die geförderten Kinder nicht mehr von den Start« findet sich in Jensen (1998).
Kontrollgruppen (Locurto, 1991b, a). In
einer anderen Analyse, in der nur relativ
langandauernde und intensive Förderungen Generationeneffekte bei
berücksichtigt wurden, konnte zunächst so- Intelligenzmessung
gar eine Erhöhung des IQ um mehr als 15
Punkte beobachtet werden; aber auch hier Veränderungen in der Intelligenztestleistung
war der Fördereffekt nach drei bis vier Jahren konnten nicht nur bei Probanden beobachtet
verpufft (Schweinhart & Weikart, 1980). werden, die mit oder ohne Fördermaßnah-
In zwei geradezu heroischen Interven- men wiederholt getestet wurden. Ein solcher
tionsstudien wurde schließlich das Förder- Zuwachs in der Testleistung konnte auch bei
programm dahingehend optimiert, dass die einem Vergleich von unterschiedlichen Stich-
Kinder bereits wenige Monate nach ihrer proben gesichert werden, die in relativ lan-
Geburt bis zum Schuleintritt fünfmal die gem zeitlichen Abstand untersucht wurden.
Woche eine Ganztagsbetreuung erhielten, Das war beispielsweise der Fall in der be-
wobei sie – angeleitet von ausgebildeten rühmten Tennessee-Studie (Wheeler, 1942),
Erziehern und Psychologen – ein intensives bei der in 40 entlegenen Gebirgsgemeinden
Trainings- und Erziehungsprogramm absol- im Osten Tennessees eine große Anzahl von
vierten. Es konnte der erwartete Zuwachs im Schülern sowohl im Jahr 1930 als auch in
IQ unmittelbar nach Ende der Förderung einer neuen Stichprobe im Jahr 1940 unter-
beobachtet werden, der nun allerdings noch sucht wurde. Der durchschnittliche IQ be-
mehrere Jahre später nachweisbar war. So trug bei der ersten Testung nur 82, während
zeigten auch noch die 12- bis 14-jährigen er bereits 10 Jahre später einen Wert von 93
Programmteilnehmer im Vergleich zu ihren annahm. Dieser Intelligenzzuwachs war ver-
Kontrollgruppen einen um 10 Punkte erhöh- mutlich eine Auswirkung der in dieser Re-
ten IQ im »Milwaukee Projekt« (Garber, gion zwischenzeitlich erfolgten Verbesserun-
1988) bzw. einen um 5 Punkte erhöhten IQ gen in ökonomischer, kultureller und bil-
im »Carolina-Abecedarian-Projekt« (Camp- dungsmäßiger Hinsicht.
bell & Ramey, 1994; Ramey, 1992). Aller- Ähnliche Faktoren, darunter eine durch-
dings muss angemerkt werden, dass sich im schnittlich um drei Jahre längere Teilhabe
Carolina-Abecedarian-Projekt die Förder- am schulischen Ausbildungssystem, dürften
gruppe und Kontrollgruppe bereits zu Beginn auch eine Rolle gespielt haben bei den Intelli-
der Förderung im selben Ausmaß unterschie- genzmehrleistungen der US-Rekruten des
den hatten. Darüber hinaus ist bedeutsam, Zweiten gegenüber denjenigen des Ersten
dass die geförderten Kinder aus dem Mil- Weltkrieges. Dabei entsprach der Prozent-
waukee-Projekt im Vergleich zur Kontroll- rang 83 der früheren Generation in etwa dem
gruppe trotz besserer Intelligenztestwerte Prozentrang 50 der späteren (Tuddenham,
keine besseren Schulleistungen erbringen 1978). Im Weiteren haben Garfinkel und
konnten, dafür aber im sozialen Umgang Thorndike (1976) aufgezeigt, dass mit weni-
schwieriger waren. Beide Beobachtungen gen Ausnahmen die Items des Binet-Tests von
sprechen gegen eine echte Intelligenzerhö- der 1930er- zu der 1970er-Standardisierung
hung trotz intensivster Frühförderung. Mög- wesentlich »leichter« geworden sind bzw. die
licherweise haben die Kinder des Milwaukee- Testteilnehmer deutlich leistungsfähiger.
Projekts lediglich im Laufe der Studien immer Besonders eindrucksvoll konnte Flynn
besser gelernt, Intelligenztestaufgaben zu be- (1984) in einer Sekundäranalyse von 73
187
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Arbeiten an insgesamt 7431 Testpersonen Um diese Botschaft ist seit den ersten Berich-
einen solchen Zuwachs nachweisen, wobei er ten eine kontroverse Diskussion entbrannt,
ein besonderes Augenmerk auf die Werte der die teils aus methodischen, teils aus theore-
Standardisierungs-Stichproben jeder Revi- tischen Gründen lehrreich ist. Schon die
sion des Stanford-Binet- und Wechsler-Tests Existenz des Effektes selbst wurde in Frage
legte. Dabei fand er heraus, dass zwischen gestellt, denn Flynn hat die Zuwächse nicht
1932 und 1978 – also in einem Zeitraum von direkt beobachtet, sondern aus den niedrige-
46 Jahren – der IQ der amerikanischen Be- ren Mittelwerten in neueren Tests gegenüber
völkerung um nicht weniger als 13,8 Punkte denjenigen in früheren nur erschlossen.
gestiegen ist. Inzwischen konnte dieser spek- Flynn, ein australischer Politologe, kam zu
takuläre Effekt, der mittlerweile den Na- seinen Schlussfolgerungen aufgrund der in
men seines Entdeckers trägt, auch in vielen Testmanualen publizierten Normen und
anderen Ländern und gestützt auf ande- Validierungsstudien. Ein Beispiel soll seinen
re Tests beobachtet werden (c Abb. 4.15). Ansatz erläutern. Angenommen, eine Stich-
Dem »Flynn-Effekt« zufolge steigt der durch- probe von 15-jährigen Probanden bearbei-
schnittliche IQ seit ca. 1920 alle 10 Jahre um tete 1947 den Wechsler-Intelligenz-Test für
ca. 5 IQ-Punkte. Kinder in der Normierung von 1947 und
gleichzeitig auch den Wechsler-Bellevue-Test
in der Normierung von 1932. Solche verglei-
100 r{ z
r
chenden Untersuchungen einer neueren mit
einer älteren Testversion sind üblich, um
{
sicher zu stellen, dass der neue Test dieselben
90 r Konstrukte wie der ältere erfasst. Die Pro-
IQ-Werte
50
60
70
80
90
00
19
19
19
19
19
19
20
188
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
derts aufgrund ihrer niedrigen Intelligenz Kindern zwar eine Mehrleistung von ca. 5
nicht die eigenen Spieler von denen der IQ-Punkten in einer früheren gegenüber
gegnerischen Mannschaft unterscheiden einer neu revidierten Form eines Intelli-
und auch die Regeln nicht kennen können, genztests auftrat (¼ Flynn-Effekt), die
was natürlich ganz unplausibel ist. Mittelwerte in einem Test zur Bestimmung
Wenn dem Flynn-Effekt also nicht eine der Geschwindigkeit der Informationsver-
Zunahme an Intelligenz zugrunde liegt, mes- arbeitung hingegen identisch waren.
sen dann Intelligenztests womöglich gar l Die zunehmende Reisetätigkeit vieler
nicht »die Intelligenz«? Tatsache ist, dass Menschen führt zu häufigeren Partner-
Intelligenztests interindividuelle Unterschie- schaften zwischen genetisch weiter ent-
de »intelligenten Verhaltens« im jeweiligen fernten Menschen, die aus unterschiedli-
zeitlich-kulturellen Kontext erfassen, keines- chen Regionen und Kontinenten stam-
falls aber einen absoluten Wert wie auf einer men. Deren Nachkommen wird eine
Verhältnisskala. höhere Leistungsfähigkeit in verschiede-
Es sind viele Faktoren diskutiert worden, nen Merkmalen zugeschrieben (»hybride
die dem Flynn-Effekt zugrunde liegen könn- Dominanz«). Mingroni (2004) sieht in
ten: hybrider Dominanz die Ursache für den
Flynn-Effekt und verweist auf zahlreiche
l Eine verbesserte Ernährung kommt als Phänomene, die parallel zu den IQ-Zu-
alleinige Erklärung u. a. deshalb kaum wächsen eine ähnliche Entwicklung auf-
in Betracht, da der Effekt in westlichen wiesen (darunter Körpergröße, Wachs-
Ländern ganz ähnlich ausgefallen ist wie tumsrate, Kurzsichtigkeit, Asthma und
in afrikanischen. Autismus).
l Einer Erklärung im Sinne allgemein ver- l An fast einer Million Wehrpflichtiger, die
besserter schulischer und elterlicher Anre- seit den 1950er Jahren in Norwegen ge-
gungsbedingungen steht die Beobachtung mustert wurden, sind nach IQ-Zunahmen
im Weg, dass die Zuwächse in den sozia- bis in die frühen 70er Jahre zuletzt keine
lisationsabhängigen, kristallisierten In- IQ-Zuwächse mehr festgestellt worden
telligenzkomponenten erwartungswidrig (Sundet et al., 2004), was ähnlichen
geringer sind als in den kulturunabhängi- Trends in anderen Ländern Skandinaviens
gen, fluiden Intelligenzkomponenten (zu entspricht (s. Teasdale & Owen, 2000).
den Ausnahmen, s. Teasdale & Owen, Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen,
2000; Must et al., 2003). Darüber hinaus bedeutet das eine weitere Facette in dem
ist es im Untersuchungszeitraum parallel faszinierenden Puzzle des Flynn-Effektes.
zu den IQ-Steigerungen zu einer monoto- l Die einfachste Erklärung geht dahin, dass
nen Abnahme in den Leistungen im Scho- durch kulturelle Vorgänge die Items im
lastic-Aptitude-Test gekommen (ein in Laufe der Zeit immer leichter werden,
den USA seit 1901 gebräuchlicher Stu- weil beispielsweise bestimmte Inhalte
dierfähigkeitstest, mit dem Hunderttau- mehr und mehr zum allgemeinen Wissen
sende von Schülern untersucht werden). gehören (engl. »test-wiseness«). Dieses ist
l DieGeschwindigkeit derInformationsver- der Grund, weshalb Intelligenztests stets
arbeitung könnte durch zunehmende Er- nach etwa zehn Jahren neu normiert
fahrung und Übung mit technischen Gerä- werden sollten.
ten und bei der Kommunikation zugenom-
men haben. Nach Nettelbeck und Wilson Der Flynn-Effekt bleibt ein Rätsel der Diffe-
(2004) ist dies aber vermutlich nicht aus- rentiellen Psychologie und übt auf viele For-
schlaggebend, da in einer Stichprobe von scher eine große Faszination aus. Die Ameri-
189
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
can Psychological Association hielt zu diesem »The American Psychological Association’s book
Thema eigens eine Konferenz ab, auf der which addresses the continuing conundrum of the
Flynn effect contains a good range of opinion:
verschiedene Experten ihre Standpunkte und from those who think there has been a real rise in
Erklärungsversuche erläuterten, freilich ohne recent decades (usually citing better nutrition as
einenKonsenszurNaturdieses Phänomenszu the key factor) to those who think the Flynn effect
finden. Im Nachgang zu der Konferenz er- is an artefact (more educational toys and TV
schien ein Buch mit den Beiträgen dieser Ex- programs, etc.) or something more complex. What
I can tell you is that this book assembled an
perten(Neisser,1998);zudiesemBuchschrieb impressive list of relevant international researchers
Deary (2001, p. 113) eine Anmerkung, die and none has a convincing explanation of the
sicherlich auch heute noch Gültigkeit hat: ›rising IQ‹.«
Fasst man die Befunde zur zeitlichen Stabilität und Veränderung von Intelligenz
zusammen, so muss eine Unterscheidung gemacht werden zwischen der Stabilität von
Messwerten und der Stabilität von Personenunterschieden in Messwerten. Die erste lässt
sich untersuchen, indem die Mittelwerte einer Variablen als Funktion des Lebensalters
betrachtet werden, wobei hier wiederum zwischen Querschnitt- und Längsschnittunter-
suchungen getrennt werden kann. Hier zeigen sich dann durchschnittlich Zu- und
Abnahmen in der betrachteten Variablen für unterschiedliche Alterskategorien. Die zweite
Form der Stabilität wird hingegen untersucht, indem die Korrelation der Messwerte nach
einer Messwiederholung berechnet wird. Diese Test-Retest-Korrelation informiert über
das Ausmaß der differentiellen Stabilität. Mit Blick auf die Intelligenzforschung hat sich
nun bei einer Kombination von Quer- und Längsschnittstudien gezeigt, dass die
durchschnittliche Intelligenz über das Kinder- und Jugendalter bis zum frühen Erwach-
senenalter rasch zunimmt und danach nur noch langsame Veränderungen über die
Lebensspanne auftreten. Dabei handelt sich einerseits um eine stetige Abnahme in
Bereichen der fluiden Intelligenz zwischen 25 und 80 Jahren und andererseits um eine
Zunahme in Bereichen der kristallisierten Intelligenz von 25 bis 40 Jahren und einer sich
anschließenden Stabilität bis ins hohe Lebensalter. Hinsichtlich der differentiellen
Stabilität konsolidieren sich individuelle Unterschiede in der Intelligenz ab einem Alter
von etwa 10 Jahren. Danach bleibt die Intelligenz differentiell sehr stabil mit Test-Retest-
Korrelationen von 0,90 oder darüber bei einem Zeitintervall von 10 Jahren oder kürzer.
Diese hohe differentielle Stabilität lässt bereits vermuten, dass eine systematische
Verbesserung der Intelligenz durch entsprechende Trainings ein schwieriges Unterfangen
darstellt. Tatsächlich zeigen die empirischen Befunde einen kurzfristig erhöhten Intelli-
genzquotienten, wobei schon kurze Zeit später kein echter Intelligenzzuwachs nachweis-
bar ist – selbst bei äußerst intensiven Trainings. Dieser Interventionsresistenz steht eine
(unbeabsichtigte) Veränderung der Durchschnittsintelligenz entgegen – gemeint ist die
Beobachtung, dass sich der Intelligenzquotient in den westlichen Industrieländern seit den
1920er Jahren alle 10 Jahre um ca. 5 IQ-Punkte erhöht hat. Für einen Beobachtungszeit-
raum von 100 Jahren ergäbe dies einen Intelligenzzuwachs von 50 Punkten. Dieses als
»Flynn-Effekt« bezeichnete Phänomen gibt der Psychologie bis heute ein großes Rätsel auf,
da alle Versuche einer überzeugenden Erklärung für diesen Intelligenzzuwachs gescheitert
sind.
190
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
4.5 Geschlechtsunterschiede
Der Staffeltest (s. Abschn. 1.3.4) wurde von gefasst und berichten einen Geschlechtsunter-
Binet zunächst einmal konstruiert, ohne dass schied im Mittelwert der Intelligenztestwerte
er sich dabei Gedanken zu etwaigen Ge- zugunsten von männlichen Probanden, der
schlechtsunterschieden der Intelligenz ge- mit zunehmendem Alter immer größer wur-
macht hätte. Erst nach einer Übertragung de. So betrug die Geschlechtsdifferenz bei den
dieses Tests in den US-amerikanischen 6 bis 14 Jahre alten Kindern nur 0,3 IQ-
Sprachraum durch Terman (1916) hat die- Punkte, im Alter von 15 bis 19 Jahren war
ser eine empirische Untersuchung zu Ge- diese Differenz bereits 2,4 Punkte groß, und
schlechtsunterschieden anhand der amerika- bei Erwachsenen betrug der Unterschied
nischen Normierungsdaten des Tests durch- schließlich 4,5 IQ-Punkte. In einer weiteren
geführt. Er konnte dabei einen nur geringfü- Meta-Analyse von Ergebnissen mit dem Ra-
gigen Leistungsvorteil zugunsten der ven-Test, die in 22 Studien mit Universitäts-
Mädchen aufzeigen, dem er keine praktische studenten angefallen waren, untersuchten
Bedeutung beimaß. In einer späteren Revi- Irwing und Lynn (2005) auch zusätzlich
sion dieses Tests zeigten sich allerdings bei Geschlechtsunterschiede in der Varianz der
einigen neu untersuchten Aufgaben deutliche Intelligenztestwerte. Dabei zeigte sich neben
Geschlechtsunterschiede: Diese Aufgaben den schon beobachteten Mittelwertunter-
wurden als unfair bewertet und für die schieden eine größere Varianz zugunsten der
Endfassung des Tests ausgeschlossen (Ter- Frauen in Testwerten der »Standard Progres-
man & Merrill, 1937). Wechsler (1944) sive Matrices« (SPM). Die Generalisierbar-
schloss sich später bei der Konstruktion keit dieses letzten Befundes wird allerdings
seines ersten Intelligenztests dieser Praxis dadurch eingeschränkt, dass Universitätsstu-
an, so dass nun in den gängigen Tests zur denten sicherlich nicht die volle Variations-
Messung der Allgemeinen Intelligenz keine breite der Intelligenz aufweisen.
nennenswerten Geschlechtsunterschiede auf- Eine hinsichtlich der Repräsentativität
traten. Deshalb konnten nachfolgende Auto- vorbildliche Studie wurde von Nyborg
ren auch schreiben: »Intelligenz im Sinne (2005) durchgeführt, der mit Hilfe von Zu-
dieser Tests ist nur das, was beide Geschlech- fallsziehungen aus dem Melderegister eine
ter gleich gut können« (Merz, 1979, S. 132). Stichprobe von dänischen Kindern und Ju-
Dabei darf aber nicht übersehen werden, gendlichen gezogen und mit einer breit auf-
dass die Gleichheit der Geschlechter hier gebauten Intelligenztestbatterie untersucht
keine A-priori-Festsetzung im Sinne einer hat. Anhand der Testergebnisse berechnete
»political correctness« ist, sondern zunächst er für jeden Probanden einen Wert für Allge-
einmal dem empirischen Befund von Terman meine Intelligenz. Die Jungen wiesen einen
(1916) entspricht. um durchschnittlich 7,2 Punkte höheren IQ
Nachfolgende Untersuchungen zeichnen auf als die Mädchen. Auch zeigten in dieser
ein etwas anderes Bild, wobei zunächst auf Stichprobe die Jungen eine größere Varianz
Befunde mit den Matrizentests von Raven als die Mädchen. Die Abbildung 4.16 veran-
eingegangen wird, da dieser Test ein gutes schaulicht das Ergebnis.
Maß für die Allgemeine Intelligenz darstellt Zwar überlappen sich die beiden Intelli-
(s. Abschn. 4.3.1). In einer Meta-Analyse genzverteilungen für Jungen und Mädchen
haben Lynn und Irwing (2004) die Daten aus weitgehend, aber am oberen Rand der Ver-
insgesamt 48 Einzelstudien mit den »Advan- teilungen führt die etwas größere Häufigkeit
ced Progressive Matrices« (APM) zusammen- von Jungen zu einer massiven Verschiebung
191
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
0,5 Mädchen 10
Jungen
Quotient Jungen/
0,4 Mädchen 8
Relative Häufigkeit
0,3 6
Quotient
0,2 4
0,1 2
0 0
–3 –2 –1 0 1 2 3
Allgemeine Intelligenz g in Standardabweichungen um den Mittelwert
Abb. 4.16: Häufigkeitsverteilungen der Allgemeinen Intelligenz (g) von Mädchen und Jungen sowie das
Geschlechtsverhältnis in Abhängigkeit von der Intelligenz (nach Nyborg, 2005). Jungen
hatten einen Mittelwert von g ¼ 0,23 (s2 ¼ 1,06; N ¼ 90) und Mädchen von g ¼ -0,23 (s2 ¼ 0,86;
N ¼ 91).
des Geschlechtsverhältnisses zu deren Guns- schlechtsgruppe der Frauen. Zum einen fin-
ten. So kann beispielsweise aus den empirisch den sich in Kliniken häufiger männliche als
ermittelten Zusammenhängen zwischen Ge- weibliche Probanden mit geistigen Beein-
schlechtsverhältnis und Intelligenz abgeleitet trächtigungen oder leichten Hirnschädigun-
werden, dass auf ein Mädchen mit einem IQ gen (Eisenson, 1965), desgleichen in Sonder-
von 145 (entspricht drei Standardabwei- schulen mehr Jungen, wo Mädchen mit
chungen über dem Mittelwert) mehr als acht gleicher Begabung nicht selten den regulären
Jungen mit derselben Intelligenz kommen, Unterricht besuchen (Dönhoff & Itzfeld,
also im Bereich der Hochbegabung mit deut- 1976; Kerkhoff, 1980). Zum anderen befan-
lich mehr Männern als Frauen gerechnet den sich in der Stanford-Hochbegabten-
werden muss. Untersuchung unter den Kindern mit einem
Der Befund einer größeren Varianz zu- IQ ab 170 47 Jungen und nur 34 Mädchen;
gunsten von Männern steht im Einklang in dem Marburger Hochbegabten-Projekt
mit den beiden von Anastasi (1966, S. 459) waren von den 107 »stabil Hochbegabten«
referierten Untersuchungen von nahezu (IQs zwischen 127 und 156) 58 % männlich
vollständigen Grundgesamtheiten elfjähriger und nur 42 % weiblich (Rost, 2000). Diese
Schüler in Schottland. Bei diesen Kindern fiel Überrepräsentation von Männern im unte-
die Varianz bei den Jungen um ca. 10 % ren und oberen Bereich der Intelligenzvertei-
höher aus als bei den Mädchen. Darüber lung entspricht einer größeren Varianz der
hinaus verweisen unterschiedliche Beobach- Intelligenz in dieser Geschlechtsgruppe.
tungen darauf, dass es bei Männern ver- Darüber hinaus liefert die Empirie auch
gleichsweise mehr Personen mit Minder- Hinweise dafür, dass in spezifischen Funk-
oder Hochbegabung gibt als in der Ge- tionsbereichen systematische Geschlechter-
192
4 Modellierung von Intelligenzstruktur
Verbale Fähigkeiten
Mathematische Fähigkeiten
Räumliche Fähigkeiten
Naturwissenschaftliche Fähigkeiten
Allgemeine Intelligenz
5 0 5 10
zugunsten zugunsten
von Frauen von Männern
Mittelwertsunterschiede in IQ-Punkten
Abb. 4.17: Ergebnisse einer Übersicht über neun Meta-Analysen zu Geschlechtsunterschieden in der
Intelligenz. Die Balken zeigen die Spannweite der berichteten Unterschiede in IQ-Punkten
(nach Hyde, 2005a).
193
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Die Befundlage erlaubt zunächst einmal den Schluss, dass es keinen massiven Geschlechts-
unterschied in der allgemeinen Intelligenz gibt – dieser wäre längst empirisch zutage
getreten, trotz aller Unzulänglichkeiten der Datenlage. Einige Tendenzen zeichnen sich
allerdings mit einer gewissen Konsistenz über die einzelnen Studien hinweg ab. So legen die
Daten erstens nahe, dass die Intelligenz in der Gruppe der Männer eine größere Varianz
aufweist als bei den Frauen, was an den beiden Enden der Verteilung zu einer überpro-
portionalen Präsenz von Männern führt. Zweitens scheinen die Frauen im Bereich von
verbalen Fähigkeiten eine größere Leistungsfähigkeit von durchschnittlich bis zu 5 IQ-
Punkten aufzuweisen, während die Männer einen entsprechenden Vorteil im Bereich der
räumlichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von durchschnittlich bis zu 10 IQ-
Punkten haben. Eine empirische Konsolidierung dieser Tendenzen steht allerdings noch
aus, genauso wie eine überzeugende Erklärung dieser Unterschiede.
194
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Die Strukturforschung der Intelligenz liefert ein Bild davon, wie sich die Ergebnisse in den
unterschiedlichsten Leistungstests hierarchisch einem Faktor der Allgemeinen Intelligenz
unterordnen lassen. Wieso aber unterscheiden sich die Testleistungen der Probanden
überhaupt? Mit dieser Frage beschäftigten sich sowohl experimentelle Untersuchungen
(5.1) als auch psychophysiologische Studien (5.2) und lieferten dabei wichtige Erkennt-
nisse, die das Konstrukt »Intelligenz« weit jenseits der Möglichkeiten der traditionellen
faktorenanalytischen Forschung aufzuhellen vermögen. Neben diesen Ansätzen, die im
Kern auf die Ursachen von Intelligenzunterschieden zielen, beschäftigte sich eine andere
Fragestellung damit, welche Konsequenzen die Intelligenzunterschiede im Lebensalltag mit
sich bringen (5.3). Die Befunde verweisen auf Intelligenz als substantiellen Prädiktor für den
Schul- und Berufserfolg, ohne freilich diese Leistungsunterschiede im praktischen Leben
vollständig erklären zu können. Auf diese Lücke zielen dann sowohl die Bemühungen, der
psychometrischen Intelligenz eine »Praktische Intelligenz« an die Seite zu stellen (5.4), als
auch das Unterfangen, die psychometrische Intelligenz auf vielfältige Weise durch andere
Formen der Intelligenz zu ergänzen (5.5).
5.1 Prozessmodelle
Nach einem Jahrhundert der Erforschung 4.3.7). Die große Herausforderung für die
der Struktur von Intelligenztestleistungen Intelligenzforschung besteht nun in der
besteht ein gewisser Konsens dahingehend, Suche nach den Kausalursachen für indivi-
dass sich die generell positiven Korrelationen duelle Unterschiede in diesen Intelligenzfak-
zwischen den unterschiedlichsten Intelligenz- toren (Jensen, 2005). Dabei suchen die For-
testaufgaben durch eine hierarchische Struk- scher sowohl nach kognitiven Prozessen als
tur repräsentieren lassen. Die »Three Stra- auch nach physiologischen Eigenschaften des
tum«-Theorie von Carroll (s. 1993, für eine Gehirns zur Erklärung dieser Unterschiede
Diskussion dieser Alternativerklärungen, (Jensen, 1998).
und die dort zitierte Literatur) kann als ein Alle Punktwerte, wie sie in den gängigen
Kompendium dieser Strukturforschung auf- Testverfahren zur Erfassung intelligenten
gefasst werden, wobei verschiedene Intelli- Verhaltens ermittelt werden, liefern Auf-
genzfaktoren auf unterschiedlichen Abstrak- schluss über die Höhe einer Leistung. Diese
tionsebenen angeordnet sind (s. Abschn. Punktwerte informieren allerdings nicht
195
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
über die kognitiven und physiologischen scher versuchte, die zum Lösen von Intelli-
Prozesse, die ihr Zustandekommen ermög- genztestaufgaben benötigten mentalen Ope-
lichen oder verhindern. Zur Identifikation rationen in Analogie zu einem Computer-
solcher Prozesse bedarf es anderer als der programm zu identifizieren. Dafür zerlegte
bisher besprochenen korrelationsstatisti- er den Problemlöseprozess in einzelne Kom-
schen Ansätze, nämlich einer experimentel- ponenten (gewissermaßen »Denkschritte«)
len Herangehensweise (s. Abschn. 2.1.5). und versuchte dann durch Experimente
Dabei zielten die Forschungsbemühungen herauszufinden, in welchen dieser Kompo-
vor allem auf eine Erklärung der allgemei- nenten sich hochintelligente und niedrigin-
nen Intelligenz g. Den theoretischen Rah- telligente Problemlöser unterscheiden. Da-
men liefern dabei Modelle der menschlichen bei konzentrierte er sich auf Aufgaben zum
Informationsverarbeitung, die zunächst an induktiven Denken, bei denen nach Analo-
der Computermetapher orientiert waren. gien gesucht werden muss (wie z. B. »Baum
Eine Übersicht über solche Modelle der verhält sich zu Wald wie Grashalm zu?«).
Intelligenz liefert Floyd (2005). Aus der Einige von Sternberg verwendete Beispiel-
Fülle der Modelle soll hier ein prominenter aufgaben sind in Abbildung 5.1 dargestellt.
Ansatz vorgestellt werden, der eine vielver- Die Abbildung 5.2 zeigt das Flussdiagramm
sprechende Prozessanalyse ermöglichen für die Komponenten, so wie sie nach
sollte, nämlich der Komponenten-Ansatz Sternberg im Problemlöseprozess für diese
von Robert Sternberg (1977). Dieser For- Aufgaben auftreten sollen.
Abb. 5.1: Beispiele für Aufgaben zum induktiven Denken nach dem A:B ¼ C:D-Typ aus den Experimenten
von Sternberg (1977, S. 180, 223, 257).
196
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
197
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
und Funktionen der »Komponenten« etwas tegien lösen können – andernfalls könnten
Beliebiges, so dass verschiedene Forscher hier Reaktionszeitunterschiede zwischen Perso-
zu recht unterschiedlichen Komponenten- nen neben der Geschwindigkeit der Informa-
Modellen kamen. Darüber hinaus zeigten tionsverarbeitung auch Unterschiede in den
sich die Komponenten als hoch korreliert – verwendeten Strategien abbilden. Diese
was der Idee widerspricht, dass es sich hierbei einfachen Aufgaben werden als »elementare
um distinkte Operationen im Problemlöse- kognitive Aufgaben« (engl. »elementary cog-
prozess handelt. Diese hohen Korrelationen nitive tasks« [ECT]) bezeichnet. In einer
lassen vermuten, dass es unabhängig von der hervorragenden Übersicht über solche Auf-
konkreten Operation bzw. der »Software« gaben und die Zusammenhänge mit der
einen übergeordneten Faktor gibt, der mög- allgemeinen Intelligenz unterscheiden Neu-
licherweise etwas mit der generellen Ge- bauer und Fink (2005) vier Aufgabentypen.
schwindigkeit oder Kapazität der Informa- Beim »Inspektionszeit-Paradigma« wird
tionsverarbeitung und damit letztlich etwas der Versuchsperson ein Reiz mit zwei verti-
mit der Leistungsfähigkeit der »Hardware« kalen Linien unterschiedlicher Länge gezeigt.
zu tun haben könnte. Die folgenden Ab- Nach nur wenigen Millisekunden erfolgt eine
schnitte werden den Weg über die mentale Maskierung dieses Reizes durch Darbietung
Geschwindigkeit und die Kapazität des eines neuen Reizes, der anstelle der unter-
Arbeitsgedächtnisses bis hin zum Gehirn schiedliche langen Linien nun zwei vertikale
aufzeigen, den die Forschung zur Erklärung Linien derselben Länge beinhaltet. Die
von Intelligenzunterschieden genommen hat. Abbildung 5.3 zeigt einen solchen Reiz und
seine Maske. Die Versuchsperson muss so-
dann entscheiden, welche der beiden Linien
5.1.1 Mentale Geschwindigkeit länger ist. In mehreren Versuchsdurchgängen
und »Elementary wird das zeitliche Intervall zwischen Reiz und
Cognitive Tasks« Maske variiert, typischerweise in einem Be-
reich zwischen 10 und 200 ms. Je kürzer die
Im Unterschied zum Komponenten-Ansatz Darbietungszeit ist, desto schwieriger wird
zielt ein alternatives Forschungsprogramm es, die Längen der beiden Linien des Reizes zu
nicht auf spezifische Schritte der Informa- beurteilen. Wenn ausreichend viele Versuchs-
tionsverarbeitung als Erklärung für Leis- durchgänge erfolgt sind, kann aus den Reak-
tungsunterschiede in Intelligenztests, son- tionen der Versuchsperson ermittelt werden,
dern auf eine globale Eigenschaft des kogni- welche Zeitspanne die Person durchschnitt-
tiven Informationsverarbeitungssystems: die lich benötigt, um diese visuelle Diskrimina-
Geschwindigkeit, mit der es Information tionsaufgabe mit 95 % korrekten Antworten
verarbeiten kann, egal mit welchen Opera- zu lösen. Dieses Zeitspanne ist die individu-
tionen es dabei beschäftigt ist. Diese Ver- elle Inspektionszeit der Versuchsperson. Aus
arbeitungsgeschwindigkeit wird auch als zahlreichen Studien ist bekannt, dass diese
»mentale Geschwindigkeit« (engl. »mental Inspektionszeit einen konsistenten und nega-
speed« [MS]) bezeichnet und mit Hilfe von tiven Zusammenhang zur Intelligenz auf-
Reaktionszeiten bei Aufgaben gemessen, die weist: Je schneller den Personen die Diskri-
auf einen visuellen oder auditorischen Reiz minierung gelingt, desto intelligenter sind sie.
eine einfache Reaktion, Auswahl oder Ent- So führten beispielsweise Grudnik und
scheidung verlangen (Jensen, 2005). Dabei Kranzler (2001) eine Meta-Analyse von 62
müssen diese Aufgaben in ihren Anforderun- entsprechenden Einzelstudien durch, in die
gen so einfach sein, dass unterschiedliche Daten von über 4100 Versuchspersonen ein-
Personen diese nicht mit verschiedenen Stra- gingen. Für die Inspektionszeit und Intelli-
198
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
genz zeigte sich eine Korrelation von r ¼ pen verwendet, handelt es sich um eine
–0,30, die sich auf r ¼ –0,51 erhöhte, wenn Wahlreaktionsaufgabe mit 1 Bit visueller
statistische Korrekturen gegen Unreliabilitä- Information. Bei vier Lampen erhöht sich
ten der Maße und Varianzeinschränkungen die zu verarbeitenden visuellen Informations-
der Stichproben durchgeführt wurden. menge auf 2 Bit und erreicht bei allen acht
Lampen schließlich 3 Bit. Dabei erhöhen sich
die Reaktionszeiten systematisch, bei acht
Lampen dauern die Reaktionen durch-
schnittlich doppelt so lang wie bei vier Lam-
pen, bei denen die Reaktionen wiederum
doppelt so lange dauern als bei zwei Lampen
usw. In einer Übersicht von 33 Studien mit
diesem Paradigma, in die die Daten von über
2300 Versuchspersonen eingingen, berich-
Abb. 5.3: Typischer Reiz (links) und Maske (rechts) tete Jensen (1987) durchschnittliche Korre-
bei einer Elementaren Kognitiven Auf- lationen von –0,12 bis –0,28 zwischen ver-
gabe zur Bestimmung der Inspektions-
schiedenen Reaktionszeitmaßen und der
zeit.
Intelligenz. Je schneller die Reaktionen er-
folgten, desto intelligenter waren die Ver-
Ein anderer und ebenfalls häufig verwendeter suchspersonen.
Versuchsaufbau ist das »Hick-Paradigma«,
in dem einfache Reaktionsaufgaben mit
Wahlreaktionsaufgaben kombiniert werden.
Der Name dieses Paradigmas geht auf Hick
zurück, der einen linearen Zusammenhang
zwischen der in einer Wahlreaktionsaufgabe
von der Versuchsperson zu verarbeitenden
Informationsmenge und ihrer Reaktionszeit
entdeckt hatte (Hick, 1952). Typischerweise
wird für die Durchführung des Hick-Para-
digmas ein Gerät verwendet, wie es in Ab-
bildung 5.4 zu sehen ist. Es besteht aus acht
Lampen, die halbkreisförmig angeordnet
sind. In der Mitte des Halbkreises sowie an
jeder Lampe befindet sich eine Taste. Vor
jedem Versuchsdurchgang legt die Versuchs-
person den Zeigefinger ihrer dominanten Abb. 5.4: Reaktionsapparat einer Elementaren
Kognitiven Aufgabe zur Bestimmung
Hand auf die mittlere Taste (den »Home-
der Reaktionszeit mit dem Hick-Para-
Button«). Anschließend leuchtet eine der digma. Nach Jensen (1998, S. 212).
Lampen auf. Die Versuchsperson muss nun
so schnell wie möglich ihren Finger vom
Home-Button wegnehmen und die Taste Während diese beiden Paradigmen die Wahr-
drücken, an der die Lampe leuchtet. Wird nehmungsgeschwindigkeit von visuellen In-
bei dieser Apparatur nur eine Lampe ver- formationen messbar machen, zielt ein ande-
wendet, handelt es sich um eine einfache rer Aufgabentyp auf die Geschwindigkeit,
Reaktionsaufgabe – der visuelle Reiz beinhal- mit der Informationen aus dem Kurzzeitge-
tet 0 Bit an Information. Werden zwei Lam- dächtnis abgerufen werden können bzw. das
199
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Kurzzeitgedächtnis nach bestimmten Infor- digma«) kann schließlich auch die Geschwin-
mationen durchsucht werden kann. In einem digkeit des Auslesens aus dem Langzeitge-
von Saul Sternberg (1966, 1969) entwickel- dächtnis bestimmt werden. Hierfür bekom-
ten Paradigma (»Sternberg-Paradigma«) men die Versuchspersonen Buchstabenpaare
werden der Versuchsperson in mehreren gezeigt, die entweder physikalisch identisch
Versuchsdurchgängen zufällige Zahlenfol- (»AA«), semantisch identisch, aber physika-
gen gezeigt, die in ihrer Länge zwischen lisch unterschiedlich (»Aa«) oder aber se-
einer und sechs Ziffern variieren. Jede die- mantisch unterschiedlich (»Ab«) sein kön-
ser Zahlenfolgen bildet eine »Behaltensein- nen. In einer Versuchsbedingung beurteilen
heit« (engl. »memory set«). Nach Darbie- die Versuchspersonen die physikalische
tung einer Behaltenseinheit bekommt die Gleichheit der beiden Buchstaben (»Sehen
Versuchsperson jeweils eine weitere Ziffer die beiden Buchstaben gleich aus? – Ja/
präsentiert und muss, so schnell sie kann, Nein«), in einer anderen Bedingung beurtei-
entscheiden, ob diese Ziffer Bestandteil der len sie die semantische Gleichheit (»Haben
Behaltenseinheit war oder nicht. Allgemein die beiden Buchstaben denselben Namen? –
erhöht sich die Reaktionszeit einer Versuchs- Ja/Nein«). Während die erste Bedingung
person linear mit der Anzahl der Ziffern in lediglich eine physikalische Reizunterschei-
der Behaltenseinheit, was auf eine serielle dung erfordert, muss in der zweiten Bedin-
Durchsuchung dieser Ziffernfolgen hinweist. gung ein Abrufen von Informationen aus
Aus den Reaktionszeitdaten lässt sich be- dem Langzeitgedächtnis erfolgen (nämlich
rechnen, in welchem Ausmaß die Reaktions- Informationen über die Namen der Buchsta-
zeit pro zusätzlichem Buchstaben der Behal- ben). Die Reaktionszeitdifferenz zwischen
tenseinheit zunimmt, was ein Maß für die beiden Bedingungen sollte die Zeit wider-
Dauer des »Auslesens« (engl. »retrieval«) spiegeln, die für das Auslesen aus dem Lang-
von relevanter Information aus dem Ge- zeitgedächtnis erforderlich ist. In einer wei-
dächtnis darstellt. Mit diesem Maß lässt sich teren Meta-Analyse von Studien mit dem
weiter bestimmen, wie schnell die Reaktio- Posner-Paradigma, in der die Ergebnisse von
nen bei rechnerisch null Ziffern der Behal- elf Studien mit mehr als 1000 Versuchsper-
tenseinheit sind (indem von der Reaktionszeit sonen ausgewertet wurden, berichtete Neu-
bei einer Behaltenseinheit mit nur einem bauer (1995, 1997) erneut negative Korrela-
Buchstaben die Reaktionszeiterhöhung pro tionen zwischen den Reaktionszeiten und der
zusätzlichem Buchstaben abgezogen wird). Intelligenz. Die Zusammenhänge bewegen
Dieses Maß sollte die Dauer der Enkodierung sich je nach Versuchsbedingung und berech-
(Einprägung) der Reize sowie die motorische netem Reaktionszeitmaß zwischen –0,23 und
Reaktionsgeschwindigkeit abbilden. –0,33. Auch hier sind intelligentere Versuchs-
Nach einer Meta-Analyse von zehn Ein- personen wieder einmal schneller.
zelstudien mit insgesamt mehr als 900 Ver- In der Zusammenschau verweisen diese
suchspersonen fand Neubauer (1995, 1997) Befunde zu ECTs auf einen hoch konsisten-
eine durchschnittliche Korrelation zwischen ten Zusammenhang zwischen mentaler Ge-
der Reaktionszeit im Sternberg-Paradigma schwindigkeit und psychometrischer Intelli-
und der Intelligenz in Höhe von r ¼ –0,27, genz, ganz unabhängig davon, ob mit den
wobei sich für die verschiedenen weiteren ECTs nun die Geschwindigkeit von visuel-
Maße Korrelationen zwischen –0,11 und – ler Wahrnehmung und Reizdiskrimina-
0,35 zeigten. Auch hier sind die intelligente- tion gemessen wird oder ob das Enkodieren
ren Personen auch die schnelleren. und Auslesen von Informationen aus
Mit einem von Posner und Mitchell (1967) dem Kurz- oder Langzeitgedächtnis erfasst
vorgeschlagenen Paradigma (»Posner-Para- wird.
200
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
In einer Übersicht über mentale Geschwin- 1997). Dieser Einwand lässt allerdings außer
digkeit und Allgemeine Intelligenz nennt Acht, dass die meisten dieser Befunde mit
Jensen (2005) mehrere Faktoren, die einen studentischen Versuchspersonen erzielt wur-
Einfluss auf die Höhe der gefundenen Kor- den. Die damit einhergehende Einschrän-
relationen haben. kung der Varianz in den betrachteten Maßen
muss deren korrelative Zusammenhänge
l Die höchsten Korrelationen zeigen sich reduzieren (Neubauer & Fink, 2005). Tat-
bei Verwendung von Intelligenztests, die sächlich konnte in einigen Studien mit reprä-
keine Zeitbegrenzungen aufweisen. Bei sentativeren Stichproben und einer damit
diesen Tests haben die Versuchspersonen resultierenden größeren Variation in den
also beliebig Zeit, um die Aufgaben zu intellektuellen Fähigkeiten auch ein deutlich
lösen (diese Tests werden als »Power- größerer Zusammenhang zwischen mentaler
tests« bezeichnet). Die Korrelationen Geschwindigkeit und Intelligenz beobachtet
werden hingegen bei Tests mit Zeitbe- werden, der dann ein Ausmaß von ca. r ¼
grenzung für das Lösen der Aufgaben –0,50 erreichte (Neubauer & Bucik, 1996;
kleiner (»Speedtests«). Neubauer & Knorr, 1997, 1998). Wird
l Bei Verwendung von Intelligenztests, die schließlich eine Testbatterie von verschiede-
eine besonders hohe Ladung auf g auf- nen ECTs aufgestellt sowie eine Testbatterie
weisen, zeigen sich ebenfalls höhere Zu- psychometrischer Intelligenztests, so korre-
sammenhänge mit mentaler Geschwin- lieren die beiden generellen Faktoren, die sich
digkeit als bei Tests mit einer niedrigen g- aus jeder der beiden Testbatterien extrahieren
Ladung. Dies verweist darauf, dass die lassen, in einem Bereich zwischen –0,60 bis
mentale Geschwindigkeit in einem beson- –0,90 (Jensen, 2005). Diese Befunde verwei-
ders engen Zusammenhang mit g steht. sen insgesamt auf einen substantiellen, gro-
l Die Korrelation zwischen den Reaktions- ßen Varianzanteil in der Allgemeinen Intelli-
zeiten und der Intelligenz haben einen genz, der durch Unterschiede in der mentalen
umgekehrt U-förmigen Verlauf in Abhän- Geschwindigkeit erklärt werden kann.
gigkeit von der Komplexität der verwen- Ein weiterer Kritikpunkt zielt auf die
deten ECTs. Bei sehr einfachen oder sehr vermeintlich kausale Rolle der mentalen Ge-
schwierigen ECTs (mit mittleren Reak- schwindigkeit als Ursache für Intelligenz-
tionszeiten von 300 ms bzw. über 1200 unterschiede, da die Korrelationen zwischen
ms) sind die Zusammenhänge niedrig Reaktionszeiten in ECTs und psychometri-
(mit r ¼ –0,10 bis –0,30), bei mittel- scher Intelligenz natürlich auch noch alter-
schweren ECTs (mittlere Reaktionszeiten native Erklärungen zulassen (s. Abschn.
zwischen 500–900 ms) werden die Zu- 2.1.5). Beispielsweise könnten generelle
sammenhänge hingegen relativ groß (mit Unterschiede in der Leistungsmotivation
r ¼ –0,40 bis –0,50). zwischen den Versuchspersonen bestehen
mit der Folge, dass sich die leistungsmoti-
Die relativ niedrigen Korrelationen zwischen vierteren auch mehr anstrengen und deshalb
den Reaktionszeitmaßen und der psychome- bessere Ergebnisse sowohl in den ECTs als
trischen Intelligenz (die ja nur unter beson- auch in den Intelligenztests erzielen. Diese
deren Umständen einen Wert von –0,40 Alternativerklärungen wurden in einigen
überschreiten) wurden von einigen Autoren Untersuchungen überprüft, z. B. indem die
dahingehend kritisiert, dass individuelle Leistungsmotivation durch finanzielle Anrei-
Differenzen in der mentalen Geschwindigkeit ze experimentell manipuliert wurde. Die so
nur ca. 10 % der Varianz in der Intelligenz erzielten Befunde schließen allerdings diese
erklären würden (z. B. Stankov & Roberts, Alternativerklärungen aus, so dass die spar-
201
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
samste Erklärung für den konsistenten Zu- nisses von einzelnen Versuchspersonen zu
sammenhang zwischen mentaler Geschwin- bestimmen, wurde ein Vielzahl von Aufga-
digkeit und Intelligenz nach heutigem Er- ben vorgeschlagen. Eine umfassende Über-
kenntnisstand keine vermittelnden motiva- sicht über solche Aufgaben bietet Mackin-
tionalen oder kognitiven Variablen benötigt tosh (1998).
(s. Neubauer & Fink, 2005, für eine Diskus-
sion dieser Alternativerklärungen, sowie l Eine klassische Aufgabe ist der Untertest
die dort zitierte Literatur). Vielmehr wird »Zahlennachsprechen« aus dem Wechs-
dieser Zusammenhang von einigen Autoren ler-Intelligenztest (Wechsler, 1997). Da-
durch fundamentale Unterschiede in der bei werden den Versuchspersonen mehre-
neuralen Informationsverarbeitung erklärt re Ziffernfolgen vorgesprochen, die diese
(s. Abschn. 5.2). nachsprechen sollen. Die Untersuchung
beginnt mit einer kurzen Ziffernfolge, die
im Laufe der Untersuchung immer län-
5.1.2 Arbeitsgedächtnis ger wird, bis die Versuchsperson in zwei
hintereinander erfolgenden Durchgängen
In dem im vorangegangenen Abschnitt be- die Ziffernfolge nicht mehr korrekt wie-
schriebenen Sternberg-Paradigma wurde den derholen kann. Dabei muss die Versuchs-
Versuchspersonen eine Ziffernfolge präsen- person in einer Untersuchungsbedingung
tiert, die aus bis zu sechs Zahlen bestand. die Ziffern in der vorgesprochenen Rei-
Anschließend mussten die Versuchspersonen henfolge wiederholen, in einer anderen
entscheiden, ob eine bestimmte Zahl Teil Untersuchungsbedingung müssen die Zif-
dieser Ziffernfolge war oder nicht. Um diese fern in umgekehrter Reihenfolge nachge-
Aufgabe lösen zu können, mussten sich die sprochen werden. Als Ergebnis der ersten
Versuchspersonen also die Ziffernfolge kurz- Untersuchungsbedingung resultiert die
fristig merken, d. h., die Ziffernfolge wurde einfache Gedächtnisspanne, während die
im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Dabei ist zweite Untersuchungsbedingung ein Maß
dieser Gedächtnisspeicher kein passives Sys- für die Arbeitsgedächtniskapazität liefert.
tem im Sinne etwa eines Fotoapparates, bei l Einen anderen Aufgabentyp stellen Kopf-
dem ein statisches Bild der Ziffernfolge ge- rechenaufgaben dar, bei denen die Ver-
macht wird. Vielmehr kann mit den abge- suchspersonen sich fortlaufend Zwi-
speicherten Ziffern eine Reihe von Operatio- schenergebnisse merken und mit diesen
nen durchgeführt werden, wie z. B. das Ver- dann weiterrechnen müssen (Vernon &
gleichen oder Umstellen der Ziffern, aber Weese, 1993). Die Leistung in diesen Auf-
auch arithmetische Operationen im Sinne gaben ist ebenfalls ein Maß für die Kapa-
von Kopfrechnen sind möglich. Um dem zität des Arbeitsgedächtnisses, da die ein-
Umstand gerecht zu werden, dass die Inhalte zelnen Rechenoperationen sehr einfach
dieses Gedächtnissystems mental bearbeitet sind und die Schwierigkeit der Aufgabe
werden können, wird dieses Gedächtnissys- darin besteht, sich die Zwischenergeb-
tem als »Arbeitsgedächtnis« (engl. »working nisse zu merken.
memory«) bezeichnet (z. B. Baddeley, 2002). l Ein weiteres Paradigma ist die»Lesespan-
Die Anzahl der Elemente (wie z. B. von ne-Aufgabe« (engl. »reading-span task«)
Ziffern), die in diesem System gespeichert (Daneman & Carpenter, 1980). Dabei
und bearbeitet werden kann, ist limitiert. Die müssen die Versuchspersonen eine Folge
Kapazität des Arbeitsgedächtnisses wird von mehreren Sätzen laut vorlesen. Ihre
klassischerweise mit 72 angegeben (Miller, Aufgabe besteht darin, sich bei jedem Satz
1956). Um die Kapazität des Arbeitsgedächt- das letzte Wort zu merken. Nachdem der
202
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
letzte Satz vorgelesen ist, müssen sie dann sung der Arbeitsgedächtniskapazität erlaubt.
die behaltenen Wörter reproduzieren. Diese Frage kann einer empirischen Überprü-
Diese Aufgabe ist erstaunlich schwierig – fung nur zugeführt werden, wenn aus erprob-
die meisten Versuchspersonen haben eine ten Theorien des Arbeitsgedächtnisses (wie
Lesespanne von höchstens fünf Sätzen. z. B. dem Komponenten-Modell von Badde-
l Analog zu dieser Aufgabe gibt es auch ley, 2002) Kriterien für die Validität der
eine »Zuhörspanne-Aufgabe« (engl. »lis- Aufgaben abgeleitet werden. Bislang ist in
tening-span task«) (Daneman & Carpen- diesem Forschungsbereich jedoch noch nicht
ter, 1980). Den Versuchspersonen werden geklärt, was denn eine gute Arbeitsgedächt-
Sätze vorgelesen, und sie müssen sich von nisaufgabe auszeichnet (Beier & Ackerman,
jedem Satz das letzte Wort merken. An- 2005). Ein weiteres Problem stellt die in vielen
schließend müssen die Versuchspersonen Studien aufgetretene Überlappung der Inhal-
Auskunft zu den Inhalten der Sätze geben te von Arbeitsgedächtnis- und Intelligenz-
(dies soll sicherstellen, dass sie wirklich testaufgaben dar. In einer vielzitierten Stu-
zugehört haben), und schließlich sollen die von Kyllonen und Christal (1990) wur-
sie die behaltenen Wörter reproduzieren. den beispielsweise eine Kopfrechenaufgabe
(»8 : 4 ¼ ?«) als Test für die Arbeitsgedächt-
Es ist offensichtlich, dass beim Lösen von niskapazität und eine arithmetische Textauf-
Intelligenztestaufgaben das Arbeitsgedächt- gabe (»Pat hat letzte Woche in 5 Tagen
nis benötigt wird – bei praktisch jeder Intelli- 16 Stunden gearbeitet. Wie lang ist sein
genztestaufgabe müssen bestimmte Inhalte durchschnittlicher Arbeitstag?«) als In-
kurzfristig im Gedächtnis behalten und mit telligenzmaß verwendet. Die Autoren berich-
diesen mentale Operationen durchgeführt teten eine Korrelation zwischen Arbeitsge-
werden. Dementsprechend korreliert die dächtniskapazität und Intelligenz von über
Arbeitsgedächtniskapazität positiv mit g. In 0,80, die allerdings zumindest teilweise den
einer Meta-Analyse von 86 unabhängigen überlappenden Aufgabeninhalten geschuldet
Stichproben mit insgesamt mehr als 9700 Ver- sein kann. Schließlich ist ebenfalls evident,
suchspersonen berichteten Ackerman et al. dass die bislang durchgeführten Studien kor-
(2005) eine durchschnittliche Korrelation relativer Natur sind und keine Kausalaussa-
von r ¼ 0,32 zwischen den Arbeitsgedächtnis- gen zum Zusammenhang zwischen den
und Intelligenztests. Diese Korrelation erhöh- Konstrukten gestatten.
te sich auf r ¼ 0,50, nachdem die Autoren aus Unabhängig von diesen Einschränkungen
den Arbeitsgedächtnis- und Intelligenztests kann aber kein Zweifel bestehen, dass zwi-
mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen schen der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses
jeweils einen generellen Faktor extrahierten und der Allgemeinen Intelligenz ein positiver
und diese miteinander in Bezug setzten. Zusammenhang besteht. Bemerkenswert da-
Die genaue Größe des Zusammenhangs bei ist, dass Ackerman et al. (2005) in ihrer
zwischen der Kapazität des Arbeitsgedächt- Meta-Analyse auch den Zusammenhang
nisses und der psychometrischen Intelligenz zwischen Arbeitsgedächtnis und ECTs unter-
ist bislang strittig, denn die in einzelnen suchten; die Korrelation zwischen den beiden
Studien berichteten Zusammenhänge (die Leistungsbereichen betrug r ¼ 0,57. Jensen
bis r ¼ 0,90 erreichen können) und die (2005) hat eine theoretische Synthese die-
verwendeten Aufgaben und Tests zur Mes- ser beiden Befundlinien vorgeschlagen. Er
sung der Konstrukte sind zu unterschiedlich nimmt an, dass
(Schweizer, 2005). Besonders drängend
scheint hierbei die Frage zu sein, welcher l das Gehirn kapazitätslimitiert ist, also nur
Aufgabentyp eine besonders valide Mes- eine begrenzte Menge an Informationen
203
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
mit einer begrenzten Anzahl von Opera- mentaler Geschwindigkeit und Arbeitge-
tionen pro Zeiteinheit verarbeiten kann, dächtniskapazität an: Je schneller die Ver-
l die Information im Arbeitsgedächtnis arbeitung und je größer die Kapazität, desto
rasch zerfällt und nun effizienter kann das Gehirn mit Informatio-
l eine Person, die zu größerer Verarbei- nen umgehen – und desto intelligenter ist die
tungsgeschwindigkeit fähig ist, mehr Person. Diese Überlegungen zielen also auf
Operationen mit dieser Information generelle Unterschiede in der Qualität, mit
durchführen kann, bevor diese Informa- der Gehirne Informationen verarbeiten – es
tion zerfallen ist. geht also nicht mehr um die Funktionalität
der »Software«, sondern um die Effizienz der
Mit dieser Hypothese nimmt Jensen (2005) »Hardware«.
also eine multiplikative Verknüpfung von
Das wichtigste Anliegen von Prozessmodellen in der Intelligenzforschung ist die Erklärung
von Intelligenzunterschieden in Begriffen der kognitiven Psychologie. Anders ausgedrückt:
Auf die Frage »Warum unterscheiden sich Personen in ihren Intelligenztestleistungen?« soll
eine Antwort gefunden werden, die auf Konzepten der allgemeinen Psychologie aufbaut.
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert die »mental speed« Hypothese, derzufolge
intelligentere Personen die verschiedenen kognitiven Operationen, die sie zur Lösung der
Testaufgaben einsetzen müssen, mit einer größeren Geschwindigkeit durchführen können
als weniger intelligente Personen. Diese Hypothese wird gestützt durch Befunde, die mit
»Elementary Cognitive Tasks« erzielt worden sind. Bei diesen experimentellen Aufgaben
handelt es sich typischerweise um Inspektionszeitaufgaben oder Reaktionszeitaufgaben
(z. B. Hick-Paradigma, Posner-Paradigma), die so einfach gehalten sind, dass unterschied-
liche Versuchspersonen keine unterschiedlichen Lösungsstrategien verwenden. Befunde mit
diesen Aufgaben zeigen dann auch konsistent negative Korrelationen zwischen Inspektions-
bzw. Reaktionszeit und Intelligenz, d. h. die intelligenteren Personen sind auch die
schnelleren. Allerdings kann mit dieser Hypothese nur ca. 10% der Varianz der Intelli-
genztestleistungen erklärt werden. Eine andere Erklärung zielt auf die Kapazität des
Arbeitsgedächtnisses. Dieser Hypothese zufolge haben die intelligenteren Personen eine
größere Kapazität. Diese Kapazität wird in empirischen Studien typischerweise gemessen,
indem sich die Versuchspersonen zunächst vorgegebene Zahlen oder Worte merken müssen
(die mit oder ohne Distraktion zu behalten sind) und diese anschließend reproduzieren
sollen (z. B. Zahlennachsprechen, Kopfrechenaufgaben, Lesespanne-Aufgabe, Zuhörspan-
ne-Aufgabe). Hier zeigte sich in mehreren Studien ein positiver Zusammenhang, d. h. die
intelligenteren Personen haben eine größere Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses. Die
Befunde verweisen darauf, dass wenigstens 10% der Varianz von Intelligenztestleistungen
mit dieser Hypothese erklärt werden können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich
diese beiden Erklärungsansätze nicht ausschließen.
204
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Eine wesentliche Gemeinsamkeit der ver- In einzelnen Untersuchungen (s. die Zusam-
schiedenen prozessanalytischen Ansätze be- menstellungen von Deary et al., 1993; Neu-
steht in der Erfassung von Reaktionszeiten. bauer et al., 1995) korrelierte die EKP-Latenz
Solche Geschwindigkeitsmaße stehen zu- negativ mit psychometrischer Intelligenz.
nächst für die rasche Bewältigung elementa- Dies bedeutet, dass die Gehirne der intelli-
rer kognitiver Aufgaben. Substantielle Kor- genteren Personen die entsprechenden Reize
relationen der Punktwerte von Intelligenz- auch schneller verarbeiten – ganz im Sinne der
tests mit der Performanz in Aufgaben der Ergebnisse zur mentalen Geschwindigkeit
geschilderten Art legen es nahe, Intelligenz (Abschn. 5.1.1). Darüber hinaus traten auch
als Eigenschaft des zentralen Nervensystems Intelligenzkorrelationen in einem Maß für
aufzufassen, Informationen schnell und feh- »Neuronale Anpassungsfähigkeit« auf, in
lerfrei bearbeiten zu können. Von da ist es dem Amplituden unterschiede zwischen er-
nur noch ein kleiner Schritt zu einer biologi- warteten und unerwarteten Reizen zueinan-
schen Fundierung der Intelligenz. Eine direk- der in Beziehung gesetzt wurden. Hypothe-
te Messung der Nervenleitgeschwindigkeit sengerecht reagierten hochintelligente Ver-
und Effizienz synaptischer Übertragungen ist suchspersonen mit höheren Amplituden auf
jedoch nicht möglich; die darauf gerichteten unerwartete und mit niedrigen Amplituden
Untersuchungen und deren Befunde sind auf erwartete Reize, d. h., sie verwandten
dementsprechend bestenfalls uneinheitlich mehr Aktivität auf die unvorhersagbaren
(McRorie & Cooper, 2004). Ereignisse. Die niedrigintelligenten Versuchs-
Konsistentere Belege für die Verankerung personen zeigten hingegen nur geringe Am-
von Intelligenz in neuroanatomischen Struk- plitudenunterschiede zwischen den Versuchs-
turen und Abläufen erhoffte sich die For- bedingungen. Anderen Studien zufolge war es
schung von der Analyse der elektrischen die EEG-Kohärenz, also die Ähnlichkeit der
Aktivität des Gehirns mittels des Elektro- EEG-Aktivität in verschiedenen Kortex-
enzephalogramms (EEG). Eine hier beson- Arealen, die negativ mit Intelligenz korrelier-
ders aufschlussreiche Methodik ist die Be- te: Personen mit höherer Intelligenz dissoziie-
rechnung von »Ereigniskorrelierten Poten- ren also stärker als solche mit niedriger ihre
tialen« (EKP). Dabei handelt es sich um Gehirnaktivität, d. h., sie aktivieren solche
Veränderungen der gehirnelektrischen Akti- Areale stärker, die für die jeweilige Aufgabe
vität auf visuelle, akustische oder taktile vorrangig wichtig sind und deaktivieren nicht
Reize, die erst nach oftmaliger Exposition benötigte Hirnrindenfelder. Allerdings muss
der Stimuli und »Übereinanderlegen« der angemerkt werden, dass viele Untersuchun-
EEG-Ableitungen sichtbar werden. Der Kor- gen mit dem EKP insignifikante Resultate er-
tex entfaltet eine fortlaufende Aktivität; jene brachten, so dass die Zusammenhänge zwi-
Aktivitätsanteile, die mit der Reizdarbietung schen EKP-Parametern (Latenz, Amplitude,
nicht korrelieren, werden bei dieser Überla- Kohärenz) und Intelligenz unklar bleiben. Als
gerung »weggemittelt«. Die betreffenden Ef- Erklärung für diese Inkonsistenzen wurde
fekte sind nur bei entsprechender Verstär- sowohl die geringe zeitliche Stabilität der
kung und innerhalb sehr kurzer Zeiträume EKP-Parameter verantwortlich gemacht als
(bis etwa 500 ms nach Reizexposition) zu auch technische Unterschiede zwischen den
registrieren. Für die Intelligenzforschung Studien (Neubauer & Fink, 2005).
sind die Komponenten ab etwa 100 ms von Eine andere EEG-Methodik ist die Unter-
besonderem Interesse. suchung der Ereigniskorrelierten Desynchro-
205
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
nisation des EEG. Ist der Kortex funktional Solche Beobachtungen sind denen ähnlich,
nur wenig aktiv, so zeigt sich im EEG eine die zum Stoffwechsel einzelner Areale des
erhöhte Alpha-Aktivität (8–13 Hz), die EEG- Gehirns mittels Positronen-Emissions-Tomo-
Kurven weisen dabei ein wellenförmiges graphie angestellt wurden. Ausgangspunkt
Muster auf (das EEG ist »synchronisiert«). dabei ist die Grundregel, dass bei verstärkter
Wenn der Kortex funktional aktiviert wird, Beanspruchung des Gehirns mehr Energie
so reduziert sich diese Alpha-Aktivität und verbraucht und dieser Energieverlust durch
die EEG-Kurven zeigen ein unregelmäßiges einen erhöhten Glukose-Stoffwechsel kom-
Muster (das EEG ist »desynchronisiert«). pensiert wird. Um das Ausmaß des lokalen
Das Ausmaß dieser Desynchronisierung Glukose-Metabolismus erfassen zu können,
infolge einer Reizpräsentation kann gemes- wird den Versuchspersonen intravenös ein
sen werden. Gestützt auf diese Technik haben metabolischer Isotopenindikator gespritzt,
Neubauer und seine Kollegen in mehreren der nach kurzer Zeit über den Blutkreislauf
Studien konsistent gezeigt, dass intelligente in das Gehirn gelangt und dort von den
Personen bei der Lösung von Denkproble- Zellen absorbiert wird. In der bekanntesten
men weniger Hirnareale aktivieren als weni- Untersuchung dazu (Haier, 1988), an der
ger intelligente (für eine Übersicht über diese wegen des erheblichen Aufwands und der
Befunde s. Neubauer & Fink, 2005). In gesundheitlichen Risiken nur acht Versuchs-
Abbildung 5.5 sind einige Ergebnisse ver- personen teilnahmen, korrelierte Intelligenz
deutlicht. Dazu fügt sich auch die Beobach- signifikant negativ mit der Metabolismus-
tung von Jaušovec (2000), wonach hochin- Rate, d. h., relativ intelligente Personen ver-
telligente Probanden im Unterschied zu brauchten weniger Energie als relativ unin-
durchschnittlichen bei der Lösung von Auf- telligente. Dieses Ergebnis konnte von
gaben mehr Alpha-Aktivität (EEG-Aktivitä- Haier et al. (1995) unter Heranziehung von
ten im Frequenzbereich zwischen 8 bis 13 Probanden mit leichten Retardierungen und
Hz, die mit geringerer kortikaler Aktivität Down-Syndrom sowie Kontrollpersonen
einhergehen) und eine bessere Koordination ohne Auffälligkeiten repliziert werden.
zwischen beteiligten Hirnarealen zeigten. Andere Untersuchungen wurden auch mit
der funktionellen Magnetresonanztomogra-
phie (fMRT) durchgeführt. Dabei wird die
Veränderung der Sauerstoffsättigung des
Blutes im Gehirn (die wiederum an den
neuralen Metabolismus gekoppelt ist) gemes-
sen, während die Versuchspersonen Intelli-
genztestaufgaben bearbeiten. Mit wenigen
Ausnahmen zeigten auch hier die intelligen-
teren Versuchspersonen eine geringere Hirn-
aktivität als die weniger intelligenten (für
Abb. 5.5: Unterschiedliche Aktivität von Hirn-
eine Übersicht s. Newman & Just, 2005). In
arealen bei zwei Personen mit unter- einer weiteren Studie, in der mittels eines
schiedlicher Intelligenz. Die dunklen etwas anderen magnetresonanztomographi-
Flächen stehen für stärkere Aktivie- schen Verfahrens die Hirndurchblutung im
rung. Diese sind zum Zeitpunkt der Ruhezustand gemessen wurde, zeigten Per-
Ableitung bei dem weniger intelligen-
sonen mit niedrigerer Durchblutung (und
ten Probanden (links) großflächiger als
bei dem höher intelligenten Proban- somit niedriger Grundaktivität) eine besse-
den (rechts). (Persönliche Mitteilung re Leistung in aufmerksamkeitsbezogenen
von Neubauer, 2004). ECTs (Bertsch et al., 2009).
206
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Zusammenfassend verweisen diese Studien ten Wicket et al. (2000) über eine
mit unterschiedlicher Methodik konsistent durchschnittliche Korrelation von unge-
darauf, dass die Gehirne von Personen mit fähr r ¼ 0,40.
einer größeren Intelligenz weniger aktiv sind, l Die »neurale Schrumpfungshypothese«
d. h., diese Gehirne erzielen die geforderten (engl. »neural pruning hypothesis«,
Leistungen mit einem geringeren metaboli- Haier, 1993) postuliert, dass weniger
schen oder funktionellen Aufwand. Dies effiziente Gehirne während der kindli-
passt zu den Vorhersagen der »Hypothese chen Entwicklung einen unvollständigen
der neuralen Effizienz« (engl. »neural effi- Schrumpfungsprozess durchlaufen sind.
ciency hypothesis«, Vernon, 1993), die eben Bis zum Alter von elf oder zwölf Jahren ist
annimmt, dass die Gehirne von intelligente- im menschlichen Gehirn ein Übermaß
ren Personen beim Bearbeiten von kognitiven an synaptischen Verbindungen vorhan-
Aufgaben effizienter arbeiten, d. h. dass diese den, wobei nach diesem Alter durch ein
Gehirne mit wenig physiologischem Auf- Schrumpfen (engl. »pruning«) die redun-
wand eine größere mentale Leistung erbrin- danten (und damit überflüssigen oder gar
gen. In diesen Zusammenhang passen auch störenden) Verbindungen beseitigt wer-
die in Abschnitt 5.1 referierten Befunde zur den. Für diese Hypothese spricht bei-
größeren mentalen Geschwindigkeit und spielsweise der Befund, dass bei mental
höheren Arbeitsgedächtniskapazität der retardierten Personen post mortem eine
intelligenteren Personen. Was aber verur- größere synaptische Dichte im Hirngewe-
sacht die neurale Effizienz? Verschiedene be gefunden wurde als bei normalen
Ansätze werden hierbei diskutiert, beispiel- Personen.
haft seien drei genannt (für eine Übersicht s. l Die »neurale Plastizitätshypothese« ver-
Neubauer & Fink, 2005). mutet schließlich als Ursache für größere
neurale Effizienz eine größere neurale
l Die »Myelinierungshypothese« (Miller, Plastizität des Gehirns (Garlick, 2002).
1994) nimmt an, dass die Neuronen von Unter neuraler Plastizität versteht man die
effizienteren Gehirnen eine dickere Mye- Fähigkeit des Gehirns, sich neuen Anfor-
linschicht aufweisen (diese Schicht um- derungen durch ein Aussprießen von
gibt die Axone und sorgt für eine verbes- Axonen und Dendriten strukturell-funk-
serte elektrische Isolation und schnellere tional anzupassen. Diese bessere Anpas-
elektrische Impulsfortleitung). Konsistent sungsleistung sorgt dann für eine größere
mit dieser Hypothese sind die Befunde zur mentale Geschwindigkeit und neurale
größeren mentalen Geschwindigkeit und Effizienz.
zur neuralen Effizienz. Darüber hinaus
müssten Personen mit stärkerer Myelini- Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haftet diesen
sierung auch größere Gehirne aufweisen. Erklärungsversuchen noch etwas Spekulati-
Tatsächlich korreliert die Hirngröße posi- ves an, zu groß sind die Schwierigkeiten, die
tiv mit der Intelligenz. In einer Übersicht zur Erklärung herangezogenen Konzepte
zu zwölf Einzelstudien, in denen das messbar zu machen. Darüber hinaus berech-
Hirnvolumen mit modernen bildgeben- tigen die korrelativen Befunde bislang nicht
den Verfahren bestimmt wurde, berichte- zu Kausalitätsschlüssen (Sternberg, 2005).
207
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Wenn bislang von Skalen zur Erfassung der als ein Kriterium von hoher Relevanz für die
Intelligenz gesprochen wurde, musste zu- Bestimmung der Validität von Persönlich-
nächst implizit unterstellt werden, dass die keitstests.
jeweils herangezogenen Aufgabentypen tat- Horn (1969) berichtete für das Bega-
sächlich geeignet sind, das besagte Konstrukt bungs-Test-System eine Übereinstimmung
zu erfassen. von r ¼ 0,70 mit dem Urteil des Lehrers
Nachfolgend sollen einige Befunde mitge- über die Schnelligkeit, mit der Schüler neue
teilt werden, die im Anschluss an die Ent- Aufgaben begreifen. Die Punktsumme des
wicklung von Intelligenztests – nach Jenkins Tests korrelierte bei Haupt- und Mittelschü-
und Paterson (1961, S. 80) die vermutlich für lern zu r ¼ 0,47 mit der Einschätzung der
die westliche Welt erfolgreichste psychologi- Intelligenz durch Klassenlehrer. Einen Koef-
sche Innovation überhaupt – und deren fizienten von r ¼ 0,62 teilte Amthauer (1953)
Gebrauch erhoben wurden. Keine der Unter- für die Übereinstimmung zwischen den IST-
suchungen für sich, wohl aber ihre Zusam- Gesamtpunktwerten und Lehrerurteilen
menschau vermittelt ein umfassendes Bild zur Intelligenz mit. Die Punktwerte des IST-
vom Konstrukt der Intelligenz, der Validität 2000 R (Amthauer et al., 2001) korrelierten
der zu ihrer Messung herangezogenen Tests in einer Größenordnung um 0,50 mit Fremd-
(s. dazu zusammenfassend Jäger, 1986) und einschätzungen der Allgemeinen Intelligenz
dem Stellenwert, den die so definierte Intel- und auch dem Sozialprestige der ausgeübten
ligenz in unserem Kulturkreis einnimmt. Berufstätigkeit (Steinmayr & Amelang,
Die Einschätzungen von Bekannten und 2005). Ähnliche Werte finden sich in zahlrei-
Freunden (s. Abschn. 4.1.3) sind aus ver- chen weiteren Untersuchungen sowie in
schiedenen Gründen ein besonders nahelie- nahezu allen Handanweisungen gebräuchli-
gender Maßstab für die Beschreibung von cher Intelligenztests. Bemerkenswerterweise
Mitmenschen. Dementsprechend gelten sie sind überzufällig richtige Einschätzungen der
208
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Intelligenz auch bei nur kurzer Bekannt- 1. das Ausmaß der intellektuellen Leistun-
schaft zwischen Akteur und Beurteiler sowie gen,
auf der Basis minimaler Informationen mög- 2. den Grad der Anpassung an die soziale
lich (Borkenau & Liebler, 1995; Murphy Gemeinschaft (wer z. B. mit hinreichender
et al., 2003). Umsicht und Konstanz für sich selbst
Gegenüber den oben mitgeteilten Werten sorgen und seinen Lebensunterhalt be-
fallen die Korrelationen mit Testwerten we- streiten kann, wird nicht als »schwach-
sentlich niedriger aus, wenn anstelle der sinnig« bezeichnet, gleichgültig, welche
Fremdeinschätzungen die Urteile der betref- Testwerte er aufweist),
fenden Personen selbst herangezogen wer- 3. die Umstände, die zu den Auffälligkeiten
den. In der Studie von Rammstedt und geführt haben (sind die Minderleistungen
Rammsayer (2002) resultierten Zusammen- beispielsweise chronisch entwicklungsbe-
hänge um 0,30, eine Größenordnung, die dingt oder die Folge eines in späterem
sich generell bei der Selbsteinschätzung von Lebensalter erlittenen Unfalls, einer psy-
Leistungen einstellt (s. das Übersichtsreferat chischen oder körperlichen Erkrankung
von Mabe & West, 1982). Dieser insgesamt usw.).
erstaunliche Effekt, der im Übrigen mit den
Gegebenheiten im Persönlichkeitsbereich Innerhalb der gebräuchlichsten Klassifika-
insofern kontrastiert, als dort die Zusam- tion von Intelligenzminderungen, bei der das
menhänge meist Werte um 0,40 bis 0,50 Ausmaß der Leistungsbeeinträchtigung im
erreichen, müsste noch eingehender unter- Vordergrund steht, wird zwischen schwerer,
sucht werden. Möglicherweise ist die Varianz mittlerer und leichter geistiger Behinderung
der Selbsteinschätzungen stärker einge- unterschieden (früher bezeichnet mit »Idio-
schränkt, weil ein Großteil der Probanden tie«, »Imbezilität« und »Debilität«).
sich »irgendwo im Mittelbereich« einstuft. Als geistig schwer oder sehr schwer be-
hindert gelten dabei Personen, die nicht für
ihre eigenen Bedürfnisse (etwa Sauberkeit)
5.3.1 Extremvarianten der sorgen und sich nicht selbst vor den gewöhn-
Intelligenz: Hoch- und lich existenten Gefahren schützen können.
Minderbegabte Sie entwickeln keine Sprache und sind zur
Ausübung jedweder Berufstätigkeit außer-
Im Unterschied zu früher, wo mehr oder stande. Das Intelligenzalter entspricht in
weniger explizit sowohl aus religiöser wie etwa dem von zweijährigen Kindern, der
auch medizinischer Warte eine klare Dicho- Intelligenzquotient liegt unterhalb von 35.
tomie zwischen Normalität und »Schwach- Menschen mit mittlerer geistiger Behinde-
sinn« üblich war, hat sich als Folge der rung sind demgegenüber zur Sauberkeit
psychometrischen Betrachtung die Überzeu- erziehbar, können allein essen und auch
gung von einem Fortbestehen des Kontinu- einfache Routinetätigkeiten erledigen. Ihre
ums intellektueller Leistungen auch unter- Sprache geht kaum über Stammeln hinaus.
halb bestimmter als »Norm« definierter Be- Das Intelligenzalter ist etwa demjenigen von
reiche durchgesetzt. Insoweit gelten Minder- Sechsjährigen äquivalent, der IQ liegt zwi-
begabte nicht als »abnorm«, sondern als schen 35 und 49.
»unternormal«. Menschen mit leichter geistiger Behinde-
Unzweideutige Feststellungen von Intelli- rung sind unter günstigen Umweltbedingun-
genzminderung stützen sich gewöhnlich auf gen in der Lage, ihren eigenen Lebensunter-
Informationen aus drei verschiedenen Berei- halt zu bestreiten. Wenngleich unter erhebli-
chen, nämlich chen Schwierigkeiten, ist das Erlernen von
209
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Lesen und Schreiben doch möglich. Häufig Die im wissenschaftlichen Schrifttum geschil-
bedarf es zur Aufrechterhaltung eines halb- derten Fälle von Wunderkindern, die zu
wegs geordneten Finanzhaushaltes allerdings einem erstaunlich frühen Zeitpunkt sprechen
externer Kontrolle. Der IQ liegt zwischen 50 und lesen lernen sowie ihre hauptsächlichen
und 70. Interessen auf Literatur und Wissenschaft
Wichtig an der skizzierten Klassifikation richten, weisen Intelligenzquotienten von
ist das Faktum, dass die allgemeinen Intelli- 140 bis 160, nicht selten solche jenseits von
genztests nach dem Binet- oder Wechsler-Typ 180 auf (Hollingworth, 1942; Hildreth,
die von Psychiatern und Kinderärzten ohne 1954). In der bekannten Terman-Längs-
Durchführung von Tests vorgenommene schnittuntersuchung, die wegen ihrer grund-
diagnostische Kategorisierung in guter An- sätzlichen Bedeutung in Abschnitt 5.3.6 de-
näherung abbilden, d. h., die schwer beein- taillierter besprochen wird, befanden sich so
trächtigten Personen erreichen die niedrigs- viele Hochbegabte, dass nach mehreren Selek-
ten, leicht beeinträchtigte Personen die tionsschritten eine Ausgangsstichprobe von
höchsten Werte im Bereich unterer Extrem- 1528 Probanden zusammengestellt werden
varianten, was als Validitätsbeleg für die konnte, deren IQ bei einem Mittelwert von
Verfahren zu werten ist. 151 zwischen 135 (als willkürlich gesetzter
Analoges gilt für den Bereich der Hoch- Untergrenze) und 200 streute. Selbst in der
und Höchstbegabung. In Studien eines mul- Erhebung von Getzels und Jackson (1962),
tifaktoriellen Ansatzes, dem zufolge sich die ca. 500 Kinder beiderlei Geschlechts
Hochbegabung nicht nur nach kognitiven (mittleres Alter: 15 Jahre) an einer Privatschu-
Variablen bemisst, sondern dafür auch Tem- le des gehobenen Mittelstands in Chicago
peramentsmerkmale sowie soziokulturelle erfasste, betrug der durchschnittliche IQ 132.
Bedingungsvariablen prädiktiv sind (s. z. B. Diese Beispiele mögen ausreichen, um zu
Heller, 2000), stellen überdurchschnittliche zeigen, dass Probanden, die infolge ihrer
Leistungen in Intelligenztests ein wichtiges über- oder unterdurchschnittlichen Leistun-
Definitionselement dar. Demgegenüber sind gen auffällig sind, in Tests für Intelligenz
hohe IQs (gewöhnlich über 130) in mono- erwartungsgemäß extrem hohe bzw. niedrige
faktoriellen Untersuchungen (s. z. B. Rost, Punktwerte erzielen. Derartige Befunde sind
2000) meist das einzige, auf jeden Fall das deshalb nicht zirkulär oder trivial, weil die
gewichtigste Kriterium für die Bestimmung fraglichen Probandengruppen in den Analy-
von Hochbegabung. sestichproben für die Entwicklung der Ver-
Dabei ist die aufschlussreiche Erkenntnis fahren wegen ihrer Schulunfähigkeit oder
gesichert worden, dass hochbegabte im Ver- Seltenheit kaum vorkommen.
gleich zu durchschnittlich begabten Schülern
gleiche oder etwas positivere Ausprägungen
in verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen, 5.3.2 Intelligenz und
jedoch keine bedeutsamen sozialen Auffäl- Problemlösen
ligkeiten aufwiesen (Rost, 2002). Für die
Stabilität der Hochbegabung über der Zeit Hält man sich die eingangs referierten Be-
waren – ein weiterer bemerkenswerter Be- griffsbestimmungen von Intelligenz ebenso
fund – der sozioökonomische Status des vor Augen wie die für Intelligenz als ganz
Elternhauses, Interessen im mathematisch- besonders charakteristisch angesehenen Indi-
naturwissenschaftlichen und fremdsprachli- katoren (c Tab. 4.3), so müsste Intelligenz
chen Bereich sowie die schulischen Leistun- mit der angemessenen und effizienten Lösung
gen und der schulische Ehrgeiz von Bedeu- von Problemen großflächige Überlappungen
tung. aufweisen.
210
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
211
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
oder dem Computersystem. Schließlich ist in ligenz ist ein valider Prädiktor für komplexe
den Problemsituationen, nicht aber den In- Problemlöseleistungen.«
telligenztests, das Ziel des Denkprozesses oft
unklar, d. h., es bedarf erst der Aktivierung
intellektueller Prozesse, um die »offenen« 5.3.3 Intelligenz und Lernen
Ziele umzustrukturieren und eine Vorstel-
lung darüber zu entwickeln, was gefordert Da die ersten Intelligenztests in Auftrag
und deshalb anzustreben ist. gegeben wurden, um die individuelle Bewäh-
Insoweit der letztere Gesichtspunkt stich- rung in schulischen Situationen vorherzusa-
haltig ist, müssten Intelligenztests bessere gen, liegt die Vermutung nahe, zwischen
Prädiktoren für solche Denksituationen sein, Intelligenz und Lernen bestehe ein Zusam-
in denen die Transparenz für die Versuchs- menhang. Trotz der leichten Verfügbarkeit
personen in der Bereitstellung entsprechender über Instrumente zur Intelligenzmessung
Informationen erhöht ist. Tatsächlich fanden einerseits und der traditionell vorrangigen
Putz-Osterloh und Lüer (1981) nur unter Rolle des Lernens in der Experimentellen
transparenter, nicht aber unter der üblichen Psychologie andererseits sind gezielte Unter-
Standardinstruktion des »Schneiderwerk- suchungen mit einer diesbezüglichen Frage-
statt«-Problems eine hochsignifikante Korre- stellung relativ selten.
lation der Lösungsgüte zur Allgemeinen Kallenbach (1976) fand zwischen dem
Intelligenz (Koeffizienten 0,31 bzw. 0,00). Erlernen eines Weges durch ein Labyrinth
Dazu fügen sich nahtlos die Resultate von und Faktoren der Intelligenz positive Korre-
Hörmann und Thomas (1987), die zwischen lationen von r ¼ 0,01 bis r ¼ 0,39. Koch und
dem »Kerntest« für das Berliner Intelli- Meyer (1959) gaben gegenüber Vorschul-
genzstrukturmodell (s. Abschn. 4.3.6) und kindern ein Experiment zur Ausbildung eines
der Problemlösegüte in der »Schneiderwerk- »Learning-Set« als Spiel aus. Die Probanden
statt« signifikante Korrelationen um r ¼ 0,40 konnten im Fall der richtigen Entscheidung
fanden, dieses jedoch nur unter transparen- Chips gewinnen, die später in Spielsachen
ter, nicht dagegen unter experimentell reali- eintauschbar waren, jedoch musste dafür die
sierter intransparenter Bedingung (wo die Art und Wertigkeit des jeweiligen Schlüssel-
Korrelationen um null lagen). reizes (farbige Karten unterschiedlicher Grö-
Der Arbeit von Süß (1996) zufolge muss ße) herausgefunden werden. Die Resultate
bei der Bearbeitung von Problemlöseszena- der sieben Probanden mit den höchsten
rien ein Phasenmodell angenommen werden. Werten im Stanford-Binet-Test sind in Abbil-
In einem ersten Stadium aktiviert die In- dung 5.6 jenen der fünf Probanden mit den
struktion das vorliegende Wissen, das be- niedrigsten IQs gegenübergestellt.
nutzt wird, um das System entlang von Zu Vergleichszwecken sind die Lernraten
zunehmend präziser ausfallenden Hypothe- einer Gruppe von Rhesusaffen ebenfalls auf-
sen zu prüfen. Dabei kommt es mit dem geführt, denen die geschilderte Aufgabe in
Fortschreiten des Prozesses zu einer abneh- vergleichbarer Weise vorgegeben worden
menden Bedeutung der individuellen Ver- war – eines der wenigen Beispiele in der
arbeitungskapazität zugunsten einer Zunah- Literatur, wo in hinreichend übereinstim-
me der Rolle von Geschwindigkeit der Infor- menden Anordnungen die Leistungen von
mationsverarbeitung. Je nach Stadium müsste Menschen und Tieren miteinander vergli-
somit die Leistung durch ganz unterschied- chen wurden.
liche Intelligenzkomponenten vorhergesagt In Experimenten zum Erlernen sinnloser
werden können. Zusammenfassend gelangte Silben (Gakhar et al., 1973) oder paarweiser
Süß (1999, S. 221) zu der Feststellung: »Intel- Assoziationen (Gakhar & Luthra, 1973)
212
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
213
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
reliert wird, erreichen die Koeffizienten die Berufe im Regelfall der erfolgreiche Besuch
Größenordnung von 0,70 (z. B. Wechsler, einer Ober- oder gar Hochschule formell zur
1958). Auch nach Herauspartialisierung des Voraussetzung gemacht wird.
sozioökonomischen Status, der als mögliche Die Existenz solcher Hürden scheint im-
Drittvariable sowohl die Höhe der Intelli- merhin verständlich, wenn man sich die
genz wie auch den Verbleib im Bildungsweg Anforderungen der Berufstätigkeit etwa des
bestimmen mag, bleibt ein eigenständiger Arztes, Ingenieurs, Architekten, Piloten oder
Beitrag der Intelligenz zur Aufklärung der Lehrers vergegenwärtigt. Traditionell be-
Länge der Ausbildung übrig. stehen dann Korrelationen um r ¼ 0,80 für
Insgesamt besteht eine Tendenz zu höhe- die Beziehung zwischen der von unabhängi-
ren Übereinstimmungen verbaler Tests mit gen Beurteilern für ausgewählte Berufe als
schulischem Erfolg relativ zu nichtverbalen mindesterforderlich gehaltenen Intelligenz
Skalen, was bei der vorwiegend sprachlichen und dem Sozialprestige der jeweiligen Tätig-
Natur des Unterrichts zu erwarten ist; für keit (s. Duncan et al., 1972).
Mathematik und Naturwissenschaften spie- In der Tat hat eine ganze Reihe von
len numerische Fähigkeiten eine größere Autoren über entsprechende Intelligenz-
Rolle (Amthauer et al., 2001). unterschiede von Angehörigen verschiedener
Legt man die erwähnte Korrelation von Berufsgruppen berichtet. Eine besonders aus-
0,50 als grobe Schätzung eines Mittelwerts sagekräftige Studie stellt nach wie vor dieje-
zugrunde, so folgt daraus, dass Intelligenz nige von Harrell und Harrell (1945) dar, da
zu einem nicht unerheblichen Teil der Fähig- sie sich auf nicht weniger als 18 782 Rekruten
keit entspricht, in der Schule gute Noten der US Air Force stützen kann. Im Zuge der
zu bekommen. Nun interessieren neben routinemäßigen Vorgabe des »Army General
den Fähigkeiten auch diejenigen Leistungen, Classification Tests« erreichten die Vertreter
die den Erfolg pädagogischer Maßnahmen typischer Mittelstandsberufe die durch-
erfassen können. Solche Verfahren heißen im schnittlich höchsten Werte, im Mittelbereich
angloamerikanischen Sprachraum »Achieve- lagen Facharbeiter, und die niedrigsten
ment Tests«. Ihnen entsprechen bei uns am Durchschnittswerte wiesen Arbeiter mit un-
ehesten die sogenannten Schulleistungstests vollständiger oder gar keiner Ausbildung auf
(s. dazu Ingenkamp, 1962; Klauer, 1978). Im (c Tab. 5.1). Auffällig ist an den Resultaten,
Unterschied zu den Fähigkeitstests, die Leis- dass die Standardabweichungen mit wach-
tung in komplexen neuartigen Problemstel- sendem mittleren IQ abnehmen. Wie eine
lungen vorhersagen wollen, zielen die Achie- nähere Inspektion der Daten ergibt, ist dieses
vement Tests mehr auf fachspezifisches Kön- darauf zurückzuführen, dass bei nur unwe-
nen. sentlich verschobenen Höchstwerten in den
einzelnen Klassen die aufgetretenen Mindest-
leistungen stark zunehmen, und zwar von
5.3.5 Intelligenz und IQ ¼ 42 bei den Minenarbeitern auf 76 (!) im
Berufstätigkeit Falle der Lehrer und 100 bei den Reportern.
Die Berufe, die im Durchschnitt von intelli-
Da die Höhe des erreichten schulischen Ab- genteren Personen ausgeübt werden, setzen
schlusses bzw. die Dauer des Ausbildungs- also zunehmend hohe Mindestanforderun-
prozesses positiv mit Intelligenz korreliert, ist gen voraus.
auch eine enge Beziehung zwischen Intelli- Ähnliche Befunde waren etwa bezüg-
genz und Niveau der beruflichen Tätigkeit zu lich der Dienstränge innerhalb der Armee
erwarten, und zwar schon deshalb, weil für zu sichern (Yoakum & Yerkes, 1970;
den Eintritt in die sogenannten höheren c Abb. 5.7).
214
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Tab. 5.1: Mittlerer IQ und Streuung innerhalb von Berufsgruppen nach Tätigkeitsniveau.
Tätigkeitsniveau
M, SD M, SD M, SD
215
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
gen (Amelang et al., 1971; zum Vergleich der mit der die Stärke einer – möglichst einseitig
Intelligenzquotienten von Doktoranden ver- gerichteten – Beeinflussung einer Einflussva-
schiedener Fächer s. Harmon, 1961). riablen auf eine Ergebnisvariable ermittelt
Die Abhängigkeit des Berufsstatus von werden kann. Die Autoren untersuchten zwei
Intelligenz und Bildungsniveau sowie von Datensätze, die mit identischen Variablen an
Berufsstatus und Bildungsniveau des Vaters unabhängigen Stichproben gewonnen wor-
wurde von Duncan et al. untersucht. Die den waren. In Abbildung 5.8 sind die dabei
Autoren wendeten dabei die Pfadanalyse an, herausgearbeiteten Effekte wiedergegeben.
0,77
(0,80)
Abb. 5.8: Pfadmodell zum Einfluss von Intelligenz und Bildungsniveau sowie von Berufsstatus und
Bildungsniveau des Vaters auf den Berufsstatus des Kindes. Zahlen geben Pfadkoeffizienten
(bei Pfaden mit einer Pfeilspitze) bzw. Korrelationskoeffizienten (bei Pfaden mit zwei
Pfeilspitzen) an. In Klammern stehen die Koeffizienten des unabhängigen zweiten Datensatzes.
Aus dem Pfadkoeffizienten von 0,08 wird die und nur schwer auf einen gemeinsamen
geringe Bedeutung einer direkten Auswir- Nenner zu bringen. Grund für die Uneinheit-
kung intellektueller Begabung auf den beruf- lichkeit ist zum einen sicherlich der Umstand,
lichen Status ersichtlich. Offenkundig ver- dass Kriterien für »den« Berufserfolg häufig
läuft die Beeinflussung indirekt über die sehr schwer festzulegen sind; man denke
Höhe des Bildungsniveaus und erreicht dabei etwa an den Vergleich zweier Ärzte, von
eine Effektivität, die größer ist als die direkte denen der eine Allgemeinarzt auf dem Lande,
und mittelbare Beeinflussung durch Berufs- der andere Facharzt an einer Universitätskli-
status und Bildungsniveau des Vaters. nik ist. Soll der Erfolg an der Zahl behandel-
Ausgehend von der allgemein verbreiteten ter oder geheilter Patienten, am Einkommen,
Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Beitrag zum Fortschritt des Faches usw.
Berufsstatus des Vaters und erforderlicher gemessen werden?
Intelligenz liegt die Erwartung nahe, dass Gleichwohl sollen einige weitere Befunde
auch innerhalb der einzelnen Berufskatego- präsentiert werden, weil diese Aufschluss über
rien die Intelligenteren die Erfolgreicheren einige Fragen von herausgehobenem theore-
sein würden. Die Untersuchungen dazu sind tischen oder praktischen Belang liefern. Jen-
jedoch in ihren Resultaten extrem heterogen sen (1998) hat die bei insgesamt 446 ver-
216
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
schiedenen Beschäftigungsarten gefundenen lich ist, lagen die Koeffizienten für die optimal
Korrelationen zwischen der »General Aptitu- gewichtete Prädiktorkombination nur gering-
de Test Battery« (GATB) und dem Erfolg in fügig über der Prädiktionsleistung von g
dem jeweiligen Beruf aufgelistet. Parallel dazu allein; wurde g aus der GATB-Kombination
ermittelte er aus den Interkorrelationen der auspartialisiert, verschwanden die Unter-
einzelnen Prädiktoren als erste Hauptachse schiede völlig – ein eindrucksvoller Beleg für
ein Maß für g. Wie aus Abbildung 5.9 ersicht- die Bedeutung von g und dessen Generalität.
16
12
Prozent der Berufe
Multifaktorielle Validität
der GATB-Kombination
8
Validität des
g-Wertes
4
0
–0,2 0 0,2 0,4 0,6 0,8
Validitätskoeffizient
Abb. 5.9: Häufigkeitsverteilungen von Vorhersagen des Berufserfolgs über 446 verschiedene Berufe
aufgrund von g und aufgrund einer gewichteten Kombination von neun Maßen aus der
»General Aptitude Test Battery« (GATB; nach Jensen, 1998).
Noch höher lagen die mittleren Validitäten für Allgemeine Intelligenz, die Salgado et al. (2003)
für verschiedene Berufe in der EU ermittelten, nämlich zwischen 0,47 und 0,67 für den Erfolg
im Beruf und 0,43 bis 0,83 für den Erfolg in der Ausbildung. Für die USA gelten ganz ähnliche
Gegebenheiten, wie aus der Meta-Analyse von Schmidt und Hunter (2004) ersichtlich ist.
Zugleich zeigen die Daten dieser Autoren, dass die Bedeutung von Allgemeiner Intelligenz mit
der Komplexität der Anforderungen im Beruf zunimmt (c Tab. 5.2).
Da die Ausbildungsgänge und beruflichen dürften, auf die sich die eben erwähnten
Faktoren in Deutschland allenfalls partiell Studien stützen, kommt der Meta-Analyse
mit den Gegebenheiten übereinstimmen von Hülsheger et al. (2004) ein besonderes
217
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Tab. 5.2: Validität des g-Maßes in der General Aptitude Test Battery.
5 2,4 0,23 NB
NB ¼ nicht berichtet. 1 ¼ am höchsten; 5 ¼ am niedrigsten.
a
218
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Der Testintelligenz nach handelte es sich über hinaus lagen 33 Novellen, 375 Kurzge-
dabei um das oberste ein Prozent der Vertei- schichten und 265 Artikel gemischten Inhalts
lung. Seit der Ersterhebung (Terman, 1925) vor. Entsprechend war die Repräsentanz
ist in weiteren fünf Büchern über die in der Begabten in »American Men of Sci-
verschiedenen Lebensabschnitten bei diesen ence«, »Directory of American Scholars«
Personen festgestellten Besonderheiten be- und »Who’s Who in America?« überzufällig
richtet worden (Burks et al., 1930; Terman & hoch – eine zweifellos überaus imponierende
Oden, 1947, 1959; Oden, 1968; Holahan Bilanz, auch wenn streng genommen eine
et al., 1995). Eine kritische Würdigung der Kontrollgruppe normal begabter Personen
Terman-Studie gibt Sears (1984). nicht ebenfalls kontinuierlich begleitet wurde
Nur in stark komprimierter Form sei und die Absicht, den Probanden nichts über
nachfolgend das Wichtigste referiert: Schon ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Extrem-
in der Kindheit übertrafen die Begabten in begabten mitzuteilen, sicher nicht eingehal-
Größe und Gewicht ihre Alterskameraden, ten werden konnte.
hatten frühzeitig Gehen und Sprechen gelernt Ungeachtet dieser beiden methodischen
sowie schneller die Pubertät erreicht. Im Einwände sprechen die Befunde nachdrück-
Weiteren zeigten sie – entgegen weit verbrei- lich dafür, dass Allgemeine Intelligenz für
tetem Vorurteil – eine niedrigere Rate an sich ein sehr bedeutender, wenn nicht der
physischen und psychischen Auffälligkeiten. erklärungsmächtigste Prädiktor späteren
Während der Schulzeit waren sie nach relativen Erfolges in schulischen und beruf-
Lehrermeinung ihren Klassenkameraden lichen Belangen sowie Situationen des All-
nicht nur in intellektueller, sondern auch in tagslebens ist. In welche Richtung die Ent-
emotionaler, motivationaler und interessen- wicklung jedes Einzelnen beeinflusst wird,
mäßiger Hinsicht überlegen (ein Befund im ist damit zwar nicht vorherzusagen; dafür
Übrigen, der in derselben Weise auch im könnten Interessen- und Persönlichkeitsva-
Marburger Hochbegabten-Projekt erhoben riablen von Nutzen sein (s. unten). Aber das
wurde, s. Freund-Braier, 2000); lediglich im Ausmaß der sich manifestierenden Leistun-
sozialen Bereich bestanden keine Besonder- gen scheint über viele verschiedene Tätigkei-
heiten. Die relative Häufigkeit von College- ten und Berufe hinweg in gewissen Grenzen
besuch und erfolgreichem Abschluss lag spä- prognostizierbar zu sein – ein Anlass für
ter ebenso weit über dem Mittel wie die Zahl Terman (1954), die transsituative Konsistenz
der erworbenen Doktorgrade. Die von den auf den Einfluss von Spearmans g zurückzu-
Männern ausgeübten Berufe waren meist führen.
Richter oder Rechtsanwalt, Universitätspro- Allgemeine Intelligenz steht jenseits von
fessor, Ingenieur und Arzt einerseits, Mana- Leistungs- und Erfolgsmaßen noch mit zahl-
ger in Industrie, Finanzverwaltung und Ver- reichen weiteren Variablen von hoher sozia-
sicherungswesen andererseits. Von den etwa ler Bedeutung in Beziehung. So liegen mitt-
zur Hälfte vollberuflich tätigen Frauen waren lerweile mehrere Nachuntersuchungen an
die meisten Lehrerinnen. der repräsentativen und sehr umfangreichen
Auf die gegenüber dem Durchschnitt her- Stichprobe von schottischen Kindern vor
abgesetzte Rate von Unfällen, Alkoholismus (s. Abschn. 4.4). Eines der Ergebnisse geht
und Delinquenz sei nur hingewiesen. Da- dahin, dass die Frauen, die bis zum mittleren
gegen muss erwähnt werden, dass schon Erwachsenenalter geheiratet hatten, als Kind
Ende der 1950er Jahre die Mitglieder der einen niedrigeren IQ aufwiesen als diejeni-
Gruppe 60 Bücher und 2000 technische wie gen, die bis dahin niemals verheiratet waren.
wissenschaftliche Aufsätze geschrieben und Bei den Männern waren die Verhältnisse
230 bezahlte Patente erworben hatten. Dar- umgekehrt (Taylor et al., 2005). Breiter noch
219
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
ist das Spektrum des erfassten Sozialverhal- Beginn der Terman-Studie zwar keine nach
tens in der »National Longitudinal Study of modernen Kriterien entwickelten Tests vor,
Youth« in den USA. Dort wird seit 1990 eine doch hatte Terman die hochbegabten Kinder
repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von ihren Eltern und Lehrern auf 25 Eigen-
von mehr als 11 800 jungen Erwachsenen schaftsdimensionen einschätzen lassen. Diese
wiederkehrend untersucht. Nach dem rech- gruppierten sich in drei miteinander inter-
nerischen Konstanthalten von Alter und korrelierende Faktoren »Soziale Verantwor-
sozioökonomischem Status zeigte sich, dass tung« (darunter Gewissenhaftigkeit, Groß-
der in fünf Kategorien klassifizierte IQ der zügigkeit, Aufrichtigkeit, Klugheit und Vor-
Probanden mit Bildungsabschlüssen und aussicht, Fehlen von Eitelkeit), »Intellektua-
Mittelstandswerten korrelierte. Ein niedriger lität« (Allgemeine Intelligenz, Common
IQ ging gehäuft mit Armut, Schulabbruch, Sense, Originalität, Selbstvertrauen, Wis-
Empfang von Wohlfahrt, unehelicher Eltern- sensdrang) und »Soziabilität« (Popularität,
schaft oder Kontakt mit den Justizbehörden Vorliebe für Gruppen, Optimismus und Lie-
einher (s. die darauf gerichtete Analyse bei benswürdigkeit). Auf der Basis von 4000
Herrnstein & Murray, 1994). Variablen aus 21 Fragebogen, die bis 1986
Andere Studien haben aufgezeigt, dass von den Teilnehmern bearbeitet worden wa-
niedrige Intelligenz zudem mit Unfallraten ren, bildeten Tomlinson-Keasy und Little
und Mortalität korreliert, insbesondere aber (1990) vier Kriterien für den beruflichen
mit Belastung an offiziell registrierter und Erfolg und die persönliche Anpassung. Die
auch selbstberichteter Kriminalität. Dabei Vorhersagbarkeit dieser Maße durch die Per-
tritt der letztere Effekt innerhalb der Familien sönlichkeitsvariablen ist in Abbildung 5.10
und zwischen den Geschlechtern ein. Die veranschaulicht.
Delinquenten sind also weniger intelligent als Über einen Zeitraum von nicht weniger
ihre Geschwister, was einen Einfluss von als 40 Jahren erweist sich somit für die
Seiten sozioökonomischer Faktoren unwahr- persönliche Anpassung (selbstberichtete und
scheinlich macht. Die Wirkung der niedrigen extern dokumentierte psychische Gesund-
Intelligenz entfaltet sich vermutlich über heit) die familiäre Harmonie als bedeutsams-
vermittelnde Faktoren wie erfahrener Miss- te Größe, und zwar in beiden Geschlechtern.
erfolg, soziale Abwertung, Verengung von Verständlicherweise ist angesichts des dama-
Handlungsoptionen und Berufsmöglichkei- ligen Zeitgeistes, der den Bildungs- und
ten oder auch Frustrationsintoleranz und Berufserfolg für die beiden Geschlechter in
mangelnde Zukunftsorientierung (zu weite- unterschiedlicher Weise moderierte, bei den
ren Befunden s. Jensen, 1998). In der Studie Männern für die berufliche Position der
von Deary und Der (2005) blieb die Korre- Bildungsgrad mit 35 % erklärter Varianz
lation von niedrigem IQ und frühzeitiger wichtiger als bei den Frauen (6 %). Insgesamt
Mortalität auch nach der Kontrolle von sind die damit gesicherten Wirkfaktoren vor
elterlicher Ausbildung, eigener Berufstätig- dem Hintergrund solch umwälzender Ereig-
keit und Rauchen erhalten, verschwand je- nisse wie Erster Weltkrieg und wirtschaft-
doch beim Herauspartialisieren der Reak- liche Depression, die die individuelle Ent-
tionsgeschwindigkeit, weshalb die Autoren wicklung und Planung Einzelner beeinträch-
die Verbindung zwischen niedriger kogniti- tigt haben dürften, doch beachtlich. Diese
ver Fähigkeit und frühzeitigem Tod in einer gesellschaftlichen Erschütterungen ebenso
verminderten Effizienz der Informationsver- wie instabilere Familienverhältnisse in der
arbeitung sehen. Kindheit liefern vielleicht eine gewisse Erklä-
Was den Einfluss von Persönlichkeits- und rung dafür, warum bei ca. 15 % der Begab-
Temperamentsfaktoren angeht, so lagen zu ten der erwartbare Erfolg ausgeblieben ist.
220
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Soziale
Verantwortung 0,15
Bildungsgrad
0,
36
(3
Intellektualität 0,19 5/
6)
(3/3)
,11
–0
–0,20
Intellektuelles 0,08
Berufserfolg
Soziabilität Niveau
7)
0/
)
2/2
(1
5(
28
0,1
0,
Elterliche
Erziehung )
/1
(2
2
,1
–0 Persönliche
8 /7)
0,27 ( Anpassung
Familiäre
Harmonie
Abb. 5.10: Pfadmodell für die Vorhersage von Berufserfolg und persönlicher Anpassung im Erwachse-
nenalter (rechts) durch Persönlichkeitsvariablen im Kindesalter (links). Die Werte in Klammern
geben für die wichtigsten Pfade den gerundeten Prozentanteil aufgeklärter Varianz getrennt
für Männer und Frauen an (nach Tomlinson-Keasy & Little, 1990).
Um einen Intelligenztest als valide beurteilen zu können, müssen die Testwerte eine
Vorhersage auf »intelligentes Verhalten« in den unterschiedlichsten Kontexten ermöglichen.
Gerade zu dieser Fragestellung gibt es eine Vielzahl an Befunden, die stets auf die Validität der
Intelligenzmessung verweisen. Beispielsweise korrelieren die Intelligenztestwerte von Schü-
lern positiv mit der durch ihre Lehrer eingeschätzten Intelligenz. Darüber hinaus werden in
Intelligenztests als minderbegabt klassifizierte Personen (mit einem IQ < 70) den unter-
schiedlichsten Anforderungen des täglichen Lebens nicht gerecht, wobei das Alltagsversagen
umso deutlicher zutage tritt, je niedriger die Intelligenz ist. Umgekehrt imponieren
Hochbegabte (mit einem IQ > 130) mit besonderen Leistungen im wissenschaftlichen oder
künstlerischen Bereich. Ganz generell konnte gezeigt werden, dass Intelligenz ein valider
Prädiktor für komplexe Problemlöseleistungen ist, falls die methodischen Voraussetzungen
zum Aufdecken solcher Zusammenhänge gegeben sind (z. B. muss die Problemlöseleistung
mit ausreichender Reliabilität gemessen worden sein). Auch für das Erlernen verschiedenster
Inhalte (z. B. Wege durch ein Labyrinth, sinnlose Silben, paarweise Assoziationen) zeigt sich
ein positiver Zusammenhang mit Intelligenz. In diesen Bereichen kann mit Korrelationen
von wenigstens 0,30 gerechnet werden. Deutlich größer fällt der Zusammenhang aus, wenn
die Intelligenz mit Schulerfolg korreliert wird, hier betragen die Zusammenhänge wenigstens
0,50. Gerade der Schulerfolg gilt deshalb als ein Kriterium, das vom Intelligenztest besonders
gut vorhergesagt werden kann. Schließlich lässt sich mit Intelligenztestleistungen auch der
221
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Berufsstatus vorhersagen, den eine Person nach der Schule erreichen wird, als auch die
globale Arbeitsleistung oder der Berufserfolg. Auch hier konnten Korrelationen in einer
Größenordnung von 0,50 nachgewiesen werden, stets erweisen sich die Intelligenteren hier
auch als die Erfolgreicheren. In der Gesamtschau kann den gängigen Intelligenztests somit
eine ausgesprochen hohe Validität zuerkannt werden.
Der ganz überwiegende Teil des in den von Problemen, die das Wohlbefinden, die
vorangegangenen Abschnitten dargelegten Bedürfnisse, die Pläne und das Überleben des
Materials gilt einer Intelligenz, die sich Einzelnen betreffen«. Solche Probleme sind
hauptsächlich in Fertigkeiten manifestiert, oft unstrukturiert; sie liefern nicht zugleich
die in der Schule vermittelt und ausgebildet alle benötigten Informationen und keine
werden. Neisser (1976) spricht in Bezug Anhaltspunkte dafür, wann die Lösung
darauf von »akademischer Intelligenz«. erreicht ist. Die Umgebungsbedingungen
Den zu ihrer Erfassung benutzten Aufgaben und die Aufgaben ähneln meist nicht den
sei gemeinsam, dass sie Gegebenheiten in der Schule, wie auch die
Probleme kaum in Multiple-Choice-Form
l von anderen Personen formuliert würden, auftreten bzw. zu beantworten sind.
l meist nur von geringem oder gar keinem Offensichtlich mangelt es den herkömm-
intrinsischen Interesse seien, lichen IQ-Tests an Aufgaben einer solchen
l alle benötigten Informationen von Beginn Form. In welchem Ausmaß die fragliche
an zur Verfügung stellten, Komponente am Verhalten in natürlichen
l von den allgemeinen Erfahrungen mehr Umwelten beteiligt sein mag, lässt sich viel-
oder weniger abgehoben seien. leicht an den sehr niedrigen Korrelationen
absehen, die zwischen herkömmlichen In-
Wagner und Sternberg (1985) haben diesen telligenzmaßen und Maßen für den Erfolg
Merkmalskatalog erweitert und festgehalten, innerhalb von Berufsgruppen bestehen. Den
die Aufgaben Zusammenstellungen von Ghiselli (1966)
sowie Wigdor und Garner (1982) zufolge
l seien gut strukturiert, liegen diese im Mittel nur um r ¼ 0,20. Hier
l hätten meist nur eine richtige Antwort, besteht also ein erheblicher Spielraum, etwa
l oftmals nur einen angemessenen Lö- durch Erfassung der praktischen Dimension
sungsweg. (en) Verbesserung erzielen zu können.
222
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Umwelten aktivieren und durch sie befriedigt Vor- und Nachteile beschaffen (komplexe
werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Leis- realitätsnahe Anforderungen in einem dyna-
tungsmotivation. Allerdings litt die Methode, mischen Geschehen bzw. Unbestimmtheit
»need for achievement« mit Hilfe von TAT- des Lösungsoptimums sowie fragliche Relia-
Adaptationen zu erfassen, unter den Unzu- bilität).
länglichkeiten, die ganz allgemein für projek- Der letzte hier in Anlehnung an Wagner
tive Verfahren typisch sind (s. Abschn. 3.2.1). und Sternberg (1986) referierte Ansatz be-
Auch Fragebogen konnten keine wesentli- ruht auf dem Vergleich von »Experten« und
chen Prädiktionsgewinne etwa gegenüber »Neulingen« in einem Fach hinsichtlich der
Kriterien des Studienerfolges erbringen. Kenntnisse, die sie für die Bewältigung von
Ein anderer Ansatz besteht in der »Critical Anforderungen mitbringen. Untersuchungen
Incidence Technique«. Bei dieser auf Flana- etwa des Schachspiels oder der Computer-
gan (1954) zurückgehenden Methode wer- programmierung haben ergeben, dass die
den Personen gebeten, solche Ereignisse ein- darin Erfahrenen sich eher im Umfang und in
gehend zu beschreiben, mit denen sie entwe- der Organisation der auf das Problem bezo-
der besonders gut und/oder nur sehr schlecht genen Kenntnisse von Unerfahrenen unter-
zurechtgekommen sind. Diese kritischen Er- scheiden als hinsichtlich grundlegender kog-
eignisse (etwa ein gelungener Verkaufsab- nitiver Fähigkeiten. Ein wesentlicher Anteil
schluss oder auch ein Arbeitsunfall) werden an den für die Bewältigung von alltäglichen
dann Inhaltsanalysen mit dem Ziel unter- Anforderungen förderlichen Kenntnissen ist
worfen, die förderlichen oder notwendigen nach Wagner und Sternberg (1985) »still«
Kompetenzen herauszufiltern. (engl. »tacit«), und »stilles Wissen« (engl.
Ein dritter Ansatz sieht die möglichst »tacit knowledge«)
prototypische Simulation von Situationen
vor, die repräsentativ für herausragende An- l sei mehr praktisch als akademisch,
forderungen sind. Die »Postkorbübung« von l mehr informell als formell,
Frederiksen (1966; s. auch den Erfahrungs- l es werde gewöhnlich nicht direkt gelehrt.
bericht von 1986) ist die wohl bekannteste
Simulationsprobe. Dabei findet die Testper- Die Entscheidung eines Wissenschaftlers, bei
son in einem Ablagekasten verschiedene Be- welcher Zeitschrift er ein gerade erstelltes
richte, Briefe, Gesprächsnotizen und Merk- Manuskript zur Veröffentlichung einreichen
zettel, die allesamt Entscheidungshandlun- soll, liefere ein gutes Beispiel für Aufgaben zu
gen verlangen, etwa in der Form, nachzufra- stillem Wissen. Mit der Wahl des Begriffs
gen, Auskunft zu geben oder eine Aufgabe zu »stilles Wissen« wollten die Autoren nicht
delegieren. Eine andere Variante stellt das ausdrücken, dass das besagte Wissen etwa
Assessment-Center dar, in dem Kleingruppen dem Bewusstsein nicht zugänglich sei. Viel-
in mehreren Situationen (etwa der Postkorb- mehr würde dieses Wissen gewöhnlich nur
übung, fiktiven Interviews o.Ä.) agieren müs- nicht direkt vermittelt. Die Resultate, die mit
sen. Die Struktur dieser Simulationsproben dieser Methode erzielt werden können, sind
kommt den unter Abschnitt 5.3.2 diskutier- erfolgversprechend, wie das in Kasten 5.1
ten Problemlöseaufgaben recht nahe; ent- dargestellte Beispiel aus dem universitären
sprechend sind auch die damit verbundenen Bereich erkennen lässt.
223
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Wagner (1987) legte drei Gruppen von Personen, die innerhalb der akademischen
Psychologie unterschiedlich erfahren waren, in schriftlicher Form berufsbezogene Pro-
blemsituationen vor, die eine Abschätzung des stillen Wissens erlauben sollten. Die Items
waren etwa von folgendem Format:
»Nach zwei Jahren als wissenschaftlicher Assistent und der Publikation zweier
empirischer Beiträge in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften ist es Ihr Ziel, in die
Gruppe der Top-Leute Ihres Faches vorzudringen und eine Lebenszeitanstellung an Ihrem
Institut zu bekommen. Nachfolgend sind verschiedene Aktivitäten aufgelistet, die während
der nächsten zwei Monate entfaltet werden könnten – natürlich nicht alle auf einmal.
Schätzen Sie die relative Wichtigkeit jeder der Optionen für das Erreichen Ihrer Ziele ein:
Den »Schlüssel« für die Ermittlung der individuellen Punktwerte, also die Festlegung der
»richtigen« Antworten, hatten elf herausragende Experten angesehener Universitäten mit
ihren Antworten geliefert.
Die Mittelwerte von 90 Hochschullehrern, 61 Master- sowie 60 Bachelorstudenten für
»stilles Wissen« lauteten 216, 244 und 312 und unterschieden sich damit in vorhergesagter
Richtung voneinander (hohe Werte stehen als Abweichung von den Expertenurteilen für
niedriges stilles Wissen).
Die Korrelationen der Abweichungswerte in stillem Wissen von den Expertenurteilen mit
verschiedenen Kriterien sind getrennt für jene beiden Gruppen in Tabelle 5.3 wiedergege-
ben, für die entsprechende Daten verfügbar waren.
Tab. 5.3: Korrelationen zwischen Werten in »stillem Wissen« und Kriteriumsmaßen für Tätigkeiten
in der akademischen Psychologie.
Hochschullehrer
Von Fakultätskollegen eingeschätzte Qualifikation 77 –0,48*
als Hochschullehrer
Anzahl der Zitationen 59 –0,44*
Anzahl der Publikationen 59 –0,28*
Zeitaufwand für Lehre 79 0,26*
Zeitaufwand für Forschung 79 –0,41*
Zeitaufwand für Verwaltung 79 0,19*
224
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
Tab. 5.3: Korrelationen zwischen Werten in »stillem Wissen« und Kriteriumsmaßen für Tätigkeiten
in der akademischen Psychologie. – Fortsetzung
Masterstudenten
Eingeschätzte wissenschaftliche Qualifikation 61 –0,46*
Anzahl der Publikationen 59 –0,25*
Anzahl der Vorträge 80 –0,12*
Zeitaufwand für Lehre 79 0,15*
Zeitaufwand für Forschung 79 –0,48*
Wie ersichtlich korreliert stilles Wissen mit der allgemeinen Reputation in einem Fach. Im
Einzelnen investieren die Kundigen mehr Zeit in die Forschung als in die Lehre oder
Verwaltung, weil Forschung offenkundig für die Karriere sehr viel ausschlaggebender ist.
Weitere Untersuchungen finden sich bei tik geübt und vor einer Übergeneralisation
Sternberg et al. (2000). Am Ertrag dieser der mit diesem Ansatz erzielten Ergebnisse
Forschungen und ihrer Dokumentation hat gewarnt.
Gottfredson (2001) allerdings deutliche Kri-
Das klassische Intelligenzkonzept zielt auf Denkaufgaben, bei denen ein Problem klar
formuliert und mit allen zur Lösung benötigten Informationen vorgelegt wird. Dies ist in
der Lebenspraxis aber oft nicht der Fall, und deshalb haben einige Forscherinnen und
Forscher versucht, dem psychometrischen Intelligenzkonzept alltagsrelevante Faktoren an
die Seite zu stellen. Solche Faktoren sind das Leistungsmotiv, die Kenntnisse über den
Problemkontext (inkl. das »tacit knowledge«) und die Leistungen in Simulationen von
(komplexen) Alltagsaufgaben. Zu einer Formulierung eines geschlossenen Konzeptes der
»Praktischen Intelligenz« konnten diese Forschungsbemühungen allerdings nicht führen,
zu heterogen sind die verfolgten Ansätze.
225
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
226
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
227
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Einiges spricht dafür, dass die Anwendung aufschub abgehandelt werden, also weniger
des Ansatzes der Handlungshäufigkeiten zum Leistungs- als zum Temperamentsbe-
(s. Abschn. 1.6.3) auf das SI-Konstrukt, also reich gehören. Zwischenzeitlich hat Stern-
eine strikte Orientierung an konkret beob- berg (2003b) seine Theorie zu einer soge-
achtbaren Verhaltensweisen, zu verbesser- nannten triarchischen Theorie spezifiziert,
ten psychometrischen Gütekriterien führt. innerhalb deren sich Erfolgsintelligenz nach
Jedenfalls konnte die befriedigende Validität einer Legierung von analytischen, kreativen
einer Liste von 40 Verhaltensweisen, die und praktischen Fähigkeiten bemisst. Diese
hoch prototypisch für SI waren, gegenüber Fähigkeiten seien letztlich das Ergebnis einer
Fremdeinschätzungen von SI gezeigt werden Interaktion von drei Komponenten der In-
(Amelang et al., 1989). formationsverarbeitung, nämlich Metakom-
ponenten, Performanzkomponenten und
Komponenten des Wissenserwerbs. Nach-
5.5.3 Erfolgsintelligenz dem ein erster Test zur Erfassung von Er-
folgsintelligenz auf Kritik gestoßen ist, hat
Eine andere Form von »Intelligenz« propa- Sternberg das Forschungsprogramm detail-
gierte Sternberg (1998) unter dem Begriff lierter umrissen (Sternberg, 2003a, b).
»Erfolgsintelligenz« (engl. »successful intelli-
gence«). Dabei handelt es sich um 20 Eigen-
schaften, die zusätzlich zu einem Basisniveau 5.5.4 Emotionale Intelligenz
an Wissen, Bildung und Kreativität vorhan-
den sein müssen, damit sich im Leben beruf- Ein Konstrukt, das in der Öffentlichkeit auf
licher Erfolg einstellt. Nach Sternberg moti- ein besonderes Interesse gestoßen ist, ist die
vieren sich Menschen mit Erfolgsintelligenz »Emotionale Intelligenz« (z. B. Mayer & Salo-
selbst, kontrollieren ihre Impulse, wissen, vey, 1993, 1995; Salovey & Mayer, 1990).
wann sie durchhalten müssen, wissen das Die Überlegenheit des Konzeptes der Emotio-
Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen, setzen nalen gegenüber der Sozialen Intelligenz soll
ihre Gedanken in Taten um, sind ergebnis- darin bestehen, dass sich die Emotionale
orientiert, bringen ihre Aufgaben zu Ende, Intelligenz stärker von der Allgemeinen Intel-
sind initiativ, haben keine Angst vor Fehl- ligenz unterscheide als die Soziale Intelligenz
schlägen, schieben nichts auf die lange Bank, (Mayer & Salovey, 1993). Ähnlich wie bei der
akzeptieren berechtigte Kritik, lehnen Selbst- Sozialen Intelligenz handelt es sich bei der
mitleid ab, sind unabhängig, überwinden Emotionalen Intelligenz um ein Konglomerat
persönliche Schwierigkeiten, konzentrieren von Faktoren, die sich auf das inter- und
sich auf ihre Ziele, kennen den schmalen Grat intraindividuelle Gefühlsmanagement bezie-
zwischen Über- und Unterforderung, können hen. Definiert wird Emotionale Intelligenz als
lange warten, können den Wald und die
Bäume sehen, glauben an ihre Fähigkeit, die »the ability to perceive accurately, appraise, and
eigenen Ziele zu erreichen, und denken glei- express emotion; the ability to access and/or
chermaßen analytisch, kreativ und praktisch. generate feelings when they facilitate thought;
the ability to understand emotion and emotional
Viele der aufgelisteten Komponenten von knowledge; and the ability to regulate emotions to
Erfolgsintelligenz erinnern an Eigenschaf- promote emotional and intellectual growth« (Ma-
ten, die bei anderen Autoren (und teilweise yer & Salovey, 1997, S. 10).
auch im vorliegenden Text) unter Begriffen
wie Ausdauer, Selbstsicherheit, Impulsivität, Andere Autoren betrachten Emotionale
Frustrationstoleranz, Bekräftigungsüberzeu- Intelligenz eher als Kompetenz und bezeich-
gung, Feldunabhängigkeit oder Belohnungs- nen sie damit eher unbestimmt als
228
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
»an array of non-cognitive capabilities, competen- von Emotionaler Intelligenz möglich ist (z. B.
cies, and skills that influence one’s ability to Palmer et al., 2005). Weiterhin problematisch
succeed in coping with environmental demands
and pressures« (Bar-On, 1997, S. 16).
ist bei diesem Test die Bestimmung der als
»richtig« gewerteten Antworten. Im deutsch-
Die unterschiedlichen Definitionen von sprachigen Raum entwickelten Schmidt-At-
Emotionaler Intelligenz spiegeln sich auch in zert und Bühner (2002) den »Test zur Erfas-
den zugehörigen Operationalisierungen des sung von Emotionaler Intelligenz« (TE-
Konstruktes wider. Als Fähigkeit verstanden MINT) als vielversprechendes Verfahren
wird Emotionale Intelligenz bevorzugt mit (c Kasten 5.2). Da Leistungstests und Selbst-
Hilfe von Leistungstests erfasst, während berichte hier meist kaum miteinander korre-
andere Verfahren auf Selbstberichte zurück- lieren, haben sich Petrides und Furnham
greifen. Der bekannteste Leistungstest ist der (2003) dafür ausgesprochen, von der Eigen-
von der Autorengruppe um Salovey und schaft Emotionale Intelligenz (EI-Eigenschaft,
Mayer entwickelte MSCEIT. Einige (aber erfasst durch Selbstberichte) und von der
nicht alle) Befunde sprechen dafür, dass damit Fähigkeit Emotionale Intelligenz (EI-Fähig-
eine hinreichend reliable und valide Erfassung keit, erfasst durch Leistungstests) zu sprechen.
EQ-Test
Zu zehn verschiedenen Szenarien sollen die Probanden eine von vier Alternativen wählen,
z. B.» Stellen Sie sich vor, Sie gehen zur Schule und haben in einem bestimmten Fach auf eine
›1‹ gehofft; im Zwischenzeugnis müssen Sie aber feststellen, dass Sie nur eine ›3–‹
bekommen haben. Wie reagieren Sie?«
a) Ich lege mir einen Plan zurecht, wie ich meine Note verbessern kann, und nehme mir vor,
mich streng daran zu halten.
b) Ich nehme mir vor, in Zukunft bessere Noten zu erzielen.
c) Ich sage mir, dass es eigentlich gar keine Rolle spielt, wie ich in diesem Fach abschließe,
und konzentriere mich stattdessen auf andere Fächer, in denen meine Noten besser sind.
d) Ich suche meinen Lehrer auf und versuche ihn zu überreden, mir eine bessere Note zu
geben.
d) (Goleman, 1995).
229
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
»Objektive Tests«
Items zur Erfassung der Emotionswahrnehmung: Die Probanden bekommen unterschied-
liche Materialien – und zwar Bilder von Gesichtern bzw. Farben sowie Ausschnitte aus
Musikstücken dargeboten, auf welche sie ihre Reaktion auf den Emotionsskalen Glück,
Trauer, Wut, Furcht, Überraschung und Ekel angeben sollen. Getrennt für die Material-
arten werden gesonderte Punktwerte errechnet.
nicht vorhanden oder schwach bis mittel stark bis sehr stark
sehr schwach
Abneigung £ £P Q
Ärger £ £ QP
Angst Q £ £
Unruhe £ £ QP
Traurigkeit £ £ QP
Schuldgefühl Q £P £
Freude Q £ £
Stolz £P Q £
Zuneigung QP £ £
Überraschung £ Q £P
230
5 Grundlagen und Korrelate der Intelligenz
gesamt sechs Skalen zur Erfassung von EI- (keine Unterscheidung zwischen EI-Fähigkeit
Eigenschaft vorgegeben, die sich bezüglich und EI-Eigenschaft). Da es sich um ein
ihrer konvergenten und diskriminanten Vali- »junges« Konstrukt handelt, kommt der
dität unterscheiden sollten. Die einzelnen Frage einer inkrementellen Validität von
Aspekte von EI-Eigenschaft wiesen eher mo- Emotionaler Intelligenz eine besondere Be-
derate Korrelationen mit etablierten Per- deutung zu, da sich nur damit ein eigenstän-
sönlichkeitskonstrukten wie Neurotizismus, diger Validitätsbereich des Konstrukts bele-
Verträglichkeit etc. auf. Daher kamen die gen lässt. Die meisten Studien zur inkremen-
Autoren zu dem Schluss, dass es sich bei tellen Validität von Emotionaler Intelligenz
EI-Eigenschaft durchaus um eine von etab- beziehen sich auf soziale Kriterien, z. B.
lierten Persönlichkeitskonstrukten verschie- Qualität der Beziehung, delinquentes Verhal-
dene und damit eigenständige Eigenschaft ten oder Drogenkonsum (z. B. Lopes et al.,
handele. 2004). In Bezug auf den inkrementellen
Die Zusammenhänge mit psychometri- Beitrag sowohl von EI-Fähigkeit als auch
scher Intelligenz sind sehr niedrig und meist EI-Eigenschaft bei der Vorhersage von Leis-
nicht signifikant, wie eine Meta-Analyse von tungskriterien konnten bisher noch keine
van Rooy und Viswesvaran (2004) ergab. überzeugenden Belege angeführt werden.
Hier setzt die Kritik von den Vertretern der Beispielsweise trugen weder EI-Fähigkeit
EI-Fähigkeit an, wonach es sich bei Emotio- noch EI-Eigenschaft einen eigenständigen
naler Intelligenz um eine Facette von Intelli- Beitrag bei der Vorhersage von Schulnoten
genz handelt, die auch Zusammenhänge mit bei (Brackett & Mayer, 2003). Auch Ame-
eben dieser Dimension aufweisen sollte (Ma- lang und Steinmayr (2006) konnten durch
yer et al., 1999). Korrelationen in einer Höhe Emotionale Intelligenz keine zusätzliche Va-
von etwa 0,30 wurden für den MSCEIT rianz in der Schulleistung oder dem Berufs-
berichtet (Mayer et al., 2004). Die durch- erfolg über Allgemeine Intelligenz und Ge-
schnittlichen Korrelationen von EI-Fähigkeit wissenhaftigkeit hinaus vorhersagen.
mit den Persönlichkeitskonstrukten des Fünf- Gerade wegen des relativ jungen Alters des
Faktoren-Modells (Big Five; s. Abschn. 7.5) Konstruktes Emotionale Intelligenz ist eine
sind mäßig, wobei theoriekonform EI-Fähig- verbindliche Bewertung derzeit noch nicht
keit mit 0,21 am höchsten mit Verträglichkeit möglich. Matthews et al. (2004) bezeichne-
korreliert. ten es als eines der Hauptprobleme, dass es
Besonderes Augenmerk kommt der Krite- keine klare und eindeutige Definition und
riumsvalidität von Emotionaler Intelligenz Konzeptualisierung von Emotionaler Intelli-
zu. Die Meta-Analyse von van Rooy und genz gebe. Was auch immer die Forschung in
Viswesvaran (2004) ließ eher niedrige Va- Bezug auf Emotionale Intelligenz zukünftig
liditäten von Emotionaler Intelligenz zwi- erbringen wird, so bleibt doch festzuhalten,
schen 0,10 und 0,24 mit beruflichen und dass die anfänglich kühnen Erwartungen der
akademischen Kriterien sowie solchen einer Protagonisten (s. Goleman, 1995, 1998)
erfolgreichen Lebensführung erkennen kaum in Erfüllung gehen werden.
231
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
232
6 Kreativität
Selten hat eine Teildisziplin innerhalb eines beklagt und die Erforschung, Erfassung und
kurzen Zeitraums einen so rapiden Auf- Förderung der Kreativität nicht nur gefor-
schwung genommen wie gerade die Unter- dert, sondern zugleich in integrierender
suchung kreativen, originalen, produktiven, Weise angeregt wurde. Das andere kritische
divergenten oder imaginativen Denkens. Ereignis war wenige Jahre später (1957) der
Frierson stellte seit den ersten Untersuchun- durch die Sowjets und ihren ersten erfolg-
gen von Galton über schöpferische Begabung reich ins Weltall geschossenen Satelliten her-
eine exponentielle Zunahme der publizierten vorgerufene »Sputnik-Schock«. Zumindest
Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet fest. auf naturwissenschaftlich-technischem Ge-
Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess kam biet, bei der Öffnung neuer Dimensionen der
zwei Ereignissen von höchst unterschiedli- Technologie, schien damit ein Defizit gegen-
chem Charakter zu. Wegweisend war die über der damaligen UdSSR evident. Um
Presidential Address von Guilford (1950) an diesen Rückstand wettzumachen, wurden
die American Psychological Association bekanntlich immense Anstrengungen unter-
gewesen, in der das lange Zeit verschüttet nommen, in deren Verlauf erhebliche Mittel
gewesene Reizwort »creativity« wieder auf- auch der Kreativitätsforschung zuflossen.
gegriffen, der Mangel an kreativen Personen Obgleich in Detailfragen deutlich ver-
in Wissenschaft und Wirtschaft der USA schiedene Akzentuierungen erkennbar sind,
233
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
standen begriffliche Festlegungen einer In- verwirklichen lässt. Sie muss dazu dienen, ein
tensivierung der Arbeit kaum im Wege: Für Problem zu lösen, einen Zustand zu verbes-
Barron (1965, S. 3) kann »Kreativität – ganz sern oder ein vorhandenes Ziel zu voll-
einfach – als die Fähigkeit definiert werden, enden.« Als Dimensionen kreativer Tätigkeit
etwas Neues zu schaffen«. listete Johnson (1972, S. 276/77) neben Ori-
Mit dem Begriff des Neuen, der meist als ginalität, Ungewöhnlichkeit und Nützlich-
Synonym mit originell gebraucht wird, ist keit zusätzlich Sensitivität gegenüber Proble-
bereits das am häufigsten angeführte Krite- men (Fähigkeit zum Identifizieren und For-
rium für Kreativität genannt. Gleichwohl mulieren von Fragen), intellektuelle Füh-
bleibt in einer solchen Umschreibung das rerschaft (Einfluss auf die Forschungsinhalte
Problem offen, wer über die relative Origina- nachfolgender Wissenschaftler), Scharf-
lität entscheidet und ob statistische Seltenheit sinn und Erfindergeist, Angemessenheit und
an sich im Sinne der Abweichung von irgend- Breite (der Verwendbarkeit bzw. des Einflus-
welchen Normen als eine Bedingung für ses) auf.
kreative Produkte bzw. Personen erachtet Der Begriff der »Kreativität« bedarf zu-
werden kann. Stein (1953; deutsch 1973) trug mindest außerhalb von Forschungszirkeln
diesen Überlegungen Rechnung und hielt fest: keiner weiteren Erläuterung, um hinreichend
»Ein kreatives Produkt ist ein neues Pro- eindeutig verstanden zu werden. Ähnlich wie
dukt, das von einer Gruppe zu irgendeinem im Falle der definitorischen Abgrenzung der
Zeitpunkt als brauchbar oder befriedigend Intelligenz sind letztlich auch hier die für die
angesehen werden kann«. Nicht Neuigkeit an wissenschaftliche Untersuchung des Phäno-
sich, sondern der daraus resultierende Nutzen mens wesentlichen Impulse zum geringeren
wird damit zur entscheidenden Größe. Teil von verbalen Umschreibungen als viel-
Um auch den nichtmateriellen Produkten mehr von der Konstruktion entsprechender
Raum zu geben, bezeichnete MacKinnon Tests und den mit ihnen erhaltenen Resulta-
(1962, S. 485) Kreativität als »eine Antwort ten ausgegangen.
oder Idee, die neu ist oder im statistischen Diese Verfahren sollen deshalb zunächst
Sinne selten…die sich ganz oder teilweise dargestellt werden.
Die psychologische Kreativitätsforschung nahm ab 1950 ein starken Aufschwung, auch, weil
sie als bedeutsam für die technologische Entwicklung erkannt wurde. Als Kernaspekt von
Kreativität wurde die Schaffung von etwas Neuem, Originellem und Nützlichem angesehen.
234
6 Kreativität
schäftigung mit Kreativität auf die Analyse Werden bei einem solchen Ansatz die sehr
bedeutender Persönlichkeiten und ihres Le- verschiedenartigen, aber doch in allen Fäl-
benswerks zurück. Das Studium von Selbst- len weit überdurchschnittlichen Leistungen
und Fremdbiographien sowie aller weiteren kreativer Personen zum Zwecke der Ver-
verfügbaren Materialien über berühmte Wis- gleichbarkeit auf eine gemeinsame Dimen-
senschaftler, Künstler und Politiker sollte sion, nämlich Intelligenz, projiziert, ist es von
ein möglichst weitreichendes Verständnis hier doch noch ein erheblicher Schritt, Krea-
für die Ursachen und Begleitfaktoren von tivität wie andere Konstrukte als kontinuier-
deren Einzigartigkeit ermöglichen. Auch liche, normalverteilte Variable aufzufassen,
wenn letztlich versucht wird, über mehrere die als Qualität allen Personen zukommt und
derartige Analysen hinweg die Resultate in unterschiedlicher Ausprägung bei jedem
schlussfolgernd zusammenzufassen, bleibt gemessen werden kann. Implizit ergeben sich
doch zunächst die unverwechselbare, in dabei Fragen nach der Reliabilität des Merk-
ihrem Werk einmalige Person Gegenstand mals und dessen Expressivität: Was bedeutet
der Betrachtung, die mit anderen Personen es, wenn jemand zur großen Gruppe der
gerade wegen ihrer Einzigartigkeit kaum zu Probanden mit durchschnittlichen Kreativi-
vergleichen ist (¼ idiographischer Ansatz). tätswerten gehört? Werden dann nur hin und
Die historiometrische Analyse stellt eine wieder im Laufe eines Lebens herausragende
Methode dar, die Leistungs- und Charakter- Leistungen zu erwarten sein oder aber solche
merkmale herausragender Persönlichkeiten von mittlerer Bedeutung, aber häufigem
unter Rückgriff auf biographisches Material, Auftreten? Ist es nicht sinnwidrig, wenn etwa
Briefe und Tagebücher zu quantifizieren und Cooper und Richmond (1975) geistig behin-
damit einem Vergleich zugänglich zu ma- derte Kinder in Bezug auf das Ausmaß ihrer
chen. Kreativität untersuchen, wo doch mehr das
Ausmaß ihrer Beeinträchtigung und Schu-
Von John Stewart Mill etwa war bekannt, dass er lungsfähigkeit interessieren sollte? Aufgrund
mit drei Jahren lesen konnte. Da üblicherweise erst
solcher Probleme (s. dazu auch Dellas &
die Sechs- bis Siebenjährigen lesen lernen (Intelli-
genzalter ¼ 6), resultiert daraus eine Schätzung Gaier, 1970; Albert, 1975) hat Nicholls
des IQ von 200. Des Weiteren ist ein Verständnis (1972) für Kreativität den Verzicht auf den
für Algebra erst mit etwa 14 Jahren vorhanden; bei Eigenschaftsansatz gefordert und stattdessen
Mill war dies bereits im achten Lebensjahr der vorgeschlagen, mehr als bisher die Beschäf-
Fall, weshalb aus diesem Umstand der IQ auf 175
geschätzt werden kann. Als Mittel solcher Werte tigung auf kreative Produkte und die Bedin-
ergab sich ein IQ von 190 für die Kindheit Mills gungen kreativer Tätigkeit zu konzentrieren.
und ein solcher von 170 für dessen Jugend, und Ein Fokus auf kreative Produkte ist auch
zwar im Zuge einer Sichtung des über 300 »emi- angezeigt, wenn es um die Bestimmung der
nent men« vorliegenden, von drei unabhängigen
externen Validität der als Kreativitätstests
Psychologen unter Cox (1926) aufgearbeiteten
Materials. Goethe, der im Alter von acht Jahren bezeichneten Verfahren geht. Solche Skalen
Gedichte auf lateinisch verfasste, erhielt für die tragen ihren Namen nur insoweit mit einem
Kindheit einen IQ von 185, für die Jugend einen gewissen Recht, als mit ihrer Hilfe die Diffe-
solchen von 200 zugeschrieben, Pascal insgesamt renzierung kreativer Menschen, die man als
180, Voltaire 175, Mozart 155 und Darwin ca.
145. Terman (1917) hatte schon zuvor nach solche aufgrund kreativer Produkte identifi-
ähnlichem Modus den IQ von Galton auf ca. 200 zieren kann, erfolgreich möglich ist.
geschätzt. Die höchsten Werte erzielten im Durch- Auch dann wäre es aber verfehlt, worauf
schnitt die Philosophen, dann Dichter und Staats- Krause (1972, S. 35) hinweist, Probanden
männer, Volks- und Betriebswissenschaftler, Mu-
siker und Künstler. Das Schlusslicht bildeten
mit hohen Werten in solchen Tests als »krea-
berühmte Militärs mit einem durchschnittlichen tiv« zu bezeichnen, weil hohe Werte in einem
IQ von 125. Kreativitätstest zwar notwendige, nicht aber
235
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
zugleich hinreichende Bedingung für schöp- gen ihrer unscharfen Konturen zudem ver-
ferische Betätigung im Leben sein mögen. schiedene Lösungen, die sich in Funktionali-
Denn außer den kognitiven Faktoren sind tät und Nutzen unterscheiden mögen. Für die
Persönlichkeitsmerkmale und situative Be- Bewältigung der ersteren Kategorie von Auf-
dingungen für die Erklärung des konkreten gaben bedarf es konvergenten Denkens,
Verhaltens vonnöten. Diesen Erwägungen während für den Umgang mit dem letzteren
entsprechend ist ein Modell der »4 P-U- Problemtyp divergentes Denken vonnöten
Interaktion« (Urban, 1993, S. 163) formuliert ist. Konvergentes Denken stand lange Zeit im
worden: die Konfiguration von Problem- Fokus von Intelligenztests, wohingegen di-
Person-Prozess-Produkt im Rahmen der vergentes Denken zunächst gleichgesetzt
Umwelt, auf deren Seite Mikro- und Makro- wurde mit Kreativität, eine Dichotomie aller-
komponenten als anregende oder hemmende dings, die nicht mehr beibehalten wird, wie
Faktoren zu unterscheiden sind (c Abb. 6.1). noch darzulegen ist.
Die Zweckmäßigkeit des nomothetischen
Ansatzes, dem in der empirischen Kreativi-
Faktoren der MIKRO-UMWELT ...
tätsforschung gefolgt wird, bemisst sich
hauptsächlich nach dem Ertrag der daran
Person ausgerichteten Verfahren, weshalb diese zu-
kognitive
Problem und nächst vorgestellt werden sollen.
personale
Merkmale
236
6 Kreativität
Die Charlie-Aufgabe
Wie allabendlich kommt Bill nach der Arbeit in sein Heim zurück. Als er die Wohnzim-
mertür öffnet, entdeckt er Charlie tot am Boden liegend. Er sieht außerdem eine
Wasserpfütze und Glasscherben auf dem Fußboden. Milly kauert verstört auf dem Sofa.
Als Bill die Szene sieht, weiß er sofort, was passiert ist. Wie ist Charlie zu Tode gekommen?
Lösung:
Das gläserne Aquarium mit dem Goldfisch Charlie war von der Katze Milly auf den
Fußboden geworfen worden, wo es zerbrach und Charlie erstickte.
Das 9-Punkte-Problem
2.
3.
4.
1.
Originalität bemisst sich nach dem Ausmaß sicher; die Stabilität über der Zeit-Aufsatz-
relativer Seltenheit (Guilford-Schule) bzw. Kombination war immerhin so hoch, dass
absoluter Einzigartigkeit. daraus auf relative Konstanz des Merkmals
Die Reliabilität der Skalenwerte erreicht Kreativität geschlossen werden konnte.
nicht das Niveau von allgemeinen Leistungs- Grundsätzlich stellt sich bei allen Verfah-
tests, liegen die – meist nach der Splithalf- ren das Problem, »ob ein kreativer Prozess
Methode bestimmten – Koeffizienten mehr- durch einen bestimmten Reiz – wie ihn der
fach doch nur zwischen 0,60 und 0,80. Test ja bedeutet – ausgelöst werden kann«
Wallen und Stevenson (1960) ließen im Ver- (Ulmann, 1968, S. 72). Mit Hilfe der Testsi-
lauf mehrerer Wochen 63 Schüler durch- tuation ist die für Kreativität zu fordernde
schnittlicher Intelligenz insgesamt vier Auf- Spontaneität nicht realisierbar, da den Pro-
sätze mit verschiedener Themenstellung banden bestimmte Reize vorgegeben werden,
schreiben (»Frühling«, »Muttertag« u.a.). auf die sie reagieren sollen. Um diesbezüglich
Fünf Lehrer beurteilten die Aufsätze nach die für einen kreativen Prozess günstigeren
dem Ausmaß der darin geäußerten Kreativi- Voraussetzungen zu schaffen, stellten Wal-
tät. Eine Diskussion nach dem ersten Beurtei- lach und Kogan (1965) eine entspannte
lungsdurchgang stellte eine Übereinstim- Spielsituation her, in der keinerlei oder doch
mung zwischen den Beurteilern um r ¼ 0,90 sehr großzügig bemessene Zeitbegrenzungen
237
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
238
6 Kreativität
füllt, für die Skalen entwickelt bzw. Fak- darüber, was im Zusammenhang mit der
toren gesichert werden konnten. Die Auf- Extraktion von SI-Faktoren als »gesichert«
listung kann keinen Anspruch auf Voll- zu gelten hat, auseinandergehen (s. dazu
ständigkeit erheben, weil die Vorstellungen Abschn. 4.3.5).
Memory
S M B
F S M B
Di v e r g e n t Convergent Evaluation
F S M B F S M B F S M B
Abb. 6.3: Guilfords »Structure of Intellect«-Modell in den für die Erfassung der Kreativität
relevanten Teilen.
DSU: Wörter aufschreiben, die einen bestimmten Buchstaben enthalten oder mit
einer bestimmten Silbe beginnen.
DMU: Gedanken aufschreiben, die zu einer gegebenen Überschrift (z. B. »Gleis-
arbeiten«) passen. Sachen aufzählen, die rund sind. Anwendungsmöglichkei-
ten eines normalen Backsteines nennen.
DMC: Ähnlich DMU; häufig entspricht der Punktwert jedoch nicht der Anzahl der
Gegenstände oder Verwendungsmöglichkeiten, sondern der Anzahl der
unterschiedlichen Klassen, in die die Lösungen fallen.
DMR: Synonyme Begriffe für mehrere vorgegebene Wörter aufschreiben. Ausfüllen
einer Lücke in einem vorgegebenen Status mit passendem Wort.
DFS: Aus vorgegebenen Figuren und Linien bestimmte Gegenstände (z. B. »Lam-
pe«) konstruieren.
DMS: Zu vorgegebenen Zahlenreihen eine Anzahl von verschiedenen Gleichungen
konstruieren.
DSS: Mehrere Sätze aufschreiben, von denen jeder vier vorgegebene Wörter
enthalten muss.
DFT: Von vorgegebenen Gebilden aus Streichhölzern sollen so viele Hölzer
weggenommen werden, dass eine instruktionsgemäße Anzahl von Quadraten
oder Dreiecken entsteht.
DMU/DMT: Einfache Symbole nennen, die bestimmte Aktivitäten oder Sachen repräsen-
tieren.
239
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
240
6 Kreativität
241
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
teilt. Noch besser fallen die Validitäten für sich aus der Kombination von Ausmaß
die aus der »Adjective-Check-List« entwi- an Engagement in kreativen Aktivitäten
ckelten Kreativitätsskalen aus (Gough, und der sogenannten Spitzenkreativität in
1979), bei denen also globale Eigenschafts- jeweils beruflichem und außerberuflichem
zuschreibungen (»geistreich«, »kompli- Bereich ergaben. Erfordert ein solcher An-
ziert«, »aufgeweckt« usw.) zu einem Wert satz den intensiven Einsatz von Zeit und
für individuelle Kreativität verrechnet wur- Personal, trifft das nicht zu für einen nach
den (für einen Validitätsvergleich zwischen dem Ansatz der Handlungshäufigkeiten
solchen Listen s. Domino, 1994). (s. Abschn. 1.6.3) entwickelten Fragebogen
Mit derartigen Eigenschaftswörterlisten zur Erfassung von Kreativität in alltäglichen
und auch mit den Guilford-Tests zum diver- Situationen (s. Amelang et al., 1991), der sich
genten Denken korrelierten die Punktwerte herkömmlichen Kreativitätstests mit Leis-
der Skala »Openness to Experience« aus der tungscharakter bei der Vorhersage von
5-Faktoren-Batterie des NEO-PI-Tests in der Fremdbeurteilungen überlegen zeigte, was
Größenordnung um 0,35 (McCrae, 1987). die Auffassung von Hocevar (1981) bestä-
Auch biographische Fragebogen oder solche tigt, wonach Fragebogen sich zur Erfassung
zur Erfassung kreativer Aktivitäten wurden von Kreativität besonders gut eignen.
mit Erfolg eingesetzt (s. z. B. Taylor, 1964; Dieser kurze Überblick über Verfahren,
Hocevar, 1980). Ein Beispiel dafür sind die mit denen die einflussreichsten Untersuchun-
von Richards et al. (1988) zur Erfassung von gen angestellt wurden, soll es erleichtern, die
Alltagskreativität durchgeführten Inter- nachfolgend referierten Studien und deren
views. Die erhobenen Informationen wurden Ergebnisse angemessen einordnen und wür-
in die vier Komponenten kategorisiert, die digen zu können.
Wenn Kreativität als eine Eigenschaft verstanden wird, die allen Menschen zukommt
(nomothetischer Ansatz), wird gerade die Untersuchung des Einzigartigen und Besonderen
(idiographischer Ansatz) diesem Verständnis nicht gerecht. Die Beschreibung hochkrea-
tiver Personen in Kunst und Wissenschaft kann die Bedingungsfaktoren und Konstanten
der Kreativität möglicherweise besser, unter Einschluss quantitativer Methoden, heraus-
arbeiten (»historiometrische Analyse«). Diese Überlegung lenkte den Blick von Kreativität
als Eigenschaft auf die Frage der Produkte der Kreativität. Das »4 P-U-Modell« beschreibt
ein kreatives Produkt als Ergebnis eines Problem-Person-Prozess Zyklusses mit Mikro- und
Makro-Umweltkomponenten als anregenden oder hemmenden Faktoren.
Die Hauptmethoden der Kreativitätsmessung bestehen in biografischen Methoden,
Selbstbeurteilungsverfahren, Fremdbeurteilungsverfahren und psychometrischen Tests.
Häufig werden offene Formen der Beantwortung verwendet, weil eine schablonenhafte
Auswertung die Einzigartigkeit besonderer kreativer Leistung nicht erfassen könnte;
hierunter leidet aber offensichtlich die Auswertungsobjektivität. Im Rahmen seines
»Structure of Intellect«-Modells hat Guilford die Scheibe des divergenten Denkens für
eine systematische Testentwicklung herangezogen. Damit ließen sich verschiedene Aspekte
kreativen Denkens erfassen. Beispiele finden sich in Kasten 6.2. In anderen Testentwick-
lungen stand oft der Guildford-Test »Verwendungsmöglichkeiten« Pate. Ein häufig
verwendeter Kreativitätstest ist der »Remote Associates Test«, bei dem die assoziative
Verknüpfung von drei vorgegebenen Worten zu einem neuen Wort gefunden werden muss.
242
6 Kreativität
243
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
244
6 Kreativität
Vorgabebedingungen bei. Da ihrer Meinung etwa null betragen, für Personen mit niedriger
nach Zeitdruck und Testcharakter Kovaria- Intelligenz dagegen positiv ausfallen sollte.
tionen erzeugen, gaben sie die Verfahren in Preckel et al. (2006) untersuchten diese Vor-
einer spielerischen Situation vor. Die Resul- hersage an 1328 Schülern. Allgemeine fluide
tate bestätigten ihre Annahme. Es fanden Intelligenz (gemessen mit dem CFT 20) kor-
sich relativ hohe Interkorrelationen zwischen relierte mit Kreativität (gemessen mit dem
den Kreativitätstests (r ¼ 0,41) und zwischen Test »Einfallsreichtum« des Berliner Intelli-
den Intelligenztests (r ¼ 0,51), aber niedrige genzstrukturtests) allerdings in den beiden
Beziehungen zwischen Kreativitäts- und In- Gruppen mit hoher (IQ > 120) und niedrige-
telligenztests (r ¼ 0,09). rer (IQ < 120) Intelligenz mit ca. r ¼ 0,40
In vielen Textbüchern wird als Fazit der gleich hoch. Diese Ergebnisse sprechen gegen
Untersuchungen zum Zusammenhang von das Schwellenmodell, sie bestätigen aber den
Kreativität und Intelligenz die folgende, be- mittleren Zusammenhang zwischen Kreati-
reits auf Guilford (1967) zurückgehende vität und Intelligenz.
Beziehung angeführt (c Abb. 6.5). Damit Der spezifische Wert von Kreativitätstests
wird explizit ein Schwellenmodell unterstellt, erweist sich allerdings erst bei der Voraus-
dem zufolge hohe Intelligenz zwar nicht sage von externen Leistungen. Darüber wird
gleichbedeutend mit entsprechender Kreati- im nächsten Abschnitt berichtet.
vität ist, hohe Kreativität aber eine über-
durchschnittliche Intelligenz voraussetzt.
6.3.3 Kreativität und
Schulleistung
hoch
245
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
den sich nur unwesentlich voneinander, Materials von Getzels und Jackson (1962)
lagen jedoch bedeutsam über dem Durch- weiter zu spezifizieren.
schnitt der restlichen Schüler. Hohe Kreati- Unter anderem ließen die Autoren ihre
vität befähigte also einen Teil der Probanden Versuchspersonen 13 kurze Beschreibungen
zu denselben Leistungen wie hohe Intelligenz des Verhaltens bzw. der Eigenschaften fikti-
einen anderen Teil. Da als Kriterium Schüler ver Studenten lesen, z. B. »Here is the stu-
beurteilungen zugrunde lagen, bedeutet das dent, who is best of getting along with other
implizit, dass die Lehrer auf die je spezifischen people«, »Here is the student with the most
Eigenarten der Schüler angemessen eingingen pep and energy of anyone in the school«,
und diese berücksichtigten; das betreffende »Here is the healthiest student in the school«.
Schulsystem ließ mit anderen Worten auch Daraufhin sollten vier verschiedene Rangrei-
für Kreativität Raum. Dennoch unterrichte- hen erstellt werden:
ten die Lehrer lieber die Hochintelligenten als
die Hochkreativen. Eine der Ursachen dafür l wie man diese Personen als Mitschüler in
mag das Verhalten kreativer Schüler sein: Sie der Klasse mögen würde,
sind lebhafter und weniger diszipliniert; sie l wie man sich selbst gern sähe (ideales
stellen zudem mehr Fragen zum Unterricht, Selbstbild),
was für den Lehrer störend sein könnte l wie der Lehrer sie am liebsten hätte
(Torrance, 1964). Da sich schöpferisches (Lehrerheterostereotyp) und
Denken insoweit gegen das System mit seiner l wie es für den Lebenserfolg am besten
Betonung des Korrekten, Normgemäßen und wäre (Erfolgsheterostereotyp).
Angepassten gewissermaßen durchsetzen
muss (Kemmler, 1969), ist eine Honorierung Im Erfolgs- und Lehrer-Rating stimmten die
bei der Notengebung weniger wahrschein- hochkreativen mit den hochintelligenten Ver-
lich, als es eigentlich angemessen wäre. suchspersonen fast vollständig überein (r ¼
Zusammengefasst dokumentiert also die 1,00 bzw. 0,98), hingegen korrelierten die
Mehrzahl der Untersuchungen einen be- Rangreihen der beiden Gruppen nur zu r ¼
grenzten Beitrag der Kreativität zur Aufklä- 0,41 hinsichtlich des Selbstbildes. Einzelkon-
rung der Schulleistungsvarianz. traste innerhalb jeder der Extremgruppen
ergaben das folgende Bild (cTab. 6.1):
Wie ersichtlich, stimmte bei den Hoch-
6.3.4 Kreativität und intelligenten das ideale Selbstbild weitgehend
Persönlichkeit mit dem Erfolgs- und auch noch hinlänglich
mit dem vermuteten Lehrerurteil überein,
Was oben über die Persönlichkeit kreativer während dieses bei den Hochkreativen kei-
Schüler angedeutet wurde, ist anhand des neswegs der Fall war. Hochkreative schätzten
Tab. 6.1: Rangkorrelationen zwischen idealem Selbstbild und Erfolgs- bzw. vermutetem Lehrerhetero-
stereotyp.
Personen
246
6 Kreativität
relativ stark »Humor« (Rangplatz 3, nach suchsleiters figurale Kreativitätstests, bei de-
dem von allen Versuchspersonen auf den nen verbale Assoziationen zu liefern waren.
ersten Platz gesetzten Wunsch, mit anderen Unterschiede in einer großen Zahl außer-
gut auszukommen, gefolgt von emotionaler schulischer Aktivitäten waren beobachtbar,
Stabilität), während die Hochintelligenten wenn Extremgruppen des oberen und unte-
Wert auf »gute Noten«, »hohe Intelligenz« ren Drittels der Kreativitätsdimension mitei-
und »Zielstrebigkeit« legten. nander verglichen wurden; namentlich Items
aus den Bereichen von »Führung« (z. B.
»In effect, the high IQ is saying, ›I know what »Elected president or chairman of a student
makes for success and what teachers like, and I organization«), »Kunst« (z. B. »Created art
want these qualities too‹, the high creative is work such as painting, drawing, sculpturing,
saying, ›I know as well as the high IQ what makes
for conventional success and what teachers like, cartooning, photography [not as part of
but these are not necessarily the qualities I want the course]«) und »Schreiben« (z. B. »wrote
for myself‹« (Getzels & Jackson, 1962, S. 36). original poems…«) differenzierten auf der
Kreativitäts-, nicht aber der Intelligenzdi-
Die Konsequenzen für das Verhalten in der mension.
Schule und wohl auch außerhalb liegen auf Von besonderer Bedeutung ist die Unter-
der Hand: Die Ungebundenheit, wie sie in suchung von Harrington (1975). Dieser
Abschnitt 6.3.1 als Charakteristikum kreati- unterschied bei der Vorgabe des »Alternate
ver Personen bereits erwähnt wurde, findet Uses«-Tests zwischen der Normalinstruktion
sich hier in anderem Gewande wieder. und der Alternativinstruktion, kreative, d. h.
In ähnlicher Weise sind auch Wallach und neuartige und nützliche Verwendungen zu
Kogan (1965) verfahren, indem sie sowohl liefern. Unter beiden Bedingungen wurden
auf der Kreativitäts- wie auch auf der Intelli- die Antworten der Probanden nach dem
genzdimension eine Dichotomisierung vor- Kreativitätsgehalt beurteilt. Bei unveränder-
nahmen. Eindeutige Verhaltensunterschiede ter Gesamtzahl aller Lösungen stieg unter der
waren allerdings nur beim weiblichen Ge- Alternativinstruktion die Zahl kreativer Ant-
schlecht registrierbar, wo wiederum die worten zulasten unkreativer an. Die so erhal-
Gruppe der hochkreativ/niedrigintelligenten tenen Kreativitätswerte, und nur diese, zeig-
Kinder weniger beliebt war und zu Einzel- ten mit fast allen zugleich vorgegebenen
gängertum sowie unproduktiven Störungen Persönlichkeitsskalen signifikante Zusam-
des Schulunterrichts neigte. Kommt hohe menhänge. Auch blieb die Korrelation des
Intelligenz zur hohen Kreativität, schlagen Testwerts mit einem Kreativitäts-Selbstra-
die meisten der negativen Ausprägungen ins ting nach Herauspartialisierung von Leis-
Positive um. tungsmotivation und Allgemeiner Intelligenz
Bosse (1979) ließ das Verhalten einer erhalten.
Gruppe hochintelligenter Schüler in der Klas-
sensituation durch zwei Beobachter klassi- Gerade eine solche Partialisierung ist wichtig, um
fizieren. Die kreativen Probanden zeigten die Markanz des Kreativitätsfaktors besser ab-
gegenüber den nichtkreativen höhere Werte schätzen zu können. König (1981, S. 200) beob-
achtete in seiner bereits erwähnten Untersuchung
in den Dimensionen »Abenteuerlust«, »Frus- »enge und spezifische Beziehungen des [Kreativi-
trationstoleranz« und »Modellverhalten«. tätsfaktors] Einfallsreichtum zu Persönlichkeits-
In diesem Kontext muss schließlich die merkmalen (…), die nicht dem Leistungsbereich
Untersuchung von Wallach und Wing (1969) zuzurechnen sind: Geselligkeit und produktive
Aktivität vs. Gehemmtheit auf der Ebene von
angeführt werden. Die per Post erreichten Einzelvariablen; musisch-künstlerische, sprach-
Probanden bearbeiteten in ihrer häuslichen lich-literarische und soziale Orientiertheit vs. ma-
Umgebung und ohne Gegenwart eines Ver- thematisch-technisches Interesse auf der Ebene
247
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
von Faktor-Summenwerten«. Macioszek (1982) anderer Maße mit Kreativität relativ nied-
bildete Extremgruppen von Probanden auf der rig sind im Vergleich zu Intelligenz. Zudem
Basis von vier Kreativitätstests und prüfte mit
Hilfe von Diskriminanzanalysen, ob Persönlich-
erwiesen sich in der Untersuchung von
keitsvariablen zwischen den Gruppen zu differen- Hocevar (1980) divergente Tests solchen
zieren erlauben. Den Ladungsmustern der Trenn- zur Erfassung von Intelligenzfaktoren bei
funktionen zufolge waren die Hochkreativen eher der Aufklärung von kreativer Aktivität
extravertiert, leistungsmotiviert, unkonventionell, nicht als überlegen. Insoweit trifft Shul-
gefühlsbetont, ambiguitätstolerant – und vor
allem intelligent. mans spöttische Feststellung von 1966
(S. 367) auch heute noch in Grenzen zu:
Die Eliminierung des Intelligenzeinflusses »Whether due to lower reliability or less
ist deshalb so wichtig, weil in den meisten relevance, the newly defined creativity va-
Untersuchungen, auch der von Wallach riable is far less productive than the old
und Kogan (1965), die Korrelationen workhorse, intelligence.«
Bei der Frage nach der Validität von Kreativitätstests ist zu klären, welche Kriterienmaße
für Kreativität herangezogen werden können. Ein Problem stellt dabei die offenkundige
Vieldimensionalität von Kriterien der Kreativität dar. Ein anderes Problem betrifft das Alter
der untersuchten Stichprobe, welches im Fall von studentischen Stichproben deutlich
unterhalb des Zeitraums der größten Schaffensperiode von Wissenschaftlern und Künstlern
liegt (Mitte der dreißiger Jahre). Wenn Expertenurteile als Kriterien für Kreativitätstests
verwendet wurden, so ergaben sich durchaus zufriedenstellende Validitätskoeffizienten
zwischen 0,30 und 0,50.
Der Zusammenhang zwischen Kreativitäts- und Intelligenztests ist nach verschiedenen
Untersuchungen niedrig bis mittelhoch positiv. Diesen allgemeinen Zusammenhang präzi-
sierend postuliert das Schwellenmodell von Guilford, dass Allgemeine Intelligenz und
Kreativität im niedrigen bis durchschnittlichen Intelligenzbereich miteinander positiv, im
mittleren bis hohen Intelligenzbereich zu null korrelieren. Nach neueren Befunden wird aber
über alle Intelligenzbereiche hinweg eine gleich bleibende positive Korrelation festgestellt.
Die berichtete positive Korrelation zwischen Kreativität und Schulleistung (ca. 0,30),
auch nach Auspartialisierung von Intelligenz, weist auf einen gewissen unabhängigen
Beitrag der Kreativität an der Schulbenotung hin.
In der Selbstbeschreibung der Persönlichkeit zeichnen sich konsistente Unterschiede
zwischen hoch- und niedrigkreativen Personen ab. So beschreiben sich Hochkreative als
unkonventionell und im vorherrschenden Norm- und Wertesystem als ungebunden,
extravertiert und leistungsmotiviert.
Im vorangegangenen Abschnitt sind haupt- in denen die Korrelate der durch speziell ent-
sächlich solche Studien aufgeführt worden, wickelte Kreativitätstests definierten Unter-
248
6 Kreativität
schiede erfasst werden sollten. Auch der des Lebenslaufes und der Herkunft Interes-
umgekehrte Ansatz ist natürlich möglich sen, Arbeitsgewohnheiten und weitere Vor-
und bereits intensiv verfolgt worden, näm- aussetzungen der manifesten Kreativität er-
lich das Herausgreifen der durch Produkt- fasst werden können. Schaefer und Anastasi
kriterien oder Fremdeinschätzung als kreativ (1968) berichteten über Korrelationen sol-
angesehenen Personen und ihre Untersu- cher Instrumente mit künstlerischer Kreati-
chung mit Hilfe von herkömmlichen Tests, vität in Höhe von r ¼ 0,64; mit wissenschaft-
unter denen sich gleichwohl Kreativitätstests licher Originalität bestand noch ein Zu-
befinden mögen. sammenhang von r ¼ 0,35. Die kreativen
Da auf den historiometrischen Ansatz Probanden stammten im Vergleich zu Kon-
bereits in Abschnitt 6.3.1 verwiesen wurde, trollpersonen aus Familien, in denen eine
bleibt ein kurzer Überblick über die anderen besondere Betonung intellektueller Aktivitä-
Untersuchungen. Dort standen gewöhnlich ten sowie verschiedener Anregungsbedin-
herausragende Wissenschaftler oder Künst- gungen wie Lesen und Reisen vorlag. Sport
ler, gelegentlich auch Manager aus Verwal- und Geselligkeit spielten eine geringere Rolle,
tung und Industrie im Mittelpunkt des Inter- dafür war Tagträumen relativ häufig.
esses. Barron (1969, S. 74) führte mehrere Auch außerhalb des Collegebereichs ha-
solcher Untersuchungen, z. T. auf postali- ben sich biographische Inventare als erfolg-
schem Wege, durch und stellte die Profile des reich erwiesen: Unter Verwendung von Pa-
»California Psychological Inventory« von tenten und Fremdbeurteilungen als Kriterien
kreativen Architekten, Schriftstellern und konnten etwa Smith et al. (1961) die Krea-
Mathematikerinnen denjenigen von unauf- tivität von Wissenschaftlern der Petrol-Che-
fälligen Berufskollegen gegenüber. Zusätz- mie in einer Höhe um r ¼ 0,50 erklären.
lich wurden die Korrelationen von Q-Sort- Der entscheidende Nachteil solcher Unter-
Items mit Kreativitätsratings mitgeteilt, die je suchungen ist im Querschnittsansatz zu se-
nach Stichprobe und Verfahren z. T. um 0,60 hen. Von einer Vorhersage der Kreativität
lagen (z. B. »Thinks and associates to ideas in kann deshalb keinesfalls gesprochen werden,
unusual ways; has unconventional thought vermutlich noch nicht einmal von einer Er-
processes«, »Is an interesting, arresting klärung, da das Faktum eines Patentes oder
person«, negativ: »Judges self and others in einer guten Leistung innerhalb wie außerhalb
conventional terms«, »Is moralistic«). des Colleges nicht Folge, sondern indirekt
Im Falle der Manager konvergierten Selbst- auch Ursache für einige der Testwertdifferen-
und Fremdeinschätzung dahingehend, dass zen sein mag. Vieles spricht dafür, dass
Selbstsicherheit, Stärke und Dominanz als beispielsweise eine Anerkennung durch ande-
wesentliche Kennzeichen der Kreativen fest- re zu einer Erhöhung des Selbstwertgefühls
gehalten wurden. und einer Intensivierung von Autonomiebe-
Noch bessere Prädiktoren kreativer Tä- strebungen führt und dass spätere intellek-
tigkeit, nach Taylor und Holland (1964) die tuelle Aktivitäten auch die Erinnerung an die
wertvollsten überhaupt, scheinen biographi- häusliche Umwelt bzw. dort ausgeübte
sche Inventare zu sein, in denen neben Daten gleichartige Interessen sensibilisiert.
249
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
views über ihren Lebenslauf und ihre Herkunftsfamilie befragt werden. So stammten die
kreativen Probanden im Vergleich zu Kontrollpersonen aus Familien, die in der Kindheit
und Jugend der Probanden verschiedene Anregungsbedingungen gewährten.
Wenn in diesem Kapitel erst nach einer sondern eher ein unbewusster Reifepro-
Präsentation verschiedener Messinstrumente zess.
und Untersuchungsbefunde zur Kreativität l Illumination (Inspiration, Erleuchtung).
auf die für dieses Konstrukt einschlägigen Man bekommt einen kreativen Einfall, so
Theorien eingegangen wird, so folgen wir etwas wie eine plötzliche Erleuchtung
damit dem Forschungsprozess, an dessen oder einen Geistesblitz.
Anfang weniger präzise Vorstellungen über l Verifikation. Die gefundenen Lösungsan-
Struktur und Prozess der Kreativität als sätze werden systematisch ausgearbeitet
vielmehr die Entwicklung entsprechender und dann umgesetzt.
Tests gestanden haben. In der Zwischenzeit
sind jedoch verschiedene theoretische Kon- Dabei stellt Inkubation eine Periode dar, in
zepte formuliert worden, die teils nur einzel- der zwar auf Seiten der Person keine erkenn-
nen Aspekten des Phänomens, teils aber auch bare Aktivität im Hinblick auf eine Lösung
dessen Gesamtheit gelten. Nachfolgend kann des Problems besteht, an deren Ende oder
nur ein relativ enger – und das bedeutet schon vorher aber doch definitive Anzeichen
notgedrungen selektiver – Ausschnitt aus der weiterer Bemühungen, manchmal verbunden
einschlägigen Forschungsliteratur referiert mit substantiellen Fortschritten im Lösungs-
werden. Im Sinne des oben angeführten 4 P- prozess, zu erkennen sind (s. Guilford, 1979,
U-Modells zielt dieser in erster Linie auf die S. 1). Diese Periode der Inkubation mag
Prozesse ab, die kreatives Denken ausma- zwischen einigen Minuten und mehreren
chen. Jahren andauern. Unterbindet man eine der-
artige Phase, führt dies zu Leistungsminde-
rungen. Umgekehrt resultiert aus der Ge-
6.5.1 Prozessmodelle währung eines solchen Stadiums ein Mehr an
kreativen Produkten gegenüber Kontrollbe-
Schon vor geraumer Zeit hatte Graham dingungen (Houtz & Frankel, 1992).
Wallas (1926) ein Vier-Stadien-Schema pro- Viel wichtiger aber und von grundsätzli-
pagiert, das für alle kreativen Abläufe kenn- cher Bedeutung sind die ursprünglichen An-
zeichnend sein soll: nahmen, wonach
l Vorbereitung. Ein Problem wird erkannt, 1. die beiden Phasen Inkubation und Illumi-
es werden Informationen dazu gesammelt. nation unbewusst und nach ganz anderen
l Inkubation. Es findet keine aktive Aus- Regeln ablaufen als nach denen des logi-
einandersetzung mit dem Problem statt, schen Denkens und
250
6 Kreativität
251
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
kennzeichneten sekundäre Prozesse das ab- Kreativität nicht nur ein individuelles, son-
strakte, logische und realitätsbezogene Den- dern in gewissem Umfang auch ein gesell-
ken. Verschiedene Befunde stützen diese schaftliches Phänomen darstellt. Damit wird
These, so der leichtere Zugang kreativer Per- die herkömmliche Perspektive, wonach die
sonen zu den Primärkognitionen, ihre stärke- Kreativität einzelner Personen in verschiede-
re Fantasietätigkeit und das bessere Erinnern ne Umweltfaktoren eingebettet ist, ergänzt
nächtlicher Träume (s. zu diesen und anderen durch die Betrachtung eines größeren sozia-
Resultaten Urban, 1993, S. 168–169). len, kulturellen und politischen Milieus, mit-
Martindale (1989) versuchte eine Integra- hin durch einen Rahmen, der den unmittel-
tion dieser einander sehr ähnlichen Konzepte baren Lebens- oder Aktionsraum des Einzel-
auf neurophysiologischem Niveau. Demzu- nen übersteigt. Die eingangs erwähnte Mo-
folge ist Kreativität gebunden an die simul- bilisierung und Bündelung von Kräften in
tane Aktivierung möglichst vieler neuronaler den USA Ende der 1950er Jahre, um den
Verschaltungen im Neokortex. Ein solcher technologischen Vorsprung der Russen in der
Zustand aber stellt sich eher bei niedriger Raumfahrt zu egalisieren, liefert ein gutes
kortikaler Erregung ein als bei hoher (»low Beispiel für gesellschaftliche Prozesse.
arousal theory«), da dann sehr viele Knoten-
systeme in etwa gleichem Ausmaß aktiviert
sind, während eine starke kortikale Erregung 6.5.2 Komponentenmodelle
einzelner Zellverbände zu einer Hemmung
der weniger aktivierten Systeme führt. Seiner Einige der vorgeschlagenen Theorien heben
Auffassung nach gehen Primärkognitionen, stärker auf die notwendigen Voraussetzun-
defokussierte Aufmerksamkeit und flache gen für Kreativität im Sinne von »Ingredien-
Assoziationshierarchien mit niedrigem kor- zen« ab. Dazu zählt die von Sternberg und
tikalem Arousal einher. Lubart (1991) vorgestellte »Investment-
Kreativität scheint aber nicht nur mit der Theorie«, die auf den bisherigen Erkenntnis-
Fokussierung von Aufmerksamkeit, sondern sen aufbaut und diese gleichsam retrospektiv
auch mit der ausbleibenden Hemmung von bündelt, aber auch durchaus Implikationen
Assoziationen für irrelevante Reize zusam- für gezielte Überprüfungen in zukünftigen
menzuhängen. Wenn etwa vor einer klassi- Studien aufweist.
schen Konditionierung Reize dargeboten Der Name wurde deshalb gewählt, weil
werden, die zunächst irrelevant sind, ist in Kreativ-Sein im Grunde darauf hinauslaufe,
einem anschließenden Konditionierungsex- sich in Analogie zu einem geschickten Inves-
periment deren Assoziierbarkeit an einen tor oder Makler an der Börse zu verhalten
unkonditionalen Reiz geringer im Vergleich nach der Devise buy low and sell high.
zu einem zuvor nicht dargebotenen Reiz Konkret komme es darauf an, die eigenen
(latente Inhibition). Bekannte Reize werden Anstrengungen und Fähigkeiten in Ideen
also selektiv gehemmt. Carson et al. (2003) einzubringen, die neu und qualitativ hoch-
konnten nun zeigen, dass – nur bei hoch- wertig sind, auch wenn sie zunächst weniger
kreativen Probanden – eine latente Inhibition geschätzt oder gar als abwegig bezeichnet
irrelevanter Reize kaum erfolgte. Damit werden. Wenn diese Ideen und daraus resul-
steigt die Verfügbarkeit vorgeblich irrelevan- tierende Produkte allgemein akzeptiert seien,
ter Reize bei divergenten Problemlösungen, von anderen also gleichsam nachgefragt
was zu deren Originalität beiträgt. würden, steige ihr Wert, und der Kreative
Die Bedeutung von Umweltfaktoren wird »verkaufe« sie; während die große Masse der
von Rubenson und Runco (1992) dadurch »Interessenten« nur die Details ausfüllten,
unterstrichen, dass ihrer Konzeption zufolge wende sich die kreative Person einem ande-
252
6 Kreativität
ren Gebiet mit momentan »unter Wert ge- Im Weiteren sei für Kreativität ein mehr
handelten« Ideen zu. globaler im Unterschied zu einem lokalen Stil
Innerhalb der Theorie werden vier Ebe- und ein mehr progressiver im Vergleich zu
nen unterschieden: Ressourcen, Fähigkeiten, einem konservativen intellektuellen Stil von
»Portfolios« (Entwürfe) und Evaluationen. Vorteil. Auch greifen sie die Unterscheidung
Die Ressourcen gliedern sich in kognitive und von Kirton (1976) zwischen »Adaptoren«
affektiv-motivationale Ressourcen (Intelli- und »Innovatoren« auf. Personen des erste-
genz und Wissen bzw. Persönlichkeits- und ren Typs versuchen Problemlösungen durch
Motivationsfaktoren) mit einer Mittel- oder Adjustierungen und schrittweise Modifika-
Mischkategorie intellektueller Stile sowie tionen unter Beibehaltung der grundlegen-
Ressourcen von Seiten der Umwelt. den Strukturen, also innerhalb bestehender
Was die intellektuellen Ressourcen an- Paradigmen. Demgegenüber bemühen sich
geht, so denken die Autoren unter Rückgriff Innovatoren um eine Umstrukturierung fun-
auf die »triarchische Theorie« (s. Abschn. damentaler Elemente, mithin eher um einen
5.5.2) vor allem an die Prozesskomponenten Wechsel der Paradigmen selbst, was sich im
von Planung und Überwachung, von Pro- Falle des Gelingens günstig im Sinne von
blemlösen und Wissenserwerb. Kreativität Kreativität auswirke (zur Messung dieser
beinhalte die Anwendung dieser Prozesse auf Stil-Dichotomie liegt ein 32 Items umfassen-
relativ neuartige Aufgaben und Situationen der Fragebogen mit den Dimensionen Origi-
oder aber den Einsatz dieser Komponenten nalität, Effizienz und Rollen- bzw. Gruppen-
bei vertrauten Aufgaben und Situationen im Konformität vor, s. Kirton, 1987).
Bestreben, den Kontext auszuwählen bzw. Die Umgebung schließlich wirke in dreier-
umzugestalten. lei verschiedener Weise: Zum einen stellen die
Die Bedeutung von Wissen resultiere Reize aus der Umwelt häufig die Bausteine
schon daraus, dass jemand nur dann in einem für kreative Produkte zur Verfügung. So
Gebiet kreativ sein könne, wenn er darüber wurde festgestellt, dass Kinder in einem
und über anstehende Probleme informiert Raum voller verschiedener Gegenstände ei-
sei, sich jedoch nach Möglichkeit von den nen ausgeprägteren Gedankenfluss zeigten
Einengungen solcher Kenntnisse frei mache. als eine Vergleichsgruppe in einem leeren
Unter den mit Kreativität korrelierenden Zimmer. Zum anderen beeinflusst die Um-
Persönlichkeitsmerkmalen kommt Sternberg gebung das allgemeine »Klima« für die Her-
und Lubart zufolge der Ambiguitätstoleranz, vorbringung oder Unterdrückung kreativer
Perseveration (also dem Willen und der Be- Gedanken. Ferner und nicht zuletzt ist der
reitschaft zur Überwindung von Widerstän- Kontext maßgeblich für die Evaluation der
den), Risikofreude, Individualität und Of- Ideen oder Produkte.
fenheit gegenüber neuen Erfahrungen ein Je nach den Anforderungen der Problem-
vorrangiger Stellenwert zu. Unter den mit stellung und der relativen Stärke der Res-
Kreativität korrelierenden Motivationsfak- sourcen bringen diese in Wechselwirkung
toren hätte vor allem die Fokussierung auf miteinander die nächste Ebene innerhalb des
Aufgaben (Einbringen in Aktivitäten als Modells hervor, nämlich bereichsrelevante
Selbstzweck) eine besondere Bedeutung. Fähigkeiten, wobei in Grenzen eine gewisse
Im Hinblick auf die intellektuellen Stile wechselseitige Kompensation möglich sein
sprechen die Autoren, wiederum in den soll. Das Ausmaß, in dem eine Ressource zu
Begriffen der triarchischen Theorie, von der kreativer Leistung beiträgt, hängt aber nicht
Notwendigkeit einer »legislativen« Ausrich- nur von der Stärke der Ressource ab, sondern
tung, d. h. einer Präferenz zur Artikulation auch von der funktionalen Beziehung zwi-
allgemeiner Gesetze und Verhaltensregeln. schen Ressource und Kreativität, die von
253
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
linearer oder umgekehrt U-förmiger Beschaf- Person, die im Bereich C1 zwei verschiedene
fenheit sein kann. kreative Projekte zu realisieren sucht, ein
Abbildung 6.6 veranschaulicht die vier Vorhaben im Bereich C3 und drei im Bereich
Ebenen des Modells für eine hypothetische C4.
Zusammenfluss
der interagieren- R1 R2 R3 R4 R5 R6
den Ressourcen
Bereichsrelevante C1 C2 C3 C4 Cn
Kreativitätsfähigkeiten
Evaluation der
kreativen Produkte E1a E1a E4a E4c E4c
I II I I II
Abb. 6.6: Kreativitätsressourcen und ihr Zusammenwirken, veranschaulicht für einen hypothetischen
Probanden, der in den Bereichen C1, C3 und C4 spezifische Projekte bearbeitet. Projekt 1a wird
von zwei Beurteilern, Projekt 4a von einem Beurteiler und Projekt 4c von zwei Beurteilern
evaluiert (nach Sternberg & Lubart, 1991, S. 5).
Die Überprüfung des Modells erfordert einen aller Variablen resultierte ein multiples R ¼
breit gefächerten multivariaten Ansatz. 0,81.
Sternberg und Lubart (1991) ließen von 48 In einer zweiten Untersuchung an 44 Pro-
männlichen und weiblichen Erwachsenen je banden (s. Sternberg & Lubart, 1992) bestä-
zwei Zeichnungen, kreative Geschichten, tigte sich der positive Einfluss von Risikobe-
Anzeigen und wissenschaftliche Problemlö- reitschaft innerhalb der Investment-Theorie.
sungen erarbeiten, deren Güte von unabhän- Sicher bedürfen die Resultate einer Kreuz-
gigen Beurteilern eingeschätzt wurde. Für validierung an einer größeren Stichprobe von
diese Kriteriumsleistungen erwiesen sich im Personen und der Überprüfung mit anderen
Mittel die intellektuellen Prozessvariablen als Variablen. Soweit sprechen sie aber dafür,
die besten Prädiktoren, gefolgt von Wissen, dass die Theorie in hinlänglicher Weise dem
intellektuellen Stilen, Persönlichkeits- und Facettenreichtum der Kreativität gerecht zu
Motivationsfaktoren. In der Kombination werden scheint. Inwieweit damit auch die im
254
6 Kreativität
Alltag auftretenden kreativen Problemlösun- Schweden ein Fragebogen mit 50 Items entwickelt,
gen abgedeckt sind, muss bis auf weiteres der den Dimensionen Herausforderung, Frei-
heit, Dynamik/Lebhaftigkeit, Offenheit/Vertrau-
offenbleiben. Umweltvariablen waren nicht en, Zeit für Ideen, Heiterkeit/Humor, Konflikte,
erhoben worden. Unterstützung von Ideen, Debatten und Bereit-
Das bedeutet insofern ein gewisses Defizit, schaft zu Risiken gilt (s. dazu die Untersuchung
als Umweltressourcen in dem Modell aus- von Isaksen & Kaufmann, 1990). Obwohl primär
drücklich vorgesehen sind und jüngeren For- für betriebliche Organisationen gedacht, haben
viele dieser Aspekte augenscheinlich auch Rele-
schungen zufolge völlig zu Recht eine immer vanz für das allgemeine Lebensumfeld und sollten
stärkere Beachtung finden. Schon Amabile deshalb in zukünftigen Arbeiten intensiver er-
(1983) listete als kreativitätsfördernde Fak- forscht werden.
toren auf: Entscheidungsfreiheit, unerwar-
tete Bekräftigungen, positives Innovations- Obwohl insofern der bedeutsame Einfluss
klima, stimulierendes physikalisches Milieu, von Umweltfaktoren als nachgewiesen gel-
»scope for playfulness« und Sicherheit der ten kann, spielen diese in der Rahmentheorie
Anstellung; umgekehrt würden Druck von von Eysenck (1993) nur eine nachgeordnete
Seiten Gleichrangiger, von Seiten Vorgesetz- Rolle. Im Vordergrund steht vielmehr ein
ter und einer erwarteten Bewertung die zentrales Persönlichkeitsmerkmal, nämlich
Kreativität mindern. Psychotizismus (s. dazu Abschn. 7.4.2),
Allerdings scheint die Wirksamkeit dieser in dessen Nähe Kreativität gerückt wird.
Faktoren recht unterschiedlich und ihre theo- Obwohl sicher gilt: »True madness makes
retische Verankerung z. T. sehr komplex zu true creativity impossible« (Amabile, 1993,
sein. So erwies sich in den Experimenten von S. 179), versucht Eysenck doch eine inhalt-
Amabile et al. (1990) nur die Evaluationser- liche Verwandtschaft zwischen beiden Kon-
wartung als Hemmnis bei der Anfertigung strukten und deren gemeinsame genetische
bestimmter Produkte, während die Gegen- Verankerung aufzuzeigen.
wart vs. Abwesenheit anderer Personen keine In der Konsequenz gäbe es fünf verschie-
konsistenten Auswirkungen auf die Kreati- dene Zugänge, um das »Psychotizismus-
vität zeitigte. Auch Kuhlmei (1991) fand in Kreativitäts-Modell« empirisch zu bestäti-
seinem Feldexperiment nur eine tendenzielle gen, nämlich aufzuzeigen, dass
Bestätigung des Umweltfaktors »soziale
Kontrolle«. Was die Rolle von Bekräftigun- l Personen, die genetisch bedingt zu Psy-
gen angeht, kommen dazu behavioristisch chotizismus neigen, ungewöhnlich krea-
und kognitivistisch orientierte Ansätze zu tiv sind,
diametral verschiedenen Vorhersagen. Eisen- l Psychotizismus mit Test-Kreativität (Ori-
berger und Selbst (1994) konnten an 504 ginalität) zusammenhängt,
Schulkindern zeigen, dass Belohnungen nur l Psychotizismus Beziehungen aufweist zu
dann im Sinne einer generalisierten Kreativi- kreativen Leistungen,
tät wirksam waren, wenn divergentes Den- l kreative Personen oft an psychopatholo-
ken verlangt wurde und die Bekräftigung sich gischen Symptomen leiden,
nicht im Sichtfeld der Probanden befand. Als l identische kognitive Stile charakteristisch
Erklärung dafür schlagen sie ein Modell vor, sind für Psychotiker, Personen mit hohen
das die beiden Komponenten »gelernte Be- Psychotizismus-Werten und kreative Ak-
triebsamkeit« und »selektive Aufmerksam- teure.
keit« enthält.
Zu jeder dieser Linien, wenngleich der vor-
Um das Kreativitäts »klima« des Tätigkeitsumfel- liegenden Literatur zufolge gewiss recht
des ökonomischer erfassen zu können, wurde in unterschiedlich in Zahl und Qualität, refe-
255
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
rierte Eysenck empirisches Material, das bow & Gewirtz, 1995) und bei hochkreati-
geeignet ist, die These der Nähe von Psycho- ven Personen (Carson et al., 2003) gefunden
tizismus und Kreativität zu unterstützen. worden ist. Allerdings fanden Miller und Tal
Hierzu zählt mittlerweile auch die mangelnde (2007) Kreativität durch Intelligenz und die
Leistungseinbuße in der oben erwähnten Persönlichkeitseigenschaft »Offenheit für Er-
latenten Inhibition, die sowohl bei schizo- fahrung« aus dem Fünf-Faktoren-Modell der
phrenen Patienten, schizotypischen Personen Persönlichkeit vorhersagbar, nicht aber
ohne klinische Diagnose einer Psychose (Lu- durch Schizotypie.
Welche Prozesse machen das kreative Denken aus? Nach einer älteren Modellvorstellung
von Wallas (1926) sind vier Prozesse bedeutsam: Vorbereitung (Problemerkennung),
Inkubation (unbewusster Reifeprozess), Illumination (der kreative Einfall) und Verifikation
(systematische Lösungsskizze). Allerdings ist die Phase des kreativen Einfalls nicht nur die
eines unbewussten Vorgangs oder eines plötzlichen Geistesblitzes, sondern aufbauend auf
einem reichen und flexibel nutzbaren Wissensbestand. Daneben wurde Aufmerksamkeit als
wichtige Prozessvariable für kreatives Denken ausgemacht. Thematisiert wurde die
Bedeutung der defokussierten Aufmerksamkeit, die im Unterschied zur fokussierten
Aufmerksamkeit kreative Einfälle begünstigt. Auch ein Wechsel zwischen defokussierter
und fokussierter Aufmerksamkeit in den Phasen der Illumination und Verifikation ist für
das kreative Produkt förderlich. Eine weitere theoretische Vorstellung geht von der Breite
des Aufmerksamkeitsumfangs in Verbindung mit einem flachen Assoziationsgradienten bei
Hochkreativen aus. Dies ermöglicht es ihnen, Verbindungen zwischen weit auseinander
liegenden Assoziationen herzustellen. Ein weiterer Aspekt ist die ausbleibende Hemmung
von Assoziationen für irrelevante Reize (latente Inhibition), was die Verfügbarkeit
vorgeblich irrelevanter Reize und damit die Originalität von Problemlösungen erhöhen
kann. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass auch die soziale und gesellschaftliche
Umwelt für den kreativen Prozess bedeutsame Rahmenbedingungen stellen können.
Eine Bündelung bisheriger Vorstellungen zu Kreativität erfolgt in der Investment-
Theorie von Sternberg und Lubart. Die kreative Person investiere in wenig geschätzte Ideen
und produziere ein kreatives Produkt, wodurch ein Mehrwert entstehe. Innerhalb der
Theorie werden vier Ebenen unterschieden: Ressourcen (kognitive und affektiv-motivatio-
nale Ressourcen, Umweltressourcen), Fähigkeiten (zum Beispiel Ambiguitätstoleranz,
Perseveration, Risikofreude, Individualität, Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen),
Portfolios (Entwürfe von kreativen Vorhaben) sowie Evaluationen der kreativen Produkte.
Eine Übersicht gibt Abbildung 6.6. Das Komponentenmodell von Eysenck (1993) ist
gegenüber der Investment-Theorie biopsychologisch ausgerichtet. Gene bestimmen die
Aktivität von Neurotransmittern, die wiederum die Funktionsweise bestimmter Hirnleis-
tungen beeinflussen, was auch in experimentellen Anordnungen untersucht werden kann.
Aus veränderten Hirnleistungen entstehen sowohl psychische Erkrankungen wie Depres-
sion oder Schizophrenie als auch kontinuierliche Ausprägungen der Eigenschaft Psycho-
tizismus. Der hier zugehörige Primärfaktoren »Kreativität« (bzw. Originalität) bedingt die
kreative Leistung ebenso wie motivationale und kognitive sowie sozio-kulturelle Variablen.
256
6 Kreativität
Die euphorische Stimmung und hochgesteck- Items ja homogen sein müssen, was letztlich
ten Erwartungen im Zusammenhang mit der auf inhaltliche Ähnlichkeit hinausliefe. Den-
Exploration eines bis dahin fast brachliegen- noch ist das Dilemma unvermeidlich, da
den Forschungsfeldes sind zwischenzeitlich Skalenhomogenität für sich selbst nichts über
einer nüchternen Einstellung gegenüber der die zeitliche Stabilität des Merkmals aussagt.
Kreativität gewichen. Untersuchungen zur Entwicklung und Stabi-
Neue Itemformate (s. auch Torrance, lität von Kreativität existieren fast nur im
1968) bedingten neue Interkorrelationsmus- Querschnittsansatz – mit einem der Wachs-
ter. Da die Kreativitätstests – von den Frage- tumsfunktion der Intelligenz ähnlichen Re-
bogenmethoden abgesehen – in der Mehr- sultat (MacKinnon, 1964; dort auch inter-
zahl von den Probanden eine Leistung ver- kulturell vergleichende Daten von über 6000
langen, stehen sie, wenngleich abhängig von Kindern).
Stichprobenspezifität und jeweiligem Inhalt, Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt
auch mit anderen Verfahren in Beziehung, die Untersuchung von Magnusson und
die Leistung in sehr allgemeiner Form erfas- Backteman (1979) dar. Die Autoren gaben
sen: den Intelligenztests. Mehrere Untersu- Kreativitätstests an ca. 1000 unausgelesenen
chungen sprechen dafür, dass Kreativitäts- Kindern im Alter von 14 bis 16 Jahren vor.
tests Zur Vermeidung der o.a. Probleme handel-
te es sich dabei um verschiedene Skalen
l in gemeinsamen Faktorenanalysen eigen- bei Test und Testwiederholung. Trotz der
ständige, konstruktspezifische Faktoren Verschiedenheit der Verfahren wiesen die
bilden und Kreativitätstests doch eine »Stabilität« um
l bei der Vorhersage von schulischen und 0,45 auf (gegenüber ca. 0,80 der Intelli-
außerschulischen Leistungen unabhän- genztests).
gige Beiträge zur Aufklärung von Krite- Darüber hinaus liegen bislang kaum echte
riumsvarianzen leisten. Vorhersagestudien vor, in denen die Kreati-
vität über Tests zunächst bestimmt und nach
Wenn diese Anteile, namentlich in Regres- Ablauf einer gewissen Zeitspanne Produkt-
sionsgleichungen, vom Ausmaß her noch kriterien dafür erhoben werden. Solange hier
hinter den Erwartungen zurückbleiben, ist vorerst weiter ein elementares Defizit besteht,
dafür zum einen die offensichtliche Komple- kann kein verbindliches Urteil über den Wert
xität von Kreativitätskriterien verantwort- des Konstrukts abgegeben werden. Ermuti-
lich, zum anderen die oft nicht befriedigende gend fallen immerhin die Resultate der
Reliabilität von Kreativitätstests und die Untersuchung von Harrington et al. (1983)
Probleme ihrer Bestimmung. Reliabilität ist aus, die an 75 Kindern im Alter von 4 und
kaum im Sinne der Re- oder Paralleltestung 5 Jahren u.a. zwei Kreativitätstests vorgaben
anzugehen; das Konzept originaler Ideen ist und anhand eines spezifischen Indexes eine
inkompatibel mit deren Wiederholung. Die Korrelation von 0,45 mit den 6 bis 7 Jahre
ermittelten Testhalbierungskoeffizienten lie- später erhobenen Lehrerurteilen zur Kreati-
gen andererseits zum größeren Teil nicht in vität fanden.
befriedigender Höhe. Also böte sich die Angesichts der optimistischen Prognosen,
Verlängerung der Tests an, doch gerät man die im Hinblick auf eine Nutzung der Krea-
damit auf ein ähnliches Gleis wie bei der tivität und ihrer Förderung verbunden wa-
Testwiederholung, da die hinzukommenden ren, überrascht es nicht, dass auch bald
257
Teil II Interindividuelle Differenzen im Leistungsbereich
Trainingskurse zu deren Schulung konzipiert halten, intellektuelle Interessen und ein durch
wurden. Aber – Unabhängigkeit gekennzeichnetes Eltern-
Kind-Verhältnis sind. Zwar wird immer wie-
»The advocates of creativity training are enthusi- der über experimentalpsychologisch gesi-
asts who tend to rely on anecdotal evidence, or cherte Erfolge bei der Steigerung von Krea-
whose experiments are rather poorly controlled«
tivität berichtet (z. B. Fontenot, 1993), doch
(Vernon, 1969, S. 399)
muss geklärt werden,
– eine Feststellung, die auch für die Studie
l inwieweit die Effekte nur auf einem un-
von Haddon und Lytton (1970) zutrifft. Dort
mittelbaren Üben der Testaufgaben im
erzielten die Schüler »formeller, traditionel-
Gewande des Trainingskurses beruhen
ler« Schulen, in denen Wert auf konvergentes
und
Denken und autoritatives Lernen gelegt wur-
l ob die Übungseffekte wirklich so lange
de, bei gleichem mittleren IQ niedrigere
anhalten, wie Parnes und Meadow (1960)
Leistungen in Kreativitätstests gegenüber
glauben machen wollten.
solchen Schülern, die aus progressiven,
selbstinitiiertes Lernen und kreative Aktivi-
In einer Untersuchung von Lissmann und
täten fördernden Schulen kamen.
Mainberger (1977) war nur in einem Krea-
tivitätstest eine positive Auswirkung des er-
Andererseits bleibt zweifelhaft, ob die Entschei-
dung der Schüler (bzw. wahrscheinlicher: deren folgten Trainings zu sichern; in einer anderen
Eltern!) zugunsten des einen oder anderen Schul- Skala schnitt jedoch die Experimentalgruppe
typs tatsächlich nach Zufall geschah und ob die sogar schlechter ab als die unbehandelte
Effekte möglicherweise lediglich auf den Sozial- Kontrollgruppe. In einer umfassenden Wür-
status (der in der Untersuchung um 0,30 gleicher-
maßen mit Intelligenz wie Kreativität korrelierte)
digung der Literatur zur Evaluation von
und damit verbundene Hintergrundfaktoren zu- Trainingsprogrammen konstatierte denn
rückgehen. auch Hany (1993) einen allgemeinen Nie-
dergang organisierter Kreativitätsförde-
Ganz in diesem Sinne kommt Bewing (1970) rung in den letzten Jahrzehnten. Bis auf
nach einer Sichtung verschiedenen Materials weiteres mag deshalb gelten:
zu der Überzeugung, dass die wichtigsten
Variablen zur Förderung hoher Kreativität »Creativity cannot be forced, it can only be
bei Kindern ein nichtautoritäres Elternver- fostered« (Weininger, 1977, S 118).
Anfänglich hohe Erwartungen an das Konstrukt der Kreativität sind einer realistischeren
Einschätzung gewichen. Unbestritten ist, dass mit Kreativität ein von der Intelligenz
teilweise unabhängiges Merkmal erfasst wird, im Unterschied zu Letzterer allerdings eine
niedrigere Stabilität aufweist und mit der besprochenen Kriterienproblematik umzugehen
hat. Nach wie vor sind Prädiktionsstudien rar. Förderlich für eine hohe Kreativität scheint
bei Kindern ein nichtautoritäres Elternhaus, intellektuelle Interessen und ein durch
Unabhängigkeit gekennzeichnetes Eltern-Kind-Verhältnis zu sein. Kreativität kann offen-
sichtlich nicht trainiert, wohl aber angeregt werden.
258
Teil III Interindividuelle Differenzen
im Persönlichkeitsbereich
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Was sind die wichtigsten Persönlichkeitseigenschaften? Mit dieser Frage – die analog zur
Analyse der Intelligenzstruktur gesehen werden kann – haben sich seit den 1930er Jahren
viele Forscherinnen und Forscher beschäftigt. Ähnlich wie im Intelligenzbereich konver-
gierten die Befunde in Richtung einer hierarchischen Struktur. Anders als im Intelligenz-
bereich konnte kein allgemeiner Faktor der Persönlichkeit (g) gefunden werden, stets blieb
eine mehr oder weniger große Anzahl von nicht weiter reduzierbaren Persönlichkeitsfak-
toren übrig. Wie viele Faktoren dies nun sind, darüber hat es in der Forschung heftige
Kontroversen gegeben. In diesem Kapitel wird zunächst ein historisches »Vorläufermodell«
der Persönlichkeitsstrukturforschung umrissen, nämlich die Persönlichkeitstypologien
(7.1). Diese Typologien wurden recht bald abgelöst von dimensionalen Betrachtungswei-
sen, wobei das 16-faktorielle Persönlichkeitsmodell von Cattell einen ersten Endpunkt in
dieser Entwicklung markiert (7.2). Aus einer ganz anderen Denkrichtung hat Eysenck ein
geradezu radikal einfaches Strukturmodell der Persönlichkeit etabliert, das allen Ernstes für
sich in Anspruch nimmt, die Gesamtpersönlichkeit auf drei Faktoren zurückführen zu
können (7.3). In einer Weiterentwicklung des Cattell’schen Ansatzes haben dann nachfol-
gende Forscher ein Modell vorgeschlagen, das denselben Anspruch mit nun fünf Faktoren
einzulösen sucht – es ist das Fünf-Faktoren-Modell (FFM) der Persönlichkeit (7.4). Dieses
Modell ist in gewisser Hinsicht zu einem Standard und Orientierungsrahmen geworden,
innerhalb dem eine Betrachtung von Stabilität und Veränderung von Persönlichkeitseigen-
schaften über die Lebensspanne erfolgen kann (7.5) und das hier einen Rahmen für die
Darstellung von Geschlechtsunterschieden im Persönlichkeitsbereich liefert (7.6).
7.1 Typologien
261
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Seit alters her sind es deshalb nicht so sehr die Frau und Verwandte zu verschaffen, indessen dass
Aspekte individueller Leistungsunterschiede, er scheint, allen zu Willen zu sein, weil er durch
seinen unbeugsamen, aber überlegten Willen den
sondern mehr jene des spezifischen »Charak- ihrigen zu dem seinen umzustimmen versteht«
ters«, die unerschöpflichen Stoff für Alltags- (Kant, 1912/1798).
gespräche und die Vorlage zu allen Biogra-
phien und Romanen, Opern, Dramen und Zur Kennzeichnung der überwiegenden Af-
Komödien liefern. Es scheint, als habe man fektlage übernahm auch Wundt (1903) die
zudem bereits im Altertum die Eigentümlich- klassischen Typen, ordnete diese jedoch als
keiten im Verhalten zur Grundlage gezielter besondere Ausprägungen in einem dimensio-
Selektionsprozesse gemacht, wie das in Ab- nalen (gegenüber dem früher üblichen kate-
schnitt 1.3.1 geschilderte Auswahlverfahren gorialen) Modell mit den Beschreibungsach-
beweist. Auf jeden Fall reichen auch wissen- sen »Stärke der Gemütsbewegungen« und
schaftliche Bemühungen um eine Klassifika- »Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbe-
tion der Persönlichkeitsunterschiede weit zu- wegungen« an. Obgleich auch er zusammen-
rück: Schon Hippokrates (460–377 v. Chr.) fassende Beobachtungen über das Naturell
gruppierte alle individuellen Varianten nach der einzelnen Temperamente mitteilte, fehlte
dem Vorherrschen einer der vier Körpersäfte es doch an Methoden und Kriterien, um eine
(Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) in unzweideutige Platzzuweisung des Einzelnen
Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und vornehmen zu können – häufig die Crux von
Melancholiker. Die Vielzahl von Unterschie- Typologien.
den im Erleben und Verhalten sollte letztlich Erst Eysenck (1965), der sich ebenfalls auf
einer der erwähnten einander ausschließen- das typologische Modell bezieht, konnte
den Kategorien im Sinne von Typen zuzu- seine Schlussfolgerungen auf individuelle
ordnen sein. Messungen mit Hilfe von Fragebogen und
Das Viererschema, das auf makrokosmi- sogenannten Objektiven Tests stützen. Aller-
scher Ebene mit den Elementen Luft, Wasser, dings heißen bei ihm die – faktorenanalytisch
Feuer und Erde in Verbindung gebracht bestimmten – Dimensionen zur Abbildung
wurde, hat sich bis in die Neuzeit gehalten. der Affektivität nunmehr »Emotionale Stabi-
So finden sich bei Kant farbige Beschreibun- lität/Labilität« und »Introversion/Extraver-
gen der Typen. Aus der Beschreibung des sion« (c Abb. 7.1).
»kaltblütig Phlegmatischen« wird etwa deut- Im Rückschluss aus den Eysenck’schen
lich, welche verschiedenen Verhaltensweisen Dimensionen bestimmte Howarth (1988) für
unter die »vorwaltende Disposition psychi- jeden seiner Probanden einen der vier Tem-
scher oder psycho-physisch-neuraler Art, die peramentstypen. Howarth fand, dass den
einer Gruppe von Menschen in vergleichba- Temperamentstypen spezifische Befindlich-
rer Weise zukommt« (Stern, 1921) und sie als keitslagen im Selbstbericht zukamen: Chole-
Typen auszeichnet, eingeordnet werden: riker erwiesen sich als ärgerlicher, Sanguini-
ker als optimistischer, Phlegmatiker als weni-
»Phlegma als Schwäche ist Hang zur Untätigkeit,
die Neigung gar nur auf Sättigung und Schlaf. ger ängstlich und depressiv und Melancholi-
Phlegma als Stärke ist dagegen nur die Eigen- ker als ängstlicher jeweils im Vergleich zu den
schaft: Nicht leicht und rasch, aber wenngleich anderen Typen.
langsam, doch anhaltend bewegt zu werden. Sein Einen anderen Weg zur Bestimmung von
glückliches Temperament vertritt bei ihm die Stelle
Temperamentstypen gehen Studien, die die
der Weisheit, und man nennt ihn selbst im gemei-
nen Leben oft den Philosophen. Er ist ein verträg- Entwicklungsverläufe in der Persönlichkeit
licher Ehemann und weiß sich die Herrschaft über von der Kindheit bis hin zum Erwachsenen-
262
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
labil
launisch empfindlich
ängstlich unruhig
rigide aggressiv
bedrückt reizbar
pessimistisch wechselhaft
zurückhaltend impulsiv
ungesellig optimistisch
melancholisch cholerisch
schweigsam aktiv
introvertiert extravertiert
passiv gesellig
phlegmatisch sanguinisch
sorgsam aus sich herausgehend
nachdenklich gesprächig
friedlich teilnehmend
beherrscht lässig
zuverlässig lebhaft
ausgeglichen sorglos
ruhig tonangebend
stabil
Abb. 7.1: Beziehung der vier Temperamente zueinander. In ringförmiger Anordnung die Primäreigen-
schaften (nach Eysenck, 1965).
263
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
264
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Tab. 7.1: Prozentanteile psychiatrischer Patienten, die auf verschiedene Körperbautypen entfallen.
265
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
266
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
relativen Gleichförmigkeit antwortet und riable entweder direkter Messung oder doch
über diese Reaktion in den Betroffenen erst einer von anderen Merkmalen unabhängigen
die »typische« Konstellation von Persönlich- Einschätzung. Deshalb werden Typen häufig
keitsmerkmalen ausbildet. So scheint es, als »geschaut«, d. h. intuitiv erfasst unter Ein-
wäre ein athletischer Körperbau mit einer bezug einer begleitenden analytischen Kon-
Reihe von sozialen Vorteilen verbunden. trolle anhand einzelner Indikatoren.
Schon Cabot (1938) registrierte an Jungen Ein weiteres und entscheidendes Problem
der High School, dass die eindeutig als ist kennzeichnend für fast alle Typologien:
Athleten klassifizierten Probanden relativ Nur wenige Menschen fügen sich als reine
dominant und extravertiert waren und auch Typen in das jeweilige System. Kretschmer
häufiger eine Führungsrolle einnahmen. Dar- selbst schätzte, dass dies für seine Konstitu-
über hinaus wurde ihnen ein höheres tionstypologie nur ca. 10 % sind. Der große
Ausmaß an Kreativität, Verantwortung und Rest, die überwiegende Zahl aller Messwert-
Einfluss auf ihre Freunde zugeschrieben. träger wie im Übrigen auch die Gruppe der
Auch solche Stereotype haben irgendeine Frauen, über die fast nichts ausgesagt wird,
Ursache. Vielleicht handelt es sich dabei um ist also »atypisch« – eine gewiss paradoxe
»unmittelbare« Ausdruckswirkungen, An- Wendung der Vorstellungen über den Zu-
mutungen, die sich über der raschen Ver- sammenhang von Häufigkeit und Repräsen-
arbeitung von Merkmalen wie rund oder tanz.
eckig und deren automatische Gleichsetzung Jede Persönlichkeitstheorie ist nur von
mit »analogen« Temperamentsqualitäten geringem Wert, wenn sie lediglich für eine
einstellen, wahrscheinlich unter Einbezug eng umschriebene Zahl von vorausgelesenen
diffuser Sympathiereaktionen. Möglicher- Personen gilt. Aus dieser Sichtweise resultiert
weise findet auch eine Generalisation von somit ein weiteres Argument für die dimen-
einzelnen Personen, bei denen der stereoty- sionale Betrachtung der Persönlichkeits-
pische Zusammenhang deutlich in Erschei- unterschiede. Wie Ekman (1951) gezeigt
nung getreten ist, auf andere Personen mit hat, kann jedes aus n Typen bestehende
ähnlichen physischen Merkmalen statt. System mit Hilfe von höchstens n–1 Dimen-
Bei alledem darf nicht aus den Augen sionen abgebildet werden. Für die geschil-
verloren werden, dass der Befund eines Zu- derten Konstitutionstypologien benötigte
sammenhangs zwischen körperlichen und man von daher nicht mehr als zwei Dimen-
psychischen Merkmalen bislang nur an Ex- sionen. Dennoch wäre auch bei Einfügen
tremgruppen, nämlich den »reinen« Typen, solcher »Korsettstangen« einigen der vorge-
mit einer gewissen Verlässlichkeit gesichert tragenen Kritikpunkten nicht abgeholfen.
werden konnte. Ob solche im konkreten Entscheidend ist die Herleitung des Systems
Einzelfall vorliegen, ist häufig weniger ein- und die Platzierung der Personen aus einem
deutig zu bestimmen, als gemeinhin ange- wie auch immer definierten Mittelbereich,
nommen wird. Zum einen weisen kaum die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
jemals bei einem Individuum alle definieren- Bei den nachfolgend zu besprechenden
den Merkmale in ein und dieselbe Richtung, Persönlichkeitssystemen ist diesen Forderun-
zum anderen entzieht sich jede einzelne Va- gen Rechnung getragen.
267
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Die Einteilung von Personen in Typen zur Beschreibung ihrer Persönlichkeit ist eine intuitiv
einleuchtende Vorgehensweise. Eine solche antike Temperamentstypologie wurde von Hip-
pokrates eingeführt, der Personen in Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melan-
choliker einteilte. In neuerer Zeit hat Eysenck vorgeschlagen, die Zuordnung von Personen
zu diesen Typen anhand deren Ausprägungsgrad auf den beiden Dimensionen Extraversion-
Introversion sowie emotionale Stabilität-Labilität vorzunehmen (c Abb. 7.1). Ein anderer
Ansatz wurde von Kretschmer vorgeschlagen, der alle Personen anhand ihrer körperlichen
Gestalt in drei Konstitutionstypen einteilt, nämlich den leptosomen, athletischen und den
pyknischen Typ (c Abb. 7.2). Diese Typen sollen sich auch in ihrem Temperament
unterscheiden. Die empirische Evidenz für die Gültigkeit solcher Typologien ist allerdings
dürftig und die Zuordnung von Personen zu solchen Typen ist häufig dadurch erschwert,
dass Personen Merkmale von unterschiedlichen Typen auf sich vereinen können (sog.
Mischtypen). Aus diesen Gründen wurden Typologien in der Persönlichkeitsforschung
durch die nachfolgend beschriebenen dimensionalen Strukturmodelle ersetzt.
268
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
nicht gar »erdrückend«: Cattell und seine dene Gruppen, nämlich Fähigkeiten (engl.
Schüler produzierten in rascher Folge immer »abilities«),Persönlichkeitswesenszüge (»tem-
neue Konzepte, Daten und Analysen, so dass perament«, das »Wie« des Verhaltens oder
es faktisch unmöglich ist, auf wenigen Seiten dessen »Stil«) und Motivation oder Dynamik.
dem Gesamtwerk auch nur annähernd ge- Der letztere Bereich untergliedert sich in An-
recht zu werden. triebe (»ergs«), Einstellungen (»sentiments«)
und soziale Rollen (»roles«).
Innerhalb jeder dieser Kategorien ist eine
7.2.2 Verhaltensdaten Fülle von Beschreibungsdimensionen not-
wendig, um der Variabilität des Verhaltens
Entwicklung des Systems gerecht zu werden. Dazu wird die Faktoren-
analyse in verschiedener Weise eingesetzt. Da
Wie erwähnt, klassifizierte Cattell (1950) die der Fähigkeitsbereich in den Kapiteln 4 und 5
Persönlichkeit im weiteren Sinne in verschie- zur Intelligenz bereits angesprochen worden
269
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
ist, zu Zustandsfaktoren im Unterschied zu hin verlief wie folgt: Es wurden 100 Erwach-
Eigenschaftsfaktoren andererseits nur weni- sene nach der vollständigen Liste der Ober-
ge Untersuchungen vorliegen, wird nachfol- flächeneigenschaften (Cattell, 1946a, S. 219–
gend hauptsächlich auf die zeitstabilen Per- 232) von je zwei Bekannten eingeschätzt.
sönlichkeitswesenszüge und kurz auf die Nach Maßgabe der wechselseitigen Überlap-
motivationalen Eigenschaften eingegangen. pung der Cluster und deren Reliabilität, aber
Um zu den Eigenschaftsfaktoren und auch dem Ausmaß, in dem Hinweise auf die
deren Wechselbeziehungen zu gelangen, Existenz einer Itemgruppierung aus den
knüpfte Cattell (1946a, b, c) an die Vor- Arbeiten anderer Forschergruppen vorlagen,
arbeiten von Allport und Odbert (1936; erfolgte eine weitere Reduktion auf 35 Va-
Allport, 1937) an, die im Zuge einer »psy- riablen (s. Cattell, 1945), die als Vorlage in
cholexikalischen Studie«aus »Websters New einen zweiten Beurteilungsversuch mit 208
International Dictionary« (1925er-Ausgabe) männlichen Erwachsenen eingingen. Bei der
17 953 Begriffe zur Kennzeichnung von Faktorisierung der Korrelationsmatrix ent-
Eigenschaften herausgesucht hatten. Ausge- schied sich Cattell (1945) schließlich für eine
hend im Wesentlichen von den ca. 4500 Lösung mit zwölf Faktoren (Wurzelfaktoren),
Termini der Kategorie »Personmerkmale« die wie folgt benannt wurden (s. Cattell,
(z. B. aggressiv oder gesellig) und 100 Begrif- 1944):
fen der Kategorie »vorübergehende Aktivi-
Faktor A Cyclothymia vs. Schizothymia
täten oder aktuelle Zustände« (z. B. verlegen, Faktor B Intelligence, general mental capacity
fröhlich oder wütend), wurde in einem mehr- vs. mental defect
stufigen Reduktionsverfahren unter Ausson- Faktor C Emotionally mature, stable character
derung von Synonyma, unverständlichen vs. demoralized general emotionality
Faktor D Hypersensitive, infantile, sthenic emo-
und seltenen Begriffen sowie der Aufnahme
tionality vs. phlegmatic frustration
einiger psychologisch nützlicher, in der ur- tolerance
sprünglichen Literatur aber nicht enthaltener Faktor E Dominance (Hypomania) vs. submis-
Begriffe auf rein semantischer Ebene letztlich siveness
ein Pool von 171 Variablen angelegt, die Faktor F Surgency vs. melancholic, cycloid de-
surgency
mehrheitlich in Form von Gegensatzpaaren Faktor G Positive character integration vs. im-
angeordnet waren, z. B. mature dependent character
Faktor H Charitable, adventurous Rhathymia vs.
l alert vs. absent-minded obstructive, withdrawn Schizothymia
Faktor I Sensitive, imaginative, anxious emo-
l observant, vigilant vs. dreamy, indefinite
tionality vs. rigid, tough poise
l omnipercipient antevert vs. depersonal- Faktor J Neurasthenia vs. rigorous »obsessio-
ized retrospective nal determined« character
l oriented to the future, foreward looking Faktor K Trained, socialized, cultured mind vs.
vs. oriented to childhood and family boorishness
Faktor L Surgent Cyclothymia vs. paranoid
Schizothymia
Cattell nannte solche Verhaltensdispositio-
nen »Oberflächeneigenschaften« (»surface Die Reihenfolge der Buchstaben richtete sich
traits«). Sie bildeten die Grundlage für die nach dem (abnehmenden) Varianzanteil der
Erschließung der dispositionellen Wurzelfak- Faktoren. Durch die schiefwinklige Rotation
toren, indem sie interkorreliert und die Kor- bestanden zwischen den Dimensionen Zu-
relationsmatrix anschließend faktorisiert sammenhänge bis zu r ¼ 0,43 bei einem
wurde. Die resultierenden Faktoren wurden arithmetischen Mittel von r ¼ 0,18. Dadurch
sodann nach Einfachstruktur rotiert und als eröffnete sich die Möglichkeit einer erneuten
Wurzelfaktoren interpretiert. Der Weg hier- Faktorisierung mit der Entdeckung von Se-
270
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
kundärfaktoren und schließlich auch der unter auch der o. a. Cattell- und Norman-
Ableitung von Tertiärfaktoren. Arbeiten sogar nur fünf Faktoren, nämlich
Cattell verstand die aufgelisteten Wurzel- »Freundliches Entgegenkommen vs. feindli-
faktoren als eine Quelle von generalisierten che Distanz«, »Extraversion-Introversion«,
fundamentalen Einflüssen, die zusammen »Ich-Stärke vs. Emotionale Desorganisa-
variieren und speziellere Eigenschaften orga- tion«, »Leistungswillen« und »Intellekt«.
nisieren (hierarchische Anordnung in Pri- Angesichts dieser Befunde spricht einiges
mär-, Sekundär- und Tertiärfaktoren). dafür, dass Cattell im Bereich der L-Daten zu
viele Dimensionen extrahiert hat.
Kontroverses
7.2.3 Fragebogendaten
Die ursprüngliche Cattell’sche Struktur des
Bereichs der Persönlichkeitswesenszüge wur- Entwicklung und Konzeption
de, wie eben geschildert, aufgrund von
L-Daten gewonnen (Fremdbeurteilungen). Ein besonderes Verdienst Cattells besteht
Diese Struktur blieb im Laufe der Jahre darin, sich nicht mit Informationen aus einer
praktisch unverändert. Dieses stimmt umso Art von Datenquelle zufriedengegeben zu
bedenklicher, als im Zuge des erwähnten haben. Freilich beinhaltet der simultane Be-
Variablenreduktionsprozesses einigen weni- zug auf Fremdbeurteilungen und Fragebo-
gen Personen eine relativ entscheidende gen, Objektive Tests und physiologische
Funktion zukam, sei es bei der Bestimmung Daten die Notwendigkeit und das Problem,
von Synonymen und Itemgruppen durch eine Äquivalenz der jeweiligen Lösungen
einen Psychologie- und einen Sprachstuden- aufzuzeigen. Im Vordergrund der Bemühun-
ten in Harvard, sei es bei der Festlegung, was gen, Übereinstimmung mit der im vorange-
als Gegensatz zu einem Attribut oder als gangenen Abschnitt geschilderten Struktur
Schlüsselbegriff zu einer Itemgruppierung von Fremdbeurteilungen (L-Daten) zu erzie-
gelten könne. Zudem war die Definition der len, steht Cattells »16 Personality Factor
Cluster willkürlich. Auch die Zahl der Mess- Questionnaire« (16 PF). Die individuellen
wertträger bzw. der Beurteiler in den Ein- Antworten werden in 16 Skalen zusammen-
schätzungsstudien nimmt sich angesichts der gefasst; deren Namen und Inhalte sind in
daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen als Kasten 7.2 aufgelistet.
relativ bescheiden aus. Die 16 Skalen sind zur Erfassung von
Bereits Cattell (1947) selbst stellte deshalb Primärfaktoren gedacht. Insoweit liegen sie
einen ersten Replikationsversuch an und auf derselben Ebene wie die zwölf ursprüng-
gewann dabei den Eindruck, neun der ur- lichen Beurteilungs-(Rating-) Faktoren, über
sprünglich zwölf Faktoren wiedergefunden die lediglich die Dimensionen Q1 bis Q4 als
zu haben (C und D waren nicht replizierbar). fragebogenspezifisch (»questionnaire speci-
Auch Howarth (1976b) und Norman (1963, fic«, daher die Abkürzung Q) hinausgehen.
1969) gelangten nicht zu zwölf Faktoren, Zwischen den Primärfaktoren gibt es z. T.
sondern nur zu etwa halb so vielen wie hohe Korrelationen, die bis zur Größenord-
ursprünglich Cattell. Digman (1972) konnte nung von r ¼ 0,60 und darüber hinausgehen.
an Kindern, bei denen allerdings aufgrund In der Untersuchung von Cattell et al. (1970,
der geringen Reife und Erfahrung möglicher- S. 113) korrelierten bei 423 männlichen Test-
weise die Persönlichkeit noch nicht genügend teilnehmern beispielsweise C und O zu r ¼
»ausdifferenziert« ist, nur sieben Faktoren 0,70, C und Q4 zu r ¼ 0,71. Solche Zusam-
finden, bei einer Reanalyse mehrerer, dar- menhänge gaben Anlass zur Durchführung
271
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Kasten 7.2: Skalen des 16 PF (5. Auflage, Schneewind & Graf, 1998)
272
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Third Stratum
Source Traits Neural Strength ?
Behaviour
Tendencies
Der 16 PF ist bis in die Gegenwart (s. Bestimmung seiner eigenen faktoriellen Vali-
Schneewind & Graf, 1998) in zahlreichen dität eingesetzt worden. Allerdings ist nicht
Forschungsuntersuchungen als Prädiktor immer sicher, inwieweit aufgetretene Unter-
und Kriterium für andere Skalen sowie zur schiede schon vor dem jeweiligen Treatment
273
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
bestanden oder nur Folge desselben sind. Das negative zu beobachten waren (c Tab. 7.2).
trifft z. B. auf die Untersuchung von Cattell Da die Tests nicht schon vor der Eheschlie-
und Nesselroade (1967) zu, in der für 102 ßung vorgegeben worden waren, ist nicht
stabile Ehen häufiger positive Korrelationen entscheidbar, ob die Unähnlichkeit der Part-
der Partner in den Skalenwerten auftraten, ner in instabilen Ehen Ursache oder Folge des
für 37 instabile hingegen mehrfach auch ehelichen Scheiterns ist.
Tab. 7.2: Übereinstimmungen zwischen den Partnern von stabilen und instabilen Ehen.
* Differenz zwischen den Koeffizienten signifikant. Nach Cattell und Nesselroade (1967).
Aus der Namensgebung für die Primär- und Eine weitere Frage betrifft die Übereinstim-
Sekundärfaktoren ist erschließbar, dass in- mung von L- (Fremdbeurteilungen) mit Q-
haltliche und korrelative Beziehungen zu (Fragebogen) Daten im Cattell’schen System.
Skalen anderer Autoren bestehen (z. B. Ex- Hatten sich etwa Cattell und Saunders noch
traversion). Weiterhin ist die Ähnlichkeit in optimistisch geäußert (»…vergleicht man
der Benennung einiger Fragebogenskalen mit aber nun die Beobachtungsbereiche als Ge-
den im vorigen Abschnitt skizzierten L-Fak- samtheiten und nicht Faktor für Faktor, so
toren augenfällig; andere Namen stellen zeigt sich doch eine recht befriedigende
allerdings Wortneuschöpfungen dar, mit de- Übereinstimmung«, 1954, S. 353; s. auch
nen u. a. eine Abhebung von alltagssprachli- Cattell, 1968), beurteilte Cattell (1973) aus
chen Begriffen und den Befunden anderer zeitlicher Distanz dieselben Befunde als we-
Autoren erreicht werden sollte. nig aussagefähig.
274
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
275
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
276
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Fragebogen formal nur wenig unterscheiden tan haben, im selben Ausmaß rezipiert zu
und inhaltlich »kulturelle Konformität vs. werden. Dennoch entbehrten die Einwände,
Objektivität« und »Angst« markieren. wie an einzelnen Punkten aufgezeigt, keines-
wegs einer seriösen Grundlage.
Mehrfach schien Cattell zu rasch über die
7.2.5 Abschließende Daten hinausgegangen zu sein, Vorstellun-
Würdigung gen im Visier, die empirisch noch nicht
genügend abgesichert waren, wenn er bereits
In der Breite seines Vorgehens findet Cattell den zweiten Schritt vor dem ersten unter-
innerhalb der Persönlichkeitsforschung nicht nahm. Viele seiner Anregungen in allen
seinesgleichen; kaum ein Gebiet, zu dem Bereichen haben andere Arbeiten stimuliert.
er nicht originelle Beiträge geleistet hätte, Cattell gebührt das entscheidende Verdienst,
von der Intelligenz- bis zur Motivationsfor- die Komplexität menschlichen Verhaltens in
schung, von der Anlage-/Umwelt-Kontrover- einem diesem Ziel angemessenen multivaria-
se bis zu wissenschaftstheoretischen und ten Forschungsansatz erklären zu wollen,
philosophischen Betrachtungen. Vielleicht auch wenn manche seiner Vorschläge mehr
gerade deshalb hatte Cattell zahlreiche Geg- als programmatischer Appell denn als reali-
ner, wenngleich sich diese angesichts von Ruf sierbare Erfassung der Persönlichkeit gelten
und Forschungspotential Cattells schwer ge- müssen.
Bereits in den 1930er Jahren haben Allport und Mitarbeiter aus einem umfangreichen
Wörterbuch der englischen Sprache all jene Wörter ausgelesen, mit denen man Personen gut
charakterisieren kann. Diese Wortliste beinhaltete ca. 4 500 Elemente und wurde von
Cattell in den 1940er Jahren zunächst durch eine rational-semantische Analyse auf 171
Begriffe reduziert. Anhand dieser Begriffe wurde dann eine Stichprobe von Zielpersonen
durch jeweils zwei Bekannte eingeschätzt. Anhand dieser Daten erfolgte – teil statistisch,
teils rational – eine weitere Reduktion der Begriffe auf 35 Variablen, mit denen dann eine
zweite Stichprobe von Zielpersonen eingeschätzt wurde. Diese resultierenden Daten
wurden einer Faktorenanalyse unterzogen, wobei sich Cattell schließlich für eine Lösung
mit 12 korrelierten Faktoren entschied. Dieses Persönlichkeitssystem fußt auf den
alltäglichen Verhaltensbeobachtungen, die den Bekannten der Zielpersonen zu deren
Beschreibung verfügbar waren, es gründet sich also auf L-Daten (von engl. »life data«,
Verhaltensdaten). Dieses System wurde schon bald von Cattell durch ein anderes ergänzt,
dass nun auf Q-Daten basiert (von engl. »questionnaire data«, Fragebogendaten) und mit
dem eine ökonomische Persönlichkeitsdiagnostik mit der Methode der Selbstbeschreibung
möglich sein sollte. Hierfür ergänzte Cattell die 12 Faktoren aus dem Bereich der L-Daten
um vier weitere, die nach seiner Auffassung nur mit der Methode der Selbstbeschreibung
messbar sind. Es resultierte der »16 Personality Factor Questionnaire« (16 PF), ein
Persönlichkeitsfragebogen, der in weiten Bereichen der Forschung und in vielen Anwen-
dungsfeldern eingesetzt wurde und der Faktoren wie Wärme, Logisches Schlussfolgern,
Emotionale Stabilität, Dominanz und Lebhaftigkeit beinhaltet (c Kasten 7.2). Aufgrund
der substantiellen Korrelationen zwischen diesen 16 Faktoren konnten drei bis fünf
Faktoren höherer Ordnung extrahiert werden, die unter anderem Extraversion und
277
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
278
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
lekts und der Physis eines Menschen«, S. 2). Die Wissenschaft von der Persönlich-
die »seine einzigartige Anpassung an die keit hat nach Eysenck zwei verbundene
Umwelt« determiniert (Eysenck, 1953, Aufgaben:
279
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
geht Eysenck (1967, S. 1–33) systematisch lichkeit empirisch aus den Interkorrelationen
zunächst von allgemeinpsychologischen Ge- der Primärfaktoren ergaben, legte sich Ey-
setzmäßigkeiten aus (z. B. Vergessenskurve senck definitiv auf die Dimensionen P, E und
einmal gelernter sinnloser Silben) und unter- N fest.
sucht dann differentiellpsychologische Hypo- Wegen ihrer geringen Anzahl und ihres
thesen über die Unterschiedlichkeit zwischen breiten Einflussbereichs werden die Ey-
Personen (z. B. in Bezug auf die Behaltens- senck’schen Typen auch als »Giant Three«
leistung über die Zeit). Welches sind aber die bezeichnet. Für die Verhaltensbeschreibung
grundlegenden Einheiten der Persönlichkeits- sollen aber die Eigenschaften der drei Typen-
struktur, in denen solche Unterschiede auf- faktoren herangezogen werden.
treten sollen?
Hier unterscheidet Eysenck zwischen
Eigenschaften und Typen. Eigenschaften Herleitung
sind Dispositionen für Erleben und Verhal-
ten. Faktorenanalytisch hergeleitet entspre- Grundlage für die Ableitung der Dimensio-
chen Eigenschaften den Primärfaktoren von nen Neurotizismus und Extraversion stellte
Verhaltensgewohnheiten (c Abb. 1.17), z. B. eine Untersuchung von Eysenck (1944) dar.
Geselligkeit, Aktivität oder Lebhaftigkeit. Es wurden Verhaltensbeurteilungen von Psy-
Typen sind übergeordnete Konstrukte, die chiatern, Krankenschwestern, Sozialarbei-
sich faktorenanalytisch als Sekundärfakto- tern und Familienangehörigen über 700
ren aus kovariierenden Eigenschaften erge- neurotische Soldaten anhand von 37 Items
ben, z. B. Extraversion (s. Abschn. 7.3.2). Im eingeholt. Die Soldaten waren zur Diagnose
Unterschied zu dem modalen Typenbegriff und Therapie in das Mill-Hill-Krankenhaus
versteht Eysenck unter Typen kontinuierlich in London überwiesen worden, dessen Lei-
verteilte Grunddimensionen der Persönlich- tender Psychologe Eysenck zu dieser Zeit
keit (polare Typen, s. Abschn. 1.6.6). Typen, war. Die Verhaltensbeurteilungen wurden
nicht Eigenschaften, haben eine biologische zusammen mit den zusätzlichen Variablen
Basis. Intelligenz und Alter interkorreliert. Es wur-
Grunddimensionen der Persönlichkeit sol- den vier Faktoren extrahiert, die zusammen
len nicht nur biologisch erklärbar sein. Sie (nur) 40 % der Gesamtvarianz aufklärten.
müssen auch eine wesentliche Rolle in der Der erste Faktor wurde von Eysenck als
Anpassung des Menschen an seine Umwelt »lack of personality integration« oder »Neu-
spielen. Eysenck gelang es in der Tat, ein rotizismus« (N), der zweite als »Hysteria vs.
breites Spektrum von Anwendungsbereichen Dysthymia« oder »Extraversion/Introver-
seines Persönlichkeitsmodells aufzuzeigen (s. sion« (E/I) interpretiert. Die Lokalisation
Abschn. 7.3.3). der Variablen im zweidimensionalen Faktor-
raum der Ursprungsarbeit ist aus Abbil-
dung 7.5 ersichtlich.
7.3.2 Das PEN-System Nachfolgende Arbeiten dienten der Bestä-
tigung der aufgezeigten Dimensionen, wobei
Eysenck postulierte auf dem obersten Niveau vor allem auch Gruppen von Normalper-
seines Persönlichkeitsmodells drei Typen: sonen eingeschlossen und Testverfahren
Psychotizismus (P), Extraversion (E) und anstelle der Verhaltensbeurteilungen benutzt
Neurotizismus (N), kurz das PEN-System. wurden. So berichtete Eysenck (1952) in
Anders als bei Cattell, nach dem sich die Zahl seinem Buch, das besonders der N-Dimen-
und Art von Sekundärfaktoren der Persön- sion gewidmet ist, von einer Untersuchung
280
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Neuroticism
1,0
0,8
z dependent
headaches
z
z fainting, fits z
unskilled z effort intolerance z married anxiety z
0,2
degraded work-history z z apathy
z irritability
z z sex anormalities
hysterical conversion pain z
z zdomestic problems
alcohol z age 30+
z somatic anxiety depression
z
z bomb and exposure
z obsessional
Hysteria Dysthymia
Abb. 7.5: Ladungsmuster von 37 Variablen im zweidimensionalen Raum (N ¼ 700, nach Eysenck, 1947,
S. 34).
281
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
I
0,8
I'
Motorische Kontrolle
Entschlossenheit 1
Unbeeinflussbarkeit
Entschlossenheit 2
0,6
Schnelligkeitstest II'
Schnelligkeitstest
Urteils-
manuelle
abweichung Geschicklichkeit Individuelles Tempo
Anpassung an
0,4
Dunkelheit
Belastungstest Redefluss
Anpassungsindex
0,2 Beharrlichkeitsindex
medizinischer Fragebogen
Zielabweichung
II
–0,6 –0,4 –0,2 0 0,2 0,4 0,6
Abb. 7.6: Faktorisierung von 15 Objektiven Tests unter Einschluss eines Fragebogens. Die Achsen I und
II wurden als N und E/I interpretiert. I’ und II’ stellten Achsenrotationen mit dem Ziel der
Einfachstruktur dar, was aber zu uninterpretierbaren Ergebnissen führte (nach Eysenck, 1952, S. 75).
Abb. 7.7: Eigenschaften für den Typus Extraversion (nach Eysenck & Eysenck, 1985, S. 15).
»Der typische Extravertierte sucht sozialen Anschluss, liebt Partys, hat viele Freunde,
braucht eine Vielzahl von Menschen, mit denen er sprechen kann. Er befasst sich ungern mit
der eigenen Person. Extravertierte brauchen andauernd Erregung, suchen Veränderungen
282
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
oder Risiken. Sie sind im allgemeinen impulsiv. Extravertierte lieben das Leben (easy going),
machen und mögen Witze, haben in jeder Situation den richtigen ›Spruch‹ bereit und lachen
viel. Extravertierte bevorzugen es, in Bewegung zu sein und vielerlei Sachen zu unterneh-
men. Sie tendieren zu Aggressivität und sind launisch. Sie haben ihre Gefühle nicht immer
unter Kontrolle und neigen zu Unzuverlässigkeit.
Typisch Introvertierte sind ruhig, fast langweilig. Sie sind introspektiv und finden Bücher
interessanter als Menschen. Sie sind gegenüber anderen Menschen reserviert und zurück-
haltend. Sie neigen dazu, Dinge zu planen und sind somit nicht sehr spontan. Sie mögen
keine Erregung und ziehen ein ruhiges, wohlgeordnetes Leben vor. Sie halten ihre Gefühle
unter Kontrolle und zeigen nur selten aggressives Verhalten. Ihr Temperament geht nur
selten ‘mit ihnen durch’. Introvertierte sind zuverlässig, manchmal pessimistisch und halten
viel von moralischen Grundsätzen.« (Eysenck et al., 1997, S. 21).
Bei der Auffächerung des Typenfaktors Ex- nalität als Kern der Extraversion. Danach
traversion in neun Eigenschaften stellt sich sollten Extravertierte zwar mehr positive Ge-
natürlich die Frage, was denn der psycholo- fühle als Introvertierte angeben. Dies sollte
gische Kern von Extraversion sei, der die aber sowohl für soziale Situationen gelten als
positiven korrelativen Beziehungen zwischen auch für Situationen des Alleinseins.
den Eigenschaften stiftet. Hierüber sind ver- Lucas et al. (2000) argumentierten, dass
schiedene Auffassungen ausgetauscht wor- der Kern der Extraversion die Belohnungs-
den. Nach Lucas et al. (2000) sind es vor sensitivität sei. Extravertierte seien deshalb
allem zwei Auffassungen: »Soziabilität« oder soziabler als Introvertierte, weil soziale Situ-
»Belohnungssensitivität«. ationen für sie oft einen Belohnungsanreiz
Soziabilität beschreibt individuelle Unter- ausüben. Die höhere Soziabilität Extraver-
schiede in der Freude an sozialen Kontakten tierter sei daher nur ein Nebenprodukt ihrer
und in der Bevorzugung der Gesellschaft höheren Belohnungssensitivität. Ashton et al.
anderer gegenüber dem Wunsch, allein zu (2002) hielten dagegen, dass der Kern der
sein. Soziabilität ist abzugrenzen von Affilia- Extraversion nicht die Belohnungssensitivi-
tion, der Freude an engen und liebevollen tät, sondern die soziale Aufmerksamkeit sei,
mitmenschlichen Beziehungen (Depue & Col- die Extravertierte zu erlangen und zu genie-
lins, 1999; Depue & Morrone-Strupinsky, ßen trachteten. Eine Entscheidung zwischen
2005). Belohnungssensitivität beschreibt diesen Auffassungen wird empirisch schwie-
individuelle Unterschiede in der Stärke der rig herbeizuführen sein, wenn nicht Eysencks
Motivation für Annäherungsverhalten an Forderung nach biologisch fundierten Erklä-
Reize und Situationen, denen Personen einen rungen der Persönlichkeitstypen mit einbe-
Anreiz zuschreiben. Damit gehen starke posi- zogen wird.
tive Gefühle der Vorfreude, des Tatendrangs,
der Begeisterung und der Selbstwirksamkeit
einher. Personen mit einer hohen Belohnungs- Neurotizismus
sensitivität suchen nicht häufiger soziale Situ-
ationen auf als Personen mit niedriger Beloh- Personen mit hohen Messwerten auf Frage-
nungssensitivität, es sei denn, die sozialen bogenskalen zum Neurotizismus sind in
Situationen üben auf die Person einen Beloh- Kasten 7.5 beschrieben. Diese Beschreibung
nungsanreiz aus. In ähnlicher Weise sehen findet sich wieder in den Eigenschaften des
Watson und Clark (1997) positive Emotio- Typenfaktors Neurotizismus (c Abb. 7.8).
283
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
»Personen mit einem hohen Wert auf der Neurotizismusskala sind ängstlich, besorgt,
schwermütig, launisch und häufig depressiv. Sie neigen dazu, schlecht zu schlafen und
leiden unter einer Vielzahl psychosomatischer Beschwerden. Sie sind extrem emotional und
überreagieren stark auf alle Reize. Nach emotionalen Ausbrüchen haben es neurotische
Personen schwer, wieder ihr emotionales Gleichgewicht zurückzugewinnen. Diese emo-
tionalen Ausbrüche führen zu irrationalen Handlungen. Manchmal sind sie zu unbeweg-
lich, um sich neuen Dingen gegenüber zu öffnen (rigide).
Extravertierte und neurotische Personen sind unruhig und werden leicht aggressiv.
Eine emotional instabile Person neigt dazu, nicht erfolgreich zu sein. Gelegentliche
Aggressivität tritt auf, wenn sie nicht erwartet wird. Sollte Stress die Stabilität beeinflussen,
so sind Ängste und Befürchtungen verhaltenssteuernd.« (Eysenck et al., 1997, S. 21).
niedriges
ängst- nieder- Schuld- angespannt
Selbstwert-
lich geschlagen gefühle
gefühl
Abb. 7.8: Eigenschaften für den Typus Neurotizismus (nach Eysenck & Eysenck, 1985, S. 15).
Untersuchungen zu Effekten des Neurotizis- und hohen Werten auf Extraversion: »Hap-
mus auf verschiedenste Lebensbereiche sind piness is a thing called stable extraversion«.
sehr zahlreich. Zusammengenommen lesen Allerdings ist Neurotizismus wegen der
sie sich wie »Anleitungen zum Unglücklich- assoziierten höheren Ängstlichkeit vor Ge-
sein«. So wie Extraversion mit positiver fahren auch ein Schutzfaktor. Für den Al-
Emotionalität zusammenhängt, so ist Neu- tersbereich bis 25 Jahre besteht entsprechend
rotizismus mit negativer Emotionalität ver- einer longitudinalen Studie von Lee et al.
bunden (Rusting & Larsen, 1997). Personen (2006) für Personen mit hohen Neurotizis-
mit hohen im Vergleich zu niedrigen Werten muswerten während der Adoleszenz eine
auf Neurotizismus berichten mehr alltägliche geringere Sterblichkeit aufgrund von Unfäl-
Probleme, reagieren darauf mit stärkeren len, ab 25 Jahren allerdings eine höhere
Emotionen, erfahren häufiger negative emo- Sterblichkeit aufgrund anderer Ursachen als
tionale Beeinträchtigungen durch schon zu- Unfälle, z. B. Krankheiten oder Suizid.
rückliegende Ereignisse und zeigen stärkere
Stressreaktionen auf wiederkehrende Pro-
bleme (»neurotische Kaskade«, s. Suls & Psychotizismus
Martin, 2005). Entsprechend charakterisier-
te umgekehrt Francis (1999) schon im Titel Der Typenfaktor Psychotizismus (H.J. Ey-
ihrer Arbeit Glücklichsein als die Kombina- senck, 1992) umfasst nach Eysenck ein Kon-
tion von niedrigen Werten auf Neurotizismus tinuum von normalem und angepasstem
284
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
über kriminelles und psychopathisches Ver- wöhnliches, wenig kontrolliertes und »selt-
halten bis hin zu psychotischen Erkrankun- sames« Verhalten.
gen (u. a. Schizophrenie) mit Realitätsverlust Personen mit extremen Messwerten auf
und starken Störungen im Denken, Fühlen Fragebogenskalen zum Psychotizismus sind
und im Verhalten. Angewandt auf Personen in Kasten 7.6 charakterisiert. Die Eigenschaf-
ohne eine psychiatrische Diagnose beschreibt ten des Typenfaktors Psychotizismus sind in
Psychotizismus somit unsozialisiertes, unge- Abbildung 7.9 wiedergegeben.
»Personen mit einem hohen Wert auf einer Psychotizismusskala können als Einzelgänger
bezeichnet werden. Sie kümmern sich nicht um Menschen, sind häufig (ruhelos) unruhig
und können sich nicht anpassen. Sie tendieren dazu, grausam und unmenschlich zu sein. Sie
können sich nicht in andere hineinversetzen, zeigen kein Einfühlungsvermögen und sind
wenig sensibel. Sie sind häufig anderen gegenüber feindlich gestimmt, oft sogar gegenüber
der eigenen Kernfamilie oder engsten Verwandten.
Sie interessieren sich für merkwürdige und ungewöhnliche Dinge und missachten
Gefahren. Sie mögen es, andere Menschen zum Narren zu halten und aus dem Gleichge-
wicht zu bringen.
Kinder zeigen ähnliche Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Erwachsene. Sie
isolieren sich, sind unruhig und nicht in der Lage, ‘menschliche’ Gefühle gegenüber ihren
Verwandten oder Haustieren zu zeigen. Sie sind aggressiv und feindselig. Aus dieser
Konstitution heraus neigen einige dazu, Sensationen zu suchen, ohne Gefahren wahrzu-
nehmen oder auf mögliche Gefahren zu achten.« (Eysenck et al., 1997, S. 22)
nicht
antisozial kreativ hart
mitfühlend
Abb. 7.9: Eigenschaften für den Typus Psychotizismus (nach Eysenck & Eysenck, 1985, S. 14).
Das Eysenck’sche Konzept des Psychotizis- von einer psychosenahen Konzeption mit
mus ist indes auf deutliche Kritik gestoßen Orientierung an einer klinischen Psycho-
(Stellungnahme dazu s. H.J. Eysenck, 1992). sesymptomatik hin zu einer soziopathisch
Andresen (2001) fasste diese Kritik zusam- akzentuierten inhaltlichen Konzeption.
men und erweiterte sie: Dies sei der Eysenck’schen Prämisse ge-
schuldet, wonach die Typenfaktoren unter-
1. Zum einen sei der Inhalt der Psychotizis- einander unkorreliert sein sollten. Dies
mus-Skalen über verschiedene Versionen galt nicht für die psychosenahe Konzep-
hinweg grundlegend verändert worden, tion (sie wies substantielle Korrelationen
285
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
mit Neurotizismus auf, s. Baumann & mit 40 Items vorwiegend medizinischer The-
Dittrich, 1975), wohl aber für die spätere matik (z. B. »Manchmal kriege ich Herz-
soziopathienahe Konzeption. klopfen«, »Gelegentlich zittere ich oder habe
2. Zum anderen wiesen die Eysenck’schen Schüttelanfälle« usw.), der nach Eysenck
Psychotizismus-Skalen deutliche psycho- (1947, S. 66) mit ca. r ¼ 0,45 mit dem
metrische Schwächen auf, vor allem in Psychiaterurteil einer »schlecht organisierten
Bezug auf die von Eysenck stets hervor- Persönlichkeit« korrelierte.
gehobene Trennbarkeit klinischer und Um für Personen im nichtklinischen Be-
nichtklinischer Gruppen durch die Ska- reich ein Instrument mit mehr psychischen
len. als medizinischen Merkmalslisten verfügbar
3. Schließlich sei die Etikettierung von Men- zu haben, das darüber hinaus neben N die
schen mit Begriffen wie Psychose, Sozio- Dimension E/I enthalten sollte, wurde später
pathie und Kriminalität auf einer allge- das »Maudsley Personality Inventory« (MPI)
mein anzuwendenden Persönlichkeitsdi- konzipiert (Eysenck, 1959).
mension ethisch fragwürdig. Die Skalen E und N des MPI (wie häufig
auch in anderen Fragebogen) korrelierten
in der Größenordnung von –0,30 bis –0,40.
Messinstrumente Um auch diese Korrelationen zu eliminieren,
stellten Eysenck und Eysenck (1969) je 24
Sowohl Neurotizismus (N) als auch Extra- Items zu den Skalen E/I und N des »Eysenck
version/Introversion (E/I) sind anfänglich, Personality Inventory« (EPI) neu zusammen.
wie dargestellt, mit Hilfe von Verhaltensbe- Dafür wurden die Impulsivitätsitems aus der
urteilungen und Objektiven Tests identifiziert Skala E/I entnommen, so dass E/I nunmehr
worden. Vieles sprach dafür, zur raschen als Soziabilität definiert war.
Erfassung der individuellen Ausprägung in Später folgte das »Eysenck Personality
jeder der beiden Dimensionen auch hier Questionnaire« (EPQ, Eysenck & Eysenck,
Fragebogen zu entwickeln. 1975), in das auch eine Psychotizismus-Skala
Für Neurotizismus konzipierte Eysenck aufgenommen wurde. Einige Beispielitems
(1947) zunächst das »Maudsley Medical aus dem EPQ-R sind in Kasten 7.7 wiederge-
Questionnaire« (MMQ), einen Fragebogen geben.
Skala Extraversion
Sind Sie sehr gesprächig?
Sind Sie ziemlich lebhaft?
Lieben Sie handfeste Streiche, auch wenn diese manchmal Leute ärgern können?
Entscheiden Sie sich oft aus der augenblicklichen Stimmung heraus?
Macht es Ihnen Spaß, waghalsige oder tollkühne Dinge zu tun?
Skala Neurotizismus
Wechselt Ihre Stimmung oft?
Machen Sie sich oft Sorgen über Dinge, die Sie nicht hätten tun oder sagen sollen?
Sind Sie leicht reizbar?
Sind Ihre Gefühle leicht verletzt?
Sind Sie oft von Schuldgefühlen geplagt?
286
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Skala Psychotizismus
Tun Sie gerne schon mal jemandem weh, den Sie mögen?
Werfen Sie Papier auf den Boden, wenn kein Papierkorb in der Nähe ist?
Sind Sie immer höflich, auch zu unangenehmen Leuten?*
Ist »erst denken, dann handeln« Ihr Grundsatz?*
Ist es Ihnen sehr unangenehm, in einer Gesellschaft unpassend gekleidet zu sein?*
Schon zuvor hatten Reanalysen von Ho- cher Stärke. Da Extravertierte der Theorie
warth (1976a) für die Skalen E und N jeweils zufolge schlechter lernen (s. Abschn. 8.1.1),
mehrere Primärfaktoren erkennen lassen. Im sind sie, besonders bei zugleich hohen Neu-
Hinblick darauf war es nur folgerichtig, dass rotizismuswerten, für sozial abweichendes
schließlich in Gestalt des »Eysenck Personal- Verhalten stärker prädestiniert als Introver-
ity Profilers« (EPP, s. Eysenck & Wilson, tierte. Deshalb müssten sich bei Personen mit
1991) ein Instrumentarium entwickelt wur- sozial abweichendem Verhalten und bei
de, das sich explizit an den jeweiligen Eigen- Straftätern besonders viele Personen mit ho-
schaften orientierte (c Abb. 7.7 bis 7.9). In hen E-Werten finden lassen.
der 630 Items umfassenden Urfassung stan- Eine Arbeit von Eysenck und Eysenck
den für Neurotizismus der Begriff »Emotio- (1977) an zusammen ca. 4000 Personen wies
nalität« und für Psychotizismus die Bezeich- Mittelwertsdifferenzen zwischen Gefange-
nung »Hartherzigkeit«. Letzteres änderte nen und Kontrollpersonen in der E-Skala
sich in der revidierten Form mit nur noch jedoch nur bei den älteren Probanden aus.
440 Items zu »Risikoneigung«. Daraus mö- Hingegen unterschieden sich N- und P-Ska-
gen die Schwierigkeiten erkennbar sein, P als len konsistent in allen Altersgruppen
eine hinlänglich konsistente Eigenschaft im (c Abb. 7.11).
Normalbereich zu konzipieren bzw. zu erfas- Solche Ergebnisse sind für die Befundsitu-
sen. Für die deutschsprachige Adaptation ation insgesamt nicht untypisch. Meist sind
(EPP-D) entfielen infolge der gewählten Se- es Querschnittsuntersuchungen mit allen da-
lektionskriterien einige Primärfaktoren (s. mit verbundenen Mängeln, was den Einfluss
Bulheller & Häcker, 1998). Die verbliebe- der Inhaftierungssituation auf die Bearbei-
nen, unterschiedlich langen Subskalen sind in tung von Fragebogen betrifft. Nicht nur muss
Abbildung 7.10 aufgeführt. mit reaktiven Veränderungen der Probanden
durch die Isolierung und Beschämung ge-
rechnet werden, sondern auch damit, dass
7.3.3 Anwendungsbereiche viele Items namentlich der Extraversions-
skala von Strafgefangenen als Verhöhnung
Kriminalität empfunden werden müssen und jedenfalls
nicht mehr adäquat zu beantworten sind
Nach Eysenck (1976) ist abweichendes, (z. B. »Gehen Sie gern auf Partys?«, »Wären
delinquentes oder gar kriminelles Verhalten Sie sehr unglücklich, wenn Sie auf häufigen
eine Folge von unzureichenden Konditionie- geselligen Verkehr verzichten müssten?«
rungsprozessen und dadurch mangelhafter oder »Sind Sie in der Gegenwart des anderen
Ausbildung eines Gewissens von hinlängli- Geschlechts leicht schüchtern?«).
287
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
288
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
16
E Gefangene
12 N Gefangene E Kontrollgruppe
N Kontrollgruppe
Scores
P Gefangene
P Kontrollgruppe
0
16–69 16–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69
(total) Alter
Abb. 7.11: Psychotizismus-, Extraversion- und Neurotizismuswerte von Straftätern und Kontrollperso-
nen, getrennt für verschiedene Altersklassen (nach Eysenck & Eysenck, 1977).
zessen wird auch für diese Verhaltensberei- frühere Befunde von Eysenck nicht hinrei-
che eine aktive Suche nach intensiveren chend repliziert werden, teils kam es zu
Stimuli postuliert, was letztlich auf eine entschiedenen theoretischen Auseinanderset-
Neigung zu Drogen im weitesten Sinne, also zungen, die hier aber nicht nachgezeichnet
auch Nikotin, hinauslaufen soll und auf werden können. Eine umfassende Darstel-
variantenreichere Sexualgewohnheiten mit lung der Korrelate von Extraversion (und
wechselnden Partnern. Im Einstellungsbe- der anderen Eysenck-Dimensionen) mit Indi-
reich seien durch die bei ihnen unzulänglich katoren sozialen Verhaltens gab Wilson
ablaufenden Konditionierungsprozesse ge- (1981).
ringer ausgebildete soziale Haltungen anzu- Schließlich stellte Eysenck auch eine Ver-
treffen. Die Einstellungen seien vielmehr bindung zwischen Extraversion (sowie Neu-
gekennzeichnet durch »Härte und Kompro- rotizismus und Psychotizismus) auf der einen
misslosigkeit« (engl. »tough mindedness«; Seite und schweren Erkrankungen auf der
Befürwortung von Prügel- und Todesstrafe, anderen Seite her (1987a, b). Während die
leichteren Scheidungsgesetzen, Abtreibung, Kombination Eþ/Nþ hinter dem »Typ A-
Probeehe, schweren Strafen für Gesetzes- Verhalten« stehe und zu koronaren Leiden
übertretungen usw.) gegenüber der »Konzi- disponiere, sei das Muster Nþ, E–, Pþ eine
lianz und Kompromissbereitschaft« (engl. Art Puffer gegen Krebs, der im Übrigen nicht
»tender-mindedness«) der Introvertierten. In durch chronischen, sondern durch aktuellen
allen angesprochenen Gebieten konnten teils Stress begünstigt werde (s. Abschn. 8.7.2).
289
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
290
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Kriminalität z
Mord
0,4 z
Unehelichkeit
z
Ehescheidung
z
Introversion
–0,8 –0,4 0,4 0,8
z
Zigaretten
–0,4
z
Herzinfarkt z
z Kalorien
Koffein
z
(a) –0,8 chronische Psychose
Neurotizismus 4
Österreich
z
Japan
z
Frankreich BRD
z
z
2
Italien
z
Finnland
Schweiz z
Belgien z
Introversion z USA z
–4 –2 z Kanada 2 4
z Dänemark
z
Norwegen z Australien
z
Schweden
Niederlande z
z Neuseeland
–2
z Großbritannien
(b) –4
Irland z
Abb. 7.12: Soziodemographisch bestimmte Indikatoren (a) und Nationen (b) im Koordinatennetz von
»Neurotizismus« und »Extraversion« (nach Lynn & Hampson, 1975).
291
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Mit einer starken Beharrlichkeit, oft auch der Titel seiner Autobiographie – »A rebel
gegen den Strom schwimmend, vertrat Ey- with a cause« (Eysenck, 1997).
senck seine Positionen. Ausdruck davon ist
In den 1940er Jahren ließ Eysenck eine Stichprobe von neurotischen Soldaten durch
unterschiedliche Kontaktpersonen auf 37 Items beurteilen. Eine Faktorenanalyse dieser
Daten zeigte mehrere Dimensionen auf, wobei die beiden varianzstärksten Faktoren in
späteren Untersuchungen – auch an gesunden Versuchspersonen – repliziert werden
konnten und schließlich als Extraversion und Neurotizismus bezeichnet wurden. Dabei
handelt es sich um zwei recht abstrakte Dimensionen auf höchster Ebene in einer
hierarchisch gedachten Persönlichkeitsstruktur. Der Faktor Extraversion teilt sich in
verschiedene, spezifischere Traits auf, mit denen sich eine extravertierte Person als gesellig,
sorgenlos, lebhaft, dominant, aktiv, ungestüm, bestimmt, kühn und reizsuchend charak-
terisieren lässt (c Abb. 7.7). Der Gegenpol zu dieser Dimension ist die Introversion. Analog
dazu lässt sich der Faktor Neurotizismus durch Traits bestimmen, die eine emotional labile
Person als ängstlich, irrational, niedergeschlagen, schüchtern, launisch, angespannt und
emotional kennzeichnet; solche Personen sind darüber hinaus mit Schuldgefühlen beladen
und haben ein niedriges Selbstwertgefühl (c Abb. 7.8). Die zunächst mit neurotischen
Patienten begonnenen Studien wurden von Eysenck durch Untersuchungen mit psychoti-
schen Patienten ergänzt, die ihn schließlich zur Ableitung einer dritten Persönlichkeitsdi-
mension höchster Ordnung führte, nämlich des Psychotizismus. Darunter verstand er ein
Kontinuum, das von normalem und angepasstem Verhalten über kriminelles und psycho-
pathisches Verhalten bis hin zu psychotischen Erkrankungen führt. Auch hier sind dem
abstrakten Faktor spezifischere Traits untergeordnet, die eine Person mit hoher Merkmals-
ausprägung als aggressiv, antisozial, kalt, uneinfühlsam, egozentrisch, unpersönlich, hart
und impulsiv charakterisieren, aber auch als kreativ (c Abb. 7.9). Zur Messung dieser als
»Gigant Three« bezeichneten Persönlichkeitsfaktoren – die oft auch als PEN-System
bezeichnet werden (PEN für Psychotizismus, Extraversion, Neurotizismus) – hat Eysenck
mehrere Fragebögen entwickelt. Die aktuelle Version ist der revidierte »Eysenck Personality
Questionnaire« (EPQ-R). In seinen Forschungsarbeiten hat Eysenck dann das PEN-System
verwendet, um Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und verschiedenen sozialen
Verhaltensweisen zu untersuchen, wie z. B. Kriminalität, politische Einstellungen, Sexual-
verhalten und Drogenkonsum. Obwohl Eysenck mit Nachdruck einen naturwissenschaft-
lichen Ansatz in der Persönlichkeitsforschung forderte und das PEN-System zu einem
wirkmächtigen Beschreibungssystem für die Gesamtpersönlichkeit wurde, hat gerade die
umfangreiche Beschäftigung anderer Forscher mit Eysencks Konzepten aufgezeigt, dass
einige seiner Postulate nicht haltbar sind. Unstrittig ist heute, dass Extraversion und
Neurotizismus zwei grundlegende Persönlichkeitsdimensionen sind. Genauso sicher kann
aber heute davon ausgegangen werden, dass Psychotizismus als Persönlichkeitskonstrukt
fehlspezifiziert wurde. Darüber hinaus hat sich die Befundlage zum Zusammenhang
zwischen den PEN-Faktoren und dem sozialen Verhalten als äußerst inkonsistent erwiesen.
292
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
Seit Beginn der 1990er Jahre wurde vermehrt wichtigsten Persönlichkeitsdimensionen der
die Hoffnung und Überzeugung geäußert, Gesamtpersönlichkeit.
dass eine Konvergenz verschiedener fakto- Dieser Ansatz erscheint schlüssig, stößt je-
renanalytisch begründeter Gesamtsysteme doch an Grenzen, beispielsweise bei dem
der Persönlichkeit gefunden und in einem (unklaren) Kriterium für die Wichtigkeit
Modell aus fünf breiten Persönlichkeitsfak- eines Persönlichkeitsmerkmals oder dem
toren höherer Ordnung beschrieben werden Problem der Generalisierbarkeit lexikalisch
könnte (Bartussek, 1991, 1996; Wiggins & gewonnener Persönlichkeitstaxonomien (De
Trapnell, 1997; John & Srivastava, 1999; De Raad, 2000; Hofstee, 2003).
Raad, 2000). Es handelt sich in der Regel
um folgende fünf Faktoren:
Studien im Anschluss an Cattells
I Extraversion, Datensatz
IIVerträglichkeit,
III
Gewissenhaftigkeit, Die Verwendung der Wortliste von Allport
IVEmotionale Stabilität vs. Neurotizismus und Odbert (1936) durch Cattell ist bereits
und in Abschnitt 7.2.2 beschrieben worden.
V Offenheit für Erfahrungen. Cattell gelangte damit zu seinem bekannten
16-Faktoren-Modell der Persönlichkeit
Die Forschungsgeschichte und die psycholo- (Cattell et al., 1970). Viele spätere Unter-
gische Bedeutung dieser fünf breiten Persön- suchungen basierten auf dem Variablensatz
lichkeitsfaktoren höherer Ordnung (»Big (ggf. leicht modifiziert), den Cattell verwen-
Five«, Goldberg, 1981) sollen hier dargestellt det hatte.
werden. Den Ausgangspunkt der heutigen Fünf-
Faktoren-Taxonomie bildeten die Studien
von Tupes und Christal, zwei Personalfor-
7.4.1 Entwicklung des Fünf- schern der US-amerikanischen Luftwaffe
Faktoren-Modells: (Tupes & Christal, 1961, 1958; Neuabdruck
Fremdbeurteilung Tupes & Christal, 1992). Die Autoren nah-
men Reanalysen der Korrelationsmatrizen
Der lexikalische Ansatz stellt den Versuch von acht verschiedenen Stichproben vor.
dar, durch die Analyse der in der natürli- Obwohl die Daten aus ganz verschiedenen
chen Sprache vorkommenden Beschrei- Personenstichproben stammten, die von ver-
bungsbegriffe zu einer Taxonomie der Per- schiedenen Beurteilern eingeschätzt worden
sönlichkeit zu gelangen (s. dazu John, waren, fanden Tupes und Christal (1992,
1990). Er beruht auf der Grundannahme, S. 250) in allen Analysen immer wieder fünf
dass Persönlichkeitsmerkmale sprachlich re- gemeinsame Faktoren (»five relatively strong
präsentiert sind: Je wichtiger ein solches and recurrent factors and nothing more of
Merkmal ist, umso eher werden ein oder any consequence«).
mehrere Wörter dafür in der natürlichen Die von Tupes und Christal gefundenen
Sprache vorhanden sein. Aus diesem Grund Faktoren wurden später von Goldberg (1981)
erwartet man von einer Analyse der Sprache die »Big Five« genannt, um zum Ausdruck zu
(¼ lexikalischer Ansatz) das Auffinden der bringen, dass die Faktoren sehr breite Aspekte
293
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
der Persönlichkeit auf einem relativ hohen Tab. 7.3: Die fünf Persönlichkeitsfaktoren nach
Abstraktionsniveau umschreiben. Norman.
Norman (1963) wählte aufgrund der Er- Faktor I Extraversion/Überschwänglichkeit
gebnisse von Tupes und Christal (1961) für (»Extraversion/Surgency«)
jeden der fünf Faktoren die vier besten
gesprächig – schweigsam
Ratingvariablen aus dem Variablensatz Cat- freimütig – verschlossen
tells aus. Mit diesen Variablen und mit der unternehmungs- – zurückhaltend
Methode der Fremdbeurteilung konnte er die lustig
Fünf-Faktoren-Struktur in vier unabhängi- gesellig – zurückgezogen
gen Stichproben bestätigen; Faktor III inter- Faktor II Verträglichkeit
pretierte er allerdings etwas anders als Tupes (»Agreeableness«)
und Christal (1961). Die Benennung der gutmütig – grantig
Faktoren durch Norman und ihre Definition wohlwollend – missgünstig
durch die vier jeweils zugeordneten Rating- freundlich – starrköpfig
skalen lässt sich der Übersicht in Tabelle 7.3 kooperativ – feindselig
entnehmen. Faktor III Gewissenhaftigkeit
Diese 20 Ratingskalen aus Tabelle 7.3 (»Conscientiousness«)
wurden von vielen Autoren als repräsentativ sorgfältig – nachlässig
für die Gesamtpersönlichkeit angesehen und zuverlässig – unzuverlässig
in einer Großzahl von Untersuchungen ver- genau – ungenau
wendet (Zusammenstellung in Ostendorf, beharrlich – sprunghaft
1990, S. 11). Faktor IV Emotionale Stabilität
(»Emotional Stability«)
ausgeglichen – nervös
Weitere taxonomische Studien entspannt – ängstlich
gelassen – erregbar
Norman (1967) erstellte eine neue, umfas- körperlich stabil – wehleidig
sende Liste persönlichkeitsbeschreibender Faktor V Kultiviertheit, Bildung
Wörter auf der Basis des »Websters Third (»Culture«)
New International Dictionary« von 1961.
kunstverständig – kunstunverständig
Norman nahm an, dass eine wirklich reprä- intellektuell – ungebildet
sentative Stichprobe englischer Beschrei- kultiviert – ungeschliffen
bungswörter zur Aufdeckung weiterer Di- fantasievoll – fantasielos
mensionen, über die »Big Five« hinaus, füh- Nach Norman (1963).
ren würde. Dabei stellte sich heraus, dass zu
der Liste von Allport und Odbert von 1936
nur 172 neue Begriffe hinzugefügt werden Ebenso wie Norman suchte auch Pea-
mussten, so dass eine Liste aus 18 125 Wör- body (1987), unabhängig vom Cattell’schen
tern resultierte, die weiter reduziert und Datensatz, nach einer repräsentativen Varia-
kategorisiert wurde. Diese Liste Normans blenstichprobe zur Beschreibung der Persön-
von 1967 stellt die Grundlage vieler der lichkeit. Dabei suchte er Variablen, die eine
nachfolgenden Taxonomien dar, da das Aus- adäquate, aber limitierte Repräsentation der
schließen oder Aufnehmen von Variablen üblichen, Eigenschaften beschreibenden Ad-
nach explizit festgelegten Kriterien und die jektive darstellen sollten. In der faktoriellen
Kategorisierung nach dem Konsens von vier Analyse ergab sich eine Bestätigung der Fünf-
unabhängigen Urteilern geschah. Faktoren-Struktur (z. B. Peabody & Gold-
berg, 1989). Peabody und Goldberg brach-
294
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
295
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
tory« (NEO-PI-R; Costa & McCrae, 1992b; ry« (NEO-FFI), welches eine Beschreibung
deutsch: Ostendorf & Angleitner, 2004) vor. der Persönlichkeit ausschließlich auf der
Das NEO-PI-R bezeichnet die fünf Fakto- Ebene der fünf Domänen ermöglicht. Das
ren als »Domänen« (Persönlichkeitsbereiche; NEO-FFI wurde von Borkenau und Osten-
»domains«). Ihnen hierarchisch untergeord- dorf (1993) für den deutschen Sprachraum
net sind jeweils sechs »Facetten« (Unterska- übersetzt.
len; »facets«) zugeordnet, die eine differen- Beim Versuch, die faktorielle Struktur des
ziertere Beschreibung der Persönlichkeit er- NEO-PI bzw. NEO-PI-R durch konfirmato-
möglichen sollen. Die Bezeichnungen der rische Faktorenanalysen (vgl. Abschn. 2.1.4)
Faktoren (»domains«) und ihrer Facetten zu bestätigen, sind bisherige Ansätze (Borke-
mit entsprechenden Itembeispielen sind in Borkenau & Ostendorf, 1990; McCrae et al.,
Kasten 7.8 dargestellt. 1996; Parker et al., 1993; Vassend & Skron-
Es existiert weiterhin eine Kurzform des dal, 1997) gescheitert. Erst wenn die gefor-
NEO-PI-R, das »NEO Five Factor Invento- derten Restriktionen der Einfachstruktur
N: Neurotizismus (Neuroticism)
N1: Ängstlichkeit (Anxiety)
Ich empfinde selten Furcht oder Angst.*
N2: Reizbarkeit (Angry Hostility)
Ich ärgere mich oft darüber, wie andere Leute mich behandeln.
N3: Depression (Depression)
Manchmal erscheint mir alles ziemlich düster und hoffnungslos.
N4: Soziale Befangenheit (Self-Consciousness)
In Gegenwart meiner Chefs oder anderer Autoritäten fühle ich mich wohl.*
N5: Impulsivität (Impulsiveness)
Ich bin stets in der Lage, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.*
N6: Verletzlichkeit (Vulnerability)
Wenn ich unter starkem Stress stehe, fühle ich mich manchmal, als ob ich zusammen-
breche.
E: Extraversion (Extraversion)
E1: Herzlichkeit (Warmth)
Ich bin als eine herzliche und freundliche Person bekannt.
E2: Geselligkeit (Gregariousness)
Ich habe gerne viele Leute um mich herum.
E3: Durchsetzungsfähigkeit (Assertiveness)
Ich bin dominant, selbstsicher und durchsetzungsfähig.
E4: Aktivität (Activity)
Ich habe oft das Gefühl, vor Energie überzuschäumen.
E5: Erlebnishunger (Excitement-Seeking)
Ich liebe die Aufregung von Achterbahnfahrten.
E6: Frohsinn (Positive Emotions)
Manchmal sprudele ich vor Glück über.
296
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
297
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
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7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
l sichere Identifizierbarkeit unabhängig von Letztlich entschied sich die Gruppe um Zu-
der angewandten Untersuchungsmethode, ckerman für eine Fünf-Faktoren-Lösung, da
von Geschlecht, Alter und Kultur, diese »maximale Spezifität ohne Einbuße an
l moderate Erblichkeit der Persönlichkeits- Reliabilität der Faktoren« bot (Zuckerman,
faktoren, 2002, S. 381):
l Auffindbarkeit grundlegender Persönlich-
keitsdimensionen auch in nichtmenschli- l »Impulsiver Erlebnishunger« (»impulsive
chen Spezies. sensation seeking«) wird markiert durch
hohe positive Ladungen der Skalen zur
Aus letzterem Grund waren in den Item- Erfassung von Psychotizismus, Reizsu-
pools, die zur Entwicklung des »Zuckerman- che, Autonomie und einer Skala zur Mes-
Kuhlman-Personality-Questionnaire« (ZKPQ) sung von Monotonievermeidung.
benutzt wurden, keine Items zu kulturellen l »Aggression und Feindseligkeit« (»ag-
Interessen oder Denkstilen enthalten, so dass gression-hostility«) ist gekennzeichnet
ein Persönlichkeitsfaktor entsprechend der durch hohe Ladungen der Skalen zur
»Offenheit für Erfahrung« nicht gefunden Erfassung von Aggression, Feindseligkeit,
werden konnte (Zuckerman, 2002). Ärger und Mangel an Kontrolliertheit.
Der Ansatz erwuchs aus Ergebnissen der Skalen zur Messung sozialer Erwünscht-
simultanen Faktorisierung einer Anzahl von heit sowie »Lügen-Skalen« zeigen hohe
Persönlichkeits- und Temperamentsskalen, negative Ladungen.
die alle im Bereich der psychobiologischen l »Aktivität« (»activity«) als dritter Faktor
Persönlichkeitsforschung Anwendung fan- wird markiert durch hohe positive La-
den. Aus mehreren umfangreichen Datensät- dungen verschiedener Skalen zur Mes-
zen wurden Sechs-, Fünf-, Vier- und Drei- sung von zielgerichteter Aktivität und
Faktoren-Lösungen berechnet (c Abb. 8.13). Anstrengungsbereitschaft.
Die Ergebnisse der Drei-Faktoren-Lösung l »Soziabilität« (»sociability«) zeichnet
replizierten das Eysenck’sche PEN-Modell: sich durch hohe positive Ladungen der
Der erste Faktor stellt Extraversion dar, Skalen zur Messung von sozialer Orien-
wobei Soziabilität und Aktivität als große tierung, Geselligkeit und Extraversion aus.
Teilbereiche der Extraversion interpretiert l »Emotionale Labilität und Ängstlichkeit«
werden können (s. Abschn. 7.3.2 zu Sozia- (»neuroticism-anxiety«) wird markiert
bilität und Belohnungssensitivität). Der zwei- durch hohe positive Ladungen von Skalen
te Faktor bezeichnet das Eysenck’sche Neu- zur Messung von Angst, Furcht, emotio-
rotizismus-Konstrukt. Im dritten Faktor ver- naler Instabilität, Psychasthenie und Är-
einen sich Aggressivität, Impulsivität und gerunterdrückung.
Reizsuche sowie Eysencks Psychotizismus
und mit umgekehrtem Vorzeichen Verträg- Die Beschreibung der entsprechenden Skalen
lichkeit und Gewissenhaftigkeit als Markier- des ZKPQ mit Beispielitems findet sich in
variable mit höchster Ladung. Kasten 7.9.
Kasten 7.9: »Alternative Big Five«: Faktoren und Beispielitems des ZKPQ-III-R
299
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Für die englische wie auch die deutsche Form konnten Angleitner et al. (2004) nachweisen,
des ZKPQ III liegen positive Ergebnisse zur dass für alle fünf Faktoren des ZKPQ die
Reliabilität und faktoriellen Validität vor Ähnlichkeit zwischen eineiigen Zwillingen
(Angleitner et al., 2004). Darüber hinaus signifikant größer ist als die zwischen zwei-
300
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
eiigen. Damit ist der Beleg erbracht, dass das schiedene Forscher bezweifeln, dass genau
ZKPQ tatsächlich genetisch mitdeterminier- fünf Faktoren eine adäquate, das heißt umfas-
te und damit biologisch bedeutsame Persön- sende und ökonomische Persönlichkeitsbe-
lichkeitsdimensionen misst. schreibung ermöglichen und stellen ihre eige-
nen Lösungen dem »Big Five«-Ansatz ent-
gegen (Bartussek, 1996; Eysenck, 1991). So
7.4.3 Stellenwert des Fünf- postulierte Andresen (2000) zusätzlich zu den
Faktoren-Modells »Big Five« den Faktor »Risikopräferenz«,
Becker (1999) den zusätzlichen Faktor»Hedo-
Wie die oben dargestellten Studien zeigen, nismus/Spontaneität«. Jackson et al. (1996)
bemühten sich die Vertreter des Fünf-Fakto- plädierten für eine Aufspaltung der Domäne
ren-Modells immer wieder, die postulierte »Gewissenhaftigkeit« in »Arbeitsmoral und
fünffaktorielle Struktur sowohl im alltags- Leistungsstreben« und »Ordnungsliebe« und
sprachlichen Bereich als auch mit Fragebo- sahen als mögliche weitere Domänen »Risi-
gen zu bestätigen. kopräferenz«, »Energieniveau« und »Wert-
orientierung«. Die Frage nach der »richtigen«
Anzahl der zu extrahierenden Faktoren lässt
Referenzmodell der sich dabei nicht allein durch Anwendung der
Persönlichkeitsstruktur? Faktorenanalyse beantworten, sondern ver-
langt auch eine theoretische Grundlegung, so
Das NEO-PI(-R) wurde mit anderen gut zum Beispiel aus den biologischen Grundlagen
etablierten Tests unterschiedlichster theore- oder aus Nützlichkeitserwägungen für dia-
tischer Herkunft korrelationsstatistisch oder gnostische Fragestellungen.
faktorenanalytisch verglichen. Auf diese
Weise sollte gezeigt werden, dass das Fünf-
Faktoren-Modell allumfassend ist und die Interpretation der Domänen
mit verschiedenen anderen Tests gemessenen
Merkmalsbereiche erfassen kann. Demnach Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die inhalt-
würden diese Tests entweder nur Ausschnitte liche Interpretation der fünf Faktoren. Wie
aus der Gesamtpersönlichkeit, anders »ro- oben ausgeführt, stimmen die einzelnen For-
tierte« Merkmale oder einfach ähnliche Fak- scher bezüglich der Bezeichnung und Be-
toren unter anderem Namen erfassen. Das schreibung der »Big Five« nicht genau über-
Fünf-Faktoren-Modell wird also als »Refe- ein. Insbesondere hinsichtlich der Spezifika-
renzmodell« aufgefasst, mit dessen Hilfe tion des Faktors V gab es stark divergierende
Forschungsergebnisse aus verschiedenen Tra- Auffassungen. Eine konsensfähige Definition
ditionen der Persönlichkeitsforschung unter- geht dahin, den fünften Faktor als relativ
einander vergleichbar gemacht und somit breites, nicht nur auf »Kultur« und Werthal-
integriert werden können. tungen bezogenes Konstrukt aufzufassen,
Dieser optimistischen Auffassung bezüg- sondern auch Aspekte von selbsteingeschätz-
lich des Stellenwerts des Fünf-Faktoren-Mo- ter Intelligenz sowie Kreativität und Fantasie
dells stehen jedoch andererseits verschiedene mit einzuschließen.
Probleme dieses Ansatzes entgegen, auf- Johnson und Ostendorf (1993) versuch-
grund derer er von einigen Autoren stark ten, das Fünf-Faktoren-Modell mit Hilfe des
kritisiert wird. »Abridged Big Five Dimensional Circum-
Ein Teil der Kritik am Fünf-Faktoren-Mo- plex« (AB5C; Hofstee et al., 1992) inhaltlich
dell bezieht sich auf die Anzahl der als bedeut- zu klären. Die Skalen verschiedener Mess-
sam erachteten Persönlichkeitsfaktoren. Ver- instrumente zur Erfassung der »Big Five«
301
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
302
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
303
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
304
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
der Ergebnisse kann dieses nur ein denkbar Kultur« einschätzen und verglichen damit
kleiner Ausschnitt sein. Die bei McCrae et al. die fremdeingeschätzten mittleren Persön-
(2005) berichteten Daten erlauben es aber, lichkeitsprofile real existierender Personen
die Profile miteinander zu korrelieren, Clus- (s. vorstehenden Absatz). Bemerkenswerter-
ter zu bilden und wechselseitige Ähnlichkei- weise ergaben sich dabei von ganz wenigen
ten der Länder zu bestimmen. Im zweidi- Ausnahmen abgesehen nur Nullkorrelatio-
mensionalen Raum von N und E nen, d. h., die nationalen Stereotype entspre-
chen nicht den mittleren Messwertausprä-
l liegt Deutschland in N extrem niedrig, gungen der herangezogenen Probanden. De-
eng benachbart mit der deutschen ren Repräsentativität war gewiss nicht ge-
Schweiz, Österreich, Mexiko und den währleistet, und in vielen Ländern mögen die
Philippinen; extrem hohe Punktwerte Probanden nicht hinreichend vertraut mit
weisen demgegenüber Frankreich, Italien, der Handhabung von Beurteilungsinstru-
Malta und die Slowakei auf; menten gewesen sein. Auch widerspricht es
l liegt Deutschland in E im Mittelbereich; beispielsweise in einigen Ländern Asiens den
die höchsten Werte zeigen die Amerika- guten Sitten, eine Beurteilung von Mitmen-
ner, Australier, Neuseeländer, Engländer schen außenstehenden Unbeteiligten zur
und Iren, die niedrigsten Vertreter kom- Kenntnis zu bringen. Aber abgesehen von
men aus Afrika und Südostasien. solchen Unwägbarkeiten deuten die geschil-
derten Befunde doch an, dass sich nationale
Ein wichtiger Schritt müsste nunmehr darin Stereotypien anscheinend nicht aus der
bestehen, die herangezogenen Länder hin- Akkumulation der bei den Personen im
sichtlich wichtiger Kennzeichen zu gruppie- sozialen Nahraum wahrgenommenen Merk-
ren (wie Einkommen, Bevölkerungsdichte, male ergeben. Geprägt von Geschichte, Me-
Wohnraum, Familienstrukturen usw.) und dien, dem Hörensagen, Witzen und Erzie-
zu prüfen, ob hierbei auftretende Gemein- hung, aber auch politischen Ideologien, han-
samkeiten mit solchen in den Testwerten delt es sich dabei offenbar um soziale Kon-
einhergehen. struktionen, deren Funktion unter anderem
Terracciano et al. (2005) ließen Personen wohl in der Identitätsfindung und der Ab-
aus 49 Ländern anhand von 30 bipolaren grenzung der eigenen von fremden Nationen
Skalen, die die Facetten der Big Five treffen beruht – mit allen damit verbundenen Vor-
sollten, »den typischen Angehörigen der und Nachteilen.
In den 1950er Jahren haben Tubes und Christal verschiedene Reanalysen von Datensätzen
des L-Datenraums vorgenommen, die teilweise bereits von Cattell und seinen Mitarbeitern
erhoben und ausgewertet worden waren. Anders als Cattell konnten Tubes und Christal
allerdings keine 12 Faktoren finden, sondern lediglich fünf Dimensionen der Persönlichkeit.
Diesen Befund konnte Norman etwas später bestätigen. Selbst bei einer kompletten
Replikation des aufwändigen Extraktionsprozesses (der mit der Auswertung eines eng-
lischsprachigen Wörterbuches begonnen hatte) führten nachfolgende Datenerhebungen an
neuen Stichproben und anschließender Faktorenanalyse immer wieder zu fünf breiten Per-
sönlichkeitsfaktoren, die schließlich von Goldberg als die »Big Five« bezeichnet wurden. In
der Terminologie von Norman handelt es sich bei diesen fünf Faktoren um (1) Extraversion,
305
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
(2) Verträglichkeit, (3) Gewissenhaftigkeit, (4) Emotionale Stabilität und (5) Kultiviertheit
(c Tab. 7.3). Diese fünf Faktoren galten seitdem als unumstößlicher Standard des lexika-
lischen Ansatzes, d. h. wenn die Eigenschaftsworte, die im natürlichsprachlichen Lexikon
enthalten sind, extrahiert und mit rationalen oder empirischen Methoden reduziert werden,
so gelangt man schließlich zu diesen fünf Dimensionen. Ein weitverbreiteter Fragebogen, mit
dem diese fünf Faktoren gemessen werden können, wurde von Costa und McCrae in den
1980er Jahren entwickelt. Es handelt sich dabei um das »NEO-Five Factor Inventory«
(NEO-FFI), dessen fünf Faktoren eine von Norman leicht abweichende Sortierung und
Bezeichnung erhalten haben, nämlich (1) Neurotizismus, (2) Extraversion, (3) Offenheit für
Erfahrungen, (4) Verträglichkeit und (5) Gewissenhaftigkeit (c Kasten 7.8). Allerdings hat
es von verschiedener Seite Kritik an diesen »Big Five« gegeben, teils aus biopsychologischer
Perspektive und teils aus Nützlichkeitserwägungen der Psychologischen Diagnostik. Auch
die Interpretation der fünf Faktoren hat einen gewissen Spielraum eröffnet, wie allein schon
die unterschiedlichen Bezeichnungen von Norman vs. Costa und McCrae vermuten lassen.
Eysenck kritisierte an den »Big Five«, dass die fünf Faktoren (vermutlich) unterschiedlichen
Hierarchieebenen angehören, dass sie keine theoretische Einbindung aufweisen und ihnen
die biologischen Grundlagen fehlen. Dem entgegnete Costa mit dem Hinweis auf die
Robustheit und Universalität der fünf Faktoren.
Zeitliche Stabilität ist eine Kernvorausset- haben. Differentielle und absolute Stabilität
zung für die Angemessenheit des Eigen- sind voneinander unabhängig. So kann eine
schaftsmodells (vgl. Abschn. 12.1.1). Da markante Veränderung des mittleren Ver-
zeitliche Stabilität als Korrelation zweier laufs einer Eigenschaft über die Lebensspan-
Zeitpunkte über eine Stichprobe von Perso- ne (geringe absolute Stabilität) mit einer
nen bestimmt wird, gibt der Stabilitätskoef- hohen Gleichförmigkeit dieser Veränderung
fizient eine relative oder »differentielle Stabi- bei allen Personen (hohe differentielle Stabi-
lität«wieder: Damit wird die Frage beant- lität) einhergehen. Umgekehrt kann eine
wortet, ob sich alle Personen in gleichem oder Eigenschaft in einer Population keine zeitli-
in verschiedenem Maße von Zeitpunkt 1 zu chen Veränderungen aufweisen (hohe abso-
Zeitpunkt 2 verändert haben. Dabei spielt es lute Stabilität), die einzelnen Personen aber
keine Rolle, ob die über alle Personen gemit- sehr unterschiedliche Veränderungen über
telten Werte zunehmen, gleich bleiben oder die Zeit zeigen (niedrige differentielle Stabi-
abnehmen. lität).
Davon abzugrenzen sind mittlere Verän-
derungen der gesamten Personenstichprobe,
die als »absolute Stabilität« oder »Mittel- 7.5.1 Differentielle Stabilität
wertsstabilität« bezeichnet wird und durch-
schnittliche Entwicklungsverläufe kenn- Conley (1984) modellierte über einen Zeit-
zeichnet. Dabei ist es unerheblich, wie sich raum von einem Jahr bis zu 40 Jahren die
die Personen relativ zueinander verändert differentielle Stabilität von Persönlichkeits-
306
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
tests, Leistungstests zur Messung der Intelli- der drei untersuchten großen Bereiche eine
genz sowie Einstellungen über sich selbst. deutliche Hierarchie aufweist: Intelligenz-
Ausgehend von einer großen Anzahl von messungen wiesen beeindruckend große,
Studien kam Conley zu dem Schluss, dass – Persönlichkeitsmessungen immer noch große
unter Annahme fehlerfreier, d. h. maximal und Selbsteinstellungen mittlere bis niedrige
reliabler Messungen – die zeitliche Stabilität Stabilitäten auf (c Tab. 7.5).
1 5 10 20 30 40
307
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
1,2
SD nicht innerhalb der Jugend oder Adoles-
G
0,8 ES zenz, sondern erst zum dritten Lebensjahr-
V zehnt auftraten. Im Hinblick darauf und
O
0,4 fokussiert auf die Domänen Verträglich-
keit, Gewissenhaftigkeit und Emotionale
0 Stabilität favorisierten die Autoren eine
10 20 30 40 50 60 70 80
Investment-Theorie der Identitätsentwick-
Jahre lung, der zufolge es im Zuge der Persön-
lichkeitsreifung zu verschiedenen normati-
Abb. 7.13: Mittelwertsverläufe in fünf Persön- ven Festlegungen gegenüber den üblichen
lichkeitsfaktoren über die Lebens- sozialen Institutionen (wie Beruf, Heirat,
spanne (nach Roberts et al., 2006,
Familie und Gesellschaft) komme – und
Figure 2). ES ¼ Emotionale Stabilität.
G ¼ Gewissenhaftigkeit. O ¼ Offenheit verbunden damit zu den geschilderten Ver-
für Erfahrung. SD ¼ Soziale Dominanz. änderungen.
V ¼ Verträglichkeit. Vergleichbare Ergebnisse einer niedrigen
absoluten Stabilität erbrachte auch eine
Querschnittsstudie an 132 515 Probanden
waren die Zunahmen in Verträglichkeit
im Altersbereich von 21 bis 60 Jahren, wo-
und Gewissenhaftigkeit eher kontinuierlich,
nach Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit
während Offenheit für Erfahrung einen
anstiegen, Neurotizismus bei Frauen, nicht
kurvilinearen Verlauf erkennen ließ. Das
aber bei Männern allerdings abfiel (Srivasta-
Geschlecht der Probanden war ohne syste-
va et al., 2003). Im Persönlichkeitsbereich
matischen Einfluss auf die Veränderungen.
geht also eine hohe relative mit einer niedri-
Hervorzuheben ist bei den Befunden, dass
geren absoluten Stabilität einher.
entgegen weit verbreiteten Modellvorstel-
308
7 Modellierung von Persönlichkeitsstruktur
7.6 Geschlechtsunterschiede
Seitdem in der akademischen Psychologie nisse über mögliche Veränderungen der Ge-
das Thema von Geschlechtsunterschieden schlechtsunterschiede
mit dem Buch »Sex and personality« zur
Forschungsagenda erklärt worden war (Ter- l zwischen den Zeiträumen 1940 und 1967
man & Miles, 1936), wurde gerade diese bzw. 1968 und 1992 (wobei 1968 den
Frage zu einem Spiegelbild des gesellschaft- Beginn der Emanzipationsbewegungen in
lichen Zeitgeistes und von tiefgreifenden der »Studentenrevolution« markiert),
Veränderungen in dem Rollenverständnis l zwischen den Altersklassen Schüler
von Männern und Frauen. Stichworte hier- (»High School«-Alter), Studenten und
für sind Gleichberechtigung und Selbstbe- Erwachsenewurden ebenfalls berücksich-
stimmung von Frauen in Familie, Bildungs- tigt, sofern getrennte Normdaten vorla-
wesen und Beruf. Auf psychologischer Seite gen.
wurden neue Konzepte wie Geschlechtsrol-
len, Geschlechtsrollentypisierung, das »psy- Die Skalen der für die Meta-Analyse heran-
chologische Geschlecht« und das Geschlecht gezogenen Persönlichkeitsfragebogen wur-
als soziale Kategorie eingeführt. Diese Kon- den in das einheitliche Raster des Fünf-
zepte betonten – jenseits von biologischen Faktoren-Modells eingeordnet. Tabelle 7.6
Unterschieden – zusätzliche soziale und inter- gibt die Ergebnisse der Meta-Analyse wieder.
personale Einflüsse auf Geschlechtsunter- Keine Geschlechtsunterschiede ergaben
schiede (s. Abschn. 15.1). Im Verlauf dieser sich für »Impulsivität«, »Geselligkeit«,
Debatten waren die Argumentationen gele- »Aktivität«, »Ideen« sowie »Ordnung«. Ein
gentlich recht unterschiedlich, ob es sich bei »kleiner« Effekt (d ca. |0,20|) war bei
den vorfindbaren Geschlechtsunterschieden »Angst« und »Vertrauen« mit höheren Wer-
in psychologischen Merkmalen nun um klei- ten bei Frauen festzustellen. Ein »mittlerer«
ne oder um beachtliche Unterschiede handele Effekt (d ca. |0,50|) war bei »Bestimmtheit«
(Hyde, 2005). mit höheren Werten bei Männern erkennbar.
Für die Beschreibung von Geschlechts- Ein »starker« Effekt (d>|0,80|) zeigte sich bei
unterschieden wurden seit ca. 1985 fast »Weichherzigkeit« zugunsten der Frauen.
ausnahmslos Meta-Analysen eingesetzt, die Hieraus wird der eher »kommunale« und
die bis dahin »narrative« Zusammenfassung beziehungssensitive Stil von Frauen und der
von Einzelstudien ersetzten. Für den Bereich sozial-dominantere Stil der Männer deutlich.
der Persönlichkeit legte Feingold (1994) die Die Zeiträume vor und nach der »Studen-
wohl imposanteste Meta-Analyse mit einer tenrevolution« wiesen eine leichte Zunahme
Personenzahl von über hunderttausend vor. (d>|0,20|) der Geschlechtsunterschiede nur
Dazu verwendete er die publizierten Manua- in »Ideen« zugunsten der Männer auf.
le von Persönlichkeitstests, in denen getrenn- Beim Vergleich der Altersklassen zeigte sich
te Normen für Männer und Frauen enthalten eine Verschiebung vom Schüler- zum Studen-
waren. Daraus konnte er die Mittelwerte und tenalter nur in einer Abnahme des Ge-
Streuungen der enthaltenen Skalen jeweils schlechtsunterschieds in »Weichherzigkeit«
für die beiden Geschlechter entnehmen und und »Ordnung« (die Dominanz der Frauen
deren standardisierte Differenz (Effektstär- schwindet etwas). Eine Verschiebung vom
kenmaß d) berechnen. Zusätzliche Erkennt- Studenten- zum Erwachsenenalter war nur in
309
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Neurotizismus
Angst –0,27 –0,23 –0,32 –0,30 –0,24 –0,25
Impulsivität –0,04 0,12 –0,01 0,05 0,11 –0,10
Extraversion
Geselligkeit –0,14 –0,22 –0,07 –0,20 –0,23 –0,06
Bestimmtheit 0,49 0,50 0,51 0,46 0,45 0,67
Aktivität 0,09 0,09 0,08 0,11 0,10 0,01
Offenheit für Erfahrung
Ideen 0,13 –0,05 0,19 0,01 0,06 0,00
Verträglichkeit
Vertrauen –0,25 –0,20 –0,35 –0,23 –0,25 –0,22
Weichherzigkeit –1,07 –1,05 –0,91 –1,18 –0,82 –0,92
Gewissenhaftigkeit
Ordnung –0,07 –0,05 –0,18 –0,26 –0,01 –0,12
Positive Werte stehen für einen höheren Mittelwert der Männer, negative Werte stehen für einen
höheren Mittelwert der Frauen. Die untersuchten Persönlichkeitsfragebogen ließen sich nur in die
gezeigte Auswahl an Facetten einordnen. Nach Feingold (1994).
»Impulsivität« (von leichtem männlichem zu nanz vs. Submissivität« einzuordnen. Sie sind
leichtem weiblichen Effekt) und in einer damit vor allem in der interpersonalen Kom-
weiteren Zunahme der männlichen gegen- munikation entlang der motivationalen Di-
über der weiblichen »Bestimmtheit« zu si- mension »Macht« sichtbar. Sowohl biologi-
chern. sche (Stanton et al., 2009) als auch soziokul-
Zusammengenommen sind die Ge- turelle (Ceci et al., 2009) Faktoren, vermutlich
schlechtsunterschiede in der Persönlichkeit aber eine Kombination beider, tragen zu
am deutlichsten auf einer Dimension »Domi- diesen Geschlechtsunterschieden bei.
Mit Blick auf die Big Five lassen sich in drei Faktoren Geschlechtsunterschiede beobachten
(c Tab. 7.6). Den empirischen Befunden zufolge sind die Männer extravertierter (domi-
nanter) als die Frauen, während Frauen emotional labiler (ängstlicher) und verträglicher
(weichherziger) als die Männer sind. Für die Offenheit für Erfahrungen und die
Gewissenhaftigkeit zeigten sich keine konsistenten Geschlechtsunterschiede.
310
8 Biologische Grundlagen und Korrelate
der Persönlichkeit
Nach der Beschreibung von Persönlichkeit und ihrer Struktur werden in diesem Kapitel
biologische Ansätze zu ihrer Erklärung besprochen. Die Theorie von Eysenck hat für den
Bereich der Extraversion mehrere Stadien durchlaufen und eine Vielzahl von Untersu-
chungen angeregt. Auch die beiden anderen Typenfaktoren Neurotizismus und Psychoti-
zismus sollen von der Funktionsweise von Hirnsystemen abhängig sein (8.1). Als
alternativen Entwurf stellte Gray die BIS/BAS-Theorie mit einer biologischen Fundierung
von Angst im Verhaltenshemmsystem, von Impulsivität im Verhaltensannäherungssystem
und von Furcht im Kampf-Flucht-Erstarrung-System vor. Die Aktivität dieser Hirnsysteme
wird durch bedingte und unbedingte Reize ausgelöst, wobei interindividuelle Unterschiede
in der Sensitivität für diese Reize bestehen (daher die Bezeichnung »Reinforcement
Sensitivity Theory; RST; 8.2). Cloninger nimmt ebenfalls drei biologische Systeme als
Grundlage für die drei Persönlichkeitsmerkmale Neuheitssuche, Schadensvermeidung und
Belohnungsabhängigkeit an (8.3). Ohne Anspruch auf ein Gesamtsystem der Persönlichkeit
wurden auch einzelne Eigenschaftsdimensionen und ihre biologische Fundierung unter-
sucht, so der »Affektive Stil«, »Positive Affektivität« und »Negative Affektivität« (8.4).
Eine weitere einzelne Eigenschaftsdimension, »Reizsuche«, wurde von Zuckerman in einen
weiten biologischen Kontext gestellt (8.5). Sodann werden Zusammenhänge und Unter-
schiede der vorgestellten Konzepte diskutiert (8.6). Schließlich werden psychophysiologi-
sche Korrelate der Persönlichkeit und gesundheitsbezogene Persönlichkeitskonstrukte
erläutert (8.7).
Neben der Beschreibung von Persönlichkeit, wie sie beispielsweise durch die faktoren-
analytisch begründeten Gesamtsysteme der Persönlichkeit möglich ist, besteht eine andere
wichtige Aufgabe in der empirisch orientierten Persönlichkeitsforschung in der Erklärung
von individuellen Unterschieden des Erlebens und Verhaltens. Dabei ist es evident, dass
diese Unterschiede zumindest zu einem guten Teil durch biologische Faktoren verursacht
werden, also durch individuelle Unterschiede im biologischen System »Mensch« bedingt
sind. Als wichtigster Hinweis für die Schlüsselrolle von biologischen Faktoren können die
Befunde aus Erblichkeitsstudien gewertet werden. Diese Studien weisen darauf hin, dass
mehr als die Hälfte der Varianz von vielen phänotypischen Persönlichkeitsmerkmalen auf
genetische Faktoren zurückgeführt werden kann (s. Kap. 13). Dabei ist aber auch klar, dass
die DNS das Verhalten nicht direkt beeinflusst. Vielmehr organisiert die DNS zunächst nur
den Aufbau des Organismus inklusive neuroanatomischer Strukturen und physiologischer
Systeme; erst diese steuern dann das Verhalten. Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der
biologischen Persönlichkeitsforschung darin, die Kluft zwischen DNS und Verhalten durch
eine Erforschung jener biologischen Systemparameter zu schließen, die den phänotypischen
Persönlichkeitsunterschieden zugrunde liegen. Besprochen werden in diesem Kapitel einige
311
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Das von Eysenck vorgeschlagene dreidimen- von Neurotizismus und Psychotizismus skiz-
sionale PEN-System ist nur eines von meh- ziert, wobei seine Theorie bezüglich Psycho-
reren faktorenanalytisch begründeten Ge- tizismus eine nur vergleichsweise geringe
samtsystemen, die alle als korrelative Struk- Ausarbeitung erfahren hat. Eine detaillierte
turtheorien aufgefasst werden können und Darstellung dieser PEN-Theorien findet sich
eine Beschreibung der Persönlichkeit ermög- bei Brocke et al. (2004).
lichen (s. Kap. 7.3). Allerdings unterscheidet
sich die PEN-Theorie in einem fundamenta-
len Punkt von vielen anderen Persönlich- 8.1.1 Biologische Basis der
keitssystemen: Eysencks Theorie bietet eine Extraversion
naturwissenschaftliche kausale Erklärung
für Persönlichkeitsunterschiede, wobei er Das von Moruzzi und Magoun (1949) erst-
als Ursachen für Extraversion, Neurotizis- mals beschriebene »Aufsteigende Retikuläre
mus und Psychotizismus bestimmte physio- Aktivierungssystem« (ARAS) ist ein anato-
logische Gegebenheiten des Gehirns an- misch nur schwer definierbares funktionelles
nimmt. Darüber hinaus ist die experimentelle System, welches von der retikulären Forma-
Überprüfung der Theorie ein wichtiges Ele- tion im Hirnstamm ausgehend über diffuse
ment in Eysencks Ansatz. Dies machte Ey- aufsteigende Fasern in höher gelegene Regio-
senck zu einem Wegbereiter für die ihm nen des Gehirns zieht und dabei besonders
nachfolgenden (nicht nur biologisch orien- auch den Kortex erreicht. Seinen neuralen
tierten) Persönlichkeitspsychologen – die his- Input erhält das ARAS unter anderem aus
torische Leistung, die mit Eysencks Werk dem limbischen System sowie durch Kolla-
verbunden ist, kann in diesem Zusammen- terale (abzweigende Nervenfasern) aus den
hang gar nicht hoch genug bewertet werden. verschiedenen Sinneskanälen. Dabei ist das
Im Folgenden wird zunächst Eysencks ARAS als unspezifisches Aktivierungssystem
(1967; Eysenck & Eysenck, 1985) Extraver- an der Regulation von Aufmerksamkeit bzw.
sionstheorie dargestellt, welche ein recht Wachheit beteiligt. Darüber hinaus ist dieses
umfangreiches Forschungsprogramm zu ih- System nach Eysenck das neurale Substrat
rer Überprüfung stimulieren konnte. An- für die Extraversion.
schließend werden seine theoretischen Über- Eysenck nimmt an, dass es genetisch
legungen zu den biologischen Grundlagen bedingte Unterschiede in der tonischen Akti-
312
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
vität bzw. der phasischen Aktivierbarkeit des diesen Sachverhalt. Eine geringe Stimula-
ARAS gibt. Die Unterschiede in der toni- tionsintensität (wie sie im Extremfall bei
schen Aktivität des ARAS führen dann zu einer sensorischen Deprivation auftritt) führt
individuellen Unterschieden der tonischen zu einem durchschnittlich geringen Arousal,
kortikalen Aktivität, die auch als »Arousal« welches als unangenehm empfunden wird
(Erregung) bezeichnet wird. Analog dazu (negativer hedonischer Tonus). Ganz ähnlich
führen Unterschiede in der phasischen Erreg- resultiert eine intensive Stimulation (wie sie
barkeit des ARAS (z. B. bei einer sensori- extremerweise bei Schmerzen auftritt) in
schen Stimulation) auch zu einer individuell einem starken Arousal, welches ebenfalls
ausgeprägten »Erregbarkeit« (engl. »arousa- unangenehm ist. Im Gegensatz dazu führt
bility«) des Kortex. Im Kern postuliert Ey- ein mittlerer Stimulationsgrad schließlich zu
sencks Theorie, dass extravertierte Verhal- einem mittleren Arousal, welches als ange-
tensweisen durch ein hypoaktives bzw. hypo- nehm empfunden wird (positiver hedoni-
sensitives ARAS produziert werden, wäh- scher Tonus; dieses Konzept eines optimalen
rend introvertierte Verhaltensweisen die Arousal-Niveaus wurde bereits von Hebb,
Folgeerscheinung eines hyperaktiven bzw. 1955, eingeführt). Personen bevorzugen die-
hypersensitiven ARAS sind. ses optimale Erregungsniveau und vermeiden
Diese Verhaltenskonsequenzen lassen sich eine extrem geringe oder sehr starke Stimu-
dadurch begründen, dass die Stimulationsin- lation.
tensität in einem umgekehrt U-förmigen Zu- Da Extravertierte nach Eysenck ein unter-
sammenhang mit dem »hedonischen Tonus« empfindliches ARAS aufweisen, benötigen
steht, der selbst durch das Arousal-Niveau sie mehr oder intensivere Stimulationen,
bestimmt wird. Abbildung 8.1 verdeutlicht um auf das als angenehm erlebte mittlere
Introvertierte
Populationsdurchschnitt
Extravertierte
positiv
Hedonischer Tonus
A
I
B
E
A
P
B
I
negativ
A
E
BP
A O.L. O.L. P O.L. B
I E
Abb. 8.1: Beziehung zwischen der Intensität einer sensorischen Stimulation und hedonischer Qualität
des dadurch bewirkten Zustandes (nach Eysenck, 1994).
313
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Arousal-Niveau zu gelangen bzw. um dieses Stimulation oder unter Stress ein größeres
optimale Erregungsniveau zu halten. Diese Arousal aufweisen als Introvertierte.
Personen sind also chronisch untererregt und Die unterschiedlichen Hypothesen, die
suchen deshalb ständig nach Stimulationen, sich aus Eysencks Extraversionstheorie ablei-
um diese Unterregung zu kompensieren (z. B. ten lassen, wurden in einer Vielzahl von
indem sie öfter auf Partys gehen und mehr Untersuchungsparadigmen überprüft. Aus
Sex haben). Umgekehrt weisen Introvertierte der Fülle der Paradigmen und Untersuchun-
ein überempfindliches ARAS auf. Deshalb gen können hier nur einige wenige herausge-
vermeiden sie alle stark stimulierenden Situ- griffen werden, die den Reichtum an empiri-
ationen, welche nur zu einer schmerzhaften schen Zugängen in diesem Bereich illustrie-
Übererregung führen würden. Stattdessen ren sollen. Für umfassendere Darstellungen
suchen sie Situationen auf, die einen nur muss auf einschlägige Übersichtsarbeiten
geringen sensorischen Anregungsgehalt ha- verwiesen werden (z. B. Matthews & Gilli-
ben (z. B. indem sie öfter zu Hause bleiben land, 1999). Dabei sollen neben den psy-
und Zeitung lesen), da nur hier das optimale chophysiologischen Studien – in denen das
Arousal-Niveau gehalten werden kann. Die- Arousal der Probanden direkt gemessen wur-
se Unterschiede zwischen Extravertierten de – auch reine Verhaltensexperimente dar-
und Introvertierten sind in Abbildung 8.1 gestellt werden. Gerade die letztgenannten
dargestellt. Es ist ersichtlich, dass der hedo- Studien demonstrieren eindrucksvoll, dass
nische Tonus als Funktion der Stimulusin- auch mit einfachsten Mitteln (ohne physio-
tensität bei Introvertierten nach links ver- logisches Labor) eine Untersuchung biologi-
schoben ist (aufgrund ihrer hohen Erregbar- scher Theorien der Persönlichkeit möglich ist.
keit), während diese Funktion bei Extraver-
tierten nach rechts verschoben ist (wegen
ihrer niedrigen Erregbarkeit). Sensorische Untersuchungen
In dieser Abbildung fällt allerdings auch
auf, dass sich Extravertierte und Introver- Eine einfache Vorhersage aus Eysencks
tierte bei extremen Stimulationen in ihrem Extraversionstheorie betrifft die Sensitivität
hedonischen Tonus und damit auch in ihrem für sensorische Stimulation. Da Introver-
Arousal wieder einander annähern. Dieser – tierte ein chronisch höheres kortikales Erre-
zunächst überraschende – Sachverhalt wird gungsniveau aufweisen sollen als Extraver-
von Eysenck mit dem Prinzip der »transmar- tierte, müsste nach Eysenck ein und derselbe
ginalen Hemmung« erklärt (dieses Konzept Reiz bei Introvertierten eine subjektiv inten-
wurde bereits von Pawlow beschrieben). sivere Reizempfindung auslösen als bei Ex-
Dabei wird davon ausgegangen, dass eine travertierten. Diese Vorhersage wurde bei-
Zunahme der Stimulusintensität nur bis zu spielsweise in einer Fragebogenstudie von
einem bestimmten Punkt auch zu einer Erhö- Dornic und Ekehammar (1990) untersucht.
hung des Arousals führt. Wird dieser Punkt Die Autoren verwendeten einen Fragebogen
überschritten, so setzt eine Schutzfunktion zur Lärmempfindlichkeit (mit Items wie
ein, und eine weitere Zunahme der Stimu- z. B.» Es würde mir nichts ausmachen, an
lusintensität führt nun zu einer Abnahme des einer lauten Straße zu wohnen, wenn nur das
Arousals. Dieser Umkehrpunkt tritt bei Ex- Apartment schön ist«) und korrelierten die
travertierten (aufgrund ihrer geringen Erreg- Fragebogenwerte mit Extraversion (E). Es
barkeit) erst bei größeren Stimulationsinten- zeigte sich ein negativer Zusammenhang
sitäten auf als bei Introvertierten (die eine zwischen Lärmempfindlichkeit und E (r ¼
niedrige Erregbarkeit haben). Als Konse- –0,28), mit anderen Worten: Introvertierte
quenz sollten die Extravertierten bei großer Personen berichteten in dieser Studie über
314
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
eine größere Lärmempfindlichkeit als extra- sensorischen Stimulation, indem sie ihre Ver-
vertierte, was im Einklang mit Eysencks suchspersonen einem leisen, mittleren und
Theorie steht. lauten Hintergrundgeräusch aussetzten (wei-
Nicht alle Studien zu sensorischen Unter- ßes Rauschen). In jeder dieser Bedingungen
schieden zwischen Extravertierten und Intro- wurde die Flimmerverschmelzungsfrequenz
vertierten lieferten hingegen ein theoriekon- bestimmt, indem die Flimmerfrequenz kon-
formes Ergebnis. In der wohl umfangreichs- tinuierlich verändert wurde und die Ver-
ten experimentellen Überprüfung von Ey- suchsperson den Punkt der subjektiven Ver-
sencks Extraversionstheorie realisierten schmelzung angeben musste. Es zeigte sich in
Amelang und Ullwer zahlreiche Versuche, dieser Studie ein signifikanter positiver Zu-
wobei einer davon ebenfalls auf einen sol- sammenhang zwischen E und der Flimmer-
chen sensorischen Unterschied zielte (Ame- verschmelzungsfrequenz bei leisem Hinter-
lang & Ullwer, 1990, 1991). Ausgangspunkt grundgeräusch (r ¼ 0,21). Dieser Befund ist
dieses Versuchs war die Beobachtung, dass nicht mit der Extraversionstheorie konsis-
ein Licht, welches mit einer moderaten Fre- tent, da bei einer geringen Stimulation nicht
quenz ein- und ausgeschaltet wird, zu flim- mit einer transmarginalen Hemmung gerech-
mern scheint. Wird nun die Frequenz weiter net werden muss und folglich in dieser
erhöht, so »verschmilzt« irgendwann das Bedingung die Extravertierten eine niedrigere
Flimmern zu einem kontinuierlichen Licht- Flimmerverschmelzungsfrequenz als die
eindruck. Die Frequenz, bei der dies ge- Introvertierten haben sollten (was sich durch
schieht, ist die »Flimmerverschmelzungsfre- eine negative Korrelation zeigen müsste).
quenz«; diese liegt durchschnittlich in einer Die widersprüchlichen Ergebnisse dieser
Größenordnung von 60 bis 70 Hz und weist beiden Beispielstudien spiegeln durchaus die
individuelle Unterschiede auf, welche nach breitere Befundlage wider, die mit einer Reihe
Eysenck in Zusammenhang zur Extraversion von sensorischen Untersuchungen gewonnen
stehen sollen. Nach seiner Theorie haben wurde, aber aufgrund der inkonsistenten
Introvertierte bei mäßiger Stimulation (also Ergebnisse keine schlüssige Bewertung der
bevor die transmarginale Hemmung einsetzt) Theorie erlaubt. Dabei lassen sich mit dem
ein chronisch höheres Arousal als Extraver- experimentellen Ansatz offensichtlich viele
tierte; infolge dieses höheren kortikalen Erre- Facetten der Theorie (wie z. B. die Effekte
gungsniveaus müssten Introvertierte die sen- transmarginaler Hemmung) präziser unter-
sorischen Reize präziser verarbeiten als Ex- suchen, als dies mit reinen Fragebogenstu-
travertierte, also auch mit einer feineren dien der Fall ist; deshalb belasten gerade die
Zeitauflösung. Deshalb sollte die Flimmer- experimentellen Negativbefunde Eysencks
verschmelzungsfrequenz im Falle einer gerin- Extraversionstheorie. Allerdings muss dabei
gen sensorischen Stimulation bei Introver- festgestellt werden, dass sensorische Unter-
tierten höher liegen als bei Extravertierten. suchungen nur eine von vielen Zugangswei-
Falls hingegen die sensorische Stimulation sen für eine empirische Überprüfung von
sehr groß wird und die transmarginale Hem- Eysencks Extraversionstheorie darstellen.
mung einsetzt, sollten die Extravertierten ein Ein anderer Ansatz macht sich hierfür die
größeres Arousal aufweisen als die Introver- Abhängigkeit von unterschiedlichen kogniti-
tierten. Deshalb müsste unter diesen Um- ven Leistungen vom Arousal-Niveau für eine
ständen die Flimmerverschmelzungsfrequenz solche Überprüfung zunutze. Für eine breite-
bei Extravertierten höher sein als bei Intro- re Übersicht über solche Studien muss an
vertierten. dieser Stelle auf die einschlägige Litera-
Um diese Vorhersagen zu überprüfen, turübersicht von Eysenck und Eysenck
variierten die Autoren die Intensität der (1985) verwiesen werden.
315
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
316
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
von Koelega (1992) vorgelegt wurde. In so müssten die Extravertierten ein geringeres
dieser letzteren Arbeit wurden die Ergebnisse kortikales Arousal und somit eine größere Al-
pha-Aktivität aufweisen als die Introvertierten.
aus 30 Jahren Vigilanz- und Persönlichkeits- Entgegen den Erwartungen fielen in dieser Studie
forschung ausgewertet mit dem Resultat, die Korrelationen zwischen der Alpha-Aktivität
dass Introvertierte über viele Einzelbefunde und verschiedenen Maßen für E/I insgesamt nied-
hinweg tatsächlich eine bessere Vigilanzleis- rig aus und waren statistisch kaum bedeutsam. In
tung zeigen als Extravertierte. In anderen einer ganz ähnlichen Studie konnten auch Hage-
mann et al. (1999) keinen Zusammenhang zwi-
Aufmerksamkeitsparadigmen sind allerdings schen Alpha-Aktivität des Ruhe-EEG und E/I
auch widersprüchliche Befunde berichtet nachweisen.
wurden (für eine entsprechende Übersicht s.
Matthews & Gilliland, 1999). In anderen Untersuchungen wurde zur Mes-
sung der kortikalen Erregbarkeit das ereig-
niskorrelierte Hirnrindenpotential (EKP) ver-
Psychophysiologische Studien wendet, das ein spezielles bioelektrisches
Potential darstellt, welches für bestimmte
Die zentrale physiologische Variable in Ey- zeitlich, physikalisch und psychologisch defi-
sencks Theorie zur Erklärung von Unter- nierte Ereignisse aus dem EEG extrahiert
schieden zwischen intro- und extravertierten werden kann.
Personen ist das kortikale Arousal bzw. die
kortikale Erregbarkeit, die selbst wieder In einer solchen Studie von Brocke et al. (1996)
mussten die Versuchspersonen in einem ersten
durch das ARAS reguliert werden. Deshalb
Experiment eine auditorische Vigilanzaufgabe
ist es natürlich bei einer empirischen Über- ausführen. Den Probanden wurde für die Dauer
prüfung dieser Theorie sehr reizvoll, das von 40 Minuten alle zwei Sekunden ein hoher oder
kortikale Arousal oder die kortikale Erreg- tiefer Ton dargeboten, wobei nur insgesamt 20 %
barkeit der Probanden direkt zu messen. Eine aller Töne hoch waren und die Töne in zufälliger
Reihenfolge präsentiert wurden. Aufgabe der Ver-
solche Messung kann mit Hilfe des Elektro- suchsperson war es, bei Darbietung des seltenen
enzephalogramms (EEG) erfolgen, mit dem Reizes durch möglichst schnelles Drücken einer
die elektrischen Ströme registriert werden, Taste zu reagieren. Die Abbildung 8.3 zeigt separat
die infolge der Nervenzellaktivität im Gehirn für extravertierte und introvertierte Versuchsper-
sonen das EKP für den seltenen Reiz, also die
– und hier besonders im Kortex – entstehen. hirnelektrischen Reaktionen auf die Darbietung
Zahlreiche Studien machten von dieser Me- des hohen Tones (auf der x-Achse ist die Zeit in ms
thode in den letzten Jahrzehnten Gebrauch dargestellt, wobei bei 0 ms der Ton präsentiert
(Übersicht s. Schulter & Neubauer, 2005). wurde; die y-Achse zeigt die Intensität der hirn-
elektrischen Reaktion in µV). Introvertierte zeig-
ten offensichtlich eine intensivere hirnelektrische
In der Studie von Amelang und Ullwer (1990) Reaktion (erkennbar an den größeren Auslenkun-
wurde ein EEG in drei Untersuchungsbedingun- gen des EKP) als Extravertierte. Dieser Effekt war
gen abgeleitet. Zunächst mussten sich die Ver- statistisch signifikant und stimmt insofern mit
suchspersonen in einer Ruhebedingung bei ge- Eysencks Theorie überein, als die Introvertierten
schlossenen Augen entspannen. Anschließend eine größere kortikale Erregbarkeit haben sollten
wurden die Probanden aufgefordert, einen Punkt als Extravertierte. Allerdings zeigte sich kein Ver-
an der Wand mit ihrem Blick zu fixieren. Schließ- haltensunterschied in der Vigilanzleistung von
lich mussten die Versuchspersonen eine Kopfre- extra- und introvertierten Personen, was die Auto-
chenaufgabe absolvieren. Für die Datenauswer- ren auf die geringe Schwierigkeit der Aufgabe
tung wurde aus dem EEG die Alpha-Aktivität zurückführten.
extrahiert (die sogenannten Alpha-Wellen treten In einem zweiten Experiment musste eine neue
besonders im synchronisierten EEG auf, sind Stichprobe von Versuchspersonen eine visuelle
durch eine Frequenz zwischen 8 und 13 Hz Vigilanzaufgabe bearbeiten, die nun deutlich
charakterisiert und indizieren ein reduziertes schwieriger gestaltet wurde als die Aufgabe
kortikales Arousal). Folgt man Eysencks Theorie, aus dem ersten Experiment. Hierfür wurde den
317
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
µV µV
–10 –10
–5 –5
0 0
5 5
10 10
0 200 400 600 800 0 300 600 900
Millisekunden Millisekunden
Introvertierte Introvertierte
Extravertierte Extravertierte
Probanden für die Dauer von 32 Minuten alle ihrer umfangreichen Übersichtsarbeit kon-
1,5 Sekunden ein dunkler oder ein nur geringfügig statiert worden ist.
hellerer Kreis auf einem Computerbildschirm prä-
sentiert, wobei nur 5 % aller Kreise der helleren
Kategorie angehörten. Aufgabe der Versuchsper-
son war es wieder, auf die Darbietung des seltenen Pharmakologische Studien
Reizes mit einem Tastendruck zu reagieren. Auch
hier zeigten die Introvertierten eine intensivere Ein augenfälliger Mangel an den bislang
hirnelektrische Reaktion als die Extravertierten beschrieben Untersuchungen ist methodi-
(c Abb. 8.4), was den Befund aus dem ersten
Experiment konzeptuell repliziert. Anders als im scher Art. Die Extraversionstheorie postu-
ersten Experiment zeigte sich nun auch ein Ver- liert individuelle Unterschiede des kortikalen
haltensunterschied – Extravertierte zeichneten Arousals als kausale Ursache für Extraver-
sich durch eine größere Reaktionsbereitschaft sion. Demzufolge müsste für eine strenge
aus als Introvertierte.
Überprüfung dieser Kausalhypothese das
kortikale Arousal im Sinne einer unabhängi-
In einer weiteren Studie erweiterten Brocke, gen Variablen experimentell manipuliert
Tasche und Beauducel (1997) das zuvor werden, wobei die resultierende Persönlich-
beschriebene Experiment um weitere Unter- keitsveränderung als abhängige Variable zu
suchungsbedingungen, mit denen auch die registrieren wäre. Nur bei einem solchen
Effekte einer transmarginalen Hemmung Versuchsplan kann die Abhängigkeit der
überprüft werden konnten. Die Befunde aus Persönlichkeit vom Arousal im Sinne einer
dieser Studie stimmten ebenfalls mit den echten Dependenz beurteilt werden. Dies ist
Vorhersagen aus Eysencks Theorie überein. bei den oben berichteten Studien offensicht-
Diese wenigen Beispielstudien verdeutli- lich nicht der Fall, da hier keine experimen-
chen nicht nur die methodische Zugangs- telle Manipulation des Arousals erfolgte.
weise psychophysiologischer Untersuchun- Vielmehr wurden in diesen Studien die »na-
gen zur Extraversion, sondern auch die In- türlichen« Variationen des Arousal, wie sie in
konsistenz der Befundlage, wie sie beispiels- den Stichproben auftraten, mit individuellen
weise von Matthews und Gilliland (1999) in Unterschieden von E/I in Bezug gesetzt. Eine
318
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
solche Analyse der Kovariation zwischen sive immer kürzer; die Untersuchung war beendet,
Arousal und E/I lässt deshalb nur Interde- sobald die Versuchsperson die Aufgabe nur noch
mit einer Trefferrate von ca. 70 % lösen konnte.
pendenzinterpretationen zu. Als abhängige Variable wurde die Zeitdifferenz
Es ist ein hervorstechendes Merkmal des beider Töne am Ende der Aufgabe bestimmt (eine
Eysenck’schen Ansatzes, dieses Problem mit bessere Diskriminationsleistung des Probanden
dem »Drogenpostulat« gelöst zu haben (das spiegelt sich hier in einer kürzeren Zeitdifferenz
Wort Droge bezieht sich hier ganz allgemein wider). In einer Zeitschätzaufgabe wurde die
Versuchsperson aufgefordert, nach Gefühl im Se-
auf pharmakologische Substanzen). Dieses kundentakt auf eine Taste zu drücken. Dabei
Postulat behauptet, dass die Position einer wurde für 30s die Anzahl der tatsächlich gemach-
Person auf der E/I-Dimension durch Gabe ten Tastendrücke registriert. In einer Reaktions-
einer pharmakologischen Substanz zur Erhö- zeitaufgabe saßen die Versuchspersonen vor sechs
Lampen, die in einem Halbkreis angeordnet wa-
hung oder Erniedrigung des kortikalen ren. Unmittelbar vor jeder Lampe befand sich eine
Arousals kurzzeitig verschoben werden Taste. Sobald eine der Lampen aufleuchtete, muss-
kann. Dabei sollten stimulierende Substan- te die Versuchsperson möglichst schnell die ent-
zen wie Koffein oder Amphetamin zu einer sprechende Taste drücken, wobei ihre Reaktions-
Erhöhung des Arousals und somit zu einer zeit registriert wurde. Schließlich wurde bei den
Versuchspersonen noch die Flimmerverschmel-
Verschiebung in Richtung Introversion füh- zungsfrequenz bestimmt. Eine statistische Analyse
ren, während sedierende Substanzen wie der Daten zeigte auf, dass die Gabe von Alkohol –
Alkohol oder Barbiturate das Arousal ver- entgegengesetzt zu den Vorhersagen aus dem
ringern und folglich eine Veränderung in Drogenpostulat – bei Extravertierten dieselbe
Auswirkung auf fast alle Testleistungen hatte wie
Richtung Extraversion bewirken müssten. bei Introvertierten. Lediglich in der Zeitschätzauf-
Diese Effekte sollten selbstredend weniger gabe zeigte sich eine Interaktion zwischen Alko-
für die subjektiven Reaktionen auf Fragebo- holgabe und E/I: Während sich in der Placebobe-
genitems gelten, als vielmehr für jene Prozes- dingung die Extravertierten nicht signifikant von
se, in denen sich Introvertierte und Extraver- den Introvertierten unterschieden, verschätzten
sich die Introvertierten in der Alkoholbedingung
tierte unterscheiden müssten. Beispielsweise signifikant stärker als die Extravertierten. Dies
sollte ein Beruhigungsmittel einer festen entspricht allerdings nicht den Vorhersagen des
Dosis bei Extravertierten (die ja bereits ein Drogenpostulats, da Alkohol bei Extravertierten
chronisch geringes Arousal aufweisen) eine eine stärker sedierende Wirkung haben müsste
und sich deshalb bei ihnen die Leistung deutlicher
größere Leistungsminderung zur Folge haben verschlechtern sollte als bei Introvertierten.
als bei Introvertierten, was sich entsprechend
auf die sensorische Wahrnehmungsschwellen In einer psychophysiologischen Studie von
oder auf die Resultate in Lern- und Aufmerk- Werre et al. (2001) wurden die Effekte von
samkeitsaufgaben auswirken müsste. Koffein und Chlordiazepoxid (ein zur Grup-
pe der Benzodiazepine gehörendes Beruhi-
Diese Vorhersage wurde beispielsweise in einer
umfangreichen Studie von Rammsayer (1995)
gungsmittel) auf das ereigniskorrelierte
überprüft. Den Versuchspersonen wurden zu- Hirnrindenpotential in einer Reaktionszeit-
nächst entweder 0,65 g Alkohol/kg Körpergewicht aufgabe untersucht. Auch diese Autoren
verabreicht oder aber ein Placebo. Anschließend konnten keinen Befund erbringen, der mit
durchliefen sie vier experimentelle Aufgaben. In den Vorhersagen des Drogenpostulats ver-
einer Zeitdiskriminierungsaufgabe wurden den
Probanden in mehreren Versuchsdurchgängen je- einbar ist. Zusammenfassend bieten diese
weils zwei Töne unterschiedlicher Länge präsen- neueren Studien nur einen schwachen Beleg
tiert, wobei die Versuchsperson durch Tasten- für die Gültigkeit des Drogenpostulats. Dies
druck angeben musste, welcher der beiden Töne mag erstaunen, da Eysenck selbst nach einer
kurz bzw. lang war. Dabei dauerte einer der Töne
stets 50 ms und der andere war im ersten Ver-
neueren Übersicht über die empirische Be-
suchsdurchgang 98 ms lang. Dieser längere Ton fundlage zu einer durchaus positiven Bewer-
wurde aber im Verlauf der Untersuchung sukzes- tung des Drogenpostulats kam (Eysenck,
319
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
1994). Allerdings beklagte Eysenck dabei so hat sich doch das Konzept eines solchen
selbst, dass dieses Postulat in neuerer Zeit neuralen Netzwerks als Substrat für emotio-
kaum noch empirisch untersucht werde. nale Prozesse bewährt (für eine finale Dar-
stellung des Originalkonzepts des limbischen
Systems s. MacLean, 1993; für moderne
8.1.2 Biologische Basis von Weiterentwicklungen s. Rolls, 1999).
Neurotizismus und Individuelle Unterschiede in der Erreg-
Psychotizismus barkeit des limbischen Systems stellen nach
Eysenck (1967; Eysenck & Eysenck, 1985)
Während Eysencks Extraversionstheorie die biologische Basis des Neurotizismus (N)
recht prägnant formuliert wurde und kon- dar. Dabei sollen emotional Labile durch
krete Vorhersagen über Verhalten und Phy- eine hohe Reagibilität des limbischen Sys-
siologie macht, ist seine Neurotizismustheo- tems gekennzeichnet sein, während emotio-
rie weniger präzise ausgearbeitet und er- nal Stabile eine nur geringe Reagibilität des
laubt auch nur eine schwächere empirische Systems aufweisen. Wird nach dieser Hypo-
Überprüfung. Mit Blick auf den Psychoti- these eine Person mit hoher Ausprägung von
zismus wurde von Eysenck überhaupt keine N einer emotionsauslösenden Situation aus-
Theorie vorgelegt – hier gibt es lediglich gesetzt (wie z. B. einer mündlichen Prüfung),
einen Ansatz zur Theorienentwicklung. Da so führt die postulierte niedrige Erregungs-
zudem die Befundlage zu N und P entspre- schwelle des limbischen Systems dieser Per-
chend lückenhaft ist, werden die biologi- son dazu, dass die entsprechende emotionale
schen Erklärungsansätze zu diesen beiden Reaktion (z. B. Prüfungsangst) früher ein-
Eigenschaften in einem einzigen Abschnitt setzt, stärker ausfällt und länger anhält, als
zusammengefasst. dies bei einer Person mit niedrig ausgepräg-
tem N der Fall wäre. Von besonderer Be-
deutung hierbei ist, dass sich diese emotio-
Biologische Basis des Neurotizismus nalen Reaktionen nach Eysencks Vorstellun-
gen vor allem auch in einer erhöhten Akti-
Der Begriff des »limbischen Systems« wurde vität des autonomen Nervensystems äußern,
von Paul MacLean (1952) in die Literatur wie sie z. B. durch ein vermehrtes Herzklop-
eingeführt und verweist auf ein Netzwerk fen und Schwitzen der emotional labilen
von subkortikalen und kortikalen Struktu- Person angezeigt werden. Aus diesem Grun-
ren, das eine neurale Basis für Emotionen de wurde die Erregung im limbischen System
sein soll. Dieses System besteht erstens aus von Eysenck auch als »Aktivation« (engl.
dem Mandelkerngebiet (welches bei der »activation) bezeichnet (in Abgrenzung zum
Nahrungssuche und -aufnahme sowie ag- kortikalen Arousal als physiologischem Kor-
gressivem und defensivem Verhalten eine relat von I/E).
Rolle spielt), zweitens aus dem Septalgebiet Die empirische Überprüfung dieser Neu-
(das für sexuelle Aktivitäten von Bedeutung rotizismushypothese erfolgte im Wesentli-
ist) und drittens aus einem thalamo-zingulä- chen unter Einsatz psychophysiologischer
ren Subsystem (welches dem elterlichen Für- Methoden, wie sie bereits im Abschnitt zur
sorgeverhalten zugrunde liegt). Auch wenn Extraversionsforschung exemplarisch ange-
im Laufe der Jahre immer weitere Strukturen sprochen wurden. In der typischen psycho-
diesem System zugeordnet wurden (wie z. B. physiologischen Studie wurden die Proban-
der orbitofrontale Kortex) und nicht bei allen den emotional stimuliert, und die autonome
Autoren Einigkeit über die genauen anato- Reaktion auf diese Stimulation wurde an-
mischen Definitionen dieses Systems besteht, hand von EEG, EMG, EKG und EDA regis-
320
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
321
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
werden, sollten nach Eysenck die biologi- annäherungsweise, sondern nur exempla-
schen Unterschiede zwischen schizophrenen risch, konnte in diesem Abschnitt das er-
und gesunden Personen auch die biologische arbeitete Material umrissen werden. Für eine
Basis des Psychotizismus darstellen. Mit umfassendere Stichprobe aus der Masse die-
anderen Worten: Ist die biologische Ursache ser Einzelstudien sei auf das Buch von Ey-
der Schizophrenie identifiziert, so ist damit senck und Eysenck (1985) verwiesen.
auch die Basis des Psychotizismus gefunden. Eysencks Persönlichkeitstheorien entfalte-
So einfach diese Überlegung zunächst an- ten eine enorme Strahlkraft und stimulierten
mutet, so kompliziert wird dieser Erklärungs- weltweit Forschungsaktivitäten in zahlrei-
versuch durch die Tatsache, dass es für Psy- chen Laboren. Diese Forschung führte aller-
chosen nicht nur ein einziges biologisches dings zu einer Befundlage, die als äußerst
Erklärungsmodell gibt. Vielmehr unterschei- inkonsistent bezeichnet werden muss – für
den sich Psychotiker von normalen Personen jeden Befund, der die Theorie zu stützen
in einer Vielzahl biologischer Systemparame- scheint, lässt sich leicht ein Gegenbefund
ter, die von sensorischer Sensitivität über zulasten der Theorie aufführen. Diese Situa-
psychophysiologische Reaktionen und der tion wurde von Eysenck (1994) mit einem
Lateralisierung der Großhirnhemisphären bis Glas verglichen, das halb voll beziehungs-
hin zu Hormonen, Antigenen, Monoaminen, weise halb leer ist, wobei er die Negativbe-
Enzymen und Neurotransmittern reichen (für funde pauschal auf Mängel in den verwen-
eine ausführlichere Darstellung s. Eysenck, deten Forschungsparadigmen zurückführte
1994). Diese unterschiedlichsten biologischen (wie z. B. auf Operationalisierungsprobleme
Faktoren konnten bislang in keinem umfas- bei den unabhängigen und abhängigen Va-
senden Modell der Schizophrenie zusammen- riablen in den entsprechenden Experimen-
geführtwerden.Dementsprechendgibtesauch ten). Über diese Inkonsistenz der Datenlage
bis heute keine einheitliche Hypothese zur hinaus müssen allerdings auch zwei konzep-
biologischen Grundlage des Psychotizimus. tuelle Probleme der Eysenck’schen Theorie
benannt werden.
Das erste Problem betrifft die Unabhän-
8.1.3 Abschließende gigkeit der beiden Dimensionen E und N. Da
Erörterung das limbische System eine der wichtigsten
Regionen darstellt, von denen aus die retiku-
Eine zusammenfassende Würdigung der per- läre Formation ihren neuralen Input erhält,
sönlichkeitstheoretischen Vorstellungen von führt eine Aktivität im limbischen System
Eysenck in großen Zügen verbietet sich. Zu zwangsläufig zu einer Aktivierung der reti-
unterschiedlich stellt sich die Präzision von kulären Formation. Deshalb müsste eigent-
Hypothesen einerseits und die Inkonsistenz lich eine negative Korrelation zwischen N
der Befundlage andererseits dar. Besonders und E auftreten. Interessanterweise wurde
die Theorie zur Extraversion/Introversion ein solcher negativer Zusammenhang von N
hat sich dabei als außerordentlich fruchtbar und E beobachtet, als diese Dimensionen
erwiesen und Anlass zu einer Fülle von noch mit dem »Maudsley Personality Inven-
Untersuchungen gegeben, die von hochspe- tory« (MPI; Eysenck, 1956) gemessen wur-
ziellen experimentellen Aufgaben über Kurz- den (vgl. Abschn. 7.3.2). Erst mit der Neu-
und Langzeitgedächtnis zu sozialen und entwicklung des »Eysenck Personality Inven-
politischen Einstellungen bis hin zu pharma- tory« (EPI; Eysenck & Eysenck, 1969) wurde
kologischer und psychotherapeutischer Re- dann von Eysenck eine Orthogonalität bei-
agibilität reichen (für eine entsprechende der Dimensionen angestrebt – was angesichts
Übersicht s. Nyborg, 1997). Nicht einmal der anatomisch-physiologischen Verflech-
322
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
tung von limbischem System und retikulärer Schlüsselrolle haben könnten; für eine ent-
Formation geradezu unverständlich ist. sprechende Übersicht s. Rammsayer, 2003).
Ein weiteres Problem stellt die Eindimen- Umgekehrt könnte sich auch das Extraver-
sionalität der Arousal-Theorie dar, in der sionskonstrukt als zu »breit« erweisen, um
von einem einheitlichen System zur Regulie- einem einzelnen Transmittersystem zugeord-
rung des kortikalen Erregungsniveaus aus- net werden zu können (Abschn. 8.3 wird eine
gegangen wird. Tatsächlich wurde früher entsprechende Alternativtheorie der Persön-
angenommen, dass das Arousal durch ein lichkeit vorstellen). An dieser Stelle bleibt
diffuses Netzwerk aufsteigender Nervenbah- festzuhalten, dass die neurale Eindimensio-
nen gesteuert wird, die ihren Ursprung im nalität der Eysenck’schen Extraversionstheo-
Hirnstamm haben (dem ARAS). Heute ist rie bei heutigem Kenntnisstand als grobe
hingegen bekannt, dass sich in der retikulä- Vereinfachung angesehen werden muss.
ren Formation verschiedene Subsysteme Angesichts der konzeptuellen Probleme
unterscheiden lassen, die sehr spezifisch sind der Theorie sowie der Inkonsistenz der Be-
sowohl hinsichtlich ihrer Neurochemie als fundlage kann es nicht verwundern, dass
auch mit Blick auf die anatomischen Zielre- Alternativen zur Eysenck’schen Persönlich-
gionen ihrer aufsteigenden Projektionen. So keitstheorie formuliert wurden. Diese Alter-
ist mittlerweile eine Differenzierung zwi- nativen müssen sich allerdings in ihrer Prä-
schen den noradrenergen, dopaminergen, zision an Eysencks Formulierungen messen
cholinergen und serotonergen Systemen ge- lassen. Darüber hinaus wird die folgende
läufig, wobei keinesfalls davon ausgegangen Darstellung der empirischen Forschung ver-
werden kann, dass alle Systeme im gleichen deutlichen, dass besonders auch die Paradig-
Umfang dem E/I-Kontinuum zugrunde liegen men zur experimentellen Überprüfung dieser
(tatsächlich verweisen einige Befunde darauf, Theorien stark von der biologischen Extra-
dass hier die dopaminergen Systeme eine versionsforschung beeinflusst wurden.
Nach Eysenck sind Unterschiede in Extraversion auf Unterschiede in der tonischen Aktivität
und der phasischen Aktivierbarkeit des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems
(ARAS) zurückzuführen. Extravertierte Verhaltensweisen werden durch ein hypoaktives
bzw. hyposensitives ARAS und introvertierte Verhaltensweisen durch ein hyperaktives bzw.
hypersensitives ARAS hervorgerufen. Entsprechend fühlen sich Extravertierte bei einem
mittleren Stimulationsgrad, Introvertierte bei einem niedrigen Stimulationsgrad wohl
(hedonischer Tonus). In vielen Untersuchungen, zum Beispiel zur Lärmempfindlichkeit, zur
Flimmerverschmelzungsfrequenz, zur Aufmerksamkeit und zur Vigilanz wurde die Theorie
überprüft. Es wurden teils bestätigende, teils der Theorie widersprechende Befunde erzielt.
Psychophysiologische Studien verwendeten das Elektroenzephalogramm (EEG) zur Unter-
suchung der ARAS-abhängigen Frequenz des EEGs oder des ereigniskorrelierten Hirnrin-
denpotentials. Das in der Theorie postulierte Hypoarousal der Extravertierten ließ sich in der
Mehrzahl der Studien tatsächlich zeigen. Pharmakologische Studien versuchten, durch die
Gabe von Medikamenten die Aktivität des ARAS-Systems direkt zu beeinflussen (Drogen-
postulat). Während ältere Studien mit dem Drogenpostulat im Einklang stehen, trifft das bei
neueren Studien nicht mehr uneingeschränkt zu.
Als biologische Basis des Neurotizismus postulierte Eysenck interindividuelle Unter-
schiede in der Erregbarkeit des »limbischen Systems«. Emotional labile Personen sollten
323
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
durch eine niedrige Schwelle und hohe Sensitivität des limbischen Systems gekennzeichnet
sein; für emotional stabile Personen sollte das Umgekehrte gelten. Die Aktivität des
limbischen Systems sollte in Parametern der autonomen Aktivierung erkennbar sein. Die
unergiebige Befundlage spricht dafür, dass die Eysencksche Theorie des Neurotizismus
unzutreffend ist. Für den Bereich des Psychotizismus gibt es bis heute keine einheitliche
Hypothese zu seiner biologischen Grundlage.
Die biologische Persönlichkeitstheorie von Eysenck hat sich als produktiv und äußerst
anregend erwiesen. Gleichzeitig zeigten sich auch neben die Theorie stützenden Befunden
solche, die der Theorie widersprachen. Zwei Probleme der Theorie sind deutlich: zum einen
die Annahme der Unabhängigkeit der Dimensionen Extraversion und Neurotizismus und
zum anderen die angenommene Eindimensionalität von Aktivierungsprozessen. Beide
Annahmen sind nicht haltbar.
324
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
diesen Faktoren ermöglicht. Dies liegt vor mension zwischen Neurotizismus und Intro-
allen Dingen daran, dass unterschiedliche version verlaufen müsse, aber etwas näher
Rotationen derselben Faktoren immer gleich beim Neurotizismus lokalisiert sein sollte.
viel Varianz aufklären – aus diesem Grund Dementsprechend resultiert eine Dimension
kann allein mit den Mitteln der Faktorenana- für Ängstlichkeit durch eine 30°-Rotation
lyse nicht entschieden werden, welche alter- des Neurotizismus in Richtung des unteren
nativen Rotationen die biologische Basis der Endes der Extraversion (also in Richtung der
Persönlichkeit besser reflektieren. Hierfür Introversion). Darüber hinaus postulierte
müssen weitere, nichtstatistische Argumente Gray (1981) die Impulsivitätsdimension als
herangezogen werden. So verwies Gray auf orthogonal zur Ängstlichkeit. Deshalb ergibt
die Effekte von anxiolytischen (angstlösen- sich in der durch E/I und N aufgespannten
den) Substanzen (wie Alkohol, Barbituraten Ebene eine Dimension für Impulsivität durch
und Benzodiazepinen) auf die Persönlichkeit, eine 30°-Rotation der Extraversion in Rich-
die vermuten lassen, dass die von Eysenck tung des oberen Endes des Neurotizismus.
beschriebenen Faktoren in keiner einfachen Schließlich wurde der Persönlichkeitsfaktor
Übereinstimmung mit ihren zugrunde liegen- Psychotizismus von Gray unverändert aus
den biologischen Mechanismen stehen. Bei- dem PEN-System übernommen, spielt aber in
spielsweise reduzieren Anxiolytika nicht nur Grays Persönlichkeitstheorie nur eine unter-
die Neurotizismuswerte von Probanden, son- geordnete Rolle.
dern erhöhen gleichzeitig auch deren Extra-
versionswerte. Dies kann als Hinweis dafür Neurotizismus
gewertet werden, dass diesen beiden Dimen- Ängstlichkeit
sionen ein gemeinsamer biologischer Mecha-
nismus zugrunde liegt – ganz im Gegensatz zu
Eysencks Theorie, die ja eine relative Unab- Impulsivität
hängigkeit dieser Prozesse postuliert.
Um dieses Problem auszuräumen, schlug
Gray als eine Modifikation von Eysencks
dreidimensionalem Persönlichkeitsraum
zwei alternative Dimensionen vor, nämlich Introversion Extraversion
»Ängstlichkeit« (»anxiety«) und »Impulsivi-
tät« (»impulsivity«) (Gray, 1970, 1981).
Diese beiden Faktoren weisen bestimmte
Beziehungen zur Extraversion-Introversion
und zum Neurotizismus auf und lassen sich
deshalb in einer zweidimensionalen Ebene
des Eysenck’schen Persönlichkeitsraums, die Emotionale Stabilität
durch die beiden Faktoren Extraversion-
Abb. 8.5: Grafische Darstellung der Beziehung
Introversion und Neurotizismus aufgespannt zwischen den beiden Persönlichkeits-
wird, als Rotationen von E/I und N darstellen systemen Extraversion-Neurotizismus
(c Abb. 8.5). Bereits Eysenck (1965) hatte (nach Eysenck) und Ängstlichkeit-Im-
berichtet, dass Ängstlichkeit eine positive pulsivität (nach Gray). Die beiden
Korrelation mit N und eine negative Korre- Systeme sind um 30° gegeneinander
rotiert (nach Pickering et al., 1999).
lation mit E/I aufweist, wobei der Zusam-
menhang mit N etwas stärker ist als der
Zusammenhang mit E/I. Deshalb schlug Impulsive Personen lassen sich also als emo-
Gray (1970) vor, dass die Ängstlichkeitsdi- tional labile Extravertierte beschreiben, wo-
325
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
bei bei diesen Individuen die Extraversion Übersichten s. Gray & McNaughton, 1996;
deutlicher ausgeprägt ist als der Neurotizis- Pickering et al., 1997).
mus (Eþþ/Nþ). Ängstliche Personen kön-
nen hingegen als emotional labile Introver-
tierte charakterisiert werden, wobei diese Das »Behavioral Inhibition System«
Individuen eine deutlichere Ausprägung des
Neurotizismus aufweisen als der Introver- Zunächst postulierte Gray (1970) ein
sion (E/Nþþ). »Verhaltenshemmsystem« (»BehavioralInhi-
bition System«, BIS), das auf konditionierte
Reize für Bestrafung und frustrierende Nicht-
8.2.2 Drei fundamentale belohnung reagiert. Dieses System wird also
aktiviert, falls Umgebungsreize eine Bestra-
Hirnsysteme für
fung signalisieren oder das Ausbleiben bzw.
Belohnung und den Abbruch einer Belohnung ankündi-
Bestrafung gen. Weiter kann das BIS auch durch die
ausgeprägte Neuheit eines Reizes aktiviert
Was veranlasste Gray, Ängstlichkeit und werden.
Impulsivität als die eigentlich biologisch fun- Infolge einer Aktivierung des BIS kommt
dierten Persönlichkeitsfaktoren anzusehen? es zu einer Verhaltenshemmung, d. h., das
Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt gerade ausgeführte Verhalten wird unterbro-
ausgeführt, kann mit den Mitteln der Fakto- chen. Darüber hinaus führt eine Aktivierung
renanalyse nicht entschieden werden, welche des BIS zu einer erhöhten (autonomen) Erre-
alternativen Rotationen eine optimale »Pas- gung, die der Vorbereitung bzw. Energeti-
sung« mit der biologischen Basis der Persön- sierung jenes Verhaltens dient, welches als
lichkeit aufweisen (Gray, 1981). Hierfür Reaktion auf den auslösenden Reiz stattfin-
müssen weitere, theoretische oder empirische den soll. Außerdem ruft die Aktivierung des
Argumente herangezogen werden. BIS eine verstärkte Aufmerksamkeitszuwen-
Solche Argumente glaubte Gray aufgrund dung auf die Umgebung und hier besonders
tierexperimenteller Studien beibringen zu auf bedrohende oder neue Reize hervor.
können (Gray, 1970, 1981, 1982). Auf der Schließlich führt eine Aktivierung des BIS
Basis einer Vielzahl von pharmakologischen zu einem Gefühl der Angst. All diese Reak-
Studien sowie Läsionsuntersuchungen an tionen können durch die Gabe von Anxioly-
Ratten postulierte Gray drei fundamentale tika gedämpft werden, weshalb Gray das BIS
und voneinander abgrenzbare Hirnsysteme zunächst pharmakologisch definiert hatte.
für die Verarbeitung von Belohnungs- und Als neuroanatomische Grundlage des BIS
Bestrafungsreizen. Diese in Tierstudien iden- wird ein weit verzweigtes Hirnsystem ange-
tifizierten Systeme sollen auch im Gehirn des nommen, in dessen Zentrum sich das septo-
Menschen operieren und den drei Dimensio- hippocampale System befindet (ein neurales
nen Ängstlichkeit, Impulsivität und Psycho- Netzwerk aus der Hippocampusformation
tizismus jeweils zugrunde liegen. und Septalkernen). Dieses System wird er-
Diese Gehirnsysteme lassen sich zunächst gänzt durch Elemente des Papez-Kreises (be-
danach unterscheiden, auf welche Art von sonders des zingulären Kortex), durch Ver-
Reizen sie reagieren und welche Reaktio- bindungen zum präfrontalen Kortex sowie
nen sie hervorbringen. Darüber hinaus sind durch aufsteigende monoaminerge Fasern,
diese Gehirnsysteme durch eine abgrenzbare die das septo-hippocampale System innervie-
Neuroanatomie gekennzeichnet (für neuere ren (hierzu zählen noradrenerge Projektio-
326
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
nen aus dem Locus coeruleus sowie sero- (namentlich das nigrostriatale und das me-
tonerge Projektionen aus dem Raphekern). solimbische System).
Darüber hinaus postulierte Gray (1981) ein Als drittes System nahm Gray (1981) schließ-
»Verhaltensannäherungssystem« (»Behavio- lich ein »Kampf-Flucht-System« (»Fight-
ral Approach System«, BAS), das syno- Flight System«, FFS) an, das neuerdings
nym auch als »Verhaltensaktivierungssys- auch als »Kampf-Flucht-Erstarrungs-Sys-
tem« (»Behavioral Activation System«, tem« (»Fight-Flight-Freezing System«, FFFS)
BAS) bezeichnet wird. Dieses System reagiert bezeichnet wird und in Grays Theorie am
auf konditionierte Reize für Belohnung und wenigsten ausgearbeitet vorliegt. Dieses Sys-
Nichtbestrafung. Es wird also aktiviert, falls tem reagiert auf primäre (unkonditionierte)
Umgebungsreize eine Belohnung ankündigen Reize für Bestrafung und Nichtbelohnung,
oder das Ausbleiben bzw. den Abbruch einer also auf Reize, die eine existentielle Bedro-
Bestrafung signalisieren (in lernpsychologi- hung darstellen. Eine Aktivierung des FFS
scher Terminologie handelt es sich dabei also führt zu einer Kampfhandlung (falls die
um Hinweisreize für eine positive oder nega- Distanz zur Bedrohung sehr gering ist) oder
tive Verstärkung). zu einer Erstarrungs- oder Fluchtreaktion
Eine Aktivierung des BAS führt zu einer (bei größerer Distanz zur Bedrohung). Auch
Verhaltensaktivierung, wobei Annäherungs- diese Reaktionen werden durch eine erhöhte
verhalten das wohl typischste Verhalten dar- (autonome) Erregung unterstützt. Dabei
stellt. Dabei umfasst Annäherungsverhalten führt eine Aktivierung des FFS zu einem
nicht nur eine einfache Zielannäherung (im Erleben von Panik. Interessanterweise kön-
Falle einer Belohnung), sondern auch aktive nen diese Reaktionen durch Anxiolytika
Vermeidung im Sinne einer Annäherung an nicht gedämpft werden. Als neurale Basis
Sicherheit (im Falle einer Nichtbestrafung). wurden von Gray das zentrale Höhlengrau
Diese Verhaltensmobilisierung wird durch sowie der mediale Hypothalamus angege-
eine erhöhte (autonome) Erregung unter- ben.
stützt bzw. energetisiert. Zusätzlich führt
eine Aktivierung des BAS zu einem Gefühl
von positiven, erhebenden Emotionen wie
8.2.3 Individuelle Unterschiede
beispielsweise Hoffnung, Erleichterung,
Glück oder einem »High« wie beim Konsum in den Funktionen des BIS,
stimulierender Drogen. BAS und FFS
Die neurale Basis des BAS besteht nach
Gray im Wesentlichen aus Teilen der Basal- Zusammenfassend dient das BIS also der
ganglien (besonders dem dorsalen und ven- Organisation von Reaktionen auf konditio-
tralen Striatum und hier wieder besonders nierte Bestrafungsreize, das BAS koordiniert
dem Nucleus accumbens). Dieses System Reaktionen auf konditionierte Belohnungs-
wird ergänzt durch Verbindungen zum prä- reize, und das FFS generiert die Reaktionen
frontalen Kortex. Darüber hinaus zählen auf eine primäre Bedrohung. Dabei vermit-
besonders auch die aufsteigenden dopami- teln besonders das BIS eine »Stop«-Funktion
nergen Projektionen, die in den Basalgang- und das BAS eine »Go«-Funktion für die
lien enden, zur anatomischen Basis des BAS Verhaltensregulierung. Aber wo bleibt hier
327
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
labil
Frage postuliert Gray (1981), dass die von
ihm vorgeschlagenen Persönlichkeitsdimen-
Än
sionen Ängstlichkeit bzw. Impulsivität durch gs tä
t
tli
sivi
individuelle Unterschiede in der Sensitivität ch
ke ul
it p
des BIS bzw. BAS für ihre jeweiligen aktivie- Im
renden Reize bedingt werden (mit einem
emotional
geringeren Bestimmtheitsgrad wird dies von
Gray auch für den Psychotizismus und das
FFS angenommen).
Abbildung 8.6 verdeutlicht die wesentli-
chen Annahmen. Ängstliche Personen (also
emotional labile Introvertierte) zeichnen sich
stabil
durch eine hohe Sensitivität für Bestrafung
aus, während wenig ängstliche Personen introvertiert extravertiert
(emotional stabile Extravertierte) durch eine
geringe Sensitivität für Bestrafung gekenn- Empfänglichkeit für Belohnung
328
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
329
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
erhalten. Diese beiden Vorhersagen wurden eine größere Genauigkeit als die emotional stabi-
in mehreren Untersuchungen überprüft. len Probanden (Personen mit niedrigen Werten in
N). Entgegengesetzt zur Theorie zeigten die emo-
In einer vielfach zitierten Studie von Gupta und tional labilen Personen in der Belohnungsbedin-
Shukla (1989) wurde die Belohnungs- und Bestra- gung jedoch keine bessere Leistung als emotional
fungssensitivität von Extravertierten und Intro- stabile Probanden, sondern eine schlechtere (nach
vertierten untersucht. In diesem Experiment soll- den Vorstellungen Grays müssten emotional labile
ten die Versuchspersonen aus vorgegebenen Ver- Personen gleichermaßen auf Belohnungs- und
ben beliebige Sätze bilden, die allerdings immer Bestrafungssignale sensitiver reagieren als emotio-
mit einem von fünf Pronomen (Ich, Wir, Er, Sie, nal stabile Individuen; c Abb. 8.6, mittlere Spalte).
Du) anfangen mussten, welches sich die Versuchs- Ebenfalls anders als die Theorie dies vorhersagen
person jeweils frei auswählen durften. In einer würde, zeigten die introvertierten und extraver-
Belohnungsbedingung gab die Versuchsleiterin tierten Personen keine Leistungsunterschiede in
nach allen Sätzen, die mit »Ich« oder »Wir« der Belohnungsbedingung.
begannen, die verbale Rückmeldung »gut«. In
einer Bestrafungsbedingung kommentierte die
2
Versuchsleiterin hingegen alle Sätze, die mit N+ N–
»Ich« oder »Wir« begannen, mit dem Wort
»schlecht«. Bei den letzten 20 Sätzen erfolgte 1,6
keine verbale Rückmeldung. Die Anzahl dieser Genauigkeit
letzten Sätze, die mit »Ich« oder »Wir« gebildet 1,2
wurden, erfasste schließlich die Lernleistung in
dieser verbalen Konditionierungsaufgabe. Bei
extravertierten Personen führte die verbale Beloh- 0,8
nung zu einer wesentlich häufigeren Verwendung
der Pronomen »Ich« und »Wir« als bei Introver- 0,4
tierten. Umgekehrt führte die verbale Bestrafung
bei den Introvertierten zu einem substantiell selte-
neren Gebrauch der beiden Pronomen als bei den 0
Belohnung Bestrafung
Extravertierten. Da Extravertierte eine größere
Belohnungssensitivität und Introvertierte eine grö-
Abb. 8.7: Genauigkeit beim Korrekturlesen in
ßere Bestrafungssensitivität aufweisen sollen
(c Abb. 8.6, mittlere Zeile), kann dieser Befund Abhängigkeit von der Persönlichkeit
als ein Beleg für die Gray’sche Theorie interpretiert (Nþ ¼ Neurotizismus vs. N ¼ emotio-
werden. nale Stabilität) und der Verstärkung
In einer Studie von Gallagher und Hall (1991) (Belohnung vs. Bestrafung; nach Gal-
wurde den Versuchspersonen ein Text vorgelegt, lagher & Hall, 1991).
der Rechtschreibfehler enthielt. Ihre Aufgabe be-
stand darin, in einer kurzen Zeit möglichst viele
dieser Fehler zu entdecken. In einer Belohnungs- Neuere Untersuchungen zur RST zielten auf
bedingung wurde den Probanden ein Geldbetrag Leistungsunterschiede bei Belohnung und
von einem Dollar versprochen, falls sie eine be- Bestrafung in Abhängigkeit von der Ängst-
stimmte Mindestanzahl von Fehlern finden wür-
den. In einer Bestrafungsbedingung wurde den
lichkeit und der Impulsivität der Versuchs-
Versuchspersonen hingegen zu Beginn des Experi- personen. Beispielhaft seien hierbei die Stu-
mentes ein Dollar ausgehändigt und angekündigt, dien von Pickering, Diaz und Gray (1995)
dass sie das Geld verlieren würden, falls sie nicht sowie von Corr, Pickering und Gray (1997)
diese Mindestanzahl von Fehlern entdeckten. Als genannt. Auch diese Untersuchungen er-
abhängige Leistungsvariable wurde nach Beendi-
gung des Experiments die Genauigkeit der Fehler- brachten Befunde, die zumindest teilweise
entdeckung jedes Probanden bestimmt. Die Vor- mit den Vorhersagen aus der RST überein-
hersagen zu dieser Untersuchung lassen sich direkt stimmen. Ein generelles Problem solcher
aus Abbildung 8.6 ableiten, ein Teil der Ergebnisse Studien besteht allerdings darin, das die
ist in Abbildung 8.7 dargestellt. In Übereinstim-
mung mit der Theorie entfalteten die emotional
Effekte einer BIS-Aktivierung auf die Leis-
labilen Versuchspersonen (also Personen mit ho- tungsmaße nur vage vorhersagbar sind. So
hen Werten in N) in der Bestrafungsbedingung argumentieren beispielsweise Corr et al.
330
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
(1997) einerseits, dass eine BIS-Aktivierung In einer Untersuchung von Larsen und Keta-
eine verbesserte Informationsverarbeitung laar (1991) wurde hierfür eine Imaginations-
nach sich ziehen sollte, so dass eine Ankün- prozedur verwendet. Die Versuchspersonen
digung von Bestrafung bei BIS-reaktiven erhielten kurze Beschreibungen von unter-
Personen zu einer verbesserten Leistung füh- schiedlichen »Alltagsszenarien«, die einen
ren müsste (dies könnte als die Standardvor- positiven, negativen oder neutralen Gefühls-
hersage angesehen werden). Umgekehrt ver- zustand auslösen können. Aufgabe der Ver-
treten Pickering et al. (1995) den Stand- suchspersonen war es jeweils, sich diese
punkt, dass eine Ankündigung von Bestra- Situationen möglichst realitätsgetreu vorzu-
fung zu einer Inhibition des Verhaltens stellen und dabei alle Gedanken und Gefühle
führen kann, was sich u.U. in verlängerten zu generieren, die in dieser Situation natür-
Reaktionszeiten und somit einer verschlech- licherweise auftreten. So mussten sich die
terten Leistung bei BIS-Reaktiven äußern Probanden beispielsweise in einem Szenario
sollte. Da sich anscheinend aus der RST vorstellen, dass sie in der Lotterie 50 000,–
sowohl eine Leistungsverbesserung als auch US-Dollar gewinnen und anschließend eine
eine Leistungsverschlechterung bei BIS-reak- Urlaubsreise nach Hawaii unternehmen wür-
tiven Personen unter Bestrafungsbedingun- den. Mit diesem Szenario sollten angenehme
gen vorhersagen lassen, stellt sich die Frage, Emotionen induziert werden. In einem ande-
inwieweit die RST überhaupt durch solche ren Szenario sollten sich die Versuchsperso-
Belohnungs- und Bestrafungsexperimente nen vorstellen, dass sie unter peinlichen
empirisch überprüfbar ist. Dieses Problem Umständen vom Unterricht ausgeschlossen
lässt sich allerdings in Untersuchungen um- werden und anschließend erfahren, dass ein
gehen, in denen überhaupt kein offenes naher Freund an einer schmerzhaften und
Verhalten der Versuchspersonen registriert unheilbaren Krankheit verstorben ist. Diese
wird, sondern das subjektive Erleben der Situation sollte zu einem Erleben von nega-
Probanden die abhängige Variable darstellt. tiven Emotionen führen. Die Intensität der so
Solche Studien werden im folgenden Ab- angeregten Emotionen wurde anschließend
schnitt besprochen. mit Hilfe von Stimmungs-Ratings erfasst.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind in
Abbildung 8.8 dargestellt. Extravertierte be-
Emotionsstudien richteten einen intensiveren positiven Affekt
nach der Induktion von positiven Emotionen
Nach der RST geht eine Aktivierung des BIS als Introvertierte. Umgekehrt zeigte sich bei
mit dem Erleben von negativen Emotionen den emotional Labilen ein intensiverer nega-
und im Besonderen mit einem Gefühl der tiver Affekt nach der Induktion von negati-
Angst einher, während eine Aktivierung des ven Emotionen als bei den emotional Stabi-
BAS zu einem Erleben von positiven Emo- len. Dieser Befund steht in guter Überein-
tionen führen soll. Dementsprechend sollten stimmung mit der RST, da er nahelegt, dass
BIS-reaktive Personen besonders negative Personen mit besonders reaktivem BAS auch
Emotionen mit größerer Eindringlichkeit entsprechend sensibel für Auslöser von posi-
erleben, während BAS-reaktive Individuen tiven Emotionen sind, während Individuen
durch ein besonders intensives Erleben von mit ausgesprochener BIS-Reaktivität entspre-
positiven Emotionen gekennzeichnet sein chend sensibel für Auslöser von negativen
sollten. Diese Vorhersagen wurden in einigen Emotionen sind. Eine erfolgreiche Replika-
experimentellen Studien überprüft, in denen tion dieses Befundes wurde von Rusting und
Emotionen auf unterschiedliche Weise indu- Larsen vorgelegt (Rusting & Larsen, 1997,
ziert wurden. 1999).
331
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
12 12
Extravertierte Emotional Labile
Introvertierte Emotional Stabile
10 10
8 8
6 6
4 4
negativ neutral positiv negativ neutral positiv
Stimmungsinduktion Stimmungsinduktion
Abb. 8.8: Mittlerer positiver (links) und negativer (rechts) Affekt in Abhängigkeit von einer Stim-
mungsinduktion (negativ, neutral, positiv) und der Persönlichkeit (links: Extraversion/Intro-
version; rechts: Neurotizismus) (nach Larsen & Ketalaar, 1991).
Ein anderer, nichtexperimenteller Zugang exakt der gleichen Größe (r ¼ 0,58). Auch
zur Überprüfung der Vorhersagen über den dieser Befund entspricht den Erwartungen
Zusammenhang zwischen BIS-/BAS-Reakti- der RST.
vität und Affektivität bieten jene Studien, bei Eine Übersicht über weitere Korrelations-
denen die Emotionalität der Versuchsperso- studien diesen Zuschnitts mit ähnlichen Er-
nen durch Fragebogen erfasst wurde (auch gebnissen bieten Matthews und Gilliland
wenn eine Überprüfung der RST nicht das (1999), wobei allerdings die fraglichen Zu-
Ziel der Untersuchung war). In einer solchen sammenhänge meist etwas geringer ausfal-
Studie haben Watson und Clark (1992) in len.
vier unterschiedlichen Stichproben E/I und N Zusammenfassend liefern die Befunde aus
mit je unterschiedlichen Fragebogen wie den Emotionsstudien ein erfreulich konsistentes
Goldberg-Skalen (McCrae & Costa, 1985), Bild: Extravertierte sind die emotional positiv
dem NEO-PI (Costa & McCrae, 1989) sowie Reaktiven, während emotional Labile die
dem NEO-FFI (Costa & McCrae, 1989) negativ reaktiven Personen sind. Dies stimmt
bestimmt. Die Affektivität der Versuchsper- mit den Vorhersagen der RST gut überein.
sonen wurde mit den PANAS-Skalen (»Posi-
tive and Negative Affect Schedule«, Watson
et al., 1988). Psychophysiologische Untersuchungen
Gemessen, welche aus je einer Skala für
den dispositionellen Positiven sowie den Wie bei der bisherigen Darstellung der Be-
Negativen Affekt bestehen (s. Abschn. 8.4). fundlage zur Gray’schen Theorie deutlich
Eine Korrelationsanalyse der Daten zeigte geworden ist, erfordert die empirische Über-
konsistent über alle Stichproben hinweg prüfung einer genuin biopsychologischen
positive Zusammenhänge zwischen Extra- Theorie wie der RST keinesfalls ein physio-
version und Positivem Affekt (mit einer logisches Labor; bereits die Werkzeuge einer
gewichteten mittleren Korrelation von r ¼ behavioralen Psychologie gestatten die Über-
0,58) sowie positive Beziehungen zwischen prüfung von Vorhersagen, die sich aus dieser
Neurotizismus und Negativem Affekt in Theorie ableiten lassen. Allerdings hat es sich
332
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Amplitude (µV)
Registrierung von offenem Verhalten (wie in
12
Lern- und Leistungsaufgaben) noch durch
333
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
keitsvariablen, aber keiner dieser Effekte ent- (2004) fortgeführt. Basierend auf einer Fülle
sprach den Erwartungen der RST, so wie sie aus von neueren tierexperimentellen Daten be-
Abbildung 8.6 abgeleitet werden können.
treffen die wesentlichen Grundannahmen
der revidierten Theorie die Inputs und Out-
Eine Reihe weiterer psychophysiologischer puts der drei Systeme BIS, BAS und FFFS;
Untersuchungen mit unterschiedlichsten diese Postulate sind schematisch in Abbil-
zentralen und peripheren Aktivitätsmaßen dung 8.10 dargestellt.
(wie dem spontanen Ruhe-EEG, der Herzrate In der revidierten Theorie aktivieren Be-
oder der elektrodermalen Aktivität) konnte strafung und Belohnung zwei komplemen-
leider auch keine konsistenten Stützen für die täre Systeme, nämlich das FFFS und das BAS.
RST erbringen. So kommen Matthews und Dabei reagiert das »Fight-Flight-Freezing
Gilliland (1999) in ihrer Übersichtsarbeit zu System« (FFFS) auf alle Formen von aversi-
der Schlussfolgerung, dass der psychophy- ver Stimulation (also sowohl auf konditio-
siologische Ansatz insgesamt eher die Ey- nierte als auch unkonditionierte Hinweis-
senck’sche Theorie als die RST unterstützt. reize für Bestrafung), wobei eine Aktivierung
des FFFS zu einer behavioralen Vermeidung
des aktivierenden Reizes führt. Umgekehrt
8.2.5 Revision der Theorie reagiert das »Behavioral Approach System«
(BAS) auf alle Formen von appetitiver Stimu-
Lässt man die hier skizzierte Befundlage zur lation (also sowohl auf konditionierte als
RST Revue passieren, so ist offensichtlich, auch unkonditionierte Hinweisreize für Be-
dass die Ergebnisse der unterschiedlichen lohnung); hier führt eine Aktivierung des
Studien nicht immer eine gute Passung zur Systems zu einer behavioralen Annäherung
Theorie aufweisen. Diese Schwierigkeit wur- an den aktivierenden Reiz. Schließlich akti-
de auch von der Gray’schen Arbeitsgruppe vieren Reize und Situationen von großer
erkannt (Pickering et al., 1997), wobei neben Neuheit das FFFS und das BAS simultan.
den häufig in der Literatur anzutreffenden Das »Behavioral Inhibition System« (BIS)
Post-hoc-Interpretationen (mit denen einzel- lässt sich in der revidierten Theorie nicht
ne, den theoretischen Erwartungen nicht mehr durch aversive Reize direkt aktivieren.
entsprechende Ergebnisse »wegerklärt« wer- Vielmehr registriert das BIS die Aktivitäten
den sollen) auch die Operationalisierung von von FFFS und BAS, wobei das BIS die
BIS- und BAS-Reaktivität in Frage gestellt Aufgabe eines Detektors für Zielkonflikte
wurde. Wurden nämlich die Gray’schen Per- hat: Werden nämlich FFFS und BAS simultan
sönlichkeitsdimensionen innerhalb einzelner aktiviert, so kommt es zu einem Konflikt
Studien mit unterschiedlichen Fragebogen zwischen Vermeidungs- und Annäherungs-
gemessen (also z. B. mit Hilfe des EPQ und verhalten. Eine solche simultane Aktivierung
mit Hilfe von Ängstlichkeits- und Impulsivi- von FFFS und BAS führt dabei zu einer
tätsskalen), so zeigen sich theoriekonforme Aktivierung des BIS. Diese BIS-Aktivierung
Ergebnisse meist nur für eines der Maße, geht mit einem Zustand der Angst einher und
wobei das »erfolgreiche« Maß von Studie zu führt zu einer Hemmung des konfligierenden
Studie jeweils ein anderes ist. Als Ausweg aus Annäherungs- und Vermeidungsverhaltens.
diesem Dilemma forderten Pickering et al. Gleichzeitig initiiert das BIS eine Aufmerk-
(1997) eine Modifikation der RST. samkeitszuwendung auf die Umgebung, wel-
Eine solche Revision wurde von Gray und che nun nach weiteren Hinweisreizen für
McNaughton (2000) begonnen und von Gefahren abgesucht wird; zudem wird auch
Corr (2004) sowie McNaughton und Corr im Gedächtnis nach Informationen über die
334
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Bestrafung+
CS-Bestrafung+ F
AS-Bestrafung+
F +
Belohnung – Vermeidung
CS-Belohnung –
AS-Belohnung –
F –
S
+ Aufmerksamkeit
B 1. Untersuchung
Detektor
Konflikt-
AS-Bestrafung+ der Umgebung
Angst
+ = Neuheit
AS-Belohnung –
I 2. Abrufen von
Gedächtnisinhalten
S 3. Risikobewertung
+
Erregung
Bestrafung – –
CS-Bestrafung – B
AS-Bestrafung – Annäherung
Belohnung+ A
+
CS-Belohnung+
AS-Belohnung+
S
Abb. 8.10: Vereinfachte Darstellung der revidierten Belohnungssensitivitätsstheorie von Gray und
McNaughton (2000). Abkürzungen: Fight-Flight-Freezing System (FFFS), Behavioral Approach
System (BAS), Behavioral Inhibition System (BIS), konditionierter Hinweisreiz (CS), angebo-
rener Hinweisreiz (AS), Auftreten einer Belohnung (Belohnungþ), Ausbleiben einer Beloh-
nung (Belohnung), Auftreten einer Bestrafung (Bestrafungþ), Ausbleiben einer Bestrafung
(Bestrafung). Nach Gray und McNaughton (2000).
Gefahren der Situation gesucht. All diese Nþþ). Dabei ist nach Corr (2004) noch
Suchprozesse zielen auf die Entdeckung von offen, inwieweit FFFS und BIS im Persön-
affektiv negativen Informationen und führen lichkeitsbereich auf dieselben oder aber
zu einer erhöhten Salienz dieser Informatio- unterschiedliche Eigenschaften bezogen wer-
nen. Dabei erhöht sich schließlich die phy- den müssen (und falls ja, welche). Darüber
siologische Erregung, und es kommt zu einer hinaus vermutet Corr (2004), dass die Beloh-
Verschiebung der Verhaltenstendenzen in nungssensitivität eine Funktion des BAS ist
Richtung eines Vermeidungsverhaltens. und mit der emotional labilen und extraver-
Soweit es die Input-Output-Funktionen tierten Persönlichkeit (Eþþ/Nþ) assoziiert
der drei Systeme für appetitive und aversive sein könnte.
Reize betrifft, ist die neue RST klar formu- Abschließend kann festgehalten wer-
liert. Anders sieht es allerdings für die Ver- den, dass mit der neuen RST eine beacht-
knüpfung der drei Systeme mit der Persön- liche Integration von neurophysiologischen,
lichkeit aus; hier bietet Corr (2004) eher neurochemischen und behavioralen Daten
spekulative Hinweise. So vermutet er, dass vorgelegt wurde, die in der tierexperimentel-
Bestrafungssensitivität eine Funktion des len Forschung gesammelt wurden. Für eine
kombinierten FFFS und BIS ist und in Zu- Erklärung der menschlichen Persönlichkeit
sammenhang steht mit der emotional labi- muss sich diese neue Theorie allerdings erst
len und introvertierten Persönlichkeit (E/ noch bewähren.
335
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
J. A. Gray ging wie Eysenck von einer dreidimensionalen Persönlichkeitsstruktur aus, die
eine biologische Fundierung aufweisen sollte. Im Unterschied zu Eysenck gibt er spezifische
Auslösereize für die jeweils zugeordneten Hirnsysteme an: die Sensitivität für unbedingte
und bedingte Reize von Belohnung und Bestrafung bzw. Nichtbelohnung und Nichtbe-
strafung. Entsprechend wird Grays Theorie als »Verstärkersensitivitätstheorie« (Reinfor-
cement Sensitivity Theory, RST) bezeichnet. Auf biologischer Ebene wird ein septo-
hippocampales System der Verhaltenshemmung (Behavioral Inhibition System, BIS), ein
dopaminerges striatäres und accumbäres System der Verhaltensannäherung (Behavioral
Approach System, BAS) sowie ein System, das Teile des Hypothalamus und das zentrale
Höhlengrau umfasst und Kampf-Flucht-Erstarrung (Fight-Flight-Freezing, FFFS) auslöst,
angenommen. Tierforschung und die gezielte pharmakologische Veränderung von Hirn-
systemen, zum Beispiel durch die Gabe von Anxiolytika mit Wirkung auf das BIS, waren die
Untersuchungsmethoden zur Identifikation dieser Systeme. Auf der Persönlichkeitsebene
sollen diese Hirnsysteme mit Ängstlichkeit (BIS), Impulsivität (BAS) und Furcht (FFFS)
korrespondieren. Ängstlichkeit nach Gray entspricht einer Kombination von Neurotizis-
mus und Introversion sensu Eysenck, Impulsivität nach Gray einer Kombination von
Extraversion und geringem Neurotizismus. Ängstliche Personen zeichnen sich durch eine
hohe Sensitivität für Bestrafung aus, impulsive Personen durch eine hohe Sensitivität für
Belohnung. Aus Sicht von Gray kommen die Dimensionen Neurotizismus und Extraver-
sion nach Eysenck nicht mit den ausschlaggebenden biologischen Hirnsystemen zur
Deckung. Extraversion spiegelt die Balance zwischen BIS- und BAS-Reaktivität, Neuro-
tizismus die Summe der BIS- und BAS-Reaktivität wider (cAbb. 8.6).
Die Überprüfung der Theorie von Gray erfolgte auf verschiedenen Wegen, unter
Darbietung von Leistungs- und Lernaufgaben, in Emotionsstudien und psychophysiolo-
gischen Untersuchungen. Die Ergebnisse dieser Studien unterstützen nicht einhellig die
Graysche Theorie.
In einer Modifikation der RST haben Gray und McNaughton (2000) das FFFS und das
BAS als verhaltensmäßig komplementär (Vermeidung des aktivierenden Reizes bzw.
behaviorale Annäherung an den aktivierenden Reiz) sowie das BIS als Detektor für
Zielkonflikte bei simultaner Aktivierung von BAS und FFFS (Annäherungs-Vermeidungs-
konflikt) konzeptualisiert. Als Ergebnis steigt der Zustand der Angst, jegliches Verhalten
wird gehemmt, die Aufmerksamkeit wird auf die Umgebung gerichtet und im Gedächtnis
werden Informationen über die Gefahren der Situation gesucht. Das FFFS soll nun auf alle
Formen aversiver Stimulation, das BAS auf alle Formen von appetitiver Stimulation
reagieren (cAbb. 8.10).
Grays biologische Theorie der Persönlich- lung entfalten, auch wenn die spezifische
keit konnte eine weitreichende Ausstrah- Formulierung dieser Theorie Raum für
336
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Veränderungen ließ. Eine solche Modifika- einerseits Befunde aus der Faktorisierung von
tion bzw. Weiterentwicklung von zentralen Persönlichkeitsinventaren, wie sie von Ey-
Konzepten der Gray’schen Theorie wurde senck selbst wiederholt als Stütze des PEN-
von dem amerikanischen Psychiater C. Ro- Systems vorgebracht wurden (s. Abschn.
bert Cloninger vorgeschlagen. Genau wie 7.3). Andererseits verwies Cloninger darauf,
Gray postuliert er zunächst drei distinkte dass ebenfalls drei unabhängige Dimensio-
biologische Systeme als Grundlage der Per- nen extrahiert werden können, wenn Frage-
sönlichkeit, wobei diese Systeme auf Hin- bogen zur Messung der klassischen Persön-
weisreize für Neuheit, Gefahr und Beloh- lichkeitsstörungen faktorisiert werden
nung reagieren sollen und u. a. Annäher- (Flynn & McMahon, 1984).
ungs- und Vermeidungsverhalten initiieren. Genau wie Gray kritisierte Cloninger
Anders als Gray versucht Cloninger jedoch, allerdings an Eysencks PEN-System, dass
ein einheitliches System für die Beschrei- die Faktorenanalyse keine geeignete Metho-
bung und Erklärung von normalen Persön- de darstellt, um jene kausalen (bio-sozialen)
lichkeitsunterschieden und Persönlichkeits- Strukturen zu identifizieren, die den Persön-
störungen zu entwickeln, wobei die drei lichkeitsdimensionen zugrunde liegen. Viel-
grundlegenden biologischen Systeme beson- mehr müssten biologische Daten in die Ana-
ders durch ihre jeweiligen Neurotransmitter lyse mit einbezogen werden, um entspre-
bestimmt werden. Um seine deskriptive chend geeignete Rotationen der Faktoren zu
Zielsetzung weiterzuverfolgen, hat Clo- finden (s. Abschn. 8.2.1). Darüber hinaus
ninger in jüngerer Zeit weitere Persönlich- verwies Cloninger auf das Problem, dass die
keitsdimensionen in sein System aufgenom- Struktur von Verhaltensdaten (wie sie durch
men, die keine einfache biologische Grund- Faktorenanalysen »aufgedeckt« wird) nicht
lage mehr haben. Vielmehr handelt es sich notwendigerweise der Struktur der biogene-
hierbei um Dimensionen des Selbst, womit tischen (Teil-)Verursachung für solche Ver-
Cloninger einen Brückenschlag zur Selbst- haltensunterschiede entsprechen muss. Viel-
konzeptforschung vornimmt. Im Folgenden mehr sind solche Verhaltensunterschiede das
soll ein Schwerpunkt auf die biologisch phänotypische Resultat aus einer Interaktion
begründeten Persönlichkeitsmerkmale ge- zwischen genetischen und umweltbedingten
legt werden. Faktoren.
Mit seiner biosozialen Theorie der Per-
sönlichkeit versuchte Cloninger (1987), die-
8.3.1 Drei fundamentale sen beiden Problemen gerecht zu werden.
Hierfür synthetisierte er Daten aus Familien-
Persönlichkeitsmerkmale/
studien, längsschnittlichen Entwicklungsstu-
Hirnsysteme für Neuheit, dien und psychometrischen Studien der Per-
Gefahr und Belohnung sönlichkeit sowie Befunde aus neurophar-
makologischen und neuroanatomischen Stu-
Genau wie Gray akzeptierte Cloninger dien an Tier und Mensch. Mit seiner Theorie
(1987) die prinzipielle Gültigkeit eines tridi- schlägt Cloninger drei Hirnsysteme vor,
mensionalen Persönlichkeitsraumes, wie er denen drei genetisch unabhängige Dimensio-
vor allem durch Eysenck in dessen PEN- nen der Persönlichkeit zugrunde liegen und
System etabliert wurde, d. h., Cloninger hält die distinkte Reaktionen auf spezifische Reize
eine ökonomische Beschreibung der norma- vermitteln sollen. Diese drei Persönlichkeits-
len und gestörten Persönlichkeit durch drei merkmale werden von ihm als Novelty See-
orthogonale Dimensionen für angemes- king, Harm Avoidance und Reward Depen-
sen. Als Beleg für diese Annahme wertete er dence bezeichnet.
337
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
»Novelty Seeking« und das »Behavioral »Harm Avoidance« und das »Behavioral
Activation System« Inhibition System«
338
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
339
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
340
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
341
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
den Synapsen an Dopaminrezeptoren und ten Hennig et al. (2000) ihren Versuchsper-
entfaltet dort dieselbe Wirkung wie das kör- sonen Fenfluramin, welches als sogenannter
pereigene Dopamin (Apomorphin ist deshalb »Freisetzer« (engl. »releaser«) zu einer Erhö-
ein »Dopaminagonist«). Wenig später wur- hung von Serotonin in der Synapse führt, und
den Blutproben gewonnen und die Konzen- bestimmten anschließend die Veränderung
tration des Wachstumshormons bestimmt. der Prolaktinkonzentration im Blut ihrer
Da eine Stimulation von Dopaminrezeptoren Probanden (Prolaktin ist ein Hormon, das
allgemein zu einem Anstieg des Wachstums- u. a. bei Frauen den Menstruationszyklus
hormons führt, eignet sich dieses Hormon und beim Mann die Fruchtbarkeit mitsteu-
sehr gut für eine Bestimmung von interindi- ert). Aufgrund dieser Daten unterteilten die
viduellen Unterschieden in der Reagibilität Autoren ihre Stichprobe in eine Gruppe von
des dopaminergen Systems. Es zeigte sich, Personen, die auf die pharmakologische Sti-
dass Personen mit einer größeren Hormon- mulation mit einem Anstieg der Prolaktin-
antwort (also einem größeren Anstieg der konzentration reagierten, und eine Gruppe,
Hormonkonzentration infolge der Verabrei- die keine hormonelle Reaktion zeigte. Dabei
chung von Apomorphin) auch eine größere konnte letztere Gruppe durch eine durch-
Ausprägung von »Novelty Seeking« aufwie- schnittlich größere »Harm Avoidance« cha-
sen (r ¼ 0,47). Mit anderen Worten: Perso- rakterisiert werden als erstere: Personen mit
nen mit hoher Ausprägung von »Novelty ausgeprägter »Harm Avoidance« zeigten also
Seeking« waren durch ein reagibleres Dopa- eine nur schwache Prolaktinantwort und
minsystem charakterisiert. Dieser Befund damit eine nur geringe Reagibilität des sero-
stimmt mit Vorhersagen Cloningers (1986) tonergen Systems (c Abb. 8.11). Dies stimmt
überein, der ein ausgeprägtes »Novelty See- insofern mit den Vorhersagen von Cloninger
king« mit einer geringen basalen Dopamin- (1986) überein, als Personen mit hoher Aus-
aktivität in Verbindung brachte. Dabei kann prägung von HA eine erhöhte basale Seroto-
angenommen werden, dass eine solche ge- ninfreisetzung in den Synapsen haben soll-
ringe Grundrate dopaminerger Aktivität zu ten. Dabei führen diese anhaltend hohen
einer (kompensatorisch) erhöhten Anzahl Serotoninkonzentrationen zu einer Verringe-
von Dopaminrezeptoren in der Synapse führt rung der Anzahl der Serotoninrezeptoren
(engl. »upregulation«), welche sich dann in auf der postsynaptischen Membran (engl.
dieser Studie als größere Reagibilität des »downregulation«) und somit zu einer redu-
dopaminergen Systems auf die pharmakolo- zierten Sensitivität für serotonerge Stimula-
gische Stimulation äußern konnte. Ebenfalls tion. Ein Zusammenhang zwischen sero-
in Übereinstimmung mit den Erwartungen tonerger Reagibilität und den anderen beiden
konnte darüber hinaus kein Zusammenhang Dimensionen des TPQ konnte nicht beob-
zwischen Hormonantwort und »Harm Avoi- achtet werden.
dance« oder »Reward Dependence« beob-
achtet werden, was für eine gewisse Spezifität Bemerkungen
des Dopaminsystems für »Novelty Seeking«
spricht. Für eine Übersicht über weitere Schließlich wurde auch die biologische
Studien mit ähnlichen Befunden sei auf Hen- Grundlage von »Reward Dependence«ver-
ning und Netter (2005) verwiesen. einzelt mit dem Challenge-Test untersucht,
wie beispielsweise in einer Studie von Gerra
»Harm Avoidance« und Kollegen (2000). Dabei kann in der
Gesamtschau dieser und weiterer Studien
Auch zur »Harm Avoidance« liegen Befunde festgehalten werden, dass mit dieser Metho-
mit dem Challenge-Test vor. So verabreich- de einige Befunde erbracht werden konnten,
342
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
343
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
phismus bestimmt (wie z. B. das Vorliegen zeigte sich sowohl ein Zusammenhang zwi-
einer kurzen oder langen Form der Allele für schen dem Polymorphismus des D4-Rezep-
den oben beschriebenen Polymorphismus des tor-Gens und »Novelty Seeking« als auch ein
D4-Rezeptor-Gens). Anschließend wird der Zusammenhang zwischen dem Polymorphis-
Zusammenhang zwischen Polymorphismus mus des 5-HT2C-Rezeptor-Gens und »Re-
und Ausprägung auf einem oder mehreren ward Dependence«. Keiner der Polymorphis-
Faktoren des TPQ (oder anderer Persönlich- men konnte hingegen »Harm Avoidance«
keitsinventare) analysiert. erklären. Dieser Befund stimmt nur teilweise
In einer Übersichtsarbeit berichteten Rie- mit Cloningers Theorie überein, welche zwar
mann und Spinath (2005) über solche mole- eine Beziehung zwischen dopaminergem Sys-
kulargenetischen Untersuchungen. So er- tem und »Novelty Seeking« vorhersagen
brachte eine Reihe von Studien zum Polymor- würde, nicht aber einen Zusammenhang
phismus des D4-Rezeptor-Gens und »Novel- von serotonergem System und »Reward De-
ty Seeking« eher inkonsistente Befunde, pendence«. Zudem zeigte sich in dieser Stu-
wobei nur etwa die Hälfte der Studien einen die – anders als durch die Theorie vorherge-
theoriekonformen Zusammenhang nach- sagt – keine direkte Beziehung zwischen
weisen konnte. Noch enttäuschender ist Serotonin und »Harm Avoidance«.
die Befundlage für den Zusammenhang
zwischen einem Polymorphismus des Sero- Von besonderem Interesse an dieser Studie ist,
tonin-Transporter-Gens und »Harm Avoi- dass sie auch bedeutsame Interaktionen zwischen
den verschiedenen Polymorphismen und der Aus-
dance« (kurze Varianten des Allels gehen prägung der TPQ-Faktoren aufdecken konnte. So
mit einer verringerten Wiederaufnahme von ließen sich durch den soeben beschriebenen
Serotonin an der Synapse einher). Die Mehr- Haupteffekt des 5-HT2C-Rezeptor-Polymorphis-
zahl dieser Studien ließ nämlich keinen mus nur 4,2 Prozent der Varianz von »Reward
Zusammenhang zwischen einem Poly- Dependence« erklären. Wird dieser Zusammen-
hang aber nur für Personen mit der langen
morphismus dieses Gens und »Harm Avoi- Allelenform des D4-Rezeptor bestimmt, erhöht
dance« erkennen. Somit legen diese Studien sich die aufgeklärte Varianz für »Reward Depen-
nahe, dass die von Cloninger postulierte dence« auf 12,8 Prozent. Dieser Befund lässt also
Zuordnung von jeweils einem Transmitter- vermuten, dass die dopaminergen und serotoner-
gen Systeme interagieren und »Reward Depen-
system als Ursache für individuelle Unter- dence« nur dann vorhergesagt werden kann,
schiede in jeweils einem TPQ-Faktor wohl wenn beide Systeme gleichzeitig betrachtet wer-
eher skeptisch zu bewerten ist. Dabei kann den.
diese Eins-zu-Eins-Zuordnung in statisti-
scher Terminologie als eine Haupteffektshy- Eine konzeptuell ähnliche Untersuchung
pothese betrachtet werden. wurde später von Benjamin et al. (2000)
Als Alternative zu dieser Haupteffektshy- berichtet, in der ebenfalls bedeutsame Inter-
pothese vermuteten Ebstein et al. (1997), aktionen zwischen den Polymorphismen in
dass auch noch andere Gene (und somit auch dopaminergen und serotonergen Systemen
andere Transmittersysteme) jeden einzelnen auf die Ausprägung von »Novelty Seeking«
Faktor des TPQ beeinflussen könnten. Um nachgewiesen wurden. Auch wenn die Be-
diese Interaktionshypothese zu überprüfen, funde dieser letzteren Studie im Detail nicht
wurden die jeweiligen Polymorphismen für die Ergebnisse von Ebstein et al. (Ebstein
das D4-Rezeptor-Gen, das D3-Rezeptor- et al., 1996; Ebstein et al., 1997) replizieren
Gen – ein spezieller dopaminerger Rezeptor konnten, so legen diese Befunde doch nahe,
– sowie das 5-HT2C-Rezeptor-Gen – ein dass eine einfache Haupteffektshypothese
spezieller serotonerger Rezeptor – bestimmt (wie in Cloningers Theorie) der Komplexität
(Ebstein et al., 1996; Ebstein et al., 1997). Es von Gehirn und Persönlichkeit nicht ganz
344
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Cloninger ging ebenso wie Gray und Eysenck von drei distinkten biologischen Systemen als
Grundlage der Persönlichkeit aus; allerdings sollten auf diesen Dimensionen die normale wie
auch die gestörte Persönlichkeit abgebildet werden können. Cloninger schlägt drei Hirnsys-
teme vor, denen drei genetisch unabhängige Dimensionen der Persönlichkeit zugrunde liegen
und die distinkte Reaktionen auf spezifische Reize vermitteln sollen. Cloningers Theorie wird
als »biosoziale« Persönlichkeitstheorie bezeichnet, da nach Cloninger Verhalten in der
Wechselwirkung von genetischen und umweltbedingten Faktoren entsteht.
Das Persönlichkeitsmerkmal »Neuheitssuche« (Novelty Seeking, NS) vermittelt auf neue
Reize bzw. auf Hinweisreize für potentielle Belohnung Annäherungsverhalten, Vorfreude
und Erwartung sowie eine Anreizmotivation. Biologisch ist das System im Mittelhirn
lokalisiert und wird dopaminerg innerviert. Personen mit hohen Werten auf NS sind
345
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Eysenck, Gray und Cloninger postulierten gegen beschäftigten sich mit einzelnen Eigen-
jeweils einen tridimensionalen Persönlich- schaften und deren biologischer Erklärung,
keitsraum und versuchten, diesen mit ihren ohne sich für deren Einbettung in ein Ge-
biologischen Theorien zu erklären. Dabei ist samtsystem der Persönlichkeit zu interessie-
bemerkenswert, dass diese tridimensionalen ren. Ein wichtiges Beispiel für den letztge-
Beschreibungssysteme – wie z. B. das PEN- nannten Ansatz stellen die Forschungsbemü-
System – als mehr oder wenig vollständig hungen zur Hemisphärenasymmetrie und
betrachtet wurden. Dementsprechend versu- Emotionalität dar, die in den letzten Jahr-
chen die einzelnen Theorien also, die Ge- zehnten maßgeblich durch den in Harvard
samtpersönlichkeit auf biologische Gegeben- ausgebildeten amerikanischen Psychologen
heiten zurückzuführen. Andere Forscher hin- Richard J. Davidson geprägt wurden.
346
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
347
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
einem angenehmen emotionalen Reiz ausge- einige Minuten von der EEG-Messung ge-
setzt, so reagiert besonders die Person mit der trennt ist, wird dann der Affektive Stil der
linksfrontalen Asymmetrie auf diesen Stimu- Probanden bestimmt, wobei hier sehr ver-
lus. Umgekehrt wird nach diesem Modell die schiedene Messprozeduren verwendet wer-
Person mit der rechtsfrontalen Asymmetrie den.
entsprechend stärker auf einen negativ-va- So wurde beispielsweise in einigen Studien
lenten Umweltreiz ansprechen. die Emotionalität einfach mit Fragebogen
Dieses Modell wurde in zahlreichen psy- erfasst, wobei der »Positive and Negative
chophysiologischen Studien überprüft, wo- Affect Schedule« (PANAS; Watson et al.,
bei der Versuchsplan typischerweise zwei 1988) besonders häufig Verwendung fand.
Untersuchungsteile aufweist. Zunächst wird Dieser Fragebogen misst die beiden orthogo-
in einer solchen Untersuchung die frontale nalen Dimensionen »Positiver Affekt« und
Asymmetrie gemessen, indem ein EEG in »Negativer Affekt«, wobei diese Stimmun-
einer Ruhebedingung abgeleitet wird. Dabei gen je nach Version des Fragebogens sowohl
sitzt die Versuchsperson auf einem bequemen als Zustand als auch als Eigenschaft erhoben
Stuhl und wird instruiert, sich bei geöffneten werden können. Als Indikator des Affektiven
oder geschlossenen Augen zu entspannen. Stils wird in diesem Forschungsbereich na-
Aus diesen Daten wird später die Alpha- türlich das Eigenschaftsformat verwendet
Aktivität als Maß für eine erniedrigte korti- (c Kasten 8.2). Dabei reflektiert Positiver
kale Aktivität bestimmt (Alpha-Aktivität Affekt das Ausmaß, in dem sich eine Person
und kortikale Aktivität stehen in einem in- enthusiastisch, aktiv und wach fühlt. Perso-
versen Verhältnis). Die frontale Asymmetrie nen mit ausgeprägtem Positiven Affekt sind
wird dann als Differenz der Alpha-Aktivität energisch, konzentriert und beschäftigen sich
bestimmt, wie sie über dem linken und mit angenehmen Dingen, während eine nied-
rechten Frontallappen gemessen wurde. In rige Ausprägung des Positiven Affekts mit
einem zweiten Untersuchungsteil, der zeitlich Trauer und Lethargie einhergeht.
348
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
für NA auf ebenfalls zehn Begriffe verringert, wobei die Autoren besonders darauf achteten,
möglichst unterschiedliche Emotionen in dieser Skala beizubehalten.
Skalenbezeichnung und Items nach der deutschen Übertragung von Krohne et al. (1996):
PA (Positiver Affekt): aktiv, interessiert, freudig erregt, stark, angeregt, stolz, begeistert,
wach, entschlossen, aufmerksam.
NA (Negativer Affekt): bekümmert, verärgert, schuldig, erschrocken, feindselig, gereizt,
beschämt, nervös, durcheinander, ängstlich.
Beim Ausfüllen des PANAS schätzen die Probanden für jedes dieser zehn positiven und
zehn negativen Emotionsadjektive die Intensität des eigenen Affektes auf fünfstufigen
Skalen ein. Die Abstufungen dieser Skalen lauten gar nicht (1) – ein bisschen (2) –
einigermaßen (3) – erheblich (4) – äußerst (5). Die insgesamt 20 Items können mit
unterschiedlichen Instruktionen vorgelegt werden, um PA und NA für verschiedene
Zeitrahmen zu messen. Die Instruktionen sind folgendermaßen formuliert: »Wie fühlen Sie
sich im Moment? – Wie haben Sie sich heute gefühlt? – … in den letzten Tagen … – … in den
letzten Wochen … – … im letzten Jahr … – Wie fühlen Sie sich im Allgemeinen?« Dabei soll
mit der ersten Formulierung der emotionale Zustand gemessen und mit der letzten
Formulierung die emotionalen Dispositionen erfasst werden.
Im Gegensatz dazu ist Negativer Affekt eine heiten im Abstand von drei Wochen ein Ruhe-EEG
breite Dimension für subjektiv erlebten Stress abgeleitet und jeweils die frontale Asymmetrie
bestimmt. Nach Erhebung der EEG-Daten füllten
und beinhaltet unterschiedlichste aversive die Probanden in der ersten Messgelegenheit meh-
Stimmungen wie Ärger, Verachtung, Ekel, rere Fragebogen aus, so auch den PANAS. In der
Schuld, Angst und Nervosität. Personen mit zweiten Messgelegenheit wurden den Probanden
einer geringen Ausprägung auf dieser Di- im Anschluss an die Messung des EEG kurze
Ausschnitte aus kommerziellen Kinofilmen prä-
mension sind ruhig und gelassen. Eine deut- sentiert, mit denen bestimmte Emotionen ausge-
sche Version der PANAS wurde von Krohne löst werden sollten (wie beispielsweise Freude,
et al. (1996) vorgelegt. Furcht und Ekel evozierende Szenen). Unmittelbar
In anderen Studien wurde die »affektive nach der Präsentation jedes Filmausschnitts muss-
Reagibilität« erfasst, wobei die Versuchsteil- ten die Probanden auf Ratingskalen angeben, wie
intensiv bestimmte Emotionen (wie z. B. Freude,
nehmer eine experimentelle Prozedur durch- Trauer, Ärger, Ekel, Furcht) während der Film-
liefen, in der verschiedene Emotionen indu- präsentation erlebt wurden.
ziert und anschließend die Intensitäten der Tomarken et al. (1992) berichteten die mit dem
ausgelösten Emotionen gemessen wurden PANAS gewonnenen Ergebnisse. Für die Daten-
analyse wurden jene Probanden ausgewählt, die in
(über die Validität einer solchen Messproze- beiden Messgelegenheiten entweder eine extreme
dur berichteten z. B. Hagemann, Naumann, linksfrontale Asymmetrie der kortikalen Ruheak-
Maier et al., 1999). Diese Vorgehensweise tivität aufwiesen oder eine extreme rechtsfrontale
berücksichtigt besonders die Diathese-Stress- Asymmetrie. Personen mit einer linksfrontalen
Konzeption des Modells, die ja die affektiven Ruhe-Asymmetrie berichteten einen signifikant
erhöhten Positiven Affekt im Vergleich zu Perso-
Reaktionen auf entsprechende Umweltreize nen mit einer rechtsfrontalen Asymmetrie, wäh-
betont. Im Folgenden werden einige Beispiel- rend ein solcher Gruppenunterschied allerdings
studien die Anwendung dieser Verfahren für den Negativen Affekt nicht signifikant war.
illustrieren. Abbildung 8.12 verdeutlicht das Ergebnis. Ergän-
zend berichteten Wheeler et al. (1993) die Ergeb-
nisse für die Filmdaten. Wurden jene Probanden
In einer vielzitierten Untersuchung aus der Ar- für die Datenanalyse ausgewählt, die zu beiden
beitsgruppe von Davidson (Tomarken et al., 1992; Messgelegenheiten eine ähnliche frontale Asym-
Wheeler et al., 1993) wurde in zwei Messgelegen- metrie aufwiesen und die als »stabile« Versuchs-
349
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
personen bezeichnet wurden, so zeigten sich signi- Probleme des EEG als potentielle Störfakto-
fikante Zusammenhänge zwischen der frontalen ren untersucht (Hagemann, 2004; Hage-
Asymmetrie und affektiver Reagibilität. Personen
mit größerer linksseitiger kortikaler Ruheaktivität
mann & Naumann, 2001; Hagemann et al.,
über den Frontallappen berichteten intensivere 2001). Dabei konnte besonders mit State-
positive Emotionen nach der Präsentation der Trait-Modellen nachgewiesen werden, dass
positiv-valenten Filme (r ¼ 0,45), während Perso- nur ca. 60 % der Varianz der Asymmetrie-
nen mit einer größeren rechtsseitigen frontalen maße auf individuelle Unterschiede in einer
Aktivität über intensivere negative Emotionen
nach der Präsentation der negativen Filme berich- latenten Eigenschaft zurückgeführt werden
teten (r ¼ 0,48). können (Hagemann et al., 2005a; Hagemann
et al., 2002; zur Methode der State-Trait-
linksfrontale Personen
Modelle s. Abschn. 2.2.2). Folglich emp-
40
fiehlt sich eine Aggregation der Daten über
rechtsfrontale Personen
mehrere Messzeitpunkte, um replizierbare
Zusammenhänge zwischen Asymmetrie und
30
Emotionalität zu erzielen (s. Kap. 12.2). An-
dererseits wird seit einigen Jahren auch kon-
zeptuelle Kritik am Modell der frontalen
20 Asymmetrie und Emotion geäußert; die aus
dieser Kritik hervorgegangene Modellrevi-
sion wird im folgenden Abschnitt dargestellt.
10
PA NA
350
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
dere Ärger, die diesem Zuordnungsschema tionale Valenz, sondern für die motivationale
nicht entsprechen. Schließlich kann Ärger als Tendenz. Wäre nämlich die emotionale Va-
negativ-valente Emotion aufgefasst werden, lenz im Sinne des Modells der frontalen
die in aller Regel mit einer (aggressiven) Asymmetrie und Emotion von Davidson
Tendenz zur Annäherung an das Ärgernis (1992) gültig, so müsste sich ein positiver
verbunden ist (auch wenn dieser Tendenz Zusammenhang zwischen relativ rechtsseiti-
nicht immer nachgegeben wird). Aufgrund ger frontaler Asymmetrie und (negativ-va-
dieser Überlegung schließen die beiden Auto- lentem) Ärger zeigen. Der empirische Zu-
ren, dass in den meisten Studien zur frontalen sammenhang verlief hingegen in die umge-
Asymmetrie bei der Operationalisierung des kehrte Richtung und lässt vermuten, dass es
affektiven Stils die emotionale Valenz mit der die mit Ärger verbundenen Annäherungsten-
motivationalen Tendenz konfundiert wurde. denzen sind, die sich hier abbilden.
Falls nun die frontale Asymmetrie gar kein Aufgrund dieses Ergebnisses präzisierten
Substrat für die emotionale Valenz wäre, Harmon-Jones und Allen (1998) das Modell
sondern tatsächlich nur eine biologische der frontalen Asymmetrie und Emotion:
Basis der motivationalen Tendenz darstellte, Nach wie vor gehen sie davon aus, dass der
könnte diese Konfundierung die Wider- linke Frontallappen Teil eines Systems für
sprüchlichkeit der Befundlage erklären. Annäherungsverhalten ist und der rechte
Frontallappen Teil eines Systems für Rück-
Um dies zu überprüfen, führten Harmon-Jones zugsverhalten. Dementsprechend disponie-
und Allen (1998) eine Studie durch. Den Proban- ren tonische Aktivitätsunterschiede in diesen
den wurde in einer Messgelegenheit ein Ruhe-EEG
abgeleitet und anschließend eine Fragebogenbat- beiden Systemen für eine größere Annähe-
terie vorgelegt. Diese enthielt neben dem PANAS rungstendenz (im Falle einer linksseitig grö-
auch einen Aggressionsfragebogen von Buss und ßeren Ruheaktivität) oder für eine ausge-
Perry (1992), der unter anderem auch eine Skala prägtere Rückzugstendenz (bei einer rechts-
für den erlebten Ärger beinhaltet. Eine Analyse
der Daten zeigte auf, dass die frontale Asymme-
seitig größeren Aktivität). In diesem Sinne
trie weder mit PA noch mit NA signifikant korre- spiegelt die frontale Asymmetrie die motiva-
lierte, jedoch einen signifikanten Zusammenhang tionalen Tendenzen einer Person wider (im
mit Ärger zeigte (r ¼ 0,48): Je größer die relativ Sinne einer Annäherungsdisposition und ei-
linksseitige frontale kortikale Ruheaktivität einer ner Rückzugsdisposition). Die emotionale
Person war, desto ausgeprägter war auch ihre
Ärgerdisposition. Valenz hingegen spielt bei dieser Formulie-
rung keine Rolle mehr. Deshalb könnte diese
Die Autoren sahen mit diesem Befund ihre Hypothese als ein »Modell der frontalen
Hypothese bestätigt: Die frontale Asymme- Asymmetrie und motivationalen Tendenz«
trie ist kein biologisches Substrat für emo- bezeichnet werden.
Andere als die bisher besprochenen biopsychologischen Modelle von Eysenck, Gray oder
Cloninger verfolgten nicht das Ziel, die Gesamtpersönlichkeit, zum Beispiel in einem
dreidimensionalen Raum, zu erklären. Stattdessen untersuchten sie einzelne Verhaltens-
bzw. Emotionssysteme und ihre biologische Fundierung. R. J. Davidson postulierte zwei
separate Hirnsysteme, die gegenläufige motivationale Verhaltenstendenzen hervorbringen.
Der linke Frontalkortex soll die Annäherung des Organismus an ein erwünschtes Ziel
motivieren; damit gehen positiv-valente Emotionen einher. Der rechte Frontalkortex soll
351
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
den Rückzug des Organismus von einer Gefahrenquelle motivieren; damit gehen negativ-
valente Emotionen einher. Die motivationalen Verhaltenstendenzen sind Dispositionen mit
interindividuellen Unterschieden in ihren basalen Ansprechbarkeiten. Eine Dominanz der
Annäherungsmotivation gegenüber der Rückzugsmotivation müsste mit einer relativen
linksfrontalen Hemisphärenasymmetrie, eine Dominanz der Rückzugsmotivation gegen-
über der Annäherungsmotivation mit einer relativen rechtsfrontalen Hemisphärenasym-
metrie einhergehen. Das Ausmaß dieser Asymmetrie kann in einer Standardprozedur
mithilfe des EEG gemessen werden. Untersuchungen zur Gültigkeit dieses Modells
verwendeten korrelative und experimentelle Ansätze. Ein korrelativer Ansatz besteht
darin, dass die vorherrschende Emotionalität (affektiver Stil) per Fragebogen erfasst und
mit Asymmetriemaßen aus dem EEG korreliert wird. Als Fragebogen wurde hierzu häufig
die PANAS (»Positive and Negative Affect Schedule«) verwendet. Ein anderer korrelativer
Ansatz verwendet statt eines habituellen Affekt-Fragebogens die Befindlichkeitsmessung im
Zuge einer Emotionsinduktion. Mit diesen Ansätzen wurden teilweise bestätigende, aber
auch nicht-bestätigende Ergebnisse erzielt.
Die enge Koppelung von Positiver Affektivität an das linksfrontale Hirnsystem und von
Negativer Affektivität an das rechtsfrontale Hirnsystem in dem Modell von Davidson rief
Kritik auf den Plan. So führt die Emotion Ärger (negativ-valent) häufig zur Annäherung an
das Ärgernis. In dem Modell der frontalen Hemisphärenasymmetrie nach Harmon-Jones
wird dementsprechend die Richtung der Verhaltenstendenz und nicht die der begleitenden
affektiven Valenz als zentral angesehen. Hierzu liegen, insbesondere im Kontext der
Emotion Ärger, vielfältige bestätigende Befunde vor.
In den 1960er Jahren beschäftigte sich Zu- zept deshalb »Sensation Seeking« und nicht
ckerman mit der Erforschung interindividu- »Stimulation Seeking«, weil es die Sinnesein-
eller Unterschiede in der Reaktion auf senso- drücke (sensations), also die Effekte von
rische Deprivation (Zuckerman, 1979, 1994, Stimulationen sind, die positiven Verstär-
2004b, a; zusammenfassend Möller & Hu- kungswert für das Individuum haben, und
ber, 2003). Der theoretische Ausgangspunkt nicht die Stimulationen selber, und weil
für diese Studien war – ähnlich wie Eysencks dieser Verstärkungswert zu einem Groß-
Konzept der Abhängigkeit eines optimalen teil von der Komplexität, Ungewöhnlich-
hedonischen Tonus von einem bestimmten keit oder Neuheit der Stimulation abhängt.
Arousal-Niveau (c Abb. 8.1) – die Vorstel- Die Persönlichkeitseigenschaft »Reizsuche«
lung, dass es systematische interindividuelle (»Sensation Seeking«) bezieht sich demnach
Unterschiede im Bedürfnis nach Stimulation auf die Tendenz, neue, verschiedenartige,
gibt, die notwendig ist, um sich wohl zu komplexe und intensive Eindrücke zu be-
fühlen (hedonischer Tonus), so dass Personen kommen oder Erfahrungen zu machen und
unterschiedlich stark nach solcher Stimula- dafür auch Risiken in Kauf zu nehmen
tion suchen. Zuckerman nannte sein Kon- (Zuckerman, 1994, 1979).
352
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Tab. 8.1: Verhaltensunterschiede von Personen mit einer starken oder schwachen Ausprägung von
Sensation Seeking.
niedrig hoch
Berufe bevorzugt Berufe mit vorher- bevorzugt Berufe mit Abwechslung und
sagbaren Anforderungen; Herausforderungen;
Frauen ergreifen lieber kon- Frauen ergreifen gerne Männerberufe
ventionelle Frauenberufe
353
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Tab. 8.1: Verhaltensunterschiede von Personen mit einer starken oder schwachen Ausprägung von
Sensation Seeking. – Fortsetzung
niedrig hoch
Sozialverhalten zu nahe und zu lange Sozial- suchen Sozialkontakte, sind offen, domi-
kontakte werden als unange- nant, erwarten Offenheit
nehm erlebt
Sexualverhalten eher auf dauerhafte Partner- auch als Spiel ohne strenge Regeln betrie-
schaft gerichtet ben
Präferenzen für liebt die ruhige, spannungs- bevorzugt komplexe, abstrakte spannungs-
verschiedene Arten arme Kunst und Musik reiche Kunst und intensive (laute) Musik
von Kunst
Humor bevorzugt Witze, die auf der mag »Nonsens«-Witze und frivolen Humor
Auflösung von Missverständnis-
sen beruhen
354
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
0,98
Activity Activity
–0,55
1 0,81
N-Anxiety N-Anxiety N-Anxiety
0,58
N-Emotion
0,98 0,83
Agg-Host Agg-Host Agg-Host 0,81
P-USS 0,77
0,91 0,90
P-ImpUSS P-ImpUSS P-ImpUSS
Imp 0,63
Abb. 8.13: Eine Hierarchie von Faktorenlösungen für sechs, fünf, vier und drei Faktoren aus denselben
Ausgangsdaten mit Korrelationen der Faktorwerte zwischen den hierarchischen Ebenen.
Abkürzungen: N ¼ Neuroticism, Agg-Host ¼ Aggression-Hostility, Emotion ¼ Emotionality,
P-USS ¼ Psychoticism-Unsocialised Sensation Seeking, Imp ¼ Impulsivity, P-ImpUSS ¼
Psychoticism-Impulsive Unsocialised Sensation Seeking (nach Zuckerman et al., 1991).
355
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
P-Impulsive- Aggression-
Super Traits Extraversion unsocialised N-Emotionality
hostility
sensation seeking
Verhalten und
Reward expect. Disinhibition vs Punishment expect.
Kognitionen inhibition
GABA
Norepi, Epi
Neurotransmitter, Gonadal Serotonin
Dopamine
Enzyme und hormones BZ receptor
Hormone DBH agonists
MAO (and inverse
type B agonists)
genetische
Grundlagen
Abb. 8.14: Mehr-Ebenen-Theorie der Persönlichkeit (Zuckerman, 1991, S. 407). Abkürzungen: MAO ¼
Monoaminooxidase, DBH ¼ Dopamin-Beta-Hydroxylase, GABA ¼ Gamma-Amino-Butter-
säure, Norepi ¼ Norepinephrin, Epi ¼ Epinephrin, EP ¼ Evoziertes Potential im Elektroenze-
phalogramm (weitere Abkürzungen c Abb. 8.13).
Befunde liegen nicht zu allen Ebenen vor, zu (EEG) ereigniskorrelierte Potentiale extrahie-
anderen sind sie widersprüchlich, doch zeich- ren, die die Reaktion des zentralen Nerven-
nen sich bezüglich des »Sensation Seeking« systems auf diese Reize widerspiegeln
auch übereinstimmende Ergebnisse ab (s. (c Abb. 8.15).
dazu Brocke, 2004; Brocke et al., 2003; Die frühen Komponenten (P1, N1) variie-
Roberti, 2004; Brocke et al., 2004). ren systematisch mit der Reizstärke: Die
Potentialdifferenz zwischen P1 und N1 (P1-
N1-Amplitude) nimmt mit zunehmender
Die psychophysiologische Ebene: Reizintensität zu. Ab einer bestimmten Reiz-
»Augmenting-Reducing« stärke treten jedoch interindividuelle Unter-
schiede auf: Manche Personen (»Aug-
Es ist vor allem der Zusammenhang zwi- menter«) zeigen auch bei sehr intensiven
schen »Augmenting-Reducing« und »Sensa- Reizen einen weiteren Anstieg der P1-N1-
tion Seeking«, der gut belegt ist. »Augmen- Amplitude, während andere Personen (»Re-
ting-Reducing« wird wie folgt gemessen: ducer«) keinen weiteren Amplitudenzuwachs
Bei einer wiederholten Stimulation mit oder sogar einen Abfall zeigen (c Abb. 8.16).
identischen, kurzen Reizen lassen sich aus Der Reducing-Effekt wird als Schutzhem-
dem spontanen Elektroenzephalogramm mung des Zentralnervensystems (»cortical
356
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
µV
–10
N1 menting und »Sensation Seeking«, vor allem
der Dis-Skala, nachweisen konnten (Zucker-
–5 Zuckerman, 1984, 1994). Sensation Seeker
0
100 200 300 400 500 zeigen eher Augmenting, d. h., das zentrale
msec
Nervensystem reagiert auch auf sehr intensi-
P1
5 ve Reize nicht mit einer Schutzhemmung,
10
während Nicht-Sensation Seeker allzu inten-
P2
sive Stimulation nicht ertragen können und
Abb. 8.15: Gemitteltes Ereigniskorreliertes deshalb mit kortikalen Hemmungsprozessen
Potential (EKP) auf einen kurzen, reagieren.
wiederholt vorgegebenen Reiz. Die Brocke et al. (2003) wiesen in ihrer zusam-
Mittelung bewirkt, dass das spontane menfassenden Darstellung der Mehr-Ebenen-
EEG ausgemittelt wird und das EKP als Theorie zum Sensation Seeking darauf hin,
Reizantwort sichtbar wird (Beispiel
dass die Befundlage nicht ganz einheitlich sei,
entnommen aus Bartussek et al.,
1993). Hervorgehoben ist die P1-N1- dennoch spräche eine ganze Reihe von Ergeb-
Amplitude. nissen für einen Zusammenhang zwischen
»Augmenting-Reducing« (vor allem bei akus-
tischen Reizen) und zumindest einigen Skalen
des »Sensation Seeking«. Die Autoren zogen
20
aus ihrer integrativen Betrachtung den
P1-N1-Amplitude
Schluss, dass die individuellen Unterschiede
{
im »Augmenting-Reducing« durch das sero-
{
15 {
tonerge System moduliert würden: Aug-
menter würden danach eine niedrigere zen-
{
trale Serotoninaktivität aufweisen als Redu-
{ cer, was mit Zuckermans Annahme aus Ab-
10 bildung 8.14 (c Abb. 8.17) gut übereinstimmt.
1 2 4 8 16
Reizintensität
{
»disinhibition« niedrig (N = 14) Die neurochemische Ebene
»disinhibition« hoch (N = 14)
In seinen neueren Darstellungen ging
Abb. 8.16: Sensation Seeking (Disinhibition) und Zuckermann von der Repräsentation des
Augmenting-Reducing. Die Abhän- »Sensation Seeking«-Konzepts im alternati-
gigkeit der Veränderung der P1-N1- ven Fünf-Faktoren-Modell aus (s. Abschn.
Amplitude mit zunehmender Reizin-
tensität vom Persönlichkeitsmerkmal
7.4.2) und bezog sich auf den darin definier-
Disinhibition. Der monotone Zuwachs ten Faktor des »Psychoticism-Impulsive Un-
der P1-N1-Amplitude entspricht dem socialised Sensation Seeking«. Für diesen
Augmenting, die Abnahme der P1-N1- Faktor und für »Extraversion-Sociability«
Amplitude bei hohen Reizintensitäten sowie »Neuroticism-Anxiety« stellte er (Zu-
dem Reducing (nach Zuckerman,
ckerman, 1996) das in Abbildung 8.17 wie-
1994, S. 338).
dergegebene neurochemische Modell über
das Zusammenwirken der Neurotransmitter
inhibition«; c Abb. 8.14) gegen übermäßige Dopamin, Serotonin und Noradrenalin
Stimulation interpretiert. Zuckerman zitierte (Norepinephrin) auf.
Befunde, die einen deutlichen positiven Zu- Der Ausgangspunkt für die Entwicklung
sammenhang zwischen dem kortikalen Aug- dieser Theorie war die Entdeckung eines
357
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
+ –
+ + – +
– + –
Approach Inhibition Arousal
+ + + +
– –
Dopamin Serotonin Noradrenalin
– + – –
Geschlechts- –
MAO-B DBH GABA
hormone
Endorphine
358
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
(Sensation Seeking). Personen mit einer hohen Ausprägung auf Reizsuche weisen die
Tendenz auf, neue, verschiedenartige, komplexe und intensive Eindrücke zu bekommen
und dafür auch Risiken in Kauf zu nehmen. Die Erfassung von Reizsuche erfolgt durch
einen Fragebogen (Sensation Seeking Skalen), mit dem vier Teilaspekte erhoben werden:
Suche nach Spannung und Abenteuer, Suche nach neuen Eindrücken, Enthemmung und
Anfälligkeit für Langeweile. Auf der Verhaltensebene gibt es zahlreiche Validitätshinweise
für diesen Fragebogen. In dem alternativen Fünf-Faktoren-Modell von Zuckerman und
Kuhlman ist Reizsuche auf dem Faktor »Psychotizismus – impulsive unsozialisierte
Reizsuche« angeordnet und weist keine Zusammenhänge mit Neurotizismus-Emotionalität
oder Soziabilität auf.
Die biopsychologischen Grundlagen von Reizsuche (und der anderen großen Persön-
lichkeitsdimensionen) werden von Zuckerman in einer Mehr-Ebenen-Theorie angedeutet
(c Abb. 8.14). Ausgehend von den genetischen Grundlagen werden Neurotransmittersys-
teme, Enzyme und Hormone spezifiziert, deren Effekte psychophysiologisch, in Emotionen,
in Kognitionen und im Verhalten erkennbar sind. Auf der psychophysiologischen Ebene hat
in Bezug auf Reizsuche insbesondere die Untersuchung des »Augmenting-Reducing« Erfolg
gehabt. Dabei werden ereigniskorrelierte Potentiale aus dem EEG nach Präsentation
unterschiedlich intensiver Reize analysiert. Mit zunehmender Reizintensität wachsen die
Potentialamplituden zunächst an, um bei manchen Probanden weiter anzusteigen (Aug-
menting) und bei anderen Probanden wieder abzufallen (Reducing). Personen mit einer
stark ausgeprägten Disposition zu Reizsuche gehören zu den »Augmentern«, solche mit
geringer Reizsuche zu den »Reducern«. Auf der neurochemischen Ebene war insbesondere
der Befund einer negativen Korrelation zwischen Reizsuche und der Aktivität des
katabolischen Enzyms Monoaminooxidase (MAO) theoriekonform, weil der Neurotrans-
mitter Dopamin bei hohen Reizsuchern weniger stark abgebaut, also stärker und länger
verfügbar ist und eine höhere Aktivität des Annäherungssystems – und damit der Reizsu-
che – zur Folge hat.
Die in diesem Kapitel besprochenen biopsy- men als Ursache von Persönlichkeitsunter-
chologischen Persönlichkeitstheorien weisen schieden angenommen wird. Die Theorien
sowohl Unterschiede als auch Gemeinsam- unterscheiden sich hingegen klar bezüglich
keiten auf. Anzahl und Definition der als biologisch
Wichtige Gemeinsamkeiten bestehen dar- relevant erachteten Persönlichkeitsdimensio-
in, dass alle Theorien einen multidimensio- nen, sie postulieren jeweils unterschiedliche
nalen Persönlichkeitsraum durch neurophy- neuroanatomisch oder neurochemisch defi-
siologische Gegebenheiten zu erklären ver- nierte Hirnsysteme als Basis der Persönlich-
suchen, wobei jeweils die Reiz-Reaktions- keitsfaktoren, und sie benennen unterschied-
Charakteristik von bestimmten Hirnsyste- liche Reiztypen als relevanten Input der je-
359
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
weiligen neuralen Systeme. Die folgende lierte anatomische oder physiologische Basis
Gegenüberstellung soll diese Gemeinsamkei- der einzelnen Persönlichkeitsmerkmale. Ey-
ten und Unterschiede näher beleuchten. senck führte die Extraversion auf die Emp-
findlichkeit des Aufsteigenden Retikulä-
ren Aktivierungssystems (ARAS) zurück
Persönlichkeitsbereiche und versuchte, Neurotizismus durch die An-
sprechbarkeit des limbischen Systems zu
Die zentralen Persönlichkeitsfaktoren in den erklären. Gray hingegen nahm als neurale
Theorien von Eysenck (Extraversion, Neu- Basis der Ängstlichkeit ein Behavioral Inhi-
rotizismus, Psychotizismus), Gray (Ängst- bition System (BIS) an und führte Impulsivi-
lichkeit, Impulsivität), Cloninger (»Novelty tät auf die Reagibilität des Behavioral Ap-
Seeking«, »Harm Avoidance«, »Reward De- proach System (BAS) zurück. Cloninger wie-
pendence«), Davidson (Positive Affektivität, derum erklärte »Novelty Seeking« durch die
Negative Affektivität) und Zuckerman (»Psy- Empfindlichkeit eines dopaminergen Sys-
choticism-Impulsive Sensation Seeking«, tems (Behavioral Activation System), »Harm
»Extraversion-Sociability«, »Neuroticism- Avoidance« wurde durch die Ansprechbar-
Anxiety«) weisen nicht nur unterschiedliche keit eines serotonergen Systems erklärt
Bezeichnungen auf, sondern bilden auch je- (Behavioral Inhibition System) und »Reward
weils distinkte Charakteristika von Personen Dependence« auf Unterschiede in einem
ab. Dennoch ist es bemerkenswert, dass noradrenergen System (Behavioral Mainte-
zwischen vielen dieser Eigenschaften recht nance System) zurückgeführt. Davidson
konsistente Zusammenhänge bestehen. So führte hingegen die Positive Affektivität auf
zeigt beispielsweise die Extraversion einen ein Annäherungssystem zurück und nahm
substantiellen und positiven Zusammenhang als neurale Basis der Negativen Affektivität
mit Impulsivität, Positiver Affektivität, »No- ein Rückzugssystem an; dabei sollte eine
velty Seeking« und »Extraversion-Sociabi- Asymmetrie in der tonischen Aktivität dieser
lity«. Analog dazu weist Neurotizismus einen Systeme für einen bestimmten Affektiven Stil
bedeutsamen positiven Zusammenhang mit disponieren. Zuckerman wiederum postu-
Ängstlichkeit, »Harm Avoidance«, Negativer lierte als biologische Basis seiner Eigenschaf-
Affektivität und »Neuroticism-Anxiety« auf ten kein neurochemisch oder anatomisch
(Zuckerman & Cloninger, 1996; für entspre- abgrenzbares System, sondern ging davon
chende Korrelationstabellen s. z. B. Amelang aus, dass bei jeder Persönlichkeitsdimension
& Bartussek, 2001). eine Vielzahl von Hirnsystemen beteiligt sei.
Diese »Familienähnlichkeiten« der Eigen- Dabei spielten alle wichtigen Neurotransmit-
schaften könnten als Hinweis darauf aufge- ter wie Dopamin, Serotonin und Noradre-
fasst werden, dass über die verschiedenen nalin bei jeder einzelnen Eigenschaft eine
Systeme hinweg zumindest zwei fundamen- Rolle, wobei er allerdings für das Enzym
tale Temperamentsmerkmale zur Beschrei- Monoaminooxidase (MAO) eine besondere
bung der Persönlichkeit notwendig sind, Bedeutung bezüglich »Sensation Seeking«
deren inhaltliche Charakterisierung sich aus annahm.
den genannten Eigenschaften ergibt. Bei dieser Aufstellung muss trotz aller
Unterschiede beachtet werden, dass die von
Gray, Cloninger, Davidson und Zuckerman
Biologische Systeme jeweils angegebenen Hirnsysteme essentielle
Überlappungen aufweisen. Zusammenge-
Ein offensichtlicher Unterschied zwischen fasst kann hier festgehalten werden, dass
den einzelnen Theorien ist die jeweils postu- die meisten biologischen Persönlichkeits-
360
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
361
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
konsistente Reaktion zeigen (z. B. eine er- individuelle Unterschiede in den biologischen
höhte Herzfrequenz und erniedrigte Körper- Systemen (und damit sicherlich auch in den
temperatur in den verschiedenen Situatio- Funktionen des Gehirns) vermittelt werden.
nen), während sich bei anderen Personen eine Die Befunde im Zusammenhang mit vielen
konsistente Reaktion nur bei den anderen der in diesem Kapitel angesprochenen Per-
Variablen beobachten lässt (z. B. ein erhöhter sönlichkeitsmerkmale zeigen ja, dass sich
Blutdruck und eine Synchronisation im Individuen in ihren biologisch determinierten
EEG). Mithin hat jede Person ihre eigene Reaktionen unterscheiden und dass diese
physiologische Reaktionsweise, was als In- Unterschiede Auswirkungen auf das soziale
dividualspezifität physiologischer Reaktio- Verhalten haben. Deshalb wird ein volles
nen bezeichnet wird (Marwitz & Stemmler, Verständnis von Persönlichkeitsunterschie-
1998). Diese Individualspezifität erhöht die den ohne Rückgriff auf biopsychologische
unsystematische Varianz und mindert folg- Konzepte nicht möglich sein. Schließlich ist
lich die Korrelationen zwischen physiologi- gerade durch den enormen Fortschritt bei
schen Variablen und Persönlichkeitsmaßen. den Methoden der Neurowissenschaften
Diese methodischen und konzeptuellen (wie z. B. bei bildgebenden Verfahren oder
Beschränkungen skizzieren bereits die Stoß- der Molekulargenetik) in den letzten Jahren
richtung zukünftiger Forschung, die sich eine große Dynamik in der Persönlichkeits-
dieser Probleme annehmen werden muss. forschung entstanden. Trotz aller Vorläufig-
Dabei sprechen mehrere Gründe dafür, die keit bisheriger Theorien und Forschungs-
biologische Persönlichkeitsforschung weiter- ansätze kann deshalb damit gerechnet wer-
zuführen. So gibt es beispielsweise klare den, dass die biologische Persönlichkeitsfor-
Belege für einen genetischen Einfluss auf die schung noch erheblich zur Theoriebildung
Persönlichkeit; dieser Einfluss muss durch beitragen dürfte (Borkenau et al., 2005).
362
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Schließlich unterscheiden sich die Theorien in den angenommenen Auslösereizen für eine
Aktivierung der postulierten Hirnsysteme. Eysenck (für Extraversion) und Zuckerman
gehen von Auslösereizen nur geringer Spezifität aus, während Gray, Cloninger,
Davidson und Eysenck (für Neurotizismus) vergleichsweise spezifische Auslösereize
annehmen, zum Beispiel angenehme, unangenehme, belohnungs- oder bestrafungsrele-
vante Reize.
Auch wenn die empirische Befundlage insgesamt nicht widerspruchsfrei ist, verspricht
die biologische Persönlichkeitsforschung interessante und neue Einsichten. Dabei müssen
methodische Probleme wie die Unreliabilität mancher physiologischer Variablen oder die
Individualspezifität physiologischer Reaktionen in den Analysestrategien berücksichtigt
werden. Ein volles Verständnis von Persönlichkeitsunterschieden ohne Rückgriff auf
biopsychologische Konzepte wird nicht möglich sein.
363
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Tab. 8.2: Korrelation von physiologischen Variablen mit Extraversion und Neurotizismus.
N K GMK N K GMK
aber berücksichtigen, dass die Studien in der tionen für die Probanden nicht einbezogen.
Meta-Analyse von Myrtek von einem per- Entsprechend dem personistischen Eigen-
sonistischen Eigenschaftsmodell ausgehen (s. schaftsmodell wurde also implizit von einer
Abschn. 12.1.1). Ausdruck davon ist die interindividuell gleichartigen Situation-Ver-
Tatsache, dass einerseits die Zusammenhän- haltensverknüpfung ausgegangen (Verhalten
ge in den verschiedensten Untersuchungssi- meint hier die physiologische Messebene).
tuationen ermittelt wurden, die für die infra- Danach ist es also unerheblich, welche indi-
ge stehende Persönlichkeitseigenschaft eine viduelle Situationsauffassung die Probanden
ganz unterschiedliche Relevanz gehabt haben hatten.
werden. Andererseits wurde eine möglicher- Nach dem dispositionistischen Eigen-
weise unterschiedliche Bedeutung der Situa- schaftsmodell (s. Abschn. 12.1.4) kommt
364
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
der Situation aber eine entscheidende Rolle tungszuschreibungen oder kognitiven Sche-
dafür zu, welche Persönlichkeitseigenschaft mata beeinflusst sind (Stemmler, 1997).
aktiviert wird. Danach würde es sich nicht Dann liegt es nahe, mindestens eine dieser
empfehlen, die Zusammenhänge zwischen den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit
einer bestimmten Persönlichkeitseigenschaft und physiologischer Aktivierung moderie-
und der physiologischen Aktivität ohne Ein- renden Zustandsvariablen, etwa aus dem
bezug des Aufforderungscharakters einer Bereich Emotion, Motivation oder Kogni-
Situation, also in beliebigen Situationen, zu tion, zusätzlich zu den physiologischen Va-
bestimmen. Zudem sind nach dem CAPS- riablen zu erheben. Damit könnten die für
Modell von Mischel (s. Abschn. 12.1.4) das dispositionistische Eigenschaftsmodell
kognitiv-affektive Prozesse die entscheiden- charakteristischen interindividuell verschie-
den Mediatoren zwischen Situation und Ver- denartigen Situation-Verhaltensverknüpfun-
halten: die Wahrnehmung und Bewertung gen Berücksichtigung finden.
der gegebenen Situation, die einerseits von Dieser dispositionistische Ansatz soll
Zuständen – wie aktuellen Bedürfnissen, durch die bereits oben verwendete Studie
Absichten, Stimmungslagen und Verhaltens- von Stemmler (1992) in Kasten 8.3 erläutert
zielen – wie auch von stabilen emotionalen werden.
Ansprechbarkeiten, motivationalen Bedeu-
Achtundvierzig Probanden bearbeiteten sieben Aufgaben, von denen hier die Handgriff-
und die Lautes-Geräusch-Aufgabe verwendet werden. In der Handgriffaufgabe drückten
die Probanden ein Handdynamometer (zwei Handgriffe gegen Federkraft halten) mit 45 %
ihrer maximalen freiwilligen Kraft für zwei Minuten. In der Lautes-Geräusch-Aufgabe
wurde den Probanden gesagt, dass sie bald ein sehr lautes Geräusch über die Kopfhörer
eingespielt bekämen. Nach 15 Sekunden wurde ein zweisekündiges weißes Rauschen mit 97
dBA dargeboten. In einer multiplen Regressionsgleichung wurden physiologische Aktivie-
rung, die Befindlichkeit Ärger sowie deren Produkt zur Vorhersage von Emotionalität
(Skala FPI-N, Fahrenberg et al., 1984) eingegeben. Als Maß für die physiologische
Aktivierung wurde parasympathische Aktivität herangezogen. Abbildung 8.18 zeigt die
Regressionsgleichungen von Emotionalität (FPI-N) auf die geschätzte parasympathische
Aktivität (p) unter Moderation der Befindlichkeit Ärger (ä) in den beiden ausgewählten
Situationen. Die multiple Korrelation zwischen Emotionalität und den Prädiktoren betrug
in der Handgriffaufgabe 0,45 (p < .05) und in der Lautes-Geräusch Aufgabe 0,42 (p <
0,05). Die Regressionsgleichungen lauteten:
Handgriffaufgabe: FPI-N ¼ 4,38–0,33p þ 1,37* ä þ 0,53* pä
Lautes Geräusch: FPI-N ¼ 5,43–0,47p þ 0,26 ä 0,56* pä
Bemerkenswert ist, dass in keiner der beiden Regressionsgleichungen der Haupteffekt
der physiologischen Aktivität signifikant (*) war. Dies bedeutet, dass ohne Einbezug der
Moderatorvariable »Ärgerbefindlichkeit« – wenn also nur nach dem personistischen
Eigenschaftsmodell vorgegangen worden wäre – kein signifikanter Zusammenhang
zwischen Emotionalität und parasympathischer Aktivität bestanden hätte.
In Übereinstimmung mit dem dispositionistischen Eigenschaftsmodell war in beiden
Regressionsgleichungen der Interaktionseffekt, aber mit unterschiedlichem Vorzeichen,
365
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Handgriffaufgabe Lautes-Geräusch-Aufgabe
14 14
4 4
6 6
4
12 4
12 4
6
4 2 6
4
10 4 10 2
FPI-N Emotionalität
FPI-N Emotionalität
6
2 2 4
4 2 1 6
6 4 2 1 2
2 8
8 2 1 4
2 2
4 2 1 6
6 2 0 1 2
0 0 4
4 2 1 1 1 0 0 1
6 2 1 1 6 2
6 2 1 1 1 0 0
0 0 1 1 1 0 0
2 0 0 0 0
4 0 0 2 0 0
4 6 0 0 0 1 0
0 0
4 4 2 1
0 6 1
2 1
4
2 2 2
6 2
4
0 0
–3 –2 –1 0 1 2 3 –3 –2 –1 0 1 2 3
Cholinerge Aktivierungskomponente
Abb. 8.18: Interindividuelle Regression von FPI-N (Emotionalität) auf standardisierte, parasympa-
thische Aktivität unter Moderation der Befindlichkeit Ärger. Dargestellt sind separate
Regressionslinien für die Befindlichkeitswerte 0 (kein Ärger) über 1, 2, 4 bis 6
(maximaler Ärger).
366
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
Überblick über zentrale Arbeiten beider Her- Risikofaktor für KHK darstellt, sondern auch
angehensweisen gegeben. Eine detailliertere für andere Krankheiten (sowie multiple Er-
Erörterung der einschlägigen Konstrukte, krankungen) maßgeblich ist. Logistischen
methodischer Probleme und möglicher Wir- Regressionen zufolge waren dabei einige der
kungsmechanismen findet sich bei Schwenk- Effekte (z. B. für KHK, Leber-, Magen- und
mezger (1994) sowie bei Amelang und Bronchialerkrankungen) vergleichbar mit
Schmidt-Rathjens (2003); s. auch Amelang denjenigen etablierter Risikofaktoren wie
(2003). Alter und Geschlecht. Diese und weitere Be-
funde sprechen dafür, dass N oder »Negativer
Affektivität« die Rolle eines generellen Risi-
Gegenstandsunspezifische kofaktors zukommt (Kirmayer et al., 1994).
Persönlichkeitskonstrukte Im Unterschied zu N nehmen E und P in
der gesundheitspsychologischen Forschung
Den Annahmen von Eysenck (1985) zufolge einen eher randständigen Stellenwert ein.
korrelieren die breiten eigenschaftstheoreti- Eysenck (1985) führte einige Befunde an,
schen Persönlichkeitsmerkmale Neurotizis- die für den von ihm postulierten Zusammen-
mus (N) und Psychotizismus (P) positiv, hang zwischen E und Krebs sprechen.
hingegen Extraversion (E) negativ mit koro- In der Zusammenschau kann der Zusam-
naren Herzerkrankungen (KHK). Das kor- menhang zwischen N und KHK sowie wei-
relative Muster für den Zusammenhang mit teren Erkrankungen als am besten bestätigt
Krebs sei genau spiegelbildlich dazu (negati- gelten. Was die Kausalität dieser Wechselbe-
ve Korrelationen von N und P, hingegen ziehung angeht, so sind ganz verschiedene
positive mit E). Im Rahmen der schon er- Hypothesen denkbar (s. dazu Matthews
wähnten Meta-Analyse überprüfte Myrtek et al., 2003):
(1998) unter Heranziehung von ausschließ-
lich prospektiven Studien den Stellenwert l Eine Annahme beruht darauf, dass
von N bei Herz- bzw. Krebserkrankungen. Persönlichkeitsfaktoren zum Bereich von
Den Ergebnissen zufolge zeigte sich in der Tat Emotionaler Labilität bzw. Neurotizis-
ein signifikanter, allerdings sehr niedrigerer mus (z. B. Depression oder Angst) mögli-
Zusammenhang zwischen N (einschließlich cherweise mit Beeinträchtigungen des Im-
Depression/Angst) und KHK. Auch in der munsystems, z. B. erniedrigtes sIgA-Ni-
Längsschnittstudie von Amelang et al. veau (siehe hierzu Hennig et al., 1996),
(2004) an 4010 Personen stand nach Aus- einhergehen. Dieses hätte eine generell
partialisierung verschiedener Risikofaktoren erhöhte Vulnerabilität zur Folge.
nur »Emotionale Labilität« mit KHK in l Eine andere Deutung geht davon aus,
Beziehung. Hingegen war Krebs weder durch dass eines der konstitutiven Elemente von
N noch durch andere Persönlichkeitsfakto- Emotionaler Labilität in Stress zu sehen
ren vorhersagbar. Auch in den zwei von ist, d. h., die Selbsteinschätzungen von
Myrtek (1998) gesichteten Studien konnte Neurotizismus spiegeln das Erleben der
die erwartete negative Korrelation zwischen Probanden wider, häufig gestresst zu sein
N (Depression/Angst) und Krebs nicht auf- (Hennig & Netter, 1997). Unter einer
gezeigt werden. solchen Perspektive wären die Beeinträch-
Eine Untersuchung aus dem Heidelberger tigungen des Immunsystems die Folge
Institut (s. Matthews et al., 2003) an einer einer Exposition gegenüber Stress. Aller-
Stichprobe von 5133 Männern und Frauen dings sind die Ergebnisse dazu wider-
lieferte Hinweise darauf, dass N bzw. Emo- sprüchlich (Koh, 1998; Netter et al.,
tionale Labilität nicht nur einen bedeutenden 1999).
367
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
l Einer weiteren Interpretation zufolge ten- verstehen darunter ein allgemeines Fähig-
dieren neurotische Personen besonders keitsdefizit, Emotionen als solche wahrzu-
stark zur verbalen Bekundung körperli- nehmen und symbolisch zu repräsentieren.
cher Beschwerden. So konnten Stone und Dies führe zu Schwierigkeiten bei der Unter-
Costa (1990) zeigen, dass Neurotizismus scheidung von Emotionen und körperlichen
stärker mit subjektiven Symptomen als Empfindungen sowie tendenziell zu konkre-
mit objektiven Gesundheitsmaßen zu- tem, externalem Denken und Problemlösen.
sammenhing. Neben der ätiologischen Bedeutung wird ver-
mutet, dass Alexithymie auch einen Einfluss
Sicher besteht eine der vordringlichen Auf- auf die Tendenz einer Person hat, somatische
gaben zukünftiger Forschungsarbeiten darin, Empfindungen auf somatische Erkrankun-
das unverbindliche Nebeneinander der ge- gen anstatt auf emotionale oder interperso-
schilderten Kausalitätshypothesen im Sinne nale Konflikte zu attribuieren. Eine ausführ-
einer stärker gerichteten Sichtweise zu ver- liche Darstellung weiterer psychodynami-
ändern. scher Krankheitskonzepte bietet beispiels-
Aus dem Bereich der verhaltenstheoreti- weise Uexküll (1996).
schen Persönlichkeitskonstrukte ist v. a. die
Bedeutung von Kontrollüberzeugungen (s.
Abschn. 10.2.2) im Rahmen gesundheitspsy- Gegenstandsspezifische
chologischer Fragestellungen überprüft wor- Persönlichkeitskonstrukte
den. Wie bereits dargelegt, lassen sich gene-
ralisierte, bereichs- sowie situationsspezi- Typ C
fische Kontrollüberzeugungen unterschei-
den. Gesundheit/Krankheit stellt einen Auf Temoshok (1987) geht ein Modell zu-
Bereich dar, für den ein Individuum spezifi- rück, das es ermöglicht, scheinbar unverbun-
sche Kontrollüberzeugungen entwickeln dene und partiell sogar widersprüchliche
kann (Lohaus, 1992). Dabei geht es um die Beobachtungen zum Zusammenhang von
Frage, »inwieweit der Einzelne annimmt, psychischen Faktoren mit Krebs zu integrie-
dass der eigene Gesundheitszustand durch ren. Zentral darin ist die Annahme, dass eine
eigenes Handeln, fremdes Handeln (Ärzte, bestimmte Konstellation von psychosozialen
Pflegepersonal etc.) oder Zufall bzw. Schick- Faktoren bei einigen Menschen die Entste-
sal beeinflusst wird, wobei sich diese Annah- hung und den Verlauf von Krebserkrankun-
men nicht ausschließen müssen (…)«. Unter- gen beeinflusst. Zu diesen Faktoren zählen
suchungen zum Zusammenhang von Kon-
trollüberzeugungen mit Variablen, die für l bestimmte Persönlichkeitseigenschaften
das Gesundheitsverhalten von Bedeutung oder Coping-Stile wie Stoizismus, Nettig-
sind (wie Patientencompliance, Bewälti- keit, Fleiß, Perfektionismus, Geselligkeit,
gungshandeln, Informationssuche und Infor- Konventionalität sowie rigide Abwehr-
miertheit sowie präventives Handeln), wer- mechanismen,
den in Kapitel 10 dargestellt. Die substan- l die Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken,
tielle Bedeutung von Kontrollüberzeugungen sowie
für Gesundheit/Krankheit steht demnach l Hilf- und Hoffnungslosigkeit.
völlig außer Zweifel.
Ein psychodynamisches Konstrukt, dem Eine Person mit diesem Merkmalsprofil
eine Bedeutung bei der Entstehung von gehöre zum »Typ C« (¼ Cancer) und wäre
Krankheiten zugesprochen wird, stellt u. a. demnach kooperativ, besänftigend, nicht
Alexithymie dar. Kirmayer et al. (1994) durchsetzungsfähig, geduldig sowie Autori-
368
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
täten gegenüber unterwürfig. Aufgrund von chronic, incessant struggle to achieve more and
Lernerfahrungen in der Kindheit wäre so more in less and less time, and if required to do so,
against the opposing efforts of other things or
jemand bemüht, negative Emotionen (insbe- other persons« (Friedman & Rosenman, 1974,
sondere Ärger) zu unterdrücken (»chroni- S. 37).
cally blocked expressions of needs and fee-
lings«) und würde auf diese Weise versuchen, Im Wesentlichen soll das Verhalten einer
eine angenehme zwischenmenschliche Atmo- Typ-A-Person durch Merkmale wie Unge-
sphäre herzustellen bzw. zu bewahren. Aus duld und Zeitdruck, ehrgeiziges Leistungs-
diesem Grund würde die besagte Person auch streben, Feindseligkeit sowie berufliche Dis-
von ihren Mitmenschen als nett, freundlich tanzierungsunfähigkeit gekennzeichnet sein
und hilfsbereit angesehen werden. Infolge (s. z. B. Rosenman, 1996). Eysenck (1994,
der andauernden Zurückstellung der eigenen S. 176) beschrieb das Verhalten einer Typ-A-
Bedürfnisse und Wünsche entwickele sich Person durch die »AHA«-Trias aus »Anger«,
allmählich das Gefühl von Hilf- und Hoff- »Hostility« und »Aggression«, womit es im
nungslosigkeit, was jedoch hinter der Fassa- krassen Gegensatz zur gefühlsunterdrücken-
de, die u. a. durch emotionale Kontrolle den Persönlichkeit des Typ C stehe.
gekennzeichnet sei, versteckt werde. Ein sehr Die wichtigsten Erfassungsmethoden des
starker Stressor (z. B. die Diagnose einer Typ-A-Verhaltens sind das Strukturierte
Krebserkrankung) könne bewirken, dass Interview (SI; Rosenman, 1978) und das
diese Fassade zusammenbricht und Hilf- Jenkins Activity Survey (JAS; Jenkins et al.,
und Hoffnungslosigkeit zutage treten. 1979). Das SI wird als Stressinterview
Die weitaus meisten Studien gelten dem unter Provokationsbedingungen durchge-
Verlauf von Krebserkrankungen in Abhän- führt, wobei neben inhaltlichen Aspekten
gigkeit von Typ C (Temoshok, 1985, 1987; auch nonverbale und emotionale Reaktio-
Sanderman & Ranchor, 1997; Temoshok & nen der Probanden erfasst werden. Bei dem
Fox, 1984). Die theoretischen Erklärungen JAS handelt es sich um einen Papier-und-
der angestellten Beobachtungen zentrieren Bleistift-Test, der den Befragungspersonen
sich um die Veränderung neuroendokriner Informationen zu den drei Subskalen »Eile
und immunologischer Faktoren sowie insbe- und Ungeduld« (»Speed and Impatience«),
sondere um eine immunosuppressive Wir- »Arbeitseinsatz« (»Job Involvement«) sowie
kung unter dem Einfluss von Typ C. Für eine »Rivalitäts- und Konkurrenzdenken«
ursächliche Bedeutung von Typ C auf die (»Hard-Driving Competitiveness«) abver-
Entstehung von Krebs liegen (noch) keine langt.
empirisch gesicherten Anhaltspunkte vor. Zwei großen Untersuchungen zufolge
weisen Typ-A-Personen eine Prädisposition
Typ A für Herzerkrankungen auf: In der »Western
Collaborative Group Study« (Ragland &
Die Forschung zur Rolle von psychologi- Brand, 1988a) an 3154 männlichen Personen
schen Faktoren bei der Entstehung von KHK im Alter von anfänglich 39 bis 59 Jahren
hat sich überwiegend auf das »Typ-A«-Ver- (Beschäftigte verschiedener Betriebe) wiesen
haltensmuster konzentriert, welches erstmals die mit dem SI ermittelten Typ-A-Probanden
von M. Friedman und Rosenman (1959) nach neun bis zehn Jahren längsschnitt-
beschrieben wurde. Die beiden Autoren defi- licher Beobachtung ein doppelt so hohes
nierten das Typ-A-Verhalten als einen Risiko für KHK auf, nachdem der Einfluss
anderer Risikofaktoren herausgerechnet
»(…) action-emotion complex that can be obser- worden war. Ein ähnlicher Koeffizient ergab
ved in any person who is aggressively involved in a sich in der »Framingham Heart Study« an
369
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
1674 Personen im Alter zwischen 45 und individuellen Ressourcen eine wichtige Funk-
77 Jahren. Die Typ-A-Zugehörigkeit wurde tion zu, nämlich zum einen den »Generali-
mit zehn Items eines Fragebogens zu Wett- sierten Widerstandsquellen« (z. B. Wohl-
bewerbsmotivation, Zeitnot und zur Wahr- stand, Wissen, Intelligenz, soziale Unter-
nehmung von Arbeitsbelastungen erfasst. stützung), zum anderen einer hohen indivi-
Nachfolgende Untersuchungen konnten duellen Ausprägung auf der habituellen
diese überzeugenden Resultate nicht immer Persönlichkeitsdimension SOC.
bestätigen. So belief sich in der Meta-Analyse
von Myrtek (1998) die Effektgröße für den Antonovsky definierte Kohärenzsinn als
Zusammenhang von Typ-A-Verhalten und
KHK nur auf r ¼ 0,009. Dafür mögen »eine globale Orientierung, die zum Ausdruck
bringt, in welchem Umfang man ein generalisier-
methodische Probleme (s. von Boxberg &
tes, überdauerndes und dynamisches Gefühl des
Rüddel, 1995) und die Verwendung unter- Vertrauens besitzt, dass die eigene innere und
schiedlicher Erhebungsmethoden in den je- äußere Umwelt vorhersagbar ist und dass mit
weiligen Studien verantwortlich sein. So großer Wahrscheinlichkeit die Dinge sich so ent-
scheint das SI ganz allgemein ein besserer wickeln werden, wie man es vernünftigerweise
erwarten kann« (Übersetzung von Becker, 1982,
Prädiktor von KHK zu sein als das JAS, und S. 19).
zwar vermutlich deshalb, weil darin der
Aspekt des emotionalen Ausdrucksstils einer Drei Subkomponenten sind dabei zu unter-
Person mit berücksichtigt wird (Friedman & scheiden:
Booth-Kewley, 1987b). Als Folge der inkon-
sistenten Befunde hat das Typ-A-Konzept in l »Verstehbarkeit« (»comprehensibility«):
der letzten Zeit »an Glaubwürdigkeit verlo- Eindruck der Geordnetheit, Überschau-
ren« (Myrtek, 1998, S. 320), zumal Typ A barkeit und Vorhersagbarkeit von exter-
sogar mit einer besseren Prognose nach nen und internen Reizen bzw. Entwick-
einem Infarkt in Verbindung gebracht wurde lungen.
(Ragland & Brand, 1988b). l »Handhabbarkeit« (»manageability«):
optimistisches Vertrauen, aus eigener
Kohärenzsinn Kraft oder mit fremder Unterstützung
künftige Lebensaufgaben meistern zu
Gleichsam als Gegenbewegung zu den soweit können.
geschilderten Faktoren, die das Risiko einer l »Bedeutsamkeit« (»meaningfulness«):
Erkrankung erhöhten, wurde in den letzten Freude am Leben und Überzeugung, dass
Jahren zunehmend das Augenmerk auf sol- das Leben einen Sinn hat.
che Persönlichkeitskonstrukte gerichtet, die
theoretischen Überlegungen zufolge einen Zur Erfassung von SOC hat Antonovsky
Schutz vor Krankheit darstellen. In diesem (1987) einen Fragebogen mit 29 Items vorge-
Zusammenhang fand das Konstrukt »Kohä- schlagen. Die drei Facetten lassen sich zwar
renzsinn« (»Sense of Coherence«, SOC) von inhaltlich erkennen, nicht jedoch faktoren-
Antonovsky (1987) weite Beachtung. Dieses analytisch markieren (deutschsprachige Ad-
puffert den Organismus gegen potentiell aptation von Schumacher et al., 2000; zu
krank machende Faktoren aus der Umge- Problemen damit s. Schmidt-Rathjens et al.,
bung ab. Dem folgerichtig als »salutogene- 1997).
tisch« bezeichneten Modell zufolge kommt Ein wesentliches konzeptuelles Problem
bei der Bewältigung des durch Stressfaktoren stellt die Tatsache dar, dass empirischen
hervorgerufenen Spannungszustandes zwei Hinweisen zufolge SOC (umgepolt) sehr
370
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
stark bestimmt ist durch Negative Affektivi- litten. Die relativ gesunden Befragungsperso-
tät (Mlonzi & Struempfer, 1998). Die hohe nen galten dementsprechend als stressresis-
(negative) Korrelation mit Neurotizismus tent. In der Zusammenschau handelt es sich
(Frommberger et al., 1999) begründete ernst- den vorliegenden Befunden nach bei »Ver-
hafte Zweifel an einem eigenständigen Gül- pflichtung« und »Kontrolle« um hinreichend
tigkeitsbereich von Kohärenzsinn. So zeigten brauchbare Prädiktoren von Gesundheits-
auch die Befunde von Schmidt-Rathjens et al. maßen, während in Bezug auf »Herausfor-
(1997), dass die Mittelwertsunterschiede in derung« die Ergebnisse recht widersprüch-
den SOC-Skalen zwischen Gesunden, Herz- lich waren (Hull et al., 1987).
und Krebskranken allein durch die Unter- Die fehlende Eindimensionalität des
schiedlichkeit der Depressions- und Neuro- Konstrukts verdient ebenso Kritik wie der
tizismuswerte erklärbar waren. Dementspre- Umstand, dass von dem Arbeitskreis um
chend fielen bei der Diskriminierung der drei Kobasa ganz unterschiedliche Fragebogen
Probandengruppen die Effektstärken für zur Erfassung zum Einsatz gelangten und
Neurotizismus und Depression etwa doppelt dass diese zudem mehrheitlich negative Indi-
so hoch aus wie diejenigen für Kohärenzsinn. katoren thematisieren.
In einer breit angelegten Untersuchung von
Amelang und Schmidt-Rathjens (2000) er-
wies sich der im Vergleich zu Neurotizismus Abschließende Bemerkungen
eigenständige Beitrag von Kohärenzsinn bei
der Aufklärung von Gesundheits-/Krank- Ein wiederkehrendes Problem bei der Befor-
heitsunterschieden als vergleichsweise ge- schung der psychologischen Faktoren von
ring, und noch geringer war der Beitrag von chronischen körperlichen Erkrankungen be-
SOC relativ zu Emotionaler Labilität in der steht in der häufig genug nur geringen
längsschnittlichen Fortführung dieser Studie Effektstärke der einzelnen Persönlichkeits-
(Amelang et al., 2004). In theoretischer faktoren oder ihrer Kombinationen sowie
Hinsicht stellen gerade die zuletzt genannten der Inkonsistenz der Ergebnisse über ver-
Befunde die Nützlichkeit von SOC als einer schiedene Studien hinweg. Noch gravieren-
salutogenetischen Variable ernsthaft in der ist der Umstand, dass es sich, von
Zweifel. wenigen Ausnahmen abgesehen, meist nur
um retrospektive oder querschnittlich ange-
Hardiness legte Studien handelt, bei denen nahezu
unüberwindliche Probleme im Hinblick auf
Bei Hardiness handelt es sich um ein Merk- die Kausalitätsketten bestehen. Zudem prü-
mal, für das ebenfalls eine salutogenetische fen viele der durchgeführten Untersuchun-
Funktion behauptet wird. Kobasa (1979a) gen nur eine Krankheit und deren Zusam-
versteht darunter die Trias von »Verpflich- menhang mit wenigen ausgewählten Persön-
tung, Herausforderung und Kontrolle« lichkeitsmerkmalen (Ausnahme: Matthews
(»commitment, challenge and control«, je- et al., 2003). Einiges spricht für die Hypo-
weils gemessen mittels Fragebogen). In einer these von Friedman und Booth-Kewley
der ersten Untersuchungen zu diesem Kon- (1987a), wonach es eine »krankheitsanfäl-
strukt (Kobasa, 1979b) wurden Personen lige Persönlichkeit« (»disease-prone perso-
miteinander verglichen, die retrospektiven nality«) gibt, die im Wesentlichen durch
Selbstberichten zufolge sich alle starkem Negative Affektivität (Depression, Angst,
Stress ausgesetzt sahen, jedoch in unter- Feindseligkeit, Ärger und Aggression) ge-
schiedlichem Ausmaß unter Krankheiten kennzeichnet ist.
371
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
372
8 Biologische Grundlagen und Korrelate der Persönlichkeit
förderlich wirkt das Merkmal »Hardiness«. Damit werden Personen beschrieben, die sich
auf bestimmte Ziele verpflichten lassen, Herausforderungen annehmen und von der
Kontrollierbarkeit der eigenen Lebensumstände überzeugt sind.
Allen besprochenen Konstrukten ist gemeinsam, dass Negative Affektivität (Depression,
Angst, Feindseligkeit, Ärger und Aggression) für Krankheit anfällig macht, und umgekehrt
Positive Affektivität und ein internaler Attributionsstil salutogenetisch wirken.
373
9 Emotion und Persönlichkeit
Das Wort Psychoanalyse wird in mehrfacher schließlich stellt die psychoanalytische Lehre
Bedeutung verwendet. Zum einen wird da- eine Persönlichkeitstheorie im weitesten
mit jene von Freud entwickelte tiefenpsycho- Sinne dar, durch welche die psychoanalyti-
logische Therapieform bezeichnet – auch schen Therapie- und Analysetechniken theo-
analytische Psychotherapie genannt –, die retisch fundiert und begründet werden.
sich eine Heilung psychischer Störungen Im Gegensatz zur Popularität, der sich
durch das Bewusstmachen unbewusster Freud’sches Gedankengut erfreut, stellt die
Ängste, Wünsche und Konflikte verspricht. Psychoanalyse in der wissenschaftlichen,
Für dieses Bewusstmachen werden Techni- empirisch orientierten Psychologie nur eine
ken verwendet, wie die Deutung von Träu- unter vielen Theorien dar. Weiter unten wird
men, von freien Assoziationen, von Fehlleis- kurz darauf hinzuweisen sein, dass sich viele
tungen, von neurotischen Symptomen und der Freud’schen Annahmen und Formulie-
auch von kulturellen Leistungen. Diese Tech- rungen im Rahmen einer empirischen Psy-
niken werden auch als Forschungsmethode chologie als nicht haltbar erweisen. Dies
zur Erforschung des Unbewussten im Freud’- ändert aber nichts an der Tatsache, dass
schen Sinne verstanden, so dass das Wort kaum eine andere Theorie so großen Einfluss
Psychoanalyse zum anderen auch eine For- auf so viele Teilgebiete der Psychologie und
schungsmethode bezeichnet. Zum Dritten darüber hinaus auf andere Bereiche der
374
9 Emotion und Persönlichkeit
Wissenschaft und Kunst ausgeübt hat wie die stase etc. physische Energie, für Wahrnehmen
Psychoanalyse. und Denken psychische Energie einsetzt. Phy-
Um diesen Einfluss speziell auf die empiri- sische und psychische Energie sind nicht
sche Persönlichkeitsforschung aufzeigen zu unterschiedlich (Energieerhaltungssatz); sie
können, sollen in aller Kürze zunächst das sind ineinander umwandelbar. Die Brücke
allgemeine Menschenbild sowie die wichtigs- zwischen physischer und psychischer Energie
ten strukturellen und dynamischen Konzepte sind das Es (s. Abschn. 9.1.2) und seine
der Freud’schen Psychoanalyse als Persön- Instinkte. Jede Aktivität verbraucht Energie,
lichkeitstheorie skizziert werden. Niederge- die dann für andere Aktivitäten nicht mehr
legt sind diese persönlichkeitstheoretischen zur Verfügung steht. Damit kann der Orga-
Überlegungen Freuds in seinem umfangrei- nismus überschüssige Energie abbauen
chen Gesamtwerk (Freud, 1952a). Freud hat (»Abreagieren«, »Ausleben«).
seine theoretischen Überlegungen im Laufe
seines Lebens immer wieder geändert. Wie aus
der umfangreichen Biographie Freuds von Angeborene Triebe als Energiespender
Ernest Jones hervorgeht (Jones, 1957, 1955,
1953), wurde so manche theoretische Kon- Ursprünglich nahm Freud an, dass jede psy-
zeption durch persönliche Erfahrungen und chische Energie aus dem angeborenen Se-
Schwierigkeiten sowie durch zeitgeschicht- xualtrieb (»Libido«, sexuelle Triebenergie)
liche Ereignisse (Erster Weltkrieg, Antisemi- stamme, so dass jedes Verhalten letztendlich
tismus) stark beeinflusst. Ein konsistentes, in sexuell energetisiert sei. Durch die verschie-
sich geschlossenes und völlig widerspruchs- denen Instanzen der Persönlichkeit (s.
freies Theoriengebäude hat Freud, der noch Abschn. 9.1.2) und die Anforderungen der
im 83. Lebensjahr bis zu seinem Tode im sozialen Umwelt können sexuelle Triebim-
Jahre 1939 an der Weiterentwicklung der pulse in sozial erwünschtes, kulturell bedeut-
Psychoanalyse arbeitete, nicht vorgelegt. Erst sames Verhalten umgewandelt werden
später wurden zum Beispiel von Rapaport (Sublimierung). Später, hauptsächlich auf-
Systematisierungen der Freud’schen Lehre grund der schmerzlichen und auch persönlich
durchgeführt (Rapaport, 1959a, b). bitteren Erfahrung infolge des Ersten Welt-
kriegs, nahm Freud noch einen zweiten
angeborenen Trieb, den Todes- oder Aggres-
9.1.1 Das allgemeine sionstrieb an. In einer Handlung können
Menschenbild der auch beide Triebe sublimiert befriedigt wer-
Psychoanalyse den, so etwa wenn ein Chirurg eine Opera-
tion durchführt, bei der der Aggressionstrieb
Während sich viele psychoanalytische Kon- durch den chirurgischen Eingriff, der Sexual-
zepte im Laufe von Freuds Lebens änderten, trieb durch Bemühen um Wiederherstellung
blieb seine Grundauffassung von der Natur des Patienten befriedigt werden.
des Menschen unverändert. Freuds Men-
schenbild lässt sich in folgenden Punkten
zusammenfassen: Determiniertheit des Verhaltens
375
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Ic
h
-I
376
9 Emotion und Persönlichkeit
lösen und dadurch das physiologische der notwendigen Energie versorgt wird, führt
Gleichgewicht des Organismus zu bewahren es kein »eigenständiges Leben«.
oder wiederherzustellen. Das Es funktioniert
dabei irrational und ausschließlich nach dem
Lustprinzip, es ist impulsiv und sucht seine Das Über-Ich
Triebwünsche oder verdrängten Wünsche
ohne Rücksicht auf die äußere Realität, auf Auch das Über-Ich entwickelt sich aus dem
moralische, ethische, logische oder soziale Es, doch später als das Ich, etwa ab dem
Hindernisse direkt und ohne Zeitaufschub zu dritten Lebensjahr, indem zunächst die Ge-
erfüllen. Dabei kann es auch zu Konflikten bote und Verbote der Eltern und ihr Vorbild
zwischen verschiedenen unbewussten Wün- verinnerlicht werden. Im Laufe des späteren
schen im Es kommen, so dass Freud das Es Lebens kommen andere übernommene Vor-
als unorganisiert und als »Chaos« (Freud, stellungen von Gut und Böse und andere
1940c) bezeichnet hat. Das Es besteht und Vorbilder hinzu. Das Über-Ich beinhaltet
funktioniert von Geburt an. Im Laufe einer auch das Gewissen.
normalen Entwicklung tritt es Teile an das Das Über-Ich kontrolliert das Ich bei
Ich ab, sein Einfluss, der nach der Geburt am seiner Auseinandersetzung mit dem Es und
größten ist, verringert sich später. mit der realen Umwelt. Es sucht verbotene
Impulse aus dem Es zu verhindern, versucht
moralische Zielsetzungen durchzusetzen und
Das Ich strebt nach perfektionistischem Verhalten. Es
bestraft unmoralisches, verbotenes oder dem
Das Ich entwickelt sich aus der Rinden- Ich-Ideal nicht entsprechendes Verhalten
schicht des Es, indem diese mit der Außen- durch Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle
welt über die Sinnesorgane direkt in Kontakt oder auch durch unbewusste Strafbedürf-
tritt. Damit ist das Ich als Exekutive der nisse, und es belohnt mit den Gefühlen des
Persönlichkeit konzipiert. Die bewusste Stolzes und der Selbstliebe die Erfüllung
Wahrnehmung der äußeren Realität durch seiner Ansprüche.
das Ich unterwirft immer größere Bezirke Das Über-Ich kann auf einer primitiven
und tiefere Schichten des Es (Freud, 1941). Ebene in Form undifferenzierten, realitäts-
Die primären Funktionen des Ich sind fernen, intoleranten Schwarz-Weiß-Denkens
neben der Wahrnehmung das Denken, das funktionieren, aber auch verständnisvoll und
Erinnern, das Fühlen und die Willkürbewe- flexibel sein. Je nach der Art der Über-Ich-
gungen. Seine Aufgabe ist, mit Hilfe dieser Funktion sowie der Stärke des Ich und auch
Funktionen zwischen den impulsiven Wün- der Impulsivität des Es werden sich Men-
schen des Es und der Realität zu vermitteln schen in typischer Weise in ihrem Verhalten
und dabei den moralischen, perfektionisti- unterscheiden.
schen Forderungen des Über-Ich gerecht zu Insoweit haben die psychoanalytischen
werden. Mit Hilfe von Blockierung, Vertei- Konzepte der Persönlichkeitsstruktur, das
lung oder Verzögerung der Triebbefriedi- Es, Ich und Über-Ich, ähnliche Konsequen-
gung sucht das Ich die Konflikte zwischen Es, zen wie eigenschaftsorientierte Persönlich-
Realität und Über-Ich zu lösen. Es ist dabei keitstheorien: Hier wie dort wird die Annah-
kompromissbereit, frustrationstolerant und me gemacht, dass es konsistentes, relativ
funktioniert nach dem »Realitätsprinzip«, situationsunabhängiges Verhalten gibt, das
indem es rational und logisch nach realisti- eine Person charakterisiert.
schen Lösungen sucht. Weil das Ich der Im Unterschied zu manchem eigenschafts-
organisierte Teil des Es ist und von ihm mit orientierten Ansatz aber erklärt die Psycho-
377
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
analyse beobachtbare Verhaltensweisen und Gefahr anzeigen. In diesem Fall wird von
damit auch interindividuelle Unterschiede »Realangst« gesprochen. Von »neurotischer
durch Prozesse, die zwischen den Instanzen Angst« spricht Freud, wenn verbotene Wün-
des Es, Ich und Über-Ich ablaufen und mit sche und Triebreize aus dem Es das Ich
Hilfe der dynamischen Persönlichkeitskon- überfluten, das diesen Trieben aus morali-
zepte der Psychoanalyse beschrieben werden. schen Gründen aber nicht nachgeben kann.
Welche Gefahren werden durch die daraus
entstehende Angst signalisiert? Gefahren
9.1.3 Dynamische können Verlust des Penis (Kastrationsangst),
Persönlichkeitskonzepte Verlust sozialer Anerkennung und Zunei-
der Psychoanalyse gung (Angst vor Liebesverlust) oder Verlust
wichtiger sozialer Bezugspersonen (Angst vor
Die drei Instanzen der Persönlichkeit stehen Objektverlust) sein. Die Gefahren werden als
ständig miteinander in Konflikt. Dies stellt Strafen für das vom Es gewünschte Verhalten
die Grundlage der psychoanalytischen Per- antizipiert. Die Antizipation gerade dieser
sönlichkeitsdynamik dar: Sie besteht aus dem Gefahren geht auf frühkindliche Angsterfah-
dauernden Kampf zwischen den Es-Impul- rungen zurück, z. B. auf den Geburtsvorgang,
sen, dem um Anpassung an die Realität der als erstes Verlusterlebnis primäre Angst
bemühten Ich und den Über-Ich-Ansprü- erzeugte, von Freud auch als »Urangst« be-
chen. Jedes Verhalten ist durch Triebimpulse zeichnet, oder auf die Entstehung der Kastra-
und die ihnen entgegengerichteten Ich- und tionsangst während der ödipalen Konfliktsi-
Über-Ich-Kräfte motivational determiniert. tuation im dritten Lebensjahr (phallische
Es sind vor allem zwei Konzepte der Phase). Diese frühen Angsterlebnisse kom-
Psychoanalyse, die persönlichkeitstheore- men als unbewusste Anteile in der neuroti-
tisch relevant erscheinen und bei der genann- schen Angst wieder zum Tragen.
ten Konfliktdynamik eine große Rolle spie- Ähnliche Verlustgefahren werden auch
len: das Konzept der Angst und die Konzep- durch die »moralische Angst« signalisiert,
tion von Abwehrmechanismen. die dann entsteht, wenn das Ich sich nicht in
Einklang mit den Geboten und Verboten des
Über-Ich sieht.
Angst Da Angst ein schmerzhafter Zustand ist,
der nicht längere Zeit ertragen werden kann,
Freud hat seine theoretische Auffassung des in der Konfliktdynamik zwischen Es, Ich und
Phänomens Angst im Laufe seiner wissen- Über-Ich aber unvermeidbar immer wieder
schaftlichen Arbeit öfter geändert (s. Bally, entstehen würde, wehrt sich das Ich gegen
1961). Nachfolgend soll nur die jüngere Angst durch die sogenannten Abwehrme-
Angsttheorie thematisiert werden, die Freud chanismen.
im Anschluss an die Instanzenlehre von Es,
Ich und Über-Ich entwickelt hat (Freud,
1940b). In ihr wird Angst als Signal verstan- Die Abwehrmechanismen
den, welches das Ich vor einer Gefahr warnt
(»Signaltheorie der Angst«). Diese Angst ent- Der persönlichkeitstheoretisch wichtigste
steht automatisch immer dann, wenn das Ich Abwehrmechanismus, mit dem Freud sich
durch einen Ansturm von Reizen überwältigt auch als Erstes und am meisten beschäftigt
wird, der nicht beherrscht werden kann. Diese hat, ist die »Verdrängung«: Bewusstseinsin-
Reize können aus der realen Umwelt kommen halte wie Gedanken, Erinnerungen, Wahr-
und dort eine objektive oder vermeintliche nehmungen, Triebimpulse oder Wünsche
378
9 Emotion und Persönlichkeit
werden vom Ich aus dem Bewusstsein in das Wutausbrüchen, führen. Auch im Schlaf ist
Unbewusste, in das Es, verdrängt, wenn sie die Ich-Stärke herabgesetzt, so dass Es-Inhal-
als Gefahrensignale entsprechend der jünge- te in Form von Symbolen im Traumgesche-
ren Angsttheorie Freuds im Ich Angst auslö- hen ins Bewusstsein treten können.
sen. Die Verdrängung selbst erfolgt unbe- Aber auch bei vollständiger Verdrängung
wusst, erfordert aber dauernd Kräfte des Ich, können die Es-Inhalte unbewusst bleibende
die stärker sein müssen als die der verdräng- Wirkungen in Form von Fehlleistungen,
ten Triebe und der mit ihnen verknüpften neurotischen oder psychosomatischen Symp-
Vorstellungen, wenn die Verdrängung er- tomen erzielen: Angst wird durch Leid
folgreich sein und bleiben soll. Diese Kräfte ersetzt.
fehlen dem Ich für andere Funktionen wie Freud hielt die Verdrängung für den weit-
Denken, Erinnern, Wahrnehmen oder will- aus wichtigsten Abwehrmechanismus und
kürliches Handeln. Bei herabgesetzter Ich- für eines der wichtigsten psychoanalytischen
Stärke, wie etwa im alkoholisierten Zustand Konzepte überhaupt. Verdrängung liegt teil-
oder bei Ich-schwachen Personen, können weise auch anderen der vielen weiteren Ab-
verdrängte Es-Inhalte in ihrer impulsiven wehrmechanismen zugrunde, die Freud kon-
Form aus dem Es ausbrechen und zu unkon- zipierte. Einen groben Überblick über diese
trollierten Handlungen, wie z. B. aggressiven Abwehrmechanismen gibt Tabelle 9.1.
Rationalisierung Der Versuch, sich einzureden, dass das eigene Verhalten verstandesmäßig
begründet und so vor sich selbst und vor anderen gerechtfertigt ist.
379
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Verleugnung Schutz vor einer unangenehmen Wirklichkeit durch die Weigerung, sie
wahrzunehmen.
Auch in Freuds Theorie der psychosexuellen In der »oralen Phase« (erstes Lebensjahr)
Entwicklung und ihrer Bedeutung für die erfolgt die sexuelle Triebbefriedigung mit
Persönlichkeit des Erwachsenen spielen Ab- Hilfe der Schleimhäute der Mundzone durch
wehrmechanismen eine Rolle: Kann ein Kon- Saugen, Beißen und Kauen. Durch Fixierung
flikt zwischen einem Triebwunsch und der auf dieser Entwicklungsstufe entstehen orale
Forderung seiner Nichterfüllung nicht gelöst Charakterzüge beim Erwachsenen, die dem
werden, wird eine Ersatzlösung vom Ich unselbstständigen, selbstbezogenen, »nar-
dadurch angestrebt, dass die Triebbefriedi- zisstischen«, immer nur (Nahrung) fordern-
gung entsprechend einer ontogenetisch frü- den Kind des ersten Lebensjahres direkt oder
heren Entwicklungsstufe erfolgt und durch symbolisch entsprechen: Der orale Charakter
diesen Abwehrmechanismus der »Regres- ist passiv und abhängig, immer nur fordernd,
sion« die Angst aus dem ungelösten Konflikt nie gebend, sicherheitsbedürftig und selbst-
vermieden wird. bezogen, aber auch »bissig« im Sinne von
sarkastisch. Übermäßiger Nahrungsgenuss,
Rauchen und Drogenmissbrauch werden als
Psychosexuelle Entwicklung und orale Ersatzbefriedigungen angesehen.
Charaktertypen In der »analen Phase« (zweites bis drittes
Lebensjahr) steht die Reinlichkeitserziehung
Freud unterschied drei Stufen der frühkind- im Vordergrund. Der Anus wird zur eroge-
lichen Entwicklung nach den für die sexuelle nen Zone. Sexueller Lustgewinn erfolgt zu-
Triebbefriedigung des Kindes bevorzugten nächst durch das Ausscheiden, später durch
Körperzonen (erogene Zonen). Entwick- Zurückhalten von Kot. Je nach der Art der
lungsstörungen können auftreten, wenn die Reinlichkeitserziehung und der Lösung der
Triebbefriedigung in einer dieser Phasen zu ersten Konflikte mit den Eltern, die in dieser
kurz kommt oder auch zu intensiv möglich Phase entstehen, führt Fixierung oder Re-
war. Dies führt zur »Fixierung« von Libido gression zu einem grausamen, destruktiven,
in einer Entwicklungsphase und damit zur ungestümen und unordentlichen (entspre-
Beibehaltung der phasentypischen Befriedi- chend der ersten analen Phase: Lustgewinn
gungswünsche und -techniken, die noch im durch Kotausscheidung) oder einem zwang-
Erwachsenenalter unbewusst wirken und zu haft ordentlichen, pedantischen und geizigen
bestimmten Charakterformen führen. Charakter (entsprechend der zweiten analen
380
9 Emotion und Persönlichkeit
Phase: Lustgewinn durch das Zurückhalten gangen werden kann (eine hervorragende
von Kot). Einführung in dieses Themengebiet findet der
In der »phallischen« oder »ödipalen Leser bei Kutter, 2008).
Phase« (drittes bis fünftes Lebensjahr) be-
schäftigt sich das Kind mit seinem Körper,
speziell mit seinem Genitale als erogener 9.1.4 Die Neoanalyse
Zone. Es entdeckt den anatomischen Unter-
schied zwischen den Geschlechtern. Der Ödi- Zu den theoretischen Vorstellungen Freuds
puskonflikt, in dem die Beziehung des Kna- wurden schon bald tiefenpsychologische
ben zur Mutter eine sexuelle Komponente Gegenpositionen entwickelt, die sich vor
bekommt und der Vater als Rivale erlebt allem gegen Freuds Pansexualismus richte-
wird, was Schuldgefühle und Angst (»Kas- ten, aber ebenso wie Freud unbewusste Kräf-
trationsangst« durch Entdeckung des weibli- te für bewusstes Erleben und Handeln ver-
chen Genitales) auslöst, beherrscht die phal- antwortlich machten. Diese nachfolgenden
lische Phase. Die ödipale Situation wird da- analytischen Theorien werden häufig als
durch gelöst, dass der Knabe die Mutter als »Neoanalyse« bezeichnet.
Sexualobjekt aufgibt und sich mit dem Vater
identifiziert, was durch »Introjektion« (Über-
nahme) der väterlichen Normen zur Über- Die Analytische Psychologie von Carl
Ich-Bildung führt. Bei den Mädchen verläuft Gustav Jung
diese Phase weniger dramatisch, da die Angst
vor der Mutter als Rivalin geringer ist, die Allen voran entwickelte Freuds einstiger
Kastrationsangst fehlt und die Aufgabe des Schüler und designierter Nachfolger Carl
Vaters als Sexualobjekt leichter fällt. Da- Gustav Jung nach einem Zerwürfnis mit
durch entstehen die Unterschiede zwischen Freud eine recht eigenständige Theorie, die er
dem männlichen und weiblichen Charakter. als »Analytische Psychologie« bezeichnete
Eine Regression auf die phallische Phase oder (für eine Einführung, s. Jacobi, 1962). Nach
Fixierung in ihr führen beim Mann zum seinen Vorstellungen besteht die Psyche aus
phallischen Charakter mit seinen übertriebe- drei Teilen.
nen Männlichkeitsbedürfnissen, seiner Nei-
gung, sich selbst und anderen seine Potenz zu l Das »bewusste Ich« beinhaltet die be-
demonstrieren (Kompensation der Kastra- wussten Anteile der Persönlichkeit (Selbst-
tionsangst), sowie übertriebenem Erfolgs- bewusstsein).
streben (Bedürfnis, den Vater zu übertreffen). l Das »persönliche Unbewusste« enthält
Aber auch Impotenz und Erfolglosigkeit hingegen »vorbewusste« Gedanken und
können aus den Schuldgefühlen gegenüber Gefühle. Dabei handelt es sich sowohl um
dem Vater in der Ödipussituation resultieren. unwichtiges wie auch um bedrohliches
Mit der folgenden »Phase der Latenz« und deshalb verdrängtes Material. Inter-
(sechstes Lebensjahr bis zur Pubertät) und essanterweise können diese Inhalte retro-
der »genitalen Phase« (Pubertät bis zum spektiv sein, sie beziehen sich dann auf
reifen Erwachsenenalter) hat Freud sich bereits geschehene Dinge. Sie können
selbst weniger beschäftigt. aber auch prospektiv sein und beziehen
Neben den hier skizzierten persönlich- sich dann auf Dinge, die wahrscheinlich
keitstheoretischen Ansätzen der Psychoana- geschehen werden. Letzterer Aspekt ver-
lyse liegen die Hauptbemühungen Freuds auf weist darauf, dass Jung von der Existenz
den Gebieten der Psychopathologie und Psy- »paranormaler« Phänomene fest über-
chotherapie, auf die hier nicht näher einge- zeugt war.
381
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
382
9 Emotion und Persönlichkeit
hängigkeit zu einer anderen Persönlichkeit l Lernt ein Kind im 2. und 3. Lebensjahr die
führen. Kontrolle über den eigenen Körper, so
führt dies zur »Autonomie« der Person.
l Erstgeborene Kinder erhalten zunächst Findet dabei allerdings eine Überkon-
die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer El- trolle durch die Eltern statt, resultieren
tern. Dies soll dem Streben nach Unab- »Scham« und »Zweifel«.
hängigkeit besonders förderlich sein. l Lernt ein Kind im 4. und 5. Lebensjahr,
l Zweitgeborene Kinder leben in Rivalität seine Handlungen zu planen und mit
und Wettbewerb mit ihren Geschwistern. anderen auszukommen, so entwickelt
Dies begünstigt die Herausbildung eines die Person »Initiative«; andernfalls resul-
Minderwertigkeitskomplexes. tieren Schuldgefühle.
l Letztgeborene Kinder sind die »Nesthäk- l Erlernt ein Kind im 6. bis 13. Lebensjahr,
chen«. Da ihre älteren Geschwister un- stolz auf eigene Leistungen zu sein, führt
erreichbare Vorbilder darstellen, entwi- dies zu einer entsprechend positiven Ein-
ckeln diese Kinder eine faule Grundhal- stellung; andernfalls entsteht das Gefühl
tung. von »Minderwertigkeit«.
l Im Alter von 13 bis 18 Jahren kann eine
Tatsächlich konnte in entsprechenden Stu- Konfusion der unterschiedlichen Rollen
dien gezeigt werden, dass die erstgeborenen zu einer Identitätskrise führen. Gelingt
Kinder eine ausgeprägtere Leistungsorientie- dabei die Integration der verschiedenen
rung aufweisen und ein größeres Pflichtbe- Rollen, führt dies zu einer gefestigten
wusstsein haben als die nachfolgenden Kin- »Identität«; andernfalls droht Rollenun-
der (Paulhus et al., 1999). Insofern besteht sicherheit.
durchaus ein Zusammenhang zwischen Ge- l Lernt die Person im Alter von 20 bis
schwisterstellung und Persönlichkeit. 30 Jahren, sich anderen zu öffnen, so
bildet sich die Fähigkeit zur »Intimität«
heraus; andernfalls entwickelt sich ein
Die Identitätsentwicklung nach Erik tiefes Gefühl der Einsamkeit und Isola-
Erikson tion.
l Entwickelt die Person im Alter von 30 bis
Während Freud davon ausging, dass sich die 50 Jahren das Anliegen, anderen etwas
Identität eines Menschen als Produkt der von sich weiterzugeben, so resultiert eine
frühkindlichen Entwicklung bis zum fünften Haltung der »Generativität«; gelingt dies
Lebensjahr herausbildet, ging Erik Erikson nicht, erscheint das Leben zunehmend als
(1963, 1968) davon aus, dass die Identitäts- sinnlos und mündet in eine Stagnation.
bildung ein lebenslanger Entwicklungspro- l Kann schließlich ein Mensch im Alter von
zess ist. Diese »Identitätsentwicklung« ist 60 bis 80 Jahren auf sein Leben zurück-
nach Erikson in acht Phasen gegliedert, die blicken und erkennt Sinn und Ordnung,
jeweils mit einer typischen Ich-Krise verbun- so bildet sich eine »Ich-Integrität« heraus;
den sind. Eine erfolgreiche Bewältigung die- wird andernfalls der Lebensplan als ge-
ser Krisen ist unabdingbar für ein optimales scheitert wahrgenommen, führt dies zu
Wachstum der Persönlichkeit. Verzweiflung.
l Werden im ersten Lebensjahr die Primär- Auf viele weitere interessante Nachfolger
bedürfnisse optimal befriedigt, entwickelt Freuds konnte hier nicht eingegangen wer-
sich ein »Urvertrauen«; andernfalls führt den, wie z. B. auf Erich Fromm, der die
dies zu einem »Urmisstrauen«. sozialen Komponenten und die Kompetenz-
383
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Die Überprüfbarkeit der Psychoanalyse Nicht nur diese Vieldeutigkeit der Ableitun-
gen aus der psychoanalytischen Theorie,
Voraussetzung für die empirische Überprüf- sondern auch die meist bildhafte Umschrei-
barkeit einer Theorie ist, dass die Begriffe in bung anstelle eindeutiger Definitionen der
ihr sowie die Relationen zwischen ihren verwendeten Begriffe macht viele Teile der
Begriffen möglichst eindeutig und unmiss- Theorie unüberprüfbar.
verständlich definiert sind. Nur bei präziser In anschaulicher Weise demonstrierte Ey-
Definition der Begriffe ist eine Beziehung senck (1985) für die Bereiche der psycho-
dieser theoretischen Begriffe zu beobachtba- analytischen Therapie, der psychoanalyti-
ren Sachverhalten herstellbar, die Grundlage schen Entwicklungstheorie und der Traum-
jeder empirischen Überprüfung sein müs- deutung die Fragwürdigkeit psychoanalyti-
sen. Darüber hinaus ist die Eindeutigkeit scher Theorienbildung. Er zeigte darüber
der theoretischen Relationen innerhalb der hinaus die Schwierigkeiten einer experimen-
Theorie zwischen ihren Begriffen notwendig: tellen Prüfung psychoanalytischer Hypothe-
Nur so können wiederum eindeutige Vor- sen auf. Aufgrund des umfangreichen Mate-
384
9 Emotion und Persönlichkeit
rials zu den genannten Bereichen kam er zu die Richtigkeit der Fixierungshypothese der Psy-
dem Schluss, dass aus keinem dieser Gebiete choanalyse, eine Interpretation, die sich auch in
Lehrbüchern wiederfindet (Pervin, 1970). Sie mag
eine empirische Stütze für die Psychoanalyse richtig sein, gestützt wird sie durch die Untersu-
Sigmund Freuds erwächst. chung allerdings nicht, denn es sind eine ganze
Fülle von Unterschieden zwischen lange stillenden
und kürzer stillenden Müttern denkbar und wahr-
Empirische Überprüfung scheinlich, so dass die Charakterunterschiede bei
den Versuchspersonen mit gleicher Wahrschein-
psychoanalytischer Hypothesen lichkeit auf andere Bedingungen als die Stilldauer
zurückgeführt werden können. So mag es sein,
Über klinische Beobachtungen und Erfah- dass länger stillende Mütter allgemein mehr Zu-
rungen hinausgehend gibt es heute eine große wendung zum Kind zeigen, ein besonders positives
emotionales Klima schaffen und mehr Förderung
Zahl empirischer und auch experimenteller realisieren, was alleine zur entsprechenden Cha-
Untersuchungen im engeren Sinne, die spe- rakterentwicklung beitragen könnte, ohne dass
zielle Hypothesen aus der Psychoanalyse das Ausmaß oraler Befriedigung eine Rolle dabei
gezielt zu überprüfen versuchten. Sehr oft spielt. Aber selbst wenn es diese Unterschiede
wurden die Ergebnisse solcher Untersuchun- zwischen länger und kürzer stillenden Müttern
nicht gäbe, bliebe völlig offen, ob es die Stilldauer
gen als Belege für die Richtigkeit Freud’scher ist, die Einfluss auf die Charakterentwicklung hat
Hypothesen angesehen. Es kann hier nicht und nicht vielleicht das Ausmaß an Körperkon-
annähernd versucht werden, einen Überblick takt, der nichts mit oraler Befriedigung zu tun hat.
über die empirischen Kontrolluntersuchun- Diese letztgenannte Interpretation legen zum Bei-
spiel die Untersuchungen von Harlow (1958) an
gen zu Freud’schen Thesen zu geben. Für eine Affenkindern nahe, in denen demonstriert wurde,
kritische Sichtung einiger »klassischer« Be- dass der Körperkontakt zu Mutterattrappen grö-
funde muss auf weiterführende Literatur ßeren Einfluss auf die emotionale Entwicklung der
verwiesen werden (Brody, 1972; Eysenck & Affenkinder hatte als die Funktion des Stillens.
Wilson, 1973; Gatchel & Mears, 1982;
Kiener, 1978; Kline, 1972). Hier sollen nur Die fehlende interne Validität der Goldman-
beispielhaft zwei Untersuchungen skizziert Eisler-Untersuchung für die psychoanalyti-
werden, in denen die Schwierigkeiten einer sche Fixierungshypothese ist charakteristisch
empirischen Überprüfung der Theorie deut- für Quasi-Experimente und Ex-postfacto-
lich werden. Untersuchungen, die wegen ihrer wenig ein-
deutigen Interpretierbarkeit nur unzuläng-
In einer Studie von Goldman-Eisler (1948) sollte liche Belege für Bedingungshypothesen lie-
die Hypothese geprüft werden, dass geringe Trieb- fern können. Dabei wurde die Validität der
befriedigung in der oralen Phase durch zu kurze verwendeten Variablenoperationalisierun-
Stillperioden (weniger als fünf Monate) zu oraler gen (Beurteilungsskalen zum oralen Charak-
Fixierung und damit zu einem oral-pessimistischen
Charakter (Pessimismus, Passivität, Zurückgezo-
ter, Befragung der Mutter nach der Stilldau-
genheit und verbaler Aggressivität) führe, wäh- er) hier noch gar nicht in Frage gestellt (s.
rend lange Stilldauer (länger als fünf Monate) auch O’Dell, 1980).
oral-optimistische Charaktere (Optimismus, Le- Zum analen Charakter, der durch die
bensfreude, Geselligkeit, Fürsorglichkeit) hervor- Attribute geizig, sauber und ordentlich ge-
brächte. An 100 Erwachsenen wurden Selbstbe-
urteilungen auf 19 Skalen zur Erfassung des kennzeichnet ist, sind verschiedene Untersu-
Oralcharakters erhoben. Die Mütter dieser Perso- chungen durchgeführt worden, die dieselben
nen wurden über die Stilldauer befragt. Es zeigte Mängel in der Validität der Operationalisie-
sich, dass jene Versuchspersonen, die weniger als rungen aufweisen (Kline, 1972).
fünf Monate gestillt worden waren, zu oral-pessi-
mistischen Charakterzügen neigten, während län-
Die meisten experimentellen Untersu-
ger Gestillte oralen Optimismus zeigten. Die chungen zu psychoanalytischen Konzepten
Autorin interpretiert ihr Ergebnis als Beleg für wurden zur Verdrängungstheorie Freuds
385
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Tab. 9.2: Lernlisten (A- und B-Wörter) des ersten und (D-Wörter) des zweiten Lernexperimentes sowie die
vermittelnden Wörter (C-Wörter), die in den Experimenten nicht vorkamen.
Die Liste mit den D-Wörtern wurde so lange getrennt für indirekt über die C- und D-Wörter
dargeboten, bis die Versuchspersonen richtig vor- schock-assoziierten und nichtschock-assoziierten
hersagen konnten, welche drei der zehn D-Wörter B-Wörter ausgewertet. Es zeigte sich, dass von den
regelmäßig mit einem Elektroschock gemeinsam nichtschock-assoziierten B-Wörtern 6,3 % verges-
vorgegeben wurden (für jede Versuchsperson wa- sen wurden, von den schock-assoziierten hingegen
ren das andere drei Wörter). 29,2 %. Ein Ergebnis, das im Sinne der Verdrän-
Danach wurde den Versuchspersonen noch gungstheorie interpretiert wurde.
einmal die Assoziationsaufgabe des ersten Lern-
experimentes vorgegeben und registriert, welche
B-Wörter sie noch richtig assoziieren konnten. Die Dass solche Interpretationen keine eindeuti-
Häufigkeit richtig genannter B-Wörter wurde gen Belege dafür darstellen, dass derartige
386
9 Emotion und Persönlichkeit
Reproduktionsveränderung
besten erklärt werden, demonstrierte Hol-
Rückmelde-
mes: Er argumentierte, dass Verdrängung 4 bedingungen
nur dort eine sinnvolle Erklärung darstelle,
wo nur negativ-emotionale Assoziationen neutral
und nicht auch positiv-emotionale Assozia- 2
tionen die Gedächtnisleistungen verschlech-
Ich-erhöhend
tern (Holmes, 1972, 1974). 0
387
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
die psychoanalytische Therapie weiterzuent- fundieren sind, so dass heute sehr oft andere
wickeln und die dabei stattfindenen Prozesse Konzepte und Erklärungsansätze bevorzugt
empirisch zu beforschen (über den aktuellen werden. Dies schmälert aber nicht das Ver-
Stand solcher Bemühungen informieren Tho- dienst der Psychoanalyse, zu einer Fülle von
mae & Kächele, 2006a, b, c). persönlichkeitspsychologischen Konzeptbil-
Die dargestellten Beispiele haben verdeut- dungen und Forschungsansätzen angeregt zu
licht, wie schwer psychoanalytische Kon- haben, von denen in den folgenden Abschnit-
zepte und Hypothesen empirisch sauber zu ten Beispiele gegeben werden.
Strukturell nimmt Freud drei Instanzen der Persönlichkeit an, nämlich Es, Ich und Über-Ich.
Diese befinden sich in einem permanenten Wettstreit miteinander; die aus dem Es
kommenden Impulse streben nach Lustgewinn, das Ich ist um Anpassung an die Realität
bemüht und das Über-Ich vertritt moralische Prinzipien. Die intrapsychische Dynamik ist
begleitet von negativen Emotionen, die insbesondere dann, wenn der Konflikt nicht gelöst
wird, in Angst ausarten. Das Ich wehrt sich gegen die neurotische und die moralische Angst
mit Hilfe von verschiedenen Abwehrmechanismen. Am wichtigsten davon und am besten
untersucht ist die Verdrängung. Die dazu und auch zu den anderen Abwehrmechanismen
durchgeführten Untersuchungen und Experimente sind – ungeachtet ihrer im Einzelfall
hochgradigen Originalität – jedoch mehrheitlich unschlüssig, weil die Ergebnisse auch
durch andere, weniger weit reichende Annahmen erklärt werden können. Das gilt auch für
die von Freud entwickelte Typologie der frühkindlichen Entwicklung, in der je nach der
Körperzone, an der eine primäre Triebbefriedigung gesucht wird, zwischen der oralen, der
analen und der phallischen oder ödipalen Phase unterschieden wird; je nach der Fixierung
auf einer dieser Phasen (oder der Regression darauf) kommt es später zu entsprechenden
Charaktertypen. Erschwert wird jede Überprüfung auch durch unpräzise Begriffsdefinitio-
nen und uneindeutige Vorhersagen zum Konfliktgeschehen. Durch die Einführung des
Abwehrmechanismus der Reaktionsbildung ist die Psychoanalyse prinzipiell immun gegen
jegliche Falsifizierung geworden, da mit Hilfe dieses Konstruktes jedes Ergebnis als im
Einklang mit der Theorie gedeutet werden kann – freilich nur im Nachhinein.
388
9 Emotion und Persönlichkeit
389
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
lang
die emotionalen und neutralen Wörter in
einer Zufallsreihenfolge den Versuchsperso-
nen mit sehr kurzen Darbietungszeiten (be-
TEZ
ginnend bei ca. 100 ms) vorgegeben und die
Darbietungszeiten von einem zum nächsten Wahrnehmungsabwehr
Durchgang jeweils erhöht. Festgestellt wird,
kurz
bei welcher Darbietungszeit die Versuchsper-
son das dargebotene Wort zum ersten Mal
richtig nennen kann. niedrig Emotionalität hoch
lang
Wahrnehmungsabwehr zeigten: Für diese stiegen
die Erkennungszeiten im Tachistoskop mit zuneh-
mender Emotionalität der Reizwörter an.
Ein anderer Teil völlig vergleichbar behandelter
TEZ
390
9 Emotion und Persönlichkeit
391
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Tab. 9.3: Themengruppen der 106 Items aus der Tab. 9.4: Unterschiede zwischen Repressern und
deutschen Form der R-S-Skala. Sensitizer Sensitizern (Extremgruppen, gebildet
geben die genannten Verhaltensweisen mit der deutschen R-S Skala) in ver-
und Verhaltensauffälligkeiten in stär- schiedenen Tests und experimentellen
kerem Maße an als Represser. Variablen.
392
9 Emotion und Persönlichkeit
andere Autoren (Parsons et al., 1969; Wein- Verbindung brachten, während Sensitizer eher
stein et al., 1968; Otto & Bösel, 1978). positive Gefühle verspürten.
Danach fühlten sich Represser trotz höherer
Beim Zusammenhang zwischen dem R-S-
physiologischer Reaktionen durch diese Situ-
Merkmal und den Reaktionen auf sexuelle
ationen weniger subjektiv betroffen, wäh-
Reize scheint das Geschlecht der Versuchs-
rend sich Sensitizer trotz relativ niedriger
teilnehmer eine wesentliche Rolle gespielt zu
physiologischer Erregung subjektiv für sehr
haben (Byrne & Lamberth, 1971), da der
erregt hielten. Walschburger (1981) wies
Effekt bei Frauen stärker war als bei Män-
darauf hin, dass die Diskrepanz zwischen
nern. Dafür mögen die für die beiden Ge-
physiologischen und verbalen Angstindika-
schlechter zur Blütezeit der R-S-Forschung
toren im Vergleich zwischen Repressern und
recht unterschiedlichen Erziehungsmaximen
Sensitizern als Hinweis für unterschiedliche
beigetragen haben.
Angstverarbeitungsmechanismen gewertet
werden darf, allerdings nur dann, wenn sich
Represser und Sensitizer nicht nur im verba-
len (Fragebogen), sondern auch im physio- Aufmerksamkeit gegenüber eigenen
logischen Indikator wirklich unterschieden. Krankheiten
Dies ist jedoch bei Weinstein et al. (1968)
sowie bei Otto und Bösel (1978) nicht der Ob sich Represser und Sensitizer hinsicht-
Fall gewesen. lich ihrer allgemeinen physischen Gesund-
heit unterscheiden, lässt sich aus dem R-S-
Konstrukt nicht ableiten. Wohl aber darf
erwartet werden, dass Sensitizer möglichen
Reaktionen auf sexuelle Reize
Krankheiten mehr Aufmerksamkeit schen-
ken und deshalb möglicherweise auch ver-
Viele Untersuchungen zum Konzept Repres-
stärkt medizinische Versorgung in An-
sion – Sensitization beschäftigten sich mit
spruch nehmen.
individuellen Unterschieden in den Reaktio-
nen auf sexuelle Reize, ausgehend von der Dieser Frage gingen Byrne et al. (1968) nach. Sie
Annahme, dass es sich dabei um bedrohliche gaben den R-S-Fragebogen zwei großen Stichpro-
Reize handelt, auf die Represser und Sensiti- ben von Studenten niedriger Semester vor, die
zer folglich unterschiedlich reagieren müss- darüber hinaus einen umfangreichen Gesundheits-
fragebogen ausfüllen mussten. In diesem wurden
ten. Galbraith und Lieberman (1972) konn-
sie nach der Häufigkeit somatischer und psycho-
ten die Hypothese bestätigen, dass bei zwei- somatischer Beschwerden und Krankheiten ge-
deutigen Wörtern Assoziationen mit sexuel- fragt. Sie sollten auch angeben, wie oft sie Medi-
len Inhalten bei Sensitizern eher auftreten als kamente zu sich nehmen und einen Arzt aufsu-
bei Repressern. Sowohl unter neutralen als chen. Für jede dieser Fragen wurde getrennt in
beiden Stichproben die Korrelation zu den R-S-
auch unter sexuell erregenden Bedingungen Fragebogenwerten berechnet. Die in beiden Stich-
gaben Sensitizer häufiger sexuelle Assozia- proben mindestens auf dem 5 %-Signifikanz-
tionen an. niveau bedeutsamen Korrelationen gibt Tabel-
le 9.5 wieder. Das Ergebnis zeigt zwar niedrige
In der Untersuchung von Byrne und Sheffield Korrelationen, die jedoch alle positiv sind. Danach
(1965) mussten deren Versuchspersonen erotische berichteten Sensitizer signifikant mehr Krankhei-
Literaturstellen vorlesen und anschließend ihre ten als Represser.
Gefühle einschätzen, die sie dabei hatten. Es zeigte Um der Frage nachzugehen, ob dies bedeutet,
sich, dass Represser und Sensitizer gleichermaßen dass Sensitizer lediglich mehr Krankheiten zuge-
erregt waren, Represser diese Erregung jedoch ben als Represser, werteten die Autoren für einen
eher mit negativen Gefühlen wie Abscheu in Teil ihrer Stichprobe II Akten des Universitäts-
393
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
394
9 Emotion und Persönlichkeit
Einen ersten Schritt in diese Richtung versuchten R-S-Skalenwerte (Sensitizer) sowohl habi-
Lazarus-Mainka et al. (1981), die Sensitizer (die tuelle Sensitivierungstendenzen für mäßig
zugleich Hochängstliche waren) mit Repressern
(die zugleich Niedrigängstliche waren) hinsicht-
ängstliche Personen oder hohe Ängstlich-
lich ihrer Reaktionen auf bedrohliche und ent- keit dieser Personen bedeuten. Diese Über-
spannende Bildinhalte verglichen. Die Bildvorla- legung legt eine Konfundierung von Skalen
gen (Dias) wurden der Hälfte der Versuchsperso- zur Erfassung von R-S und Ängstlichkeit
nen lange (30s), der anderen Hälfte kurz (0,1s) nahe.
dargeboten. Aus der Repression-Sensitization-
Theorie leiteten die Autoren die Hypothese ab, Diese Problematik kann nur gelöst wer-
dass Represser und Sensitizer sich in ihren Reak- den, wenn getrennte empirische Indikatoren
tionen auf bedrohliche Reize nicht unterscheiden für R-S und Ängstlichkeit verwendet werden.
dürften, wenn die Bildinhalte nur kurz dargeboten Krohne und Rogner (1985; Krohne, 1996a,
werden, da die entsprechenden Abwehrmecha-
nismen so schnell nicht wirken könnten, wohl aber
b) sprachen daher auch von einem erforder-
bei längerer Darbietungsdauer. Spiegelt die lichen »Mehrvariablenansatz«. Asendorpf
R-S-Skala jedoch nur Ängstlichkeitsunterschiede et al. (1983) schlugen vor, diese Trennung
wider, müssten nach der Ängstlichkeitstheorie von durch Verwendung einer Skala zur Messung
Spielberger (1972c, siehe unten 9.3.3) Represser defensiver Vermeidung negativer Affekte zu-
und Sensitizer sich auch bei kurzzeitiger Bilddar-
bietung in ihren Reaktionen auf bedrohliche Bild- sätzlich zu einer Ängstlichkeitsskala zu voll-
inhalte unterscheiden. ziehen: Aufgrund der vorliegenden Literatur
Die Autoren interpretierten ihre Ergebnisse als (Crowne & Marlowe, 1960; Millham &
Stütze der R-S-Theorie und als im Widerspruch Jacobson, 1978) hielten sie die »Social Desi-
stehend mit Spielbergers Angsttheorie. Tatsächlich
reagierten Sensitizer in der 30-Sekunden-Bedin-
rability Scale« (SDS) von Crowne und Mar-
gung mit signifikant mehr negativen Assoziationen lowe (1960) für eine geeignete Skala zur
auf bedrohliche Bildinhalte als Represser, während Messung dieser Tendenz zur defensiven Ver-
der entsprechende Unterschied in der 100-Millise- meidung negativer Affekte. Demnach wurde
kunden-Bedingung nicht auftrat. Auch im Ausmaß
das R-S-Konstrukt neu operationalisiert: Re-
an unangenehmen Gefühlen als Reaktion auf die
bedrohlichen Bilder, angezeigt durch die Länge des presser sind danach Personen, die nicht nur
Drucks auf eine Taste, fanden sich signifikante niedrige Ängstlichkeitswerte aufweisen, son-
Unterschiede zwischen Repressern (kurze Tasten- dern zusätzlich hohe Werte in der SDS haben.
druckzeiten) und Sensitizern (lange Tastendruck- Niedrigängstliche lassen sich von Repressern
zeiten) nur in der 30-Sekunden-Bedingung und
nicht in der 0,1-Sekunden-Bedingung. durch die Kombination niedriger Ängstlich-
keitswerte mit niedrigen SDS-Werten unter-
scheiden.
Entsprechend wurde eine Unterscheidung
9.2.6 Zweidimensionale
in Defensiv-Hochängstliche (hohe Ängstlich-
Erfassung des keits- und hohe SDS-Werte) und Hochängst-
R-S-Konstruktes liche (hohe Ängstlichkeits- und niedrige SDS-
Werte) vorgeschlagen, wobei hier allerdings
Will man annehmen, dass sowohl das R-S- noch offenbleibt, ob und wie sich damit das
Konstrukt wie das Ängstlichkeitskonstrukt Konzept des Sensitizers verknüpfen lässt.
sinnvolle Beschreibungsdimensionen im Diese Frage wurde von Krohne und Rogner
Persönlichkeitsbereich darstellen, so können (1985) aufgegriffen. Sie verstanden Repres-
niedrige Werte in der R-S-Skala (Represser) sion und Sensitization als zwei mögliche
sowohl aufgrund habitueller Verdrängungs- Formen der Angstbewältigung. In Anleh-
tendenzen ängstlicher Personen in bedro- nung an Asendorpf et al. (1983) unterschie-
henden Situationen als auch aufgrund nied- den sie Ängstlichkeit und Angstleugnung als
riger Ängstlichkeit dieser Personen zustande interindividuell variierende Merkmale, wo-
kommen. In analoger Weise können hohe bei Angstleugnung ebenfalls über die SDS
395
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
von Crowne und Marlowe (1960) erfasst Tabelle 9.6 vier Dispositionen der Angstbe-
wird. In ihrem System werden entsprechend wältigung unterschieden.
Ängstlichkeit Angstleugnung
hoch niedrig
Represser sind danach Personen, die bei hoher für die Theorierelevanz der Unterscheidung
Angstleugnung geringe Ängstlichkeit zeigen, zwischen Repressern und Niedrigängstlichen
während Sensitizer bei hoher Ängstlichkeit mit Hilfe der genannten Operationalisierun-
nur eine geringe Tendenz zur Angstleugnung gen liefern Untersuchungen von Davis (1987)
aufweisen. Die nichtdefensive Angstbewälti- und Davis und Schwartz (1987), die zeigen
gung entspricht dabei in dem Konzept von konnten, dass nur Represser, nicht aber
Asendorpf et al. (1983) den Niedrigängst- Niedrigängstliche eine verminderte Repro-
lichen, die erfolglose Angstbewältigung den duktionsleistung für emotional negativ ge-
Hochängstlichen. Eine der Konzeption von tönte Gedächtnisinhalte aufweisen, wenn
Krohne und Rogner (1985) sehr ähnliche sich diese Gedächtnisinhalte auf das eigene
Typologie haben Weinberger und Schwartz Erleben oder die eigene Person beziehen.
(1990) vorgelegt, die Ausprägungen in den
beiden Merkmalen »Negative Affektivität«
(engl. »distress«) und »Affekthemmung« 9.2.7 Weiterentwicklung des
(engl. »restraint«) gemeinsam betrachten. R-S-Konstruktes
Dass die oben genannte operationale
Unterscheidung zwischen Repressern, Nied- Trotz der empirischen Hinweise auf die
rigängstlichen und Hochängstlichen auch Bewährung der neuen Definition von Repres-
mit den theoretischen Vorstellungen zur Per- sion – Sensitization kritisierte Krohne (Kroh-
sönlichkeit des Repressers in empirischer ne, 1996a, b) die Messung der oben genann-
Übereinstimmung steht, haben Asendorpf ten Angstbewältigungsdispositionen mit her-
und Scherer (1983) in einem Experiment kömmlichen Persönlichkeitsfragebogen zur
demonstrieren können, das sich an Weinber- Ängstlichkeit und Defensivität (Angstleug-
ger et al. (1979) anlehnt. Entsprechend den nung, Soziale Erwünschtheit) als zu global
theoretischen Erwartungen fanden sie, dass und zu wenig situationsbezogen. Er befürch-
Niedrigängstliche trotz mittelhoher verbal tete, dass mit Hilfe dieser Verfahren kaum
berichteter Ängstlichkeit in angstauslösen- Vorhersagen auf konkretes Verhalten und
den Situationen nur niedrig ausgeprägte phy- interindividuell unterschiedliche Bewälti-
siologische Angstindikatoren (Herzrate) auf- gungsstrategien (z. B. fluktuierend, flexibel)
wiesen, während Represser im neudefinierten möglich sein würden. Er forderte daher,
Sinne bei niedriger verbal berichteter Angst interindividuelle Unterschiede im Bewälti-
eine mittelhohe Herzrate zeigten. Hochängst- gungsverhalten im Rahmen neuerer, stär-
liche hingegen hatten sowohl im verbalen wie ker kognitionspsychologisch ausgerichteter
im physiologischen Angstmaß hohe Werte in Theorien zu analysieren und entsprechende
diesen Situationen. Weitere empirische Belege diagnostische Instrumente zu entwickeln.
396
9 Emotion und Persönlichkeit
Krohne selbst legte mit seinem Modell der Be- rate Persönlichkeitsdimensionen aufgefasst
wältigungsmodi (Krohne, 1986, 1989, 1993) werden: Eine Person kann demnach beispiels-
einen Ansatz vor, der in diese Richtung weist. weise sowohl vermehrt vigilante als auch
Das Modell befasst sich mit der Analyse von vermeidende Strategien anwenden; diese
Prozessen der Aufmerksamkeitsausrichtung schließen einander nicht aus.
in bedrohlichen Situationen. Die zentralen Das Modell der Bewältigungsmodi geht
Konstrukte »Vigilanz« und »kognitive Ver- auch in anderer Hinsicht über das R-S-
meidung« sind inhaltlich eng verwandt mit Konzept hinaus. Es wird nämlich versucht,
dem R-S-Konstrukt: Als »vigilant« werden die deskriptiven Konstrukte Vigilanz und
Strategien bezeichnet, die auf eine verstärkte kognitive Vermeidung auf eine explikative
Aufnahme und Verarbeitung bedrohlicher Basis zu beziehen: Nach den Annahmen des
Informationen abzielen, während »kognitive Modells gibt es zwei generelle Reaktionen,
Vermeidung« der Abkehr von bedrohlichen die Menschen in bedrohlichen Situationen
Reizen entspricht. Eine Besonderheit von zeigen, nämlich körperliche Erregung einer-
Krohnes Ansatz ist, dass diese beiden Kon- seits und das Erleben von Unsicherheit ande-
strukte konzeptuell und operational als sepa- rerseits (c Abb. 9.4).
u ng d u r c h
d ro h
Be
tigkeit Gefahren-
Mehrdeu
reize
Aversive
Situation
Unmittelbare Wahrnehmung
Erleben von
Reaktion körperlicher
Unsicherheit
Erregung
Besorgnis Emotionalität
Angstreaktion (»Angst vor (»Angst vor
der Gefahr«) der Angst«)
Bewältigungs- Kognitive
Vigilanz
verhalten Vermeidung
Abb. 9.4: Verlauf der Angstreaktion bei Bedrohung durch Mehrdeutigkeit und durch Gefahrenreize
(nach Krohne, 1993).
Personen sollen sich nun dispositionell oder aber die Unsicherheit weniger ertragen
darin unterscheiden, ob sie die Erregung können. Diese »Intoleranz gegenüber Erre-
397
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
398
9 Emotion und Persönlichkeit
Nach psychoanalytischer Auffassung besteht eine Möglichkeit, mit dem Aufkommen von
Angst umzugehen, in der Abwehr und Verdrängung der angstauslösenden Reize sowie der
Vermeidung angstauslösender Situationen (engl. »Repression«). Eine gegenteilige Strategie
könnte gerade in der verstärkten Aufmerksamkeit und Zuwendung zu den angstauslösen-
den Reizen bestehen, um in geeigneter Weise damit fertig zu werden (engl. »Sensitization«).
Es lag nahe, diese beiden Pole als Extrempunkte einer stabilen und interindividuell
variierenden Persönlichkeitsdisposition aufzufassen. Bestärkt wurde diese Auffassung
durch Wahrnehmungsexperimente, in denen einige Versuchspersonen bei angstauslösenden
Reizen besonders hohe, andere hingegen niedrige Erkennungsschwellen aufwiesen (Re-
presser bzw. Sensitizer). Fragebogenskalen zur Erfassung des Repression-Sensitization
(R-S) Konstrukts zeigten u. a. höhere Werte der Sensibilisierer in Ängstlichkeit, emotionaler
Labilität, Selbstunsicherheit sowie Reizbarkeit und höhere Werte der Represser bei
Reaktionen im Sinne sozialer Erwünschtheit, Ableugnung von Schwächen, Schilderung
der eigenen Person als kontaktfreudig, ruhig und selbstbewusst. Auch bestanden Unter-
schiede in der physiologischen Reagibilität und insbesondere der Aufmerksamkeit gegen-
über und der Behandlung von eigenen Krankheiten (Sensitizer wurden öfters wegen
psychosomatischer, Represser wegen organischer Krankheiten behandelt). Die hohe
Korrelation der R-S-Skalen mit solchen zur Erfassung von Emotionaler Labilität/Neuro-
tizismus ließ es angeraten erscheinen, eine zweidimensionale Erfassung des Konstrukts mit
sowohl Ängstlichkeit als auch Angstbewältigungsstrategien (repressiv vs. sensitiv; erfasst
mittels Skalen zur Erfassung von Sozialer Erwünschtheit) anzustreben. Ergänzt wurde
dieser Ansatz der unterschiedlichen Bewältigungsstrategien durch die Beschreibung von
habituellen interindividuellen Unterschieden in der Reaktion auf bedrohliche Situationen,
nämlich bei deren Auftreten entweder mit körperlicher Erregung oder dem Erleben von
Unsicherheit zu reagieren. Damit hat sich das Konstrukt von seinem psychoanalytischen
Ursprung entfernt und kognitionspsychologischen Konzepten angenähert.
399
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
9.3 Ängstlichkeit
400
9 Emotion und Persönlichkeit
als Existenzbedrohung, während Mandler nach sich ziehen. Über instrumentelle Kondi-
(1972; Mandler & Watson, 1966) den Zu- tionierungsprozesse (2. Prozess) wird sodann
stand der Hilflosigkeit (helplessness) in den eine Vermeidungsreaktion gelernt, so dass
Vordergrund stellte. das Individuum über die Vermeidung des
Problematisch aus der Sicht einer empiri- klassisch konditionierten Angstsignals mit
schen Wissenschaft sind viele dieser Theorien seiner Angst umzugehen lernt (Zwei-Prozess-
nicht nur wegen ihrer Orientierung am the- Theorie; Mowrer, 1950, 1960).
rapeutischen Einzelfall, sondern auch wegen Demgegenüber kritisieren die sogenann-
der oft geringen Präzision ihrer Begriffe. ten kognitiven Theorien die allzu mechanis-
In welcher Weise Freud’sche Gedanken tische Vorgehensweise der behavioristischen
die um Repräsentativität und psychometri- Ansätze und unterstellen, dass man dem
sche Exaktheit bemühte Differentielle Psy- Phänomenbereich der Angst nur durch kog-
chologie beeinflussten, wird beispielsweise nitive Konzepte wie Erwartungen und Be-
deutlich an den faktorenanalytischen Arbei- wertungen bestimmter Ereignisse oder Ver-
ten zur Ängstlichkeit von Cattell (besonders haltenskonsequenzen gerecht werden könne
in Cattell & Scheier, 1961), auf die in (s. Abschn. 10.2). Ein solcher Ansatz wird
Abschnitt 9.3.2 noch eingegangen wird. beispielsweise von Lazarus und Mitarbeitern
vertreten (Lazarus, 1966, 1991; Lazarus &
Opton, 1966; Lazarus & Averill, 1972). Im
Die allgemeinpsychologisch- Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Prozesse
experimentelle Perspektive der »Bewertung« (engl. »appraisal«) angst-
auslösender Bedingungen und der »Angst-
Vor allem der Versuch, auf der Grundlage verarbeitung« (engl. »coping«). Angst ent-
experimenteller oder anderer möglichst steht, wenn ein Individuum eine Situation als
systematischer empirischer Untersuchungen bedrohlich bewertet (»primary appraisal«)
zu Aussagen über Gesetzmäßigkeiten im und in diesem mehrphasigen Beurteilungs-
Phänomenbereich Angst zu kommen, cha- prozess keine Möglichkeiten zur Vermeidung
rakterisiert diese Perspektive, die inhaltlich oder Beseitigung der Bedrohung findet (»se-
sehr verschiedene Orientierungen umfasst. condary appraisal«). Verarbeitet wird die so
Es sind dies vor allem unterschiedliche lern- entstandene Angst durch innerpsychische
theoretische sowie neuere kognitionspsycho- Prozesse (coping), die den Konflikt zwischen
logische Ansätze. der Bedrohungsbeurteilung (primary apprai-
Aufbauend auf Arbeiten von Pawlow sal) und dem Urteil fehlender Maßnahmen
(1927, s. a. Abschn. 1.6.2) und Watson und (secondary appraisal) lösen sollen. Solche
Rayner (1920) bemühte sich bereits Mowrer innerpsychischen Prozesse resultieren in ei-
(1939) um eine Reinterpretation Freud’scher ner Aufmerksamkeitsveränderung, die zu
Konzepte mit Hilfe des Paradigmas der klas- einer verstärkten Beschäftigung (Vigilanz,
sischen Konditionierung. Danach wäre Aufmerksamkeitserhöhung) mit der Bedro-
Angst als eine innere Reaktion aufzufassen, hung oder aber auch zu einer Abwendung
die mit Hilfe der klassischen Konditionie- (Vermeidung) von der Bedrohung führen
rung (1. Prozess) gelernt werden kann. Dies kann. Dadurch entsteht eine dritte Beurtei-
setzt voraus, dass angeborene Furchtreaktio- lungsphase, die unter Umständen zu einer
nen, zum Beispiel auf Schmerzreize oder Neubewertung (reappraisal) der Ausgangssi-
überstarke sensorische Stimuli, mit zunächst tuation führt und möglicherweise durch di-
neutralen Reizen zusammen mehrmals aus- rekte Aktionen (aktive Beseitigung der Be-
gelöst werden, bis die neutralen Reize alleine drohung oder Flucht) den ursprünglichen
die Furchtreaktion oder ähnliche Reaktionen Konflikt zu lösen vermag. Auf empirischer
401
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Basis wurden bisher nur Einzelaspekte der Das zweite Kriterium (»type definition«) ist
Theorie untersucht, so etwa der Einfluss dann erfüllt, wenn die Faktorwerte der zu
bestimmter experimentell manipulierter interpretierenden Dimension (als Maß für die
Situationsvariablen auf die Beurteilungspro- Charakterisierung von Personen) mit exter-
zesse (primary und secondary appraisals). nen Ängstlichkeitsindikatoren, wie z. B. einer
psychiatrischen Diagnose oder einem ande-
ren Ängstlichkeitstest wie der MAS, korre-
9.3.2 Die differential- lieren. Type definition wird dieses Kriterium
psychologische vor allem deshalb genannt, weil diese Korre-
Perspektive lationen vorwiegend an dichotomisierten Pa-
tientengruppen (types) mit diagnostizierter
Interindividuelle Unterschiede in der Dis- hoher versus niedriger Angst bestimmt wer-
position zu Angstreaktionen werden als den.
Angstneigung (Herrmann, 1976), Ängstlich- Im Bereich der Fragebogendaten (Q-Da-
keit (z. B. Krohne, 1975) oder Angstbereit- ten) und Verhaltensdaten (L-Daten) ist es
schaft (Cohen, 1971) bezeichnet. Gemeint ist ein Faktor zweiter Ordnung, der diese bei-
damit ein Persönlichkeitskonstrukt, das den Kriterien erfüllt und der, weil er in
Unterschiede zwischen Personen hinsichtlich den zugrundeliegenden Einzeluntersuchun-
ihrer Wahrscheinlichkeit beschreibt, öfter gen meist als zweiter Faktor zweiter Ordnung
mit Angst oder mit besonders starken Ängs- (nach einem »Extraversionsfaktor«) resul-
ten zu reagieren (Häufigkeits- bzw. Intensi- tierte, von Cattell und Scheier (1961) FQ II
tätsaspekt der Ängstlichkeit), wobei meist genannt wird. Dieser Faktor ist durch die
zwischen diesen beiden Aspekten nicht Cattell’schen Primärfaktoren Q4 (Triebspan-
unterschieden wird (Cohen, 1971). Ein älte- nung), O (Neigung zu Schuldgefühlen), Q3
rer Fragebogen zur Messung des Konstruk- (fehlende Willenskontrolle), C (fehlende Ich-
tes ist die Manifest Anxiety Scale (MAS), die stärke), L (Misstrauen) und H (Furchtsam-
interindividuelle Unterschiede der Ängstlich- keit) definiert und den verfügbaren Eviden-
keit (»manifeste Angst«) erfassen soll (s. zen nach gut repliziert.
Abschn. 3.1.4). Die MAS wurde in vielen Nach Freud sind verbotene Triebimpulse,
empirischen Untersuchungen zur Ängstlich- im Über-Ich stark ausgeprägte Normen so-
keit und im Zusammenhang mit Leistungs- wie ein schwaches Ich Ursachen von Angst
verhalten eingesetzt (zusammenfassend Byr- und physiologische Prozesse ihre Begleit-
ne, 1974). erscheinungen. Drei dieser Gesichtspunkte
lassen sich in Cattells FQ II wiederfinden:
Eine Disposition zu starken Triebimpulsen
Ängstlichkeit als faktorenanalytisch könnte zu erhöhter Triebspannung (Q4 ) und
definiertes Persönlichkeitsmerkmal ein starkes Über-Ich zu Schuldgefühlen (O)
führen. Der Faktor C wurde von Cattell
Cattell und Scheier (1961) definierten in ihrer geradezu nach Freuds Ich-Instanz benannt.
Monographie zwei Interpretationskriterien Vor diesem Hintergrund wird verständlich,
für Faktoren der Ängstlichkeit. Das erste dass Ärzte und klinische Psychologen diese
dieser beiden Kriterien nannten sie »trait Merkmale dem Angstbereich zuordneten.
definition«: Es ist erfüllt, wenn ein Faktor Die Typen-Definition ist darüber hinaus
von jenen Variablen möglichst rein geladen auch durch den Zusammenhang mit anderen
wird, die auch von Ärzten und klinischen Ängstlichkeitsfragebogen erfüllt. So korre-
Psychologen als Bestandteile oder Merkmale liert der FQ II mit der MAS zu über r ¼ 0,80.
von Ängstlichkeit bezeichnet werden. Dies lässt praktisch auf Identität der gemes-
402
9 Emotion und Persönlichkeit
senen Disposition schließen. Ähnlich hohe sen Autoren als Negative Affektivität (NA)
Korrelationen zu anderen Fragebogenma- bezeichnet, und es umfasst Eigenschaften wie
ßen, wie zum Beispiel der Neurotizismus- Neurotizismus, Ängstlichkeit, Repression –
skala von Eysenck oder auch der Repression- Sensitization, soziale Erwünschtheit und
Sensitization-Skala von Byrne (Boucsein & weitere Eigenschaften. Einen Beleg für diese
Frye, 1974) belegen, dass Cattells FQ II ein These liefert die Beobachtung, dass die zur
allgemeines Persönlichkeitskonstrukt erfasst, Messung dieser einzelnen Persönlichkeits-
das mit dem Begriff Ängstlichkeit sinnvoll züge eingesetzten Tests im Bereich ihrer
charakterisiert ist. Reliabilitäten miteinander korrelieren. NA
Auf der Ebene der Objektiven Tests ist die umfasst in der Konzeption der Autoren
Identifizierung eines Ängstlichkeitsfaktors neben Ängstlichkeit auch noch die Tenden-
nicht eindeutig gelungen (s. Cattell & Kline, zen, mit Ärger, Zorn, Selbstunzufriedenheit
1977; Schmidt, 1975). Hingegen scheint auf und ähnlichen negativen Affekten zu reagie-
der Ebene von Fragebogen- und Beurtei- ren. Personen mit hoher NA berichten in
lungsdaten eine breite und allgemeine Per- allen, also auch in nicht angstauslösenden
sönlichkeitsdimension der »Ängstlichkeit« Situationen über negativere Affekte und ha-
als Faktor zweiter Ordnung sehr gut gesi- ben eine negativere Grundeinstellung sich
chert zu sein. Sie beschreibt Unterschiede selbst und anderen gegenüber. Sie werden als
zwischen Personen hinsichtlich der Häufig- introspektiver, stärker auf negative Seiten
keit und Intensität, mit der sie Angst erleben. sowohl von sich selbst als auch von anderen
Näher präzisiert wird dieses faktorenana- fixiert, feindseliger, misstrauischer, zurück-
lytisch fundierte Persönlichkeitskonstrukt haltender, unabhängiger und rebellischer
durch seine Korrelationen mit spezielleren beschrieben, während Personen mit niedriger
Ängstlichkeitsfaktoren (Faktoren erster Ord- NA konformistischer und geselliger sind und
nung) aus den Persönlichkeitssystemen von als sympathischer und beliebter beurteilt
Cattell und von Guilford. Auch der Faktor werden.
Neurotizismus in den Systemen von Eysenck Dieses Konstrukt NA soll sich mit Hilfe
(Abschn. 7.4) und im Fünf-Faktoren-Modell der von Watson et al. (1988) entwickelten
(Abschn. 7.5) hat mit Ängstlichkeit zu tun, »Positive and Negative Affect Schedule«
doch unterscheiden sich hier die Auffassun- (PANAS) direkt erfassen lassen. Darin er-
gen leicht, wie Neurotizismus und Ängstlich- gänzten die Autoren NA um ein zweites
keit zusammenhängen. Während Eysenck Konstrukt, nämlich eine relativ breite Dis-
(Eysenck & Eysenck, 1985) und auch Gray position für die Positive Affektivität (PA).
(1981) Ängstlichkeit als Kombination von Diese beiden Dimensionen wurden als or-
Neurotizismus mit niedriger Extraversion thogonal (!) konzipiert, und sie beschreiben
(also Introversion) auffassen, ist für Costa die affektive Disposition in Begriffen von
und McCrae Ängstlichkeit ein Unterfaktor angenehmer oder unangenehmer Erregung
(eine Facette) von Neurotizismus (Costa & (s. auch Abschn. 8.4).
McCrae, 1985, 1992). In einer weiteren Arbeit präzisierten Wat-
son und Clark (1992) das Verhältnis zwi-
schen der relativ breiten Dimension NA und
Ängstlichkeit und Negative Affektivität spezifischen negativ-valenten Emotionen wie
Ängstlichkeit, Trauer, Feindseligkeit und
Watson und Clark (1984) postulieren ein Schuld. In mehreren längsschnittlichen Stu-
noch allgemeineres Persönlichkeitskonstrukt dien fanden sich hinreichend hohe Retest-
als »Ängstlichkeit«. Dieses Konstrukt ist Korrelationen dieser Affektmaße, um von
ebenfalls eindimensional, es wurde von die- Dispositionen für das Erleben von Ängstlich-
403
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
keit, Trauer, Feindseligkeit und Schuld aus- nehmen, ist als Nächstes die differentialpsy-
gehen zu können. Dabei zeigte sich einerseits, chologische Frage nach den Entstehungsbe-
dass die verschiedenen Maße für diese nega- dingungen für Ängstlichkeit zu stellen.
tiv-valenten Emotionen hinreichend niedrig Die Zwei-Prozess-Theorie von Mowrer
korrelieren, um tatsächlich von empirisch (1960) erklärt die Aufrechterhaltung angst-
unterscheidbaren Dispositionen für diese ein- bedingten Vermeidungsverhaltens. Sie stellt
zelnen Affekte sprechen zu können (dies die bisher am besten untersuchte Theorie der
spricht für eine gute diskriminante Validität Entstehung, Aufrechterhaltung und Reduk-
der Affektmaße). Andererseits korrelierten tion von Angstreaktionen dar, wenn auch
diese Affektmaße in einem Ausmaß unterei- Kritik an ihr geäußert wurde (s. z. B. Birbau-
nander, das auf einen gemeinsamen, überge- mer, 1977). Rachman (1977) wies darauf
ordneten Faktor für Negative Affektivität hin, dass auch das Beobachtungslernen
verweist. Diese Befunde werden von den (Bandura, 1969, 1977) für den Erwerb von
Autoren mit einem hierarchischen Modell Angstreaktionen von Bedeutung sein kann.
für negativ-valente Emotionen erklärt, an Welche Rolle kognitive Prozesse dabei spie-
dessen Spitze (als abstrakter Faktor höherer len, wurde im Zusammenhang mit der Theo-
Ordnung) NA steht und dessen Basis durch rie von Lazarus angedeutet.
spezifischere Dispositionen für negativ-va- Alle diese theoretischen Überlegungen
lente Emotionen gebildet wird, zu denen und die mit ihnen verknüpften Befunde
auch die Ängstlichkeit gehört. zeigen auf einer relativ molekularen Ebene,
dass das Persönlichkeitsmerkmal »Ängstlich-
keit« als eine erlernte generalisierte Verhal-
Umweltbedingungen der Ängstlichkeit tensdisposition gedacht werden kann. Auf
molarer Ebene wurden mittels verschiede-
Akzeptiert man das Ergebnis, wonach es ner Ansätze unterschiedliche Lernumwelten
zweckmäßig ist, einen allgemeinen Persön- untersucht, die Einfluss auf die Entste-
lichkeitsfaktor zur Beschreibung interindivi- hung von Ängstlichkeitsunterschieden haben
dueller Unterschiede der Angstneigung anzu- könnten (c Kasten 9.1).
404
9 Emotion und Persönlichkeit
405
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Ängstlichkeit
gen oft vernachlässigt wird und daher
kaum Befunde vorliegen. 20
406
9 Emotion und Persönlichkeit
senck, 1992), wonach Angst und Ängstlich- logische) Aufwand zu verstehen ist. Gleiche
keit aus den zwei Komponenten »Emotiona- Leistungen, die mit unterschiedlicher An-
lität« (Aufregung im körperlichen Sinne) und strengung zustande kommen, unterscheiden
»Besorgtheit« (engl. »worry« als kognitiver sich demnach in der Verarbeitungseffizienz –
Komponente) bestehen. Korrelationsstudien, je weniger Anstrengung nötig ist, umso höher
in denen diese beiden Komponenten getrennt ist die Verarbeitungseffizienz. In der Theorie
gemessen wurden, legen die Vermutung der Verarbeitungseffizienz wird nun postu-
nahe, dass es die Besorgtheitskomponente liert, dass sich Ängstlichkeit unterschiedlich
und nicht die Emotionalitätskomponente auf die Leistungsgüte und die Verarbeitungs-
(die sogar leistungsfördernd sein kann: Ho- effizienz auswirken kann: Hochängstliche
dapp, 1982) ist, die z. B. bei akademischen strengen sich für die zu erbringende Leistung
Prüfungsleistungen zu Defiziten führt (Seipp mehr an, wodurch bei gleicher Leistungsgüte
& Schwarzer, 1991). Allerdings ist die Inter- gegenüber Niedrigängstlichen die Verarbei-
pretationsrichtung hier nicht eindeutig: Es tungseffizienz schlechter wird.
könnten ja auch realistische Erwartungen Für die empirische Prüfung dieser Theorie
schlechter Prüfungsleistungen zu höherer Be- ergibt sich das Problem, wie Verarbeitungs-
sorgtheit führen. effizienz oder Anstrengung unabhängig von
Eine weitere Ausdifferenzierung der theo- der Leistungsgüte gemessen werden kann.
retischen Vorstellungen zu Ängstlichkeit und M.W. Eysenck (1992a; Eysenck & Calvo,
Leistung wurde von M.W. Eysenck (1992a; 1992) hat dazu verschiedene Ansätze vorge-
Eysenck & Calvo, 1992) vorgelegt. In seiner stellt.
»Theorie der Verarbeitungseffizienz« (engl.
»processing efficiency theory«) stellte l Eine erste Vorgehensweise bedient sich
M.W. Eysenck die besondere Rolle des Ar- der Verwendung von psychophysiologi-
beitsgedächtnisses heraus. Er nahm darin an, schen Maßen. So konnte beispielsweise
dass bei Hochängstlichen das Arbeitsge- mit Hilfe elektromyographischer Regis-
dächtnis stärker durch dysfunktionale Ge- trierungen gezeigt werden, dass Ängstliche
danken belastet wird, wie z. B. durch Be- in einer Ballwurfaufgabe nicht schlechter
sorgtheiten, aber auch durch andere kogni- sind als Nichtängstliche, aber dafür einen
tive Prozesse. Vor allem aber bemühte sich viel höheren muskulären Aufwand betrei-
M.W. Eysenck um eine Erklärung dafür, dass ben (Weinberg & Hunt, 1976).
Leistungsunterschiede zwischen Ängstlichen l Auch Maße der subjektiven Anstrengung
und Nichtängstlichen nicht immer auftreten zeigten, dass Ängstliche, die sich von
und oft sehr klein sind. Als Erklärung schlug Nichtängstlichen beim Lösen kognitiver
er die Unterscheidung zwischen »Verarbei- Aufgaben mit niedriger und solchen mit
tungseffizienz« (engl. »processing efficien- hoher mentaler Belastung nicht unter-
cy«), »Leistungsgüte« (engl. »performance scheiden, bei hoher mentaler Belastung
effectivity«) und »Anstrengung« (engl. »ef- deutlich höhere erlebte Anstrengungen
fort«) vor. Die Komponenten sollen zuein- berichten als Nichtängstliche (Dornic,
ander in folgender Beziehung stehen: 1977, 1980).
l Interessant erscheint in diesem Zusam-
Leistungsgüte
Verarbeitungseffizienz ¼ : menhang auch die Methode, den Ver-
Anstrengung
suchspersonen zusätzlich zur gestellten
Darin bedeutet Leistungsgüte die effektiv Hauptaufgabe eine Nebenaufgabe zu ge-
erbrachte Quantität oder Qualität der gefor- ben. Unter der Annahme, dass höhere
derten Leistung, während unter Anstrengung Anstrengung bei der Bearbeitung der
der dafür investierte (kognitive oder physio- Hauptaufgabe weniger Kapazität für die
407
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Lösung der Nebenaufgabe übrig lässt, Angstfaktor wird sowohl von Selbstbeurtei-
müssten Ängstliche bei gleich guten Leis- lungs- wie von objektiven Testdaten geladen,
tungen in der Hauptaufgabe schlech- so beispielsweise von Maßen der Atemfre-
tere Leistungen in der Nebenaufgabe zei- quenz, von Blutplasmawerten, der Herzfre-
gen als Nichtängstliche. In einer Litera- quenz sowie von fehlendem Vertrauen in die
turübersicht berichtete Eysenck (1982), eigene Leistung bei ungewohnten Aufgaben,
dass dies in 11 von 16 Experimenten der Zustimmungstendenz, Ablenkbarkeit und
Fall war. anderem (s. z. B. Cattell, 1966).
Im Anschluss an diese Ergebnisse von
In allen Theorien zum Einfluss von Ängst- Cattell entwickelten Spielberger et al. (Spiel-
lichkeit auf Leistungen wird betont, dass sich berger, 1983; Spielberger et al., 1970) das
Ängstlichkeit (als Persönlichkeitsmerkmal) inzwischen weit verbreitete »State-Trait-An-
vor allem in angstauslösenden Situationen xiety-Inventory« (STAI), das auch in einer
(im Zustand der Angst also) auf Leistungen deutschen Bearbeitung vorliegt (Laux et al.,
auswirke. Auf diese Unterscheidung zwi- 1981). In Kasten 9.2 wird dieses Fragebo-
schen »Ängstlichkeit« (engl. »trait anxiety«) genverfahren ausführlich dargestellt.
und »Angst« (engl. »state anxiety«) wird im Über eine Vielzahl von Forschungsarbei-
Folgenden näher eingegangen. ten mit dem STAI, so etwa zum Zusammen-
hang zwischen A-State, A-Trait und verschie-
denen Leistungsvariablen, gab Lamb (1978)
9.3.3 Differenzierungen eine ausführliche Übersicht. Dabei zeigte
des Ängstlichkeits- sich, dass Angst, Ängstlichkeit und angst-
konstruktes auslösende Bedingungen als Determinanten
von Leistungsunterschieden in mehrfacher
Spielbergers Trait-State-Angstmodell Wechselwirkung zueinander stehen. Hod-
ges (1973) zum Beispiel zeigte, dass Leis-
Nicht nur theoretisch bedeutsam, sondern tungsunterschiede in computerunterstützten
für die Differentielle Psychologie auch empi- Lernprogrammen zwischen Hoch- und Nied-
risch ergiebig ist die Unterscheidung von rigängstlichen nur unter leichten Stressbe-
Angst (oder Furcht) als Zustand (»A-State«) dingungen auftreten. Wenn die Zustands-
und Ängstlichkeit (»A-Trait«) als Persönlich- angst stark ansteigt, verschwinden diese
keitsmerkmal. Die definitorische Abgren- Unterschiede zwischen Hoch- und Nied-
zung ist klar: Angst bezeichnet ein aktuelles rigängstlichen.
Geschehen von relativ kurzer Dauer, Ängst- Spielberger (1985) entwickelte zur Unter-
lichkeit eine als überdauernd angesehene scheidung von A-State und A-Trait eine
Disposition dafür, vergleichsweise leicht, oft Theorie, die sich in sechs Punkten zusam-
und intensiv in Angstzustände zu geraten. menfassen lässt.
Diese zunächst definitorisch-theoretische
Unterscheidung wurde erstmals von Cattell l Der Angstentstehung geht die Einschät-
(s. z. B. Cattell, 1966, 1973; Cattell & Schei- zung einer Situation als bedrohlich vor-
er, 1961) faktorenanalytisch empirisch ver- aus, unabhängig davon, ob eine Gefahr
ankert (s. auch Abschn. 1.6.5). Mit Hilfe gegeben ist oder nicht. Auch innere Ge-
dieser Techniken konnte Cattell nachweisen, gebenheiten (Gedanken, Erinnerungen,
dass sich auch ein Angstfaktor im Sinne eines Erwartungen) können Angst entstehen
Zustandsfaktors neben einer Reihe anderer lassen. Die entstehende A-State-Reaktion
Zustandsfaktoren definieren lässt. Dieser wird als unangenehm erlebt.
408
9 Emotion und Persönlichkeit
Konstruktionsprinzip
Aus Angstitems verschiedener Fragebogen wurden nach der Höhe ihrer Interkorrelationen
(r 0,50) insgesamt 177 Items für eine Testvorform ausgewählt, die als Anxiety-State-
Skala (A-State) einmal danach beantwortet werden sollten, wie den Probanden im
Augenblick zumute war. Dafür wurde eine vierstufige Antwortskala nach Intensitätsstufen
(überhaupt nicht – ein wenig – ziemlich – sehr) vorgesehen. Als Anxiety-Trait-Skala (A-
Trait) sollten die Items zum anderen danach beantwortet werden, wie sie im Allgemeinen
zutrafen. Die Beantwortung erfolgte ebenfalls auf einer vierstufigen Skala, die nach
Häufigkeiten (fast nie – manchmal – oft – fast immer) abgestuft war.
Für den endgültigen Test wurden jene 20 Items der Testvorform in die A-State-Skala
aufgenommen, die bei guten Interkorrelationen am besten zwischen verschieden starken
Angstsituationen differenzierten, während für die A-Trait-Skala die 20 Items mit den besten
Retest-Korrelationen und geringer Situationsvarianz ausgewählt wurden (Spielberger,
1972).
STAI-A-State-Skala
Instruktion: »…geben Sie an, wie Sie sich jetzt, das heißt in diesem Moment, fühlen.«
STAI-A-Trait-Skala
Instruktion: »…geben Sie an, wie Sie sich im Allgemeinen fühlen.«
409
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Abbildung 9.7 gibt die mittleren A-State- und A-Trait-Werte aus dem STAI getrennt für die
vier Situationen und für Personen mit hohen versus niedrigen Werten in einem weiteren
Ängstlichkeitstest wieder.
60 (a) 45 (b)
Ä
STAI-A-State
50 40
STAI-A-Trait
{
Ä
{
40 { 35 NÄ { {
NÄ { {
30 30
Pause Rede nach der Ballon Pause Rede nach der Ballon
Rede Rede
Situationen Situationen
Abb. 9.7: STAI-State-Werte (a) und STAI-Trait-Werte (b) von ängstlichen (Ä) und nichtängstlichen
(NÄ) Versuchspersonen in Abhängigkeit von vier Situationen (nach Lamb, 1973).
l Die Stärke einer A-State-Reaktion ist pro- länger Angst erleben als Nichtängstliche.
portional zur Stärke der wahrgenomme- Auslöser dafür sind aber immer situative
nen Bedrohung. Gegebenheiten.
l Die Dauer der A-State-Reaktion hängt An diesem Konzept ist jedoch von ver-
von der Dauer der Wahrnehmung einer schiedener Seite Kritik geübt worden. Im
Bedrohung ab. Rahmen des State-Trait-Modells der Ängst-
l Personen mit hohem A-Trait nehmen lichkeit sollte man nämlich erwarten, dass
Situationen eher als bedrohlich wahr als die aktuelle Angst in nicht angstauslösenden
Personen mit niedrigem A-Trait. Situationen bei Niedrig- und Hochängstli-
l Hohe A-States haben eine motivationale chen gleich gering ist und dass sie mit
Charakteristik, die sich direkt im Verhal- zunehmendem Bedrohungsgehalt der Situa-
ten (z. B. Vermeidung oder Veränderung tion bei Hochängstlichen steiler ansteigt als
der Situation) niederschlagen oder zur bei Niedrigängstlichen. Dieser Zusammen-
Angstabwehr (Umdeutung oder Neube- hang zwischen (Trait-) Ängstlichkeit und
wertung der Situation als weniger be- (aktueller oder State-) Angst sollte sich va-
drohlich) führen, je nach den bisherigen rianzanalytisch in einer signifikanten Wech-
Erfahrungen des Individuums. selwirkung zwischen dem Bedrohungsgehalt
l Bezüglich oft erlebter Stressbedingungen der Situation und der Ängstlichkeit der
entwickeln Personen spezifische Abwehr- Probanden zeigen. Lazarus-Mainka (1985)
mechanismen oder Bewältigungsreaktio- weist jedoch auf Befunde hin, die eher
nen, die zur Reduktion der A-State-Reak- dafür sprechen, dass der Unterschied in
tion führen. der aktuellen Angst zwischen Hoch- und
Niedrigängstlichen unabhängig vom Bedro-
Wichtig für die Differentielle Psychologie ist hungsgehalt der Situation gleich ist und die
dabei, dass Ängstliche öfter, intensiver und Hochängstlichen generell eine höhere State-
410
9 Emotion und Persönlichkeit
Angst zeigen. In den von ihr berichteten verschiedener Angstreaktionen angeben soll-
Studien, in denen der Bedrohungsgehalt der ten. In vielen Untersuchungen mit diesem
Situation systematisch variiert wurde, erga- S-R-Inventory und ähnlichen Weiterentwick-
ben sich jeweils hochsignifikante Hauptef- lungen konnten Endler und Mitarbeiter über
fekte für Situation und Ängstlichkeit, die ein varianzanalytisches Schätzverfahren zei-
Wechselwirkung zwischen den beiden Fak- gen, dass die Dispositions- (ca. 5 %) und die
toren wurde jedoch nicht signifikant (dies ist Situationsvarianz (ca. 8 %) einen geringeren
beispielsweise auch aus Abbildung 9.7 er- Varianzanteil an der Gesamtvarianz ausma-
sichtlich). Die Autorin führt diesen Befund chen als die Wechselwirkung zwischen Dis-
darauf zurück, dass die Ergebnisse sowohl position (Personen) und Situationen (ca.
von Trait- als auch von State-Ängstlichkeits- 10 %) (Endler, 1975).
tests stark vom Sprachstil der Probanden im Die Wechselwirkung zwischen Personen
Hinblick auf den Umgang mit emotional und Situationen bedeutet, dass verschiedene
negativ getönten Aussagen beeinflusst wer- Personen in ganz unterschiedlichen Situatio-
den. nen jeweils mit unterschiedlich intensiver
Dieser Befund ließe sich aber auch im Angst reagieren, eine konsistente Vorher-
Rahmen des Konzeptes der Negativen Af- sage von A-States aufgrund von A-Traits
fektivität (NA) von Watson und Clark also nicht für jede Situation gleich möglich
(1984) bzw. mit ihrem hierarchischen Mo- ist.
dell der negativen Affekte (Watson & Clark, Auf faktorenanalytischem Weg konnten
1992) interpretieren (s. Abschn. 9.3.2). Im Endler et al. (1962) dann auch zeigen, dass
Unterschied zu dem eher reaktiven, die sich die von ihnen verwendeten Situationen
Situation betonenden Ängstlichkeitskonzept zu drei Situationsarten zusammenfassen lie-
würde man für Personen mit hohem NA ßen:
(und damit auch für Hochängstliche) er-
warten, dass sie in allen Situationen, also l soziale Situationen (Umgang mit anderen
auch in Situationen, die keine Angst auslö- Menschen).
sen, negativere Emotionen erleben als Per- l Situationen mit physischer Bedrohung
sonen mit niedrigem NA. Im Ängstlichkeits- (Schmerz, Verletzung, etc.),
test, der ja emotionale Aussagen über Situ- l ungewisse, mehrdeutige Situationen.
ationen und die eigene Person verlangt,
werden so Personen mit hohem NA unab- Dieses Ergebnis scheint durch Nachfolge-
hängig von der Situation höhere Ängstlich- untersuchungen prinzipiell bestätigt zu sein
keitswerte erzielen als Personen mit niedri- (Magnusson & Ekehammar, 1975; Ekeham-
gem NA. mar et al., 1975). In den später daraus
entwickelten »Endler Multidimensional An-
xiety Scales« (EMAS) wird noch eine vierte
Situationsspezifische Angstneigungen Situationsklasse »Alltägliches« hinzugefügt,
die Angstbereitschaft in ungefährlichen all-
Bereits vor Spielberger haben Endler et al. täglichen Routinesituationen erfassen soll.
(1962) auf das Problem des Zusammenhangs Inwieweit allerdings die nur vorgestellten
zwischen Situation und Disposition hinge- und nicht real erlebten Situationen valide
wiesen: Sie konstruierten das »Situation- sind und die verwendeten Angstindikatoren
Response-Inventory« der Ängstlichkeit, bei reliable und valide Angstmaße darstellen,
dem die Befragungspersonen auf einigen muss offen bleiben. Dies mag auch erklären,
mehrstufigen Reaktionsskalen für gedank- dass in einer Studie von Lamb (1973) keine
lich vorgestellte Situationen das Ausmaß Interaktion zwischen Ängstlichkeit der Per-
411
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
son und konkreter Situation beobachtet wer- Auf einem höheren Abstraktionsniveau (Fak-
den konnte (c Kasten 9.2 und c Abb. 9.7). toren zweiter Ordnung) resultierten die
In dieser Studie berichteten die Hochängstli- Angstbereiche
chen nämlich in allen Angstsituationen
eine höhere erlebte Angst als die Nied- l Angst vor physischen und psychischen
rigängstlichen. Anders als Endler verwendete Angriffen,
Lamb dabei reale Situationen. l Angst vor Bewährungssituationen.
Aus den faktorenanalytisch gewonnenen
Situationsklassen wurde der Schluss gezo- Diese acht Bereiche werden mit dem von
gen, dass es notwendig sei, situationsspezi- Becker entwickelten Interaktions-Angst-Fra-
fische Angstneigungen im Sinne von Eigen- gebogen (I-A-F) erfasst (Becker, 1982).
schaften zu unterscheiden. Eine Reihe von So hat sich neben der Differenzierung des
Befunden deutet darauf hin, dass beispiels- Angstkonzeptes in Angst als Zustand und
weise die MAS sowie die STAI-A-Trait-Skala Ängstlichkeit als Eigenschaft auch eine situa-
tatsächlich nur die A-State-Reaktionen für tionsspezifische Differenzierung des Eigen-
Situationen voraussagen, in denen die sub- schaftskonzeptes der Ängstlichkeit durch-
jektive Gefahr besteht, sein Selbstwertgefühl gesetzt (s. dazu auch Rost & Schermer,
zu verletzen oder sich selbst zu blamieren 1989a, b).
(soziale Situationen), dieses jedoch nicht für
physisch gefährliche Situationen gilt (Endler,
1975). Laux und Glanzmann (1985) haben Differenzierung des Angst-State-
darauf hingewiesen, dass in einer Reihe von Konzeptes
Studien die prädiktive Validität spezifischer
A-Trait-Maße für A-State-Werte aus entspre- Seit langem ist bekannt, dass Angstreaktio-
chenden Situationen höher war als die prä- nen auf drei Ebenen ablaufen, (1) der neuro-
diktive Validität allgemeiner A-Trait-Maße physiologischen, (2) der subjektiv-psycholo-
(Lamb, 1973, 1976). Insgesamt kann die gischen (kognitiven) und (3) der motorisch-
Überlegenheit situationsspezifischer Ängst- verhaltensmäßigen Ebene. Für jede Ebene
lichkeitsmaße für die Vorhersage von Angst gibt es recht unterschiedliche Zugänge der
in bestimmten Situationsklassen wohl als Messung (s. dazu Krohne, 1975). Diese drei
gesichert angesehen werden. Ebenen erfassen jeweils unterschiedliche Pro-
Vor diesem Hintergrund erscheint es nur zesse und Aspekte der Angst, was sich aus
konsequent, der Frage nach der Bereichsspe- den oft recht niedrigen Korrelationen zwi-
zifität von Angstneigungen systematisch schen den Indikatoren verschiedener Ebenen
nachzugehen. Beckers faktorenanalytische ergibt (Fahrenberg, 1992). Einer der Haupt-
Untersuchungen führten zur Konstruktion gründe dieser mangelnden Kovariation, die
eines Fragebogens, der sechs situative Ängst- ein gravierendes Problem auch der klinisch-
lichkeitsbereiche erster Ordnung unterschei- psychologischen Angstbehandlung darstellt,
det (Becker, 1980, 1982): liegt in der zeitlichen Verschiebung der Pro-
zessabläufe auf diesen drei Ebenen. Interes-
l Angst vor physischer Verletzung, santerweise scheinen die Prozesse umso eher
l Angst vor »Auftritten«, simultan abzulaufen, je stärker die Angst ist,
l Angst vor Normüberschreitung, so dass in extremen Stresssituationen die
l Angst vor Erkrankungen, Kovariationvon Maßen verschiedener Ebe-
l Angst vor Selbstbehauptung, nen größer ist als in geringen Stresssituatio-
l Angst vor Abwertung und Unterlegen- nen. Darüber hinaus gibt es auch Hinweise
heit. dafür, dass die Reaktionen auf den drei
412
9 Emotion und Persönlichkeit
413
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
deum; auf Deutsch als Mandelkern bezeich- Netzwerk; anhand dieser Abbildung lassen
net, eine komplexe Struktur im vorderen sich die einzelnen Verarbeitungsschritte vom
Bereich des Temporallappens jeder Hemi- Input (Ton) zum Output (Furchtreaktion) des
sphäre, die in Form und Größe einer Mandel Systems verfolgen.
ähnelt). Abbildung 9.8 zeigt dieses neurale
Kortex
Nucleus
MGm B
MGv AL CE basalis
PIN AB
(Meynert)
auditorischer Thalamus Amygdala
Abb. 9.8: Schematische Darstellung des neuralen Angstnetzwerkes nach LeDoux. Dieses Netzwerk
besteht u. a. aus MGv (ventraler Anteil des medialen Kniehöckers des Thalamus), MGm
(medialer Anteil des medialen Kniehöckers des Thalamus), PIN (posteriorer intralaminärer Kern
des Thalamus), AL (lateraler Kern der Amydala), B (basaler Kern der Amygdala), AB
(akzessorisch-basaler Kern der Amygdala) und CE (zentraler Kern der Amygdala) (nach
Güntürkün, 2000; LeDoux, 1995, 2000).
Zunächst erreicht der auditorische Reiz nach verarbeitete Information wird dann vom
ersten Verarbeitungsschritten entlang der auditorischen und polymodalen Assozia-
Hörbahn verschiedene Kerne des auditori- tionskortex in die Amygdala geleitet, die
schen Thalamus, von denen aus ein Großteil selbst aus verschiedenen Kernen besteht.
der akustischen Information an den primären Innerhalb der Amygdala erfolgt eine »heiße«
auditorischen Kortex weitergeleitet wird. affektive Analyse der akustischen Informa-
Hier beginnt eine Kaskade von kortikalen tion, d. h., die Information wird hier gewis-
Verarbeitungsschritten, die über den audi- sermaßen emotional »eingefärbt«.
torischen Assoziationskortex schließlich in Die Amygdala projiziert selbst auf ver-
den polymodalen Assoziationskortex führen. schiedene subkortikale Strukturen, mit de-
Darüber hinaus erreicht ein kleiner Teil der nen dann die Furchtreaktion orchestriert
akustischen Information über den auditori- wird. So erreichen Fasern aus dem zentralen
schen Thalamus auch den auditorischen Kern der Amygdala das zentrale Höhlengrau
Assoziationskortex auf direktem Wege. In (Griseum centralis mesencephali), wo die
den kortikalen Systemkomponenten erfolgt Angststarre initiiert wird; andere Verbindun-
eine »kalte« kognitive Analyse der akusti- gen führen über den lateralen Hypothala-
schen Information. Die solchermaßen vor- mus in das verlängerte Mark (Medulla
414
9 Emotion und Persönlichkeit
oblongata), wo die autonome Erregung ge- Aus den Befunden dieser tierexperimentellen
steuert wird. Weitere Verbindungen errei- Studien kann geschlossen werden, dass die
chen über den Interstitialkern der Stria ter- Amygdala eine zentrale Rolle bei der kondi-
minalis (nucleus interstitialis striae termin- tionierten Furchtreaktion der Ratte hat.
alis) den paraventrikulären Hypothalamus, Dabei stellt sich die Frage, ob diese Befunde
mit dem die Hypothalamus-Hypophysen- auf den Menschen übertragbar sind und ob
Nebennieren-Achse beginnt (mit dieser Ach- die Amygdala ganz generell als die neurale
se wird die endokrine Stressreaktion gesteu- Basis von Angst betrachtet werden kann.
ert). Darüber hinaus existiert eine funktio- Erste Hinweise auf die Bedeutung der
nelle Verbindung vom zentralen Kern der Amygdala für menschliches Angsterleben
Amygdala über den Nucleus basalis (Mey- kommen von elektrischen Stimulationsstu-
nert) in den Kortex, mit der das Erregungs- dien. Im Rahmen von ganz bestimmten
niveau der Hirnrinde reguliert werde kann. hirnchirurgischen Eingriffen (die bei vollem
Mit Hilfe einer Reihe von Läsionsstudien Bewusstsein der Patienten durchgeführt wer-
konnten LeDoux und seine Mitarbeiter den können, da das Gehirn keine Schmerz-
nachweisen, dass die Extraktion der emotio- rezeptoren aufweist) werden Elektroden in
nalen Information (also die Detektion des das Gehirn eingebracht, so auch in die
konditionierten Furchtsignals) letztlich in der Amygdala. Dabei führt eine elektrische Sti-
Amygdala stattfindet – und nicht etwa im mulation der Amygdala (neben verschiede-
Kortex (für eine entsprechende Übersicht s. nen Wahrnehmungs- und Gedächtnisphäno-
z. B. die Monographie von LeDoux, 1998). menen) häufig zu einem Erleben von Angst
So führte beispielsweise eine Läsion des (z. B. bei Penfield & Jasper, 1954). Eine
auditorischen Thalamus dazu, dass keine entsprechende Literaturübersicht bietet
Furchtkonditionierung stattfand, während Gloor (1992).
eine Läsion des auditorischen Kortex die Eine andere Befundlinie zur Bedeutung
Furchtkonditionierung nicht beeinträchtigte der Amygdala für die Entstehung von Angst
(LeDoux et al., 1984). Eine Läsion der stammt aus Studien mit bildgebenden Ver-
Amygdala (bei intaktem auditorischen Tha- fahren. In der typischen Studie diesen Zu-
lamus und Kortex) verhinderte dabei eben- schnitts wird bei Versuchspersonen ein Zu-
falls eine Furchtkonditionierung (Iwata et al., stand von Angst induziert (z. B. durch die
1986). Diese Befunde ließen den Schluss zu, visuelle Darbietung furchtauslösender Filme,
dass ein intakter auditorischer Thalamus durch die auditorische Darbietung bedrohli-
sowie eine intakte Amygdala notwendig cher Begriffe oder durch ein aktives Erinnern
und hinreichend sind, um eine konditionierte von Situationen, in denen Angst erlebt wur-
Furchtreaktion zu ermöglichen. Der audi- de), während die Aktivität des Gehirns mit
torische Kortex ist hingegen für einfachere Hilfe der Positronenemissionstomographie
Furchtkonditionierung nicht zwingend erfor- (PET) oder der funktionellen Magnetreso-
derlich. nanztomographie (fMRT) registriert wird. In
Diese Befunde ließen vermuten, dass es der anschließenden statistischen Analyse
zwischen dem auditorischen Thalamus und wird dann untersucht, welche Hirnstruktu-
der Amygdala eine direkte Verbindung geben ren in der experimentellen Bedingung eine im
müsste. Tatsächlich konnte in einer anato- Vergleich zu einer neutralen Kontrollbedin-
mischen Arbeit eine solche Verbindung nach- gung veränderte Aktivität aufweisen. In einer
gewiesen werden (LeDoux et al., 1984). Wird Meta-Analyse von 13 solcher Studien ge-
diese Verbindung durch eine Läsion unter- langten Phan et al. (2002) zu dem Schluss,
brochen, so findet auch keine Furchtkondi- dass eine Induktion von Angst zu einer
tionierung mehr statt (LeDoux et al., 1986). deutlichen Aktivierung der Amygdala führt.
415
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Wenn nun die Amygdala als zentrale Kom- Carver und White (1994) vorgelegt (das Behavio-
ponente eines neuralen Netzwerkes für die ral Inhibition System, BIS, ist in der BIS/BAS-
Theorie der Persönlichkeit von Gray mit der
Verarbeitung angstrelevanter Information Ängstlichkeit verknüpft, s. Abschn. 8.2). Darüber
identifiziert ist, so liegt es natürlich nahe, hinaus wurden den Versuchspersonen jeweils an
auch individuelle Unterschiede in der Ängst- zwei Messgelegenheiten Gesichter dargeboten, die
lichkeit mit funktionellen Unterschieden in einen mimischen Ausdruck von Angst oder Freude
der Amygdala in Verbindung zu bringen. Für zeigten oder emotional neutral waren. Gleichzeitig
wurde ihre Hirnaktivität mit fMRT registriert. Zu
eine solche Zusammenhangshypothese gibt Beginn jedes Messtermins erhielten die Probanden
es in der Tat eine positive Evidenz aus ein eiweißhaltiges Getränk; an einem der beiden
empirischen Studien. Messzeitpunkte enthielt dieses Getränk Trypto-
phan, an dem anderen Messzeitpunkt nicht (Tryp-
Beispielsweise präsentierten Etkin et al. (2004) tophan ist ein bestimmtes Eiweiß, das für die
ihren Versuchspersonen Gesichter, die entweder Produktion von Serotonin benötigt wird; die
einen mimischen Ausdruck von Angst zeigten oder Verabreichung eines Tryptophan-freien Eiweißge-
aber emotional neutral waren. Dabei wurde in tränkes führt im Körper zu einer Verdrängung von
einem einzelnen Versuchsdurchgang entweder für Tryptophan durch andere Eiweiße, was als »Tryp-
33 ms ein ängstliches Gesicht dargeboten, auf das tophanerschöpfung« [engl. »Tryptophan-Deple-
unmittelbar für 167 ms ein neutrales Gesicht tion«] bezeichnet wird und eine kurzfristige Sero-
folgte, oder aber es wurden in der gleichen zeitli- toninverarmung zur Folge hat). Es zeigte sich in
chen Anordnung zwei neutrale Gesichter präsen- dieser Studie eine signifikante Beziehung zwischen
tiert (durch die extrem kurze Darbietungszeit des der Bedrohungssensitivität und dem Effekt der
ersten Bildes sowie seiner »Maskierung« durch Tryptophanerschöpfung auf die Aktivierung der
das anschließende Bild kann das erste Bild nicht Amygdala infolge einer Präsentation von ängstli-
bewusst verarbeitet werden; das erste Bild wurde chen Gesichtern. Je bedrohungssensitiver eine
also »subliminal« präsentiert). Diese beiden Ver- Versuchsperson war, desto größer war ihre Amyg-
suchsdurchgänge wurden insgesamt 48-mal wie- dala-Aktivierung infolge der Darbietung von
derholt und gleichzeitig die Hirnaktivität mittels ängstlichen Gesichtern bei einer Tryptophaner-
fMRT registriert. Unmittelbar vor und nach der schöpfung im Vergleich zu einer Placebobedin-
fMRT-Erhebung wurde die Ängstlichkeit der Pro- gung (r ¼ 0,66). Auch dieser Befund zeigt auf, dass
banden mit der Trait-Version des STAI erfasst. die Amygdala eine wichtige Rolle für individuelle
Eine Analyse der Daten zeigte einen signifikanten Unterschiede in der Verarbeitung von angstrele-
Zusammenhang zwischen der Ängstlichkeit der vanter Information einnimmt.
Versuchspersonen und der Aktivierung in der
basolateralen Kerngruppe der Amygdala auf. Je Aufgrund solcher Befunde kann durchaus
ängstlicher ein Proband war, desto größer war
angenommen werden, dass die Amygdala
seine Amygdala-Aktivität bei Darbietung des
ängstlichen Gesichtes im Vergleich zur Darbietung eine bedeutsame Komponente in einem neu-
des neutralen Gesichtes (r ¼ 0,74). In der Hippo- ralen Netzwerk ist, das die biologische Basis
campusformation zeigte sich hingegen kein be- der Angst bildet. Dies impliziert jedoch
deutsamer Zusammenhang zwischen Ängstlich- weder, dass die Amygdala nicht auch für
keit und Hirnaktivität. Dieser Befund lässt ver-
muten, dass ängstliche Personen eine größere andere psychische Funktionen eine Bedeu-
Sensitivität für die automatische (also die nicht tung aufweist, noch dass nicht auch weitere
bewusste) Verarbeitung von angstbezogener In- Hirnstrukturen an der Verarbeitung von
formation in der Amygdala aufweisen als wenig angstrelevanten Reizen beteiligt wären. So
ängstliche Personen.
weisen z. B. Phan et al. (2002) in der bereits
In einer etwas anders aufgebauten Untersu-
chung von Cools et al. (2005) gingen die Autoren angesprochenen Meta-Analyse darauf hin,
der Frage nach, ob zwischen der Bedrohungssen- dass die Amygdala in mehreren Studien auch
sitivität (ein mit Ängstlichkeit verwandtes Kon- durch eine Induktion von angenehmen Emo-
strukt) und der Modulation der angstinduzierten tionen aktiviert wurde. Diese Autoren ver-
Amygdala-Aktivierung durch das serotonerge Sys-
tem ein Zusammenhang besteht. Für die Messung muten deshalb, dass nicht der konkrete
der Bedrohungsängstlichkeit wurde den Proban- emotionale Gehalt eines Stimulus von der
den die BIS-Skala aus den »BIS/BAS-Skalen« von Amygdala enkodiert wird, sondern dass die
416
9 Emotion und Persönlichkeit
Amygdala die Bedeutsamkeit eines Reizes Dass Frauen ängstlicher sind als Männer,
für das Individuum detektiert. Auch wurde stimmt mit der Beobachtung einer generell
im Abschnitt 8.2 zur BIS/BAS-Theorie der größeren Emotionsintensität bei Frauen
Persönlichkeit von Gray bereits ausgeführt, überein (Brody & Hall, 2008). Frauen be-
dass dieser aufgrund von pharmakologi- richten nicht nur ein häufigeres oder intensi-
schen Befunden ein »Verhaltenshemmsys- veres Erleben von Angst, sondern ebenfalls
tem« (engl. »Behavioral Inhibition System«, mehr oder stärkere Ausprägungen von nega-
BIS) postulierte. Dieses BIS lässt sich neuro- tiv-valenten Emotionen wie Ekel, Trauer,
anatomisch besonders mit dem septo-hippo- Furcht und Scham (Fischer et al., 2004;
campalen System identifizieren; eine Aktivie- Simon & Nath, 2004) sowie von positiv-
rung dieses Systems geht nach Gray mit dem valenten Emotionen wie Freude, Liebe und
Erleben von Angst einher. Dabei zweifeln Zuneigung (Fischer & Manstead, 2000).
Gray und McNaughton (2000) die beson- Diese Geschlechtsunterschiede können durch
dere Rolle der Amygdala für die Entstehung verschiedene Faktoren verursacht sein, wo-
von Angst an, da beispielsweise eine Läsion bei sowohl biologische als auch soziale Ursa-
der Amygdala in tierexperimentellen Studien chen diskutiert werden (Brody & Hall,
keine vergleichbaren Verhaltenskonsequen- 2008).
zen hat wie die Verabreichung von anxioly- Die in expliziten Selbstberichten erfassten
tischen Substanzen. Dennoch messen Gray Daten über höhere Werte von Frauen in
und McNaughton (2000) besonders der dem Eigenschaftsbereich Ängstlichkeit
Interaktion zwischen Amygdala und septo- könnten dadurch zustande kommen, dass
hippocampalem System eine gewisse Bedeu- nicht Ängstlichkeit an sich, sondern allen-
tung für ein umfassendes Verständnis von falls die Mitteilung darüber geschlechtsspe-
Angst bei. zifisch ausfällt. Dies könnte leicht aus so-
ziokulturell unterschiedlichen Rollenerwar-
tungen an Männer und Frauen zustande
9.3.5 Geschlechtsunterschiede kommen, nach dem Motto »Jungen haben
doch keine Angst«. Egloff und Schmukle
Weiter oben wurde bereits eine Arbeit von (2004) untersuchten diese Frage mit Hilfe
Krohne (1975) referiert, in der Geschlechts- eines impliziten Messverfahrens, dem »Im-
unterschiede in der Ängstlichkeit demon- pliziten Assoziationstest« (vorgestellt in
striert wurden. Dabei zeigten Jungen im Abschn. 3.1.7). Wie erwartet, war der Ge-
Allgemeinen niedrigere Angstwerte als Mäd- schlechtsunterschied im expliziten Maß
chen. Diese Beobachtung reiht sich in eine (Fragebogen STAI, s. Abschn. 9.3.3) mit
Meta-Analyse zu Geschlechtsunterschieden einer Effektstärke von d ¼ 0,49 mittelgroß,
in Persönlichkeitsvariablen von Feingold erwartet war auch eine nur geringe Korre-
(1994) ein. Dieser trug Daten aus 13 lation zwischen explizitem und implizitem
großangelegten Untersuchungen zusammen Maß für Angst (r ¼ 0,09). Interessanter-
und fand eine stärkere Ausprägung von weise blieb der Geschlechtsunterschied im
Ängstlichkeit bei Frauen als bei Männern impliziten Maß aber erhalten, wenngleich er
(gemessen mit standardisierten Angst- und mit d ¼ 0,29 verringert war. Die Ergebnisse
Persönlichkeitsskalen). Der Mittelwertsun- weisen darauf hin, dass der Geschlechts-
terschied zwischen den Geschlechtern er- unterschied in Angst nicht ausschließlich
reicht durchschnittlich das Ausmaß einer auf eine Verzerrung der expliziten Selbstbe-
drittel Standardabweichung (Hyde, 2005). richte zurückzuführen ist.
417
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
418
9 Emotion und Persönlichkeit
Thalamus und sensorischem Kortex besonders auch die Amygdala beinhaltet. Eine
Überinterpretation der Amygdala als »emotionaler Computer« verbietet sich allerdings, da
Läsionen der Amygdala nicht zwangsläufig die Angstreaktion auslöschen.
9.4.1 Zur Bedeutung von betrugen im Mittel aller Länder die Ausga-
Aggression ben für die Ausbildung eines Soldaten ca.
7800 Dollar gegenüber nur ca. 200 Dollar
Eine besondere Bedeutung für den Einzelnen zur schulischen und beruflichen Ausbildung
und die Menschheit als Ganzes haben jene jedes Kindes. Umgelegt auf die Gesamtbe-
Verhaltensweisen, die in die Kategorie Ag- völkerung entsprach das Potential der ange-
gression fallen. Immer wieder nämlich wird legten Vernichtungsenergie bereits in den
das soziale Leben durch aggressives Verhal- 1960er Jahren ca. 20 Tonnen TNT (s. John-
ten von Individuen oder organisierten Grup- son, 1972) – ohne Frage sind die Menschen
pen nachhaltig gestört, immer wieder kommt die mit Abstand aggressivsten Tiere, die als
es zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen einzige Spezies überhaupt nicht nur ihre
des harmonischen Zusammenspiels. »Dabei Zukunft planvoll in vielerlei Hinsicht zu
sieht es so aus, als bestünde ein kontinuier- gestalten verstehen, sondern seit jeher auch
licher Übergang von feindseligen Bemerkun- Ansätze zu ihrer eigenen Ausrottung syste-
gen bis zum Mord, von ablehnenden Vor- matisch betreiben.
urteilen bis zum Krieg« (Merz, 1965, S. 569). Mit Recht ist argumentiert worden, die
Ausgehend von der biblischen Geschichte Potenz für aggressives Verhalten weise ver-
über Kain und Abel bis zum letzten Krimi im mutlich einen Wert für die Erhaltung der
Fernsehen ist die Geschichte der Menschheit Art auf, weil sie anderenfalls bereits der
eine Chronologie von Mord und Totschlag, Evolution anheimgefallen wäre. Die rasche
Folter, Unterdrückung, Raub und Verfol- Entwicklung der Lebensbedingungen – und
gung, Stammes- und Familienfehden, Heili- mehr noch: hochwirksamer Waffensysteme –
gen und Kalten Kriegen. kann freilich diesen Faktor leicht neutrali-
Schon die alten Ägypter machten sich siert haben, so dass ohne Frage berechtigte
denn angesichts der zunehmenden Häufung Zweifel angebracht sind, was die Zukunfts-
krimineller Akte in ihren Straßen beträcht- aussichten der Menschheit angeht.
liche Sorgen um die Zukunft; ungleich höher Mehr als in der Vergangenheit hängt
aber ist das Potential der Bedrohung in der deshalb der Fortbestand des menschlichen
Gegenwart: Nach Schätzungen von Richard- Geschlechts davon ab, inwieweit es gelingt,
son (1960) wurden in der Zeit zwischen seine aggressiven Verhaltensweisen zu kon-
1820 und 1946 nicht weniger als 59 Millio- trollieren. Wesentliche Elemente der morali-
nen Menschen in Kriegen und anderen Strei- schen und religiösen Erziehung sowie des
tigkeiten getötet. White (2001) kam für das Rechtssystems dienen dieser Aufgabe. Auch
gesamte 20. Jahrhundert auf 188 Millionen die Psychologie hat besondere Programme
Todesopfer durch Kriege und Unterdrü- einer entsprechenden Verhaltensmodifika-
ckung. Bereits Anfang der 1970er Jahre tion entwickelt. Nur im Hinblick auf sie sind
419
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
halbwegs gesicherte Aussagen über die rela- zwischen absichtlichen und zufälligen Schä-
tive Wirksamkeit von Versuchen einer Ag- den. Auch zählen damit solche Verhaltens-
gressionseindämmung möglich. weisen zu Aggressionen, die durch eine
plötzliche Änderung der Situationsbedingun-
gen nicht die schädigenden oder zerstören-
9.4.2 Definitionsprobleme den Einflüsse zur Folge haben, die üblicher-
weise eintreten (z. B. Schlag ins Leere, weil
Obwohl jedermann eine klare Vorstellung der Gegner den Kopf zur Seite bewegte). Zur
darüber zu haben scheint, was mit dem eindeutigen Feststellung der Intentionen des
Begriff der Aggression gemeint ist, bestehen Handelnden ist es letztlich unumgänglich,
diesbezüglich im Bereich der empirischen den Akteur zu befragen. Damit liegen auch
Erforschung des Phänomens zwischen ein- die Probleme einer solchen Definition auf der
zelnen Autoren doch beträchtliche Auffas- Hand. Hinzu kommt, dass auch bei Kenntnis
sungsunterschiede. Diese rühren hauptsäch- der Intentionen eines Akteurs die Klassifika-
lich daher, dass einige Forscher nach Mög- tion seiner Verhaltensweisen als aggressiv
lichkeit nur direkt beobachtbare Gegeben- oder nichtaggressiv von den Kontextbedin-
heiten als Gegenstand von Untersuchungen gungen und dem Wertesystem der Beobach-
zulassen wollen. In diesem Sinne definiert ter abhängt.
z. B. Buss (1961, S. 1) Aggression als »eine Der Kontext bestimmt vielleicht mehr als
Reaktion, bei der einem anderen Organismus die Handlung selbst darüber, ob eine Ag-
Schäden zugefügt werden«. gression vorliegt oder nicht. Die Qualität
Solche »behavioralen« Begriffsbestim- »aggressiv« setzt einen Akt der Zuschrei-
mungen werfen mehr Probleme auf, als sie bung oder Attribution durch Beurteiler vor-
durch die strikte Fassung des Schadens zu aus nach Gesichtspunkten, die in der Verhal-
umgehen suchen. So sind etwa nicht ohne tensweise selbst nicht enthalten sind. Für
weiteres unbeabsichtigte von intendierten Tedeschi et al. (1974) müssen deshalb drei
Verletzungen zu unterscheiden. Auch finden Voraussetzungen erfüllt sein, soll eine Hand-
jene Schädigungen keine unmittelbare Be- lung als aggressiv klassifiziert werden:
rücksichtigung, die in einer sozialen Rolle
zugefügt werden im guten Glauben, damit l Die Verhaltensweise beinhaltet die Ein-
letztlich Positives zu bewirken (Spritze oder schränkung der Verhaltensalternativen
Operation des Arztes, Schläge des Erziehers oder -konsequenzen eines Gegenübers
u. Ä.). (meist durch den Gebrauch von gewalt-
Damit aber sind gerade solche subjektiven haftem Zwang).
Prozesse konstitutiver Bestandteil der Gegen- l Ein Beurteiler nimmt die Verhaltensweise
standsbestimmung, die zunächst ausge- als gegen die eigenen Interessen oder
schlossen werden sollten. Von daher kommt diejenigen der Zielperson gerichtet wahr,
jenen Definitionsversuchen kein prinzipiell er hält sie für intendiert, bösartig oder
anderer Status zu, in denen von vornherein selbstsüchtig, und zwar unabhängig da-
die Erlebnisse und Motive des Akteurs eine von, ob der Akteur wirklich Schaden
zentrale Rolle spielen. So umfasst nach Merz anrichten will.
(1965, S. 571) die Aggression »jene Verhal- l Die Handlung wird von dem Außenste-
tensweisen, mit denen die direkte oder indi- henden als »anti-normativ« oder unge-
rekte Schädigung eines Individuums, meist setzlich aufgefasst, z. B. wenn sie nicht
eines Artgenossen, intendiert wird«. provoziert und offensiv ist oder in keiner
Der Wert einer derartigen Umschreibung angemessenen Relation zum auslösenden
liegt in der Möglichkeit einer Unterscheidung Moment steht.
420
9 Emotion und Persönlichkeit
Darüber hinaus spielen weitere »Täter«- und auf, die dem Über-Ich zugeführt wird und
»Opfer«-Merkmale sowie die Beziehung sich von dort aus dem Ich gegenüber in
zwischen den beteiligten Personen für die Gestalt quälender Schuldgefühle äußert.
Beurteilung der Schwere einer Aggression Am Rande sei erwähnt, dass die Behaup-
und der Angemessenheit von Vergeltungsre- tung von Trieben als Ursache für bestimmte
aktionen eine Rolle. In den Experimenten Verhaltensweisen keinerlei Erklärungswert
von Harris (1991) schätzten die Beurteiler aufweist – außer sie sind biologisch nach-
aggressive Handlungen von Männern und weisbar – und gewöhnlich einen logischen
solche gegen Frauen als besonders negativ Zirkelschluss enthält. Dieser ergibt sich
ein, Frauen tolerierten Aggressionen gegen- dann, wenn kausale Interpretationen mit
über Geschwistern eher als solche gegenüber Hilfe von Dispositionen versucht werden
Freunden und Fremden, und zwar im Unter- (z. B. jemand stiehlt, »weil er ein Gewohn-
schied zu Männern. heitsverbrecher ist«); denn als Ursache für
Die Etikettierung mit dem Attribut »ag- ein Verhalten werden damit Umstände her-
gressiv« geschieht nach weitgehend densel- angezogen, die erst aus dem Verhalten er-
ben Prinzipien, die auch dem »Labeling schlossen wurden.
Approach« als Theorie zur Erklärung der Folgt man triebtheoretischen Auffassun-
Entstehung kriminellen Verhaltens zugrunde gen, so besteht im Hinblick auf die im
liegen (s. Lamnek, 1977). Weil solche attri- sexuellen oder aggressiven Bereich feststell-
butionstheoretischen Ansätze in letzter Zeit bare Energie allein die Möglichkeit, diese
generell an Bedeutung gewonnen haben, einzudämmen oder umzuleiten und zu kana-
wurde auf die Definitionsproblematik aus- lisieren. Jeder Abbau von Handlungsmoti-
führlicher und exemplarisch auch für andere vation ist nur durch Ausleben und Gewäh-
Verhaltensbereiche eingegangen (die meisten rung in der einen oder anderen Form denk-
»klassischen« Arbeiten zu Aggression finden bar. Im Sinne der häufig gebrauchten Analo-
sich in den beiden Readern von Kornadt, gie des Dampfkessel-Modells steigt der
1981, 1992). Druck im System ständig durch die Zufuhr
neuer Energie an. Hin und wieder muss ein
Ventil geöffnet werden, um die Gesamtan-
9.4.3 Aggressivität als Folge lage vor Schaden zu bewahren. Nach dem
von Trieben und Abfluss von Energie ist der Druck und damit
Instinkten die Motivation zu neuerlichem gleichartigen
Verhalten zunächst reduziert (»Katharsis-
Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Ag- Hypothese«).
gressionen und der verheerenden Ereignisse Von dieser allgemeinen Auffassung wur-
des Ersten Weltkrieges nahm Freud neben den zahlreiche Untersuchungen angeregt, die
dem Eros in späteren Theoriefassungen auch häufig gleichwohl nur in loser Verbindung
den antagonistisch dazu wirkenden Thana- mit der Tiefenpsychologie Freuds stehen. Die
tos an. Dieser Aggressions- oder Todestrieb Arbeiten zentrieren sich gleichsam um den
bzw. die darin gebundene Energie muss zur Ein- und Ausgang des Energiesystems. Einer-
Vermeidung der Selbstvernichtung in Form seits wird nach Faktoren gesucht, die den
von Aggressionen über den nervösen und Druckbehälter »aufladen«. Dafür kommen
motorischen Apparat nach außen abgeführt verschiedene genetische und physiologische
werden. Aufgrund bestehender Normen und Faktoren in Betracht. Andererseits interes-
aus Angst vor andernfalls zu gewärtigenden siert die Frage, inwieweit Abfuhr von Trieb-
Strafen der Umwelt unterliegt er dabei Hem- energie die Auftrittswahrscheinlichkeit von
mungen. Dadurch staut sich Triebenergie Verhaltensweisen reduziert. Nachfolgend
421
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
422
9 Emotion und Persönlichkeit
423
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
gen dafür geben muss. Die Existenz von energie die Funktion des Ich störe, was an ver-
Trieben, deren Stärke interindividuell vari- minderten intellektuellen Leistungen erkennbar
sei. Von daher sollte die Gewährung eines aggres-
iert, ist damit nicht nachgewiesen, sondern es siven Verhaltens zu unbeeinträchtigter Leistung,
wird lediglich aufgezeigt, dass externe Sti- die Unterdrückung von Aggressionen zu vermin-
muli in Verbindung mit bestimmten orga- derten Leistungen führen. Diese Arbeitshypothese
nisch-physiologischen Faktoren das Verhal- musste insofern differenziert werden, als generell
ten, also auch Aggressionen, hervorbringen. nur dann eine Leistungsreduktion zu erwarten ist,
wenn die aufgestauten Triebe für das Individuum
eine Bedrohung darstellen. Davon ist etwa in
Fällen auszugehen, wo die Absicht zu einer »ge-
Katharsis-Hypothese rechtfertigten« Aggressionshandlung besteht, de-
ren Verwirklichung aber momentan verwehrt ist.
Weiterhin liegt eine Bedrohung auch dann vor,
Wie bereits erwähnt, sieht die Katharsis- wenn sich jemand aggressiv verhält, dieses aber
Hypothese allgemein eine Spannungsreduk- seinen Prinzipien zuwiderläuft. In einem solchen
tion durch Affektabfuhr vor. Im Hinblick auf Fall muss mit Selbstbeschuldigungen und Recht-
das hier interessierende Verhalten bedeutet fertigungen gerechnet werden, die ebenfalls die
Leistung beeinträchtigen.
das speziell: Im Anschluss an Aggressionen
Dann (1972) erfasste zunächst die Einstellung
ist die Auftretenswahrscheinlichkeit weiterer gegenüber Aggressionsabfuhr mit Hilfe der Frage:
aggressiver Akte zunächst vermindert, weil »Wenn mich jemand sehr geärgert hat, dann halte
in Gestalt der ausgeübten Verhaltensweise ich es durchaus für gerechtfertigt, ihm auch mal
Triebenergie abgeführt wurde, die erst wie- stark beleidigende Dinge ins Gesicht zu sagen«
(fünfstufige Antwortmöglichkeit, für die Auswer-
der im Organismus erzeugt werden muss. tung dichotomisiert in positive, Eþ, und negative
Wie viele andere Elemente der tiefenpsy- Einstellung, E, gegenüber Aggressionsabfuhr).
chologischen Theorienbildung haben auch Nach einer Frustration bestand nur für einen Teil
diese Vorstellungen Eingang in vorwissen- der Versuchspersonen Gelegenheit zu Aggressio-
nen gegenüber dem Frustrator. Schließlich musste
schaftliche Überzeugungen gefunden: Jeder-
eine Konzentrationsaufgabe bearbeitet werden.
mann »weiß«, dass ein gelegentliches »Aus- Die erwarteten und die empirisch beobachteten
der-Haut-Fahren« und »Dampf-Ablassen« Testleistungen sind in Abbildung 9.9 einander
notwendig ist, um das seelische Befinden gegenübergestellt. Die Resultate dieses außeror-
und die psychische Leistungsfähigkeit wie- dentlich sorgfältig kontrollierten Experimentes
stehen damit in diametralem Gegensatz zu den
derherzustellen. Personen, die gerne »aggres- triebtheoretischen Vorhersagen, ohne dass sich im
sive« Sportarten im Fernsehen verfolgen, Nachhinein plausible Gründe für die Diskrepanz
waren im Vergleich zu Zuschauern »nicht- finden ließen.
aggressiver« Sportarten davon überzeugt,
dass allein das Betrachten am Fernsehen zu Verschiedene Untersuchungen geben mittler-
einer kathartischen Aggressionsminderung weile Anlass zu der Schlussfolgerung, dass
bei ihnen selbst führen würde (Wann et al., subjektive Überzeugungen von Personen im
1999). Sinne der Katharsis-Hypothese einen das
Zur Gültigkeit dieser Hypothese wurden Aggressionsverhalten steigernden Effekt ha-
zahlreiche Studien durchgeführt, deren Er- ben können (Bushman et al., 1999). Offen-
gebnisse oft nicht eindeutig interpretierbar bar sind triebtheoretische Ansätze der Ent-
waren oder den Vorhersagen der Karthasis- stehung und des Abbaus von Aggression im
Hypothese widersprachen. günstigsten Fall unvollständig. In der Grie-
chischen Tragödie nimmt das Scheitern des
In einer solchen Untersuchung verwendete Dann Helden seinen Lauf, und zwar auch in Folge
(1972) ein Leistungsmaß als abhängige Variable. einer »Charakterschwäche« oder eines Fehl-
Anlass dafür war die psychoanalytisch begründete
Überlegung, dass der Stau nicht abgeführter Trieb-
verhaltens des Helden. Mit dieser Erkenntnis
lernt der Zuschauer etwas für sein eigenes
424
9 Emotion und Persönlichkeit
Klassische Konditionierung
{
Im Vergleich zu anderen Faktoren scheint
Gewährung Unterbindung
ein auf die eigene Person wahrgenommener
b) Angriff der bedeutsamste und zuverlässigste
Auslöser von Aggressionen zu sein (Buss,
1961). Fast automatisch reagieren wir auf
E−
das Erleben von psychischem Leid oder
{ körperlichem Schmerz mit einer aggressiven
Leistungshöhe
425
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
men, was für die Gestaltung unserer Umwelt namentlich solche Experimente von illustra-
weitreichende Konsequenzen hat. tivem Wert, in denen die »Aggressionsma-
Zwischen Waffen und aggressiven Hand- schine« von Buss (1961) verwendet wurde.
lungen besteht ganz allgemein eine assozia- Bei dieser Anordnung wähnen sich die Ver-
tive Beziehung, die die Auslösung des kriti- suchspersonen in der Rolle eines »Lehrers«,
schen Verhaltens bewirkt bzw. begünstigt. der einem »Schüler« (einer anderen Ver-
Wichtig ist, dass sich zwischen ansonsten suchsperson, die in Wirklichkeit Mitarbeiter
unverbundenen Elementen unschwer Asso- des Untersuchungsleiters ist) eine bestimmte
ziationsbrücken herstellen lassen: In Anleh- Lern- oder Begriffsbildungsaufgabe beibrin-
nung an das Vorgehen bei Berkowitz und gen muss. Dies erfolgt instruktionsgemäß
Geen (1966) ließen Eckert et al. (1971) vor dadurch, dass der »Lehrer« den »Schüler«
den Versuchspersonen, die gerade den Film nach Fehlern mit elektrischen Schlägen be-
»Saat der Gewalt« gesehen hatten, einen straft. Gewöhnlich befinden sich die »Schü-
Versuchsleiter als Frustrator auftreten, der ler« in einem anderen Raum und erhalten in
dem Hauptdarsteller des Streifens in Beruf Wirklichkeit keine Schocks, was die »Leh-
und Namen entweder ähnlich war oder rer« aber nicht wissen. Die vom »Lehrer«
nicht. Bei hoher relativ zu niedriger Ähnlich- verabreichten Stromstärken werden als Ag-
keit waren in mehreren Maßen die Versuchs- gressivitätswerte interpretiert.
personen besonders aggressiv.
Geen und Pigg (1970) bekräftigten bei einem
Teil ihrer Versuchspersonen höhere Stromstär-
Instrumentelle Konditionierung ken durch Kommentare des Versuchsleiters wie
»That’s good« oder »You are doing fine«.
Erwartungsgemäß bevorzugten nach einigen
Im animalischen Bereich besteht der weitaus Durchgängen die auf diese Weise bekräftigten
größte Teil von Aggressionen aus instrumen- Versuchspersonen bei der »Unterweisung« ihrer
tellem Verhalten zur Erlangung von Nah- »Schüler« durchschnittlich wesentlich stärkere
Schocks. Anschließend mussten die Versuchsper-
rung, zum Schutz des Territoriums oder zur sonen zu einer Reihe vorgegebener Wörter die
Beseitigung von Nebenbuhlern. Nach Erlan- ihnen zuerst einfallenden Assoziationen aufschrei-
gen der jeweiligen Bekräftigung (Ge- ben. Dabei ergab sich, dass die zuvor bekräftigten
schlechtspartner, Sicherung des Nestes Versuchspersonen sehr viel häufiger Wörter ag-
gressiver Thematik assoziierten als die nicht be-
u. Ä.) hören aggressive Akte sofort auf. De-
kräftigten; die Effekte einer Verstärkung physisch-
ren Funktion besteht somit offenkundig nicht motorischer Aggressionen waren also auf den
im Kampf selbst, sondern in der Erreichung verbalen Bereich generalisiert.
eines anderen übergeordneten Ziels.
Durch differentielle Steuerung und Ex- Die Implikationen solcher Erkenntnisse für
position von Verstärkern ist deshalb ganz die Beseitigung von störenden Aggressionen
allgemein die Aggressionsrate zu kontrollie- in Erziehung und Therapie (Kornadt, 1966;
ren. Folgen auf aggressive Verhaltensweisen Bandura & Walters, 1973) liegen auf der
bestimmte Bekräftigungen, erhöht sich die Hand: Es kommt entscheidend darauf an, die
Wahrscheinlichkeit dieser Handlungen unter Verbindung zwischen Handlung und daran
vergleichbaren Bedingungen: Im Tierversuch anschließender Bekräftigung nachhaltig auf-
können Ratten, Tauben und Mäuse durch zulösen und damit die Erwartung des Ak-
Bekräftigung mit Futter, Geschlechtspart- teurs zu löschen, mit aggressivem Verhalten
nern oder durch die Beseitigung aversiver Erfolg zu haben. Das gerät häufig deshalb zu
Reize dazu gebracht werden, miteinander zu einem besonders schwierigen Unterfangen,
kämpfen. Für menschliche Aggressionen und weil Aggressionen in unserer Gesellschaft
deren Abhängigkeit von Bekräftigungen sind meist erfolgreich sind. Verschiedentlich stellt
426
9 Emotion und Persönlichkeit
bei Kindern bereits die mit Trotz und De- insofern, als aggressive Handlungen gehäuft auf-
struktion bewirkte Zuwendung eines Eltern- traten, die bereits zum Repertoire der Kinder
gehört haben mussten, vom Modell jedenfalls
teils oder einer Bezugsperson die gewünschte nicht vorgemacht worden waren. Schließlich tra-
Bekräftigung dar. ten solche Effekte selbst dann auf, wenn die
Modellperson später im neuen Kontext gar nicht
anwesend war.
Beobachtungslernen
Das soziale Lernen von Aggressionen weist
So erfolgreich instrumentelles Konditionie- natürlich erhebliche Implikationen für die
ren bei der Ausformung spezifischer Verhal- Evaluation der Wirkung von Medien wie
tensweisen ist, so erklärt es nicht den raschen Film und Fernsehen auf. Angesicht der Fülle
Erwerb komplexer Verhaltensweisen, wenn von Gewalt und Kriminalität im Kino und
also eine gesonderte Bekräftigung spezifi- Fernsehen sind hier nachgerade verheerende
scher Verhaltensweisen gar nicht erfolgen Wirkungen zu befürchten, zumal sogar ver-
konnte. An dieser Stelle kommt ein weiteres meintlich harmlose Familienserien ein erheb-
Prinzip zur Geltung, mit dem eine Verhal- liches aggressives Potential besitzen. Kein
tensweise in das Repertoire von Akteuren Zweifel kann daran bestehen, dass die dar-
übernommen oder die Auftrittswahrschein- gestellten Szenen hohen informativen Wert
lichkeit bereits vorhandener Verhaltenswei- aufweisen und deshalb das kognitive Poten-
sen wesentlich verändert werden kann: tial zur Ausübung gleichartiger Handlungen
Nachahmung oder Lernen am Modell. auf Seiten der Beobachter erheblich anrei-
Wenngleich Nachahmung als Lernprinzip chern. Häufig genug kommt es dann auch
seit alters her bekannt sein dürfte, erfolgt die zur Aktivierung der bereitgestellten Hand-
wissenschaftliche Erforschung erst seit den lungsmuster. Diese reichen von einer erhöh-
1970er Jahren und mit besonderen Impulsen ten Aggressionsrate im freien Spiel von Kin-
von Seiten der Forschergruppe um Bandura dern oder deren sozialen Interaktionen mit
(s. z. B. 1976). Erwachsenen (Wood et al., 1991) über an-
steigende Mordziffern nach der Ausstrah-
Eine der geradezu »klassischen« Studien stammt lung von Boxkämpfen um die Weltmeister-
von Bandura et al. (1961). Diese Autoren frus- schaft im Schwergewicht (Miller et al., 1991)
trierten zunächst Kinder im Vorschulalter in maß- bis zu exakten Nachahmungen des gesehe-
voller Weise. Anschließend bestand für die Kinder
nen Verhaltens (so kam es im Anschluss an
Gelegenheit, einem Erwachsenen zuzuschauen,
wie dieser mit einigen Spielsachen hantierte. In die Sendung »Tod eines Schülers« bei der
einer nichtaggressiven Bedingung benahm sich der modellnächsten Altersgruppe der 15-bis 16-
Erwachsene ruhig und angemessen. Dagegen jährigen männlichen Jugendlichen zu einer
zeigte er unter einer anderen Bedingung zahlreiche besonders starken Zunahme der Eisenbahn-
und sehr verschiedenartige Aggressionen, haupt-
sächlich gegen eine clownartige Puppe, und arti- suizide, s. Schmidtke & Häfner, 1986).
kulierte wiederholt feindselige Bemerkungen. Als Sowohl kontrollierte Labor- als auch präzise
die Kinder später in eine neue Situation gebracht Feldexperimente gelangen freilich nicht im-
wurden, in der der Erwachsene anwesend war, mer zu völlig konsistenten Resultaten (Mil-
zeigten sie ein dem Vorbild ganz ähnliches Ver-
gram & Shotland, 1973; Krebs, 1973; Geen,
halten. Sie vollführten signifikant häufiger als
Kontrollpersonen ohne ein Vorbild die gesehenen 1983). Mehrheitlich sprechen die vorliegen-
neuen Aggressionsakte. Am wenigsten aggressiv den Untersuchungen jedoch dafür, dass Ge-
waren Kinder, die einem nichtaggressiven Modell walt in den Medien die Aggressionsrate in
zugeschaut hatten. Ein wichtiger weiterer Befund sozialen Interaktionen bedeutsam erhöht
geht dahin, dass das Modell nicht nur formend im
Sinne des Aufzeigens neuer Verhaltensweisen (Wood et al., 1991). Kein Zweifel besteht
wirkte, sondern darüber hinaus enthemmend daran, dass die soziale Lerntheorie im Ver-
427
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
428
9 Emotion und Persönlichkeit
Körperliche Aggression
1. Manchmal kann ich dem Verlangen, eine andere Person zu schlagen, nicht widerstehen.
2. Wenn ich nur entsprechend gereizt werde, kann ich jemand anderen durchaus schlagen.
3. Wenn mich jemand schlägt, schlage ich zurück.
4. Ich werde häufiger in Schlägereien verwickelt als andere.
5. Wenn es sein muss, verteidige ich meine Rechte auch mit Gewalt.
6. Manche Leute haben mich schon so weit gebracht, dass wir uns geprügelt haben.
7. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, weshalb ich jemals eine andere Person schlagen
würde.*)
8. Ich habe schon Leute bedroht, die ich gut kenne.
9. Ich bin schon so ausgerastet, dass ich Gegenstände zerschlagen habe.
Verbale Aggression
1. Ich sage es meinen Freunden offen, wenn ich anderer Meinung bin als sie.
2. Es passiert mir oft, dass ich mit anderen nicht übereinstimme.
3. Wenn mich Leute verdrießen, sage ich ihnen, was ich über sie denke.
4. Wenn andere mit mir nicht übereinstimmen, kann ich mich nicht zurückhalten, mit
ihnen darüber zu streiten.
5. Meine Freunde sagen, ich sei etwas streitlustig.
Ärger/Zorn
1. Ich rege mich schnell auf, aber mein Ärger verraucht auch wieder schnell.
2. Wenn ich frustriert bin, zeige ich meine Verärgerung.
3. Manchmal fühle ich mich wie ein Pulverfass, jederzeit bereit zu explodieren.
4. Ich bin eine ausgeglichene Person.*)
5. Einige meiner Freunde halten mich für einen Hitzkopf.
6. Ich brause manchmal wegen Nichtigkeiten auf.
7. Es fällt mir schwer, meinen Zorn zu kontrollieren.
Feindseligkeit
1. Manchmal verzehrt mich Eifersucht.
2. Manchmal spielt mir das Leben übel mit.
3. Glück scheinen immer nur die anderen zu haben.
4. Ich frage mich, warum ich manchmal so verbittert bin.
5. Ich weiß, dass meine »Freunde« hinter meinem Rücken über mich reden.
6. Gegenüber allzu freundlichen Fremden bin ich misstrauisch.
7. Manchmal habe ich das Gefühl, dass andere hinter meinem Rücken über mich lachen.
8. Wenn Leute besonders nett zu mir sind, frage ich mich, was sie von mir wollen.
*) Umgekehrte Polung.
Nach Buss und Perry (1992, S. 454).
Kursiv gedruckt ist die psychometrisch optimierte Fassung des Fragebogens nach Bryant
und Smith (2001).
429
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Dieser Unterscheidung wird ein anderer Fra- die während der Kindheit ermittelte Aggres-
gebogen gerecht, nämlich der von Buss und sivität als stärkster Prädiktor für später
Perry (1992) vorgestellte Aggressionsfrage- gerichtlich aktenkundig gewordene Delin-
bogen. Als Resultat verschiedener Analyse- quenz, gefolgt vom sozioökonomischen Sta-
schritte erhielten die Autoren einen nur 29 tus als eines weiteren erklärungsmächtigen
Items umfassenden Fragebogen, dessen Prädiktors.
Binnenstruktur vier Subfaktoren aufweist Zunehmende Aufmerksamkeit findet Är-
(c Kasten 9.3). In einer Nachanalyse des ger als eine Aggressionen vorausgehende
Fragebogens mit der konfirmatorischen Fak- und begleitende Reaktion. Der »Frustrati-
torenanalyse reduzierten Bryant und Smith ons-Aggressions-Hypothese« zufolge sollte
(2001) die Anzahl der Items auf nunmehr jede Form von negativem Affekt die Wahr-
zwölf. Der revidierte Fragebogen wies eine scheinlichkeit von Aggressionen erhöhen. Im
deutlich höhere psychometrische Qualität als Unterschied dazu interpretiert der »Soziale
der Fragebogen von Buss und Perry auf. Interaktionsansatz« manche Aggressions-
Aufgrund der Korrelationen zwischen den handlungen als Ausdruck von Missvergnü-
Subfaktoren (r um 0,40) stellt Ärger gleich- gen und informeller sozialer Kontrolle. In
sam die Brücke zwischen den drei anderen zwei Studien unter Heranziehung verschie-
Komponenten dar. Insofern kann man nicht dener Personengruppen, darunter ehemalige
mehr allgemein von »der« Aggressivitätsten- psychiatrische Patienten und entlassene
denz sprechen, sondern muss näher differen- Strafgefangene, sprachen die Resultate von
zieren, welchen Verhaltensaspekt man im Felson (1992) eher für die letztere Auffas-
Einzelnen meint. sung. Ärger scheint demzufolge einen ebenso
starken Einfluss auf aggressives Verhalten
wie auf verschiedene Formen von Delinquenz
Allgemeine Resultate auszuüben, was im Weiteren impliziert, dass
manche Spielarten von Delinquenz, die übli-
Ein Großteil der testunterstützten Aggres- cherweise nicht mit Aggression in Verbin-
sionsforschung hat einen Hinweis auf die dung stehen, gleichwohl aggressive Ziele
Validität der Verfahren darin erblickt, wenn haben mögen.
die erfolgreiche Differenzierung straffälliger Im Zusammenhang mit einem spezifi-
von nichtbestraften Personen gelang. Das ist schen Delikt, nämlich der Vergewaltigung,
in der weit überwiegenden Zahl von Unter- interessiert eine andere Komponente inner-
suchungen auch der Fall (z. B. Lösel & halb der Aggressionsgenese, nämlich sexuelle
Wüstendörfer, 1976), wenngleich die erheb- Motivation. Diesbezüglich stellt sich die
lichen Probleme einer Testvorgabe unter den Frage, inwieweit Vergewaltigungen primär
Bedingungen der Inhaftierung nicht zu über- sexuelle Handlungen darstellen, zu deren
sehen sind. Verübung bzw. Durchsetzung Gewalt ange-
Weniger belastet von den Unwägbarkei- wendet wird, oder ob Vergewaltigungen
ten einer durch unterschiedliche Situations- primär Gewaltakte sind, bei deren Ausübung
oder Sozialisationsfaktoren bedingten unter- gleichsam als Tatwerkzeug das männliche
schiedlichen Bearbeitung der Verfahren sind Genital benutzt wird.
Längsschnittuntersuchungen, in denen zu Für College-Studenten, die sich gegenüber
einem früheren Zeitpunkt die Aggressivität Frauen entweder sexuell, nichtsexuell oder
und später ggf. auftretende Kriminalität auf beiderlei Weise aggressiv verhalten
gemessen wird. In der Studie von Roff hatten, berichteten Malamuth et al. (1991)
(1992), die einem derartigen Plan folgte, ein Wirkungsgefüge, demzufolge Kindheits-
erwies sich an 711 männlichen Jugendlichen erfahrungen feindseliger Thematik über zwei
430
9 Emotion und Persönlichkeit
Pfade zu den Verfehlungen geführt haben: (1) zu Ärgerunterdrückung ist anscheinend nicht
Feindselige Einstellungen und Persönlich- spezifisch für Psychosomatiker, sondern ein Merk-
mal mehrerer klinischer Stichproben (Schizophre-
keitsmerkmale begünstigen Nötigungsver- ne, Neurotiker, Alkoholiker und Patienten mit
halten und (2) sexuelle Promiskuität, die Affektstörungen) im Vergleich zu gesunden Kon-
insbesondere in Interaktion mit Feindselig- trollpersonen.
keit sexuelle Aggressionen hervorbringt. Die-
se nur kurze Erörterung einiger Modelle In einer Längsschnittuntersuchung über ca.
und Ergebnisse wird deutlich gemacht ha- zehn Jahre registrierten Eron et al. (1978; s.
ben, dass Aggressivität nur in Verbindung auch Eron, 1980) eine Stabilität von fremd-
mit einer Vielzahl anderer auslösender, mo- beurteilter Aggressivität von rtt ¼ 0,47.
dulierender und interagierender Faktoren MMPI-Skalen zur Aggressivität korrelierten
außer- und innerhalb des Individuums als mit den Fremdratings zu r ¼ 0,39, d. h., die
Erklärung für sexuelle Übergriffe in Betracht Fragebogeninformation weist Entsprechun-
kommt. gen mit den Wahrnehmungen unabhängiger
Vermehrt wird nach Zusammenhängen Beurteiler auf. Die gewichtigsten Prädiktoren
der habituellen und aktuellen Aggressions- für die Aggressivität im Alter von 19 Jahren
tendenz mit Herz-Kreislaufmaßen gesucht. waren in der Gruppe der Jungen (N ¼ 128)
Der Übersicht von Vögele und Steptoe die Präferenz für Gewaltdarstellung im Fern-
(1993) zufolge rufen sowohl Ärgerunterdrü- sehen und hohe Mobilität der Eltern. Darü-
ckung als auch häufiges Ärgererleben und ber hinaus waren der IQ, die Identifikation
dessen Äußerung kardiovaskuläre Hyperre- mit der Mutter und Aussprachemöglichkeit
aktivität hervor, was im Laufe jahrelanger mit den Eltern von Gewicht. Die Resultate
Wiederholungen zur Entstehung von kardio- bei den Mädchen befanden sich nur in
vaskulären Krankheiten (essentielle Hyper- teilweiser Übereinstimmung damit. Zu einem
tonie bzw. koronare Herzerkrankungen) späteren Zeitpunkt (Eron, 1987) war das
führen kann. Beobachtungsintervall auf 22 Jahre ange-
wachsen. Dabei bestanden sehr deutliche
In dem Material von Otten (1993) war hingegen Korrelationen zwischen der im Alter von
ein genereller Zusammenhang zwischen Anger acht Jahren von den Mitschülern angegebe-
Out und kardiovaskulärer Reaktivität nicht zu nen Aggressionsneigung (z. B. »Wer rempelt
sichern; wohl aber fand sich eine Korrelation andere Kinder an?«) bzw. der Tendenz zu
zwischen Ärgerausdruck und Blutdruck bei Män-
nern mit hypertonen Blutdruckwerten, wobei prosozialem Verhalten (z. B. »Wer sagt: ›Ent-
nicht Anger In als blutdrucksteigernde, sondern schuldige‹, auch wenn er/sie gar nichts Böses
Anger Out als blutdruckmindernde Dimension getan hat?«) und der Häufigkeit aggressiver
bedeutsam war. Auch in der Laborstudie von Handlungen im Alter von 30 Jahren (Ver-
Schwenkmezger und Hank (1995) korrelierte nur
Anger Out mit systolischem und diastolischem
urteilungen für Straftaten; von Ehepartnern
Blutdruck. Böddeker und Stemmler (2000) fanden berichtete, auf sie zielende aggressive Hand-
nach einer Ärgerprovokation keine Korrespon- lungen; Härte der von Kindern angegebenen
denz zwischen habituellen Ärgerausdrucksstilen Strafen). Was die Ursachen dieser bemer-
nach dem STAXI und aktuellen Stilen, die auf- kenswerten Stabilität angeht, so neigt Eron
grund der Diskrepanzen zwischen physiologischen
Reaktionen und Einstufungen der Befindlichkeit (1987) zu der Auffassung, dass die Regeln
sowie des Gesichtsausdrucks gebildet wurden, und Fähigkeiten für Handlungen, die den
wohl aber zwischen Extraversion sowie Neuro- sozialen Verhaltensweisen zugrunde liegen,
tizismus und aktuellen Stilen. Entgegen einer weit bereits sehr früh in besonders sensiblen Pha-
verbreiteten Hypothese unterscheiden sich zudem
auf der Anger-In-Dimension Psychosomatiker
sen der Entwicklung gelernt werden und
offenbar nicht von anderen klinischen Gruppen danach relativ änderungsresistent sind. Da-
(Schwenkmezger et al., 1994), d. h., eine Tendenz bei komme der häufigen Konfrontation mit
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
432
9 Emotion und Persönlichkeit
Aggression spielen also neben der Stärke der walt die Aggressionsbereitschaft bei Män-
emotional wirksamen Situation biologische nern im Vergleich zu Frauen deutlich steigert.
und/oder kognitive Geschlechtsunterschiede Dieser Effekt kann als differentielle Kondi-
in der Regulation der physiologischen und tionierung bei Männern und Frauen oder
emotionalen Aktivierung eine bedeutsame auch als unterschiedliche Geschlechtsrollen-
Rolle. erwartungen interpretiert werden. Unter pro-
Aber auch lerntheoretische Überlegungen vozierenden Bedingungen allein sinkt der
können einen Beitrag zur Erklärung dieses Geschlechtsunterschied in der Verhaltensag-
Geschlechtsunterschiedes leisten. Betten- gression, um bei kombinierter Vorgabe von
court und Kernahan (1997) führten eine Hinweisreizen und Provokation ganz zu
Meta-Analyse über solche Studien durch, in verschwinden. Hinweisreize auf Gewalt und
denen Hinweisreize auf Gewalt (Waffen, tatsächliche Provokationen kombinieren
Sticker, Filme, Mitteilungen) allein oder zu- sich bei Frauen also zu gleich großen Ag-
sammen mit Provokationen experimentell gressionseffekten wie bei Männern; unter-
vorgegeben wurden. Sie stellten fest, dass schiedliche Geschlechtsrollenerwartungen
die Präsentation von Hinweisreizen auf Ge- haben dann keine Auswirkungen mehr.
Eine der theoretischen Herleitungen von Aggression folgt der psychoanalytischen Sicht-
weise vom Menschen als einem organischen System, dem einerseits Energie zugeführt wird
(z. B. in Form angeborener Triebe), das andererseits diese Energie in Form körperlicher
Aktivitäten verbraucht und »abreagiert«. Eine daraus unmittelbar ableitbare Hypothese
besteht darin, dass nach Abfuhr destruktiver Energie durch Aggressionen (veranlasst durch
den Todestrieb) die Auftrittswahrscheinlichkeit weiterer aggressiver Verhaltensweisen
zunächst vermindert ist (weil das Reservoir an entsprechender Triebenergie erst wieder
aufgefüllt werden muss). Diese sog. Katharsis-Hypothese ist in zahlreichen, zum Teil höchst
ingeniösen Untersuchungen, empirisch und experimentell untersucht worden; die dabei
erzielten Resultate sind jedoch inkonsistent und liefern letztlich keine Bestätigung der
psychoanalytischen Grundannahmen. Erfolgreicher sind demgegenüber die lern- und
traittheoretischen Konzepte von Aggression. Namentlich hat die testbasierte Erfassung von
individueller Aggressivitätstendenz zahlreiche Verhaltenskorrelate von Aggressionen auf-
gezeigt (z. B. Kreislaufreaktionen, Ausmaß an Ärger, Präferenz für Gewaltdarstellung in
den Medien, Delinquenz und Kriminalität). Mehrheitlich wurden zudem Geschlechts-
unterschiede in der erwarteten Richtung gefunden.
433
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
434
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
ansatz von der Überzeugung getragen, dass Dennoch wird von verhaltenstheoretischer
sich das sehr komplexe Verhalten des Men- Persönlichkeitsforschung gesprochen, weil
schen in seiner komplizierten materiellen und sich einzelne Verhaltenstheoretiker inhaltli-
sozialen Umwelt letztlich über die gefunde- cher Problembereiche angenommen haben,
nen Lernmechanismen erklären, vorhersagen die vielfach zur Persönlichkeitspsychologie
und beeinflussen lässt. gerechnet werden. Diese Problembereiche
Die Grundauffassung der meisten, vor wurden jedoch im Sinne allgemeinpsycholo-
allem älteren Verhaltenstheoretiker zum For- gischer Fragestellungen und Forschungsan-
schungsgegenstand der Differentiellen und sätze lerntheoretisch angegangen.
der Persönlichkeitspsychologie besteht in ei- Für die Persönlichkeitspsychologie wich-
ner Ablehnung dispositioneller Konstrukte tige Verhaltenstheoretiker, wie z. B. Bandura
(wie z. B. Eigenschaften oder Erbanlagen) und Walters (1963; Bandura, 1971), hielten
und anderer persönlichkeitspsychologischer das Tierexperiment im Rahmen persönlich-
Strukturbegriffe (wie etwa derjenigen des Ich keitsbezogener Forschung für inadäquat, so
oder Unbewussten). Verhalten gilt als situa- wie sie ebenfalls die Prinzipien des klassi-
tionsabhängig und nicht als dispositions- schen und operanten Konditionierens allein
bedingt, interindividuelle Unterschiede wer- für die Erklärung menschlichen, sozialen
den ausschließlich auf unterschiedliche Lern- Verhaltens für ungenügend erachteten. In
erfahrungen zurückgeführt. Variationen im vielen Untersuchungen hauptsächlich an
Verhalten derselben Person inderselbenSitua- Kindern konnten sie zeigen, dass das Lernen
tion wären demgemäß nur eine Folge von durch Beobachtung eine mindestens ebenso
»Unschärfen« bei der Konditionierung auf bedeutende Rolle spielt und dass sich so
spezifische Reize oder dem Ausüben von ope- wichtige Verhaltensphänomene wie das der
rant bekräftigten Verhaltensweisen; Stabilität Aggressionen im Rahmen ihrer Sozialen
des Verhaltens wäre eine Konsequenz der Lerntheorie theoretisch und empirisch sinn-
raumzeitlichen Kontingenzen von auslösen- voller erforschen lassen als in anderen, bisher
den und bekräftigenden Ereignissen; Konsis- verwendeten theoretischen Bezügen (Bandu-
tenz des Verhaltens wäre eine Funktion der ra, 1973).
Reiz- und Reaktionsgeneralisation. Korrela- Im Grunde handelt es sich auch bei diesen
tionen zwischen Verhaltensweisen wären be- Ansätzen um allgemeinpsychologische und
dingt durch die in der Gesellschaft oder der nicht um differentialpsychologische For-
individuellen Lerngeschichte korrelierenden schung. Ein direkter Bezug zur differential-
Bekräftigungsmuster. Von daher verwundert psychologischen Persönlichkeitsforschung
es auch nicht, dass von den Verhaltenstheo- wurde in völlig unterschiedlicher Weise von
retikern keine Persönlichkeitstheorien im zwei Verhaltenstheoretikern hergestellt, die
engeren Sinne erstellt wurden. Falls über- sich trotz jeweils verschiedener theoretischer
haupt Persönlichkeitspsychologie eine Be- Schwerpunkte ebenso wie Bandura als Ver-
rücksichtigung fand, so wurde sie als Teilge- treter der Sozialen Lerntheorie bezeichneten:
biet der Allgemeinen Psychologie aufgefasst. Rotter und Mischel.
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
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10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
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10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Erfolg gegeben. Ausgewertet wurde das Wettver- Um empirische Forschung zu dieser Frage-
halten in Abhängigkeit von Zufall- oder Geschick- stellung durchführen zu können, war es
Instruktion und der Erfolgs- oder Misserfolgs-
rückmeldung. Es zeigte sich, dass die Zunahme in
zunächst notwendig, ein Messinstrument
der Anzahl gesetzter Spielmarken nach einer Er- zur Erfassung interindividueller Unterschie-
folgsrückmeldung sowie die Abnahme der Anzahl de in der Kontrollinstanz als generalisierte
gesetzter Spielmarken nach einer Misserfolgsrück- Erwartung zu entwickeln.
meldung in der Geschick-Bedingung signifikant
größer waren als in der Zufall-Bedingung. Dies
demonstriert sehr anschaulich die Wirkung der
situativen Kontrollinstanz (Zufall- versus Ge- Die Messung von
schick-Instruktion) auf die Verstärkungserwar- Kontrollüberzeugungen als
tung (Setzen von Spielmarken im Gewinnspiel). Persönlichkeitsmerkmal
Die Ergebnisse der Experimente zur situati- Von Rotter (1966) stammt der erste systema-
ven Variation von Kontrollüberzeugungen tisch konstruierte Fragebogen zu Kontroll-
warfen die Frage auf, inwieweit in Situatio- überzeugungen als Persönlichkeitsmerkmal
nen, die von sich aus keine oder nur sehr im Sinne einer generalisierten Erwartungs-
unbestimmte Erwartungen bezüglich der haltung (Rotter-I-E-Skala). Das Instrument
Kontrollinstanz auslösen, die generalisierte ging hervor aus den im vorigen Abschnitt
Erwartungshaltung als Persönlichkeitsmerk- besprochenen experimentellen Arbeiten. Die
mal vergleichbare Effekte hervorrufen würde. Skala wird in Kasten 10.1 vorgestellt.
Rotters I-E-Skala ist aus Items aufgebaut, die aus je zwei Feststellungen bestehen, von denen
eine jeweils eine externale, die andere eine internale Kontrollinstanz repräsentieren soll. Die
Testperson hat bei der Beantwortung jene Feststellung eines Items zu wählen, der sie eher
zustimmen kann. Von den 32 Items der Skala werden 23 bei der Auswertung berücksich-
tigt, die restlichen neun sollen als Füllitems den Zweck des Tests verschleiern. Folgende
Itembeispiele aus einer deutschen Übersetzung von Piontkowski et al. (1981) illustrieren die
Rotter-I-E-Skala:
Item 3
a) Kriege gibt es hauptsächlich deshalb, weil die Menschen nicht genug Interesse für Politik
aufbringen.
b) Kriege wird es immer geben, wie sehr sich auch die Menschen um ihre Verhinderung
bemühen.
Item 4
a) Auf die Dauer wird jedem der Respekt entgegengebracht, den er verdient.
b) Leider bleibt der Wert eines Menschen oft unerkannt, wie sehr er sich auch bemühen
mag.
Bei beiden Beispielen entspricht die Wahl der Alternative a) einer internalen, die der
Alternative b) einer externalen Kontrollüberzeugung.
439
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Die Rotter-I-E-Skala liegt den meisten frühen empirischen Arbeiten aus dem anglo-
amerikanischen Sprachraum zu Kontrollüberzeugungen zugrunde. Für die Brauchbarkeit
der Skala sprachen die Befunde aus verschiedenen Studien, die hier nicht im Einzelnen zitiert
zu werden brauchen: So ergaben sich mittlere bis gute Reliabilitätskoeffizienten, niedrige
oder keine Zusammenhänge mit Sozialer Erwünschtheit bzw. mit Intelligenztests und
Extraversion. Die I-E-Skala korreliert jedoch in mittlerer Höhe negativ mit Ängstlichkeit
und Neurotizismus (Meyers & Wong, 1988).
Die Eindimensionalität des Kontrollüber- geringe Überlappung der die Faktoren kon-
zeugungs-Konzeptes wurde durch faktoren- stituierenden Items in verschiedenen Popu-
analytische Befunde in Frage gestellt. lationen.
Coombs und Schroeder (1988) nahmen eine Die Hypothese der Eindimensionalität des
Meta-Analyse von 19 faktorenanalytischen Konstruktes ist angesichts solcher Befunde
Studien zu verschiedenen I-E-Skalen vor. nicht haltbar. Deshalb lag es nahe, gezielt
Unter der Hypothese, dass es sich bei dem multidimensionale Instrumente zur Erfas-
Konstrukt der Kontrollüberzeugung um sung von Kontrollüberzeugung zu entwi-
eine generalisierte Erwartung handelt, soll- ckeln. Levenson (1972) unterschied dabei
ten ihrer Meinung nach Faktorenanalysen zwischen drei verschiedenen Orientierungen
einen allgemeinen, varianzstarken Faktor von Kontrollüberzeugungen (c Kasten 10.2):
ergeben, der auch auf verschiedene Ver-
suchspersonenpopulationen generalisierbar l Erwartung internaler Kontrolle,
sein sollte. Bis auf eine Untersuchung fan- l Erwartung externaler Kontrolle durch
den alle Studien jedoch mehrere Faktoren, mächtige andere Personen,
wobei die jeweils ersten, varianzstärksten l Erwartung externaler Kontrolle, weil –
Faktoren nur zwischen 8 und 16 % der extrem ausgedrückt – im Leben nichts
Gesamtvarianz aufklärten. Eine nähere Be- vorhersagbar, alles für Zufall, Glück oder
trachtung zeigte darüber hinaus eine relativ Schicksal gehalten wird.
Im Folgenden werden für jede der drei Skalen zwei Itembeispiele aus der Originalfassung
von Levenson und Miller (1976) gegeben.
l Ich habe ziemlich großen Einfluss auf das, was in meinem Leben passiert.
l Wenn ich erreiche, was ich mir wünsche, verdanke ich das normalerweise meiner eigenen
harten Arbeit.
Mächtige Andere
l Mein Leben wird hauptsächlich durch andere Leute mit mehr Macht beeinflusst.
l Ich kann nur erreichen, was ich mir wünsche, wenn ich übergeordneten Leuten gefalle.
440
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Eine Zustimmung zu diesen Feststellungen spricht für Externalität im Sinne der Erwartung,
von mächtigen Anderen abzuhängen.
Zufall
l Wenn ich erreiche, was ich mir wünsche, ist das normalerweise Glückssache.
l Es ist nicht gut für mich, allzu weit vorauszuplanen, weil vieles vom Zufall abhängt.
Eine Zustimmung zu diesen Feststellungen spricht für Externalität im Sinne der Erwartung,
dass alles vom Zufall abhängt und nichts vorhersagbar ist.
Das geschilderte Modell und die darauf erlauben als globale Kontrollüberzeugungs-
bezogenen Skalen haben weithin Anerken- maße (Krampen, 1980).
nung bzw. Verwendung gefunden; die Ent- Daneben sind etliche weitere Skalen zu
wicklungen von Krampen (1981) beziehen Kontrollüberzeugungen in spezifischen Be-
sich explizit darauf. Die Skalen sind weitge- reichen entwickelt worden, Beispiele finden
hend unkorreliert und sollen in manchem sich in Kasten 10.3.
Verhaltensbereich bessere Vorhersagen
Personale Kontrolle
l Ich erreiche gewöhnlich das, was ich mir vorgenommen habe, wenn ich hart dafür
arbeite.
l Nahezu alles ist mir möglich, wenn ich es nur richtig will.
Zwischenmenschliche Kontrolle
Soziopolitische Kontrolle
l Wenn wir, die Bevölkerung, uns am politischen und sozialen Geschehen aktiv beteiligen,
können wir die Richtung der Ereignisse bestimmen.
l Negative ökonomische Entwicklungen werden durch Ereignisse in der Welt bestimmt,
die außerhalb unseres Einflusses liegen. (gespiegelt)
441
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Internaler HLOC
l Wenn man auf sich aufpasst, kann man viele Krankheiten vermeiden.
l Um gesund zu bleiben, muss man einiges für sich tun.
Externaler HLOC
Ist ein solches Verfahren generell für die Gesundheit gedacht, gibt es auch solche für
spezifische Krankheiten, insbesondere Krebs (s. z. B. Henderson et al., 2002; Cousson-Gélie
et al., 2005). Gebräuchlich sind auch Skalen für Kontrollüberzeugungen zur Arbeit (Work-
LOC, s. z. B. Muhonen & Torkelson, 2004; Oliver et al., 2006). Hingegen gelangen
Fragebogen zum Geschehen im Straßenverkehr (Traffic-LOC; s. z. B. Ozkan & Lajunen,
2005) oder zum Schlafverhalten (Vincent et al., 2004) eher selten zum Einsatz.
Ungeachtet der Aussicht, mit bereichsspezifi- den Stellenwert von Selbstkonzept, Selbst-
schen Instrumenten unter Umständen präzi- wertgefühl, LOC und Selbstwirksamkeitser-
sere Vorhersagen anstellen zu können als mit wartung auf das Ergebnis eines Alkohol-
globalen Maßen, ist die Frage aufgeworfen Entwöhnungsprogramms untersuchten. Alle
worden, ob LOC zusammen mit Selbstwert- diese Variablen erwiesen sich als signifikante
gefühl, generalisierter Selbstwirksamkeitser- Prädiktoren, wobei Selbstwirksamkeitser-
wartung und Neurotizismus auf einer höhe- wartungen die besten Vorhersagen erlaubten.
ren Analyseebene nicht nur ein gemeinsames
Kernkonstrukt indiziert. Jedenfalls liegen der
Meta-Analyse von Judge et al. (2002) zufolge Weitere Entwicklungen
dieInterkorrelationen der vier Skalen bei etwa
0,60. Zudem ist das Muster ihrer Korrelatio- Rotter hat sich auch in späteren Arbeiten auf
nen mit anderen Tests (darunter den Big Five) die einfache Aufzählung verschiedener Kon-
sowie externen Kriterien (darunter Arbeits- strukte generalisierter Erwartungshaltungen
und Lebenszufriedenheit, erfahrener Stress) beschränkt (Rotter, 1978, 1980), ohne deren
weitgehend ähnlich. Vor allem aber erklärt Beziehungen zu situations- und handlungs-
jede einzelne dieser Dimensionen in den Kor- spezifischen Konstrukten in der Theorie zu
relationen mit externen Variablen nur sehr spezifizieren.
wenig an inkrementeller Varianz relativ zu Krampen (2000a) entwickelte den Rot-
einem Faktor höherer Ordnung, der den vier ter’schen Ansatz weiter und konzipierte
Skalen gemeinsam ist. Bei dessen Interpreta- ein differenziertes Beschreibungs- und Vor-
tion denken die Autoren an ein Konstrukt, das hersagemodell für Handlungsintentionen
Neurotizismus ähnlich ist, aber eine noch und Handlungen, das »Handlungstheoreti-
größere Breite aufweist. In die gleiche Rich- sche Partialmodell der Persönlichkeit« (HPP;
tung muss die Interpretation der Befunde von Krampen, 1987, 2000a), das in Abbil-
Izquierdo et al. (2001) gehen, die prospektiv dung 10.1 wiedergegeben wird.
442
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Situation-Ereignis-Erwartung
Valenz Valenz
Handlungs-/ Handlungs-
Lebenssituation Handlung ergebnisse und Folgen
Ereignisse
Wie aus Abbildung 10.1 zu ersehen ist, wer- Es wird nun davon ausgegangen, dass auf
den Handlungen und Handlungsintentionen allen Konstruktebenen Generalisierungen
im HPP zurückgeführt auf: stattfinden, die zu unterscheidbaren, situativ
und zeitlich stabilen Persönlichkeitsvariablen
1. »Situation-Ereignis-Erwartungen«als die im Sinne von Eigenschaften führen, anhand
subjektiven Erwartungen einer Person derer Personen und interindividuelle Unter-
darüber, dass ein bestimmtes Ereignis in schiede beschrieben werden können:
einer gegebenen Handlungs- oder Lebens- Zu 1. Situation-Ereignis-Erwartungen
situation auftritt oder verhindert wird, können dahingehend generalisiert werden,
ohne dass die Person selbst aktiv wird und dass in vielen Situationen mit dem Eintreffen
handelt. positiv oder negativ bewerteter Ereignisse
2. »Kompetenzerwartungen« als subjektive gerechnet wird. Die Person vertraut oder
Erwartungen daran, dass in der gegebe- misstraut der Situationsdynamik. Der für
nen Situation der Person Handlungsalter- dieses Persönlichkeitskonstrukt gewählte
nativen – zumindest aber eine Handlungs- Terminus, der soziale und physische Aspekte
möglichkeit – zur Verfügung stehen. umfasst, ist »Vertrauen«.
3. »Kontingenzerwartungen« als subjektive Zu 2. Kompetenzerwartungen, die sich
Erwartungen daran, dass auf eine Hand- auf situative Erwartungen beziehen, dass
lung bestimmte Ereignisse folgen oder eine oder mehrere Handlungsmöglichkeiten
nicht folgen. individuell verfügbar sind, finden ihre Gene-
4. »Instrumentalitätserwartungen« als sub- ralisierung in der Aussage, dass man sich in
jektive Erwartungen daran, dass be- vielen Situationen kompetent und hand-
stimmten Ergebnissen oder Ereignissen lungsfähig erlebt. Das entsprechende Persön-
bestimmte Konsequenzen folgen. lichkeitskonstrukt wird als »Selbstkonzept
5. Subjektive Bewertungen (Valenzen) der eigener Fähigkeiten« bezeichnet.
Handlungsergebnisse. Zu 3. Kontingenzerwartungen, die sub-
6. Subjektive Bewertungen (Valenzen) der jektive Erwartungen über die Kontrollierbar-
Folgen. keit von Ereignissen enthalten, welche die zur
443
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
444
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Amerikaner afrikanischer Herkunft in allen Ganz allgemein geht internaler LOC mit
Altersgruppen durchschnittlich weniger einem höheren Ausmaß an Arbeitszufrieden-
internal als solche europäischer Herkunft. heit, besserer physischer und psychischer
Amerikaner lateinamerikanischer Herkunft Gesundheit sowie geringerem Stresserleben
scheinen solchen afrikanischer Herkunft in einher (s. Kirkcaldy, Shephard et al., 2002,
LOC-Maßen ähnlich zu sein, denn in der mit einer Erhebung an Managern). Des Wei-
Studie von Malcarne et al. (2005) an Kindern teren steht Internalität mit hohem soziome-
äußerten sowohl Amerikaner lateinamerika- trischen Status in Beziehung (Kaya, 2007).
nischer als auch afrikanischer Herkunft mehr Die Inanspruchnahme professioneller Hilfe
gesundheitsbezogene Zufallserwartungen als wegen »Problemen mit den Emotionen oder
Menschen europäischer Herkunft. Nerven oder Alkohol- oder Drogenkonsum«
stand mit LOC (mächtige Andere) in Bezie-
Mit der Theorie bzw. daraus abgeleiteten Hypo- hung (McWilliams et al., 2006). Relativ
thesen sind auch die folgenden Befunde vereinbar: externale Personen berichteten im Vergleich
Bei einem Vergleich von 2293 Studenten aus
osteuropäischen Ländern mit 4170 Studenten zu internalen über mehr zufällige Entschei-
aus westeuropäischen Ländern zeigten die ersteren dungen in ihrem beruflichen Leben. Eltern,
durchschnittlich höhere gesundheitsbezogene die in den israelisch-arabischen Konflikten
Kontrollerwartungen in Bezug auf Zufall und ihre Kinder verloren hatten, waren mehr
mächtige Andere (Steptoe & Wardle, 2001), und
Manager aus dem Gebiet der früheren DDR waren
external orientiert als eine Kontrollgruppe
im Vergleich zu westdeutschen Managern im ohne derartige Verluste (Rubinstein, 2004),
Hinblick auf ihre Arbeit mehr external orientiert und internale Personen erwiesen sich im
(Kirkcaldy, Petersen et al., 2002). Vergleich zu externalen besser auf einen
Hurrikan vorbereitet (Sattler et al., 2000).
Die negativen Effekte von Arbeitslosigkeit
auf das psychische Befinden sind weithin
bekannt. Denkbar ist aber auch eine umge- Soziale Beeinflussbarkeit
kehrte Wirkungsrichtung in dem Sinne, dass
psychische Gesundheit, ein starkes Selbst- Sehr früh schon wurde die Hypothese unter-
wertgefühl und internale Kontrollerwartun- sucht, dass sich Externale durch sozialen
gen die Wiederbeschäftigung erleichtern. In Druck stärker beeinflussen lassen als Inter-
der Tat beobachteten Waters und Moore nale. Dieses geschah in einem typischen
(2002) in einer Längsschnittstudie, dass Konformitätsexperiment nach dem bekann-
diejenigen Personen, die den Wiedereinstieg ten Paradigma von Asch (1958). Bei diesem
schafften, stärker internal kontrollüberzeugt muss die Versuchsperson bestimmte Schätz-
waren als die chronisch arbeitslosen (s. auch aufgaben lösen: In der Untersuchung von
Millet & Sandberg, 2003). Zudem scheint Crowne und Liverant (1963) zum Beispiel
auch die Zügigkeit einer Wiederbeschäfti- war die Entscheidung zu treffen, welche von
gung durch einen internalen LOC vorhersag- zwei kurzzeitig projizierten Punktewolken
bar zu sein (Ginexi et al., 2000). die größere war. Derartige Schätzaufgaben
sind so konstruiert, dass die richtige Lösung
An einer Stichprobe von 208 Beschäftigten aus der leicht erkennbar ist. Bevor die Versuchsper-
unteren Mittelschicht registrierte Gianakos
(2002), auf welche Weise die Teilnehmer mit dem
son ihre Schätzung abgibt, hört sie jedoch
von der Arbeit ausgehenden Stress umgingen. Schätzungen anderer Versuchsteilnehmer.
Internale Kontrollüberzeugung ging mit positivem Diese sind – ohne dass die Versuchsperson
Denken und Hilfesuchen einher, Externalität im das weiß – instruierte Mitarbeiter des Ver-
Sinne von mächtigen Anderen sagte Vermeidung/ suchsleiters und geben immer wieder gezielt
Resignation vorher, und Zufallsorientierung stand
mit Alkoholkonsum in Verbindung. falsche Schätzurteile ab. Untersucht wird,
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
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10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
einflüssen vor allem biomedizinische Gründe Gesundheit im Speziellen einen Einfluss auf
angaben (Shiloh et al., 2007). die physische (und auch die psychische)
Gesundheit hat, kann als gesichert angese-
hen werden (Greve & Krampen, 1991).
Leistungsverhalten Grundsätzlich können innerhalb dieses Be-
reichs drei Forschungskomplexe unterschie-
Nach den vorliegenden Ergebnissen zeigen
den werden.
Internale im Vergleich zu Externalen eine
stärkere Leistungsorientierung und höhere
Kontrollüberzeugungen als Korrelate
Leistungen in verschiedenen Bereichen.
von Gesundheit und Krankheit
Internale Kinder haben bereits in der
Grundschule die besseren Schulnoten. Auch
Allgemein findet sich ein Zusammenhang
für weiterführende Schulen und den Hoch-
zwischen Kontrollüberzeugungen und (ob-
schulbereich werden positive Zusammen-
jektiver sowie selbst eingeschätzter) Gesund-
hänge zwischen Studienerfolgsmaßen und
heit derart, dass Personen mit externalen
verschiedenen Maßen für Internalität berich-
Kontrollüberzeugungen mehr über gesund-
tet (z. B. Shepherd et al., 2006; Jones, 2008).
heitliche Probleme berichten und möglicher-
Die besagten Beziehungen gelten auch für
weise sogar ein höheres Sterberisiko aufwei-
die Berufswelt außerhalb von Ausbildungsbe-
sen. Ein entsprechender Zusammenhang
reichen.AuchdortzeigenInternaleeinehöhere
zeigt sich auch für die psychische Gesund-
Motivation für ihren Job und bessere Ergeb-
heit: Internal orientierte Personen sind allge-
nisse der Arbeit (Ng et al., 2006). Das scheint
mein zufriedener und weniger depressiv,
zudem im Sinne von inkrementeller Validität
weniger neurotisch und weniger ängstlich.
zu gelten, denn auch nach der Herauspartiali-
Besonders wertvoll im Hinblick auf diesen
sierung von kognitiver Fähigkeit und Gewis-
Problemkreis sind Längsschnittstudien. Eine
senhaftigkeit war in der Studie von Hattrup
davon wurde in den Niederlanden durchge-
(2005) Internalität noch immer ein signifikan-
führt: An 3551 Personen im Alter von durch-
ter Prädiktor von Arbeitserfolg. Worauf die
schnittlich ca. 53 Jahren und einem zweijäh-
höheren Leistungen der Internalen zurückge-
rigen Follow-up-Intervall fanden van den
führt werden könnten, geht aus Untersuchun-
Akker et al. (2001), dass Internalität ein
gen über bestimmte Aspekte des Leistungsver-
protektiver Faktor gegenüber dem Auftre-
haltens hervor: So konnte gezeigt werden, dass
ten von Krankheiten ist (und kritische Le-
Internale für das Lösen schwieriger, zeitrau-
bensereignisse das Krankheitsrisiko erhöh-
bender Aufgaben mehr Ausdauer aufbrachten
ten). Insbesondere stellte Internalität auch
als Externale, wenn sie Begabung für den
einen Schutz gegenüber Ko- oder Multi-Mor-
Lösungserfolg als wichtig erachteten (was im
bidität dar (zusammen mit dem Familien-
Experiment durch eine entsprechende Ge-
stand, nämlich in einer Paarbeziehung oder
schick-Instruktion realisiert wurde), während
einer Familie lebend). Ein solches Ergebnis
Externale unter einer Zufall-Instruktion mehr
hatte Bestand auch nach der Kontrolle von
Zeit investierten. Darüber hinaus benutzen die
Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, familiärer
Internalen bessere Strategien, relevante Infor-
Situation und Copingstilen (van der Linden
mationen für Problemlösungen zu suchen.
et al., 2001). Ähnliche Resultate haben sich
auch an sehr viel jüngeren Personen sichern
Gesundheitsbezogenes Verhalten lassen (Zdanowicz et al., 2006; Murasko,
2007).
Der Befund, dass die Kontrollierbarkeit der Als ein Indikator von Gesundheit oder
Lebensumstände im Allgemeinen und der dieser in gewisser Weise vorgeordnet kann
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Externalen gibt es relativ wenige Untersu- untersuchung von Crandall (1973): In ihr
chungen über die Entstehung von Kontroll- konnten Mutter-Kind-Interaktionen, die
überzeugungen. Die meisten dieser Untersu- über die Altersstufen 0 bis 3, 3 bis 6 und 6
chungen gingen der Frage nach, welches bis 10 Jahre beobachtet worden waren, mit
Erziehungsverhalten internale Kontroller- den Kontrollüberzeugungen der Versuchs-
wartungen begünstigt. Die Ergebnisse zu personen im jungen Erwachsenenalter in
dieser Frage sind widersprüchlich: In Unter- Beziehung gesetzt werden. Crandall fand,
suchungen an Erwachsenen, die retrospektiv dass Internale früh zur Selbstständigkeit
Auskunft über das Erziehungsverhalten ihrer angehalten worden waren. Widersprüchlich
Eltern gaben, fand man immer wieder her- waren ihre Ergebnisse allerdings hinsichtlich
aus, dass internale Erwachsene angeben, als der Wärme und Unterstützung im mütterli-
Kinder mit einem warmen, positiven, kon- chen Erziehungsverhalten: Zumindest inter-
sistenten, akzeptierenden und fürsorglichen nale Frauen waren als Kinder eher kühl,
Erziehungsstil erzogen worden zu sein, ohne wenig liebevoll und mit Kritik und Strafen
Feindseligkeit und Überbesorgtheit bei gerin- von ihren Müttern erzogen worden. Für
ger Kontrolle und viel Lob für Eigenständig- internale Männer sind diese Zusammenhän-
keit. Auch bei Kindern selbst fand man einen ge ähnlich, aber nicht so deutlich. Die Vater-
Zusammenhang zwischen Internalität und Kind-Interaktionen wurden nicht beobach-
beobachteten Interaktionsweisen zwischen tet. Vermutlich führte dieser weniger liebe-
Eltern und Kindern: Die Eltern von interna- volle Erziehungsstil dazu, dass die Internalen
len Kindern zeigten mehr Wärme, Unterstüt- als Kinder stärkere Kontakte zu Gleichalt-
zung und lobendes Verhalten sowie weniger rigen bekamen und auch andere Umweltbe-
Kontrolle, Kritik und Dominanz. Anhalts- dingungen bewusster kennen lernten. Dies
punkte sprechen dafür, dass die Vorhersage könnte zu der größeren Zuversicht geführt
von internalem LOC durch ein unterstützen- haben, die eigenen Lebensumstände selbst
des elterliches Erziehungsverhalten nur für beeinflussen zu können, dem Hauptmerkmal
Menschen europäischer und asiatischer Her- einer internalen Kontrollüberzeugung.
kunft gilt, nicht aber für solche aus Latein- Ohne nach dem Geschlecht der Eltern und
amerika oder Afrika (Suizzo & Soon, 2006). demjenigen der Kinder zu unterscheiden
Aufgrund seiner ausführlichen Litera- untersuchten in einer jüngeren Längsschnitt-
turübersicht ist Krampen (1982) bereits vor studie Lee et al. (2006) an insgesamt 7866
geraumer Zeit zu dem Schluss gekommen, Eltern vier unterschiedliche elterliche Erzie-
dass im Rahmen der familiären Erziehung hungsstile/Praktiken, nämlich
hohe (wahrgenommene) Bewegungs- und
Handlungsfreiheit für den Erzogenen, ver- l autoritativer Stil,
bunden mit emotional positivem Erziehungs- l elterliche Entscheidungen (z. B. wann die
verhalten der Eltern, wenn es zwischen den Kinder abends nach Hause kommen
Eltern und über die Zeit konsistent ist, mit sollen, ohne solche Entscheidungen mit
Internalität in Zusammenhang steht. An den Kindern zu diskutieren),
dieser Einschätzung hat sich bis in die Gegen- l kindliche Entscheidungen (ohne diese mit
wart kaum etwas geändert. Allerdings lassen den Eltern zu diskutieren),
die vorliegenden Querschnittsuntersuchun- l Erwartung von Gehorsam, ohne sich an
gen eindeutige Dependenz-Interpretationen den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren.
nicht zu.
Von besonderem Interesse für die Frage Jugendliche Internalität ging mit hohen Wer-
nach der Entstehung von Kontrollüberzeu- ten in den Clustern (1) und (2) sowie nied-
gungen ist zweifellos die frühe Längsschnitt- rigen in (3) und (4) einher.
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Für die lerntheoretische Grundlage der Kon- medizinischen Operationen auf die Ausprä-
trollüberzeugungen würde zudem sprechen, gung von LOC geprüft wird. Sorlie und
wenn sich jenseits der Ausbildung erzie- Sexton (2004) erhoben an 369 Patienten
hungsabhängiger individueller Unterschiede verschiedene Variablen, darunter LOC, kurz
bedeutsame Veränderungen der Mittelwerte nach der Aufnahme in die Klinik und vier
für größere Gruppen von Personen in Ab- Monate nach Entlassung. Die Prä-Post-Sta-
hängigkeit von Umgebungsfaktoren finden bilitäten der eingesetzten Skalen lagen nur
ließen. So würde man erwarten, dass mit zwischen 0,50 und 0,59. Eine Zunahme an
ansteigendem Lebensalter in der Jugend Internalität ging mit einer positiven Bezie-
infolge der zunehmenden Erfahrung, Kon- hung zum behandelnden Arzt einher, die
trolle über Ereignisse im sozialen Umfeld Schwere der Erkrankung mit einer Zunahme
ausüben zu können, sich der LOC in Rich- der Externalität-Komponente »Zufall«.
tung auf Internalität verändert. An sehr Auch wenn mehrheitlich stringente Kon-
großen Stichproben und unter Verwendung trollen fehlen (z. B. in Form von Vergleichs-
einer Kurzform der Rotter-Skala konnte gruppen von Personen mit gleichen Aus-
diese Vermutung von Moneta et al. (2001) gangswerten) oder bei einzelnen Fragestel-
in der Tat bestätigt werden. lungen gar nicht möglich sind, sprechen die
Dem steht eine epochale Verschiebung des referierten Untersuchungen doch dafür, dass
LOC in Richtung auf Externalität im Zeit- LOC-Werte – und damit in Übereinstimmung
raum von 1960 bis 2002 entgegen, den mit der sozialisationstheoretischen Veranke-
Twenge et al. (2004) in einer Meta-Analyse rung des Konstrukts – systematischen Mo-
der Daten von ca. 25000 Kindern und Col- difikationen in Abhängigkeit von mehr oder
lege-Studierenden beobachten konnten. Die weniger spezifischen Beeinflussungen unter-
Autoren ordnen diesen Befund in ein Ent- liegen.
fremdungsmodell ein, das gekennzeichnet ist Nur der Vollständigkeit halber sei er-
durch eine zeitbedingte Zunahme an Zynis- wähnt, dass daneben aber auch biologische
mus, Individualismus und Egoismus. Die Ursachen eine Rolle spielen mögen, die mit
Auswirkungen seien fast gänzlich negativ, der Kapazität des Gehirns zur Selbstregula-
da Externalität mit niedrigen Schulleistun- tion zu tun haben und in verschiedenen
gen, Hoffnungslosigkeit, ineffektivem Stress- Hirnregionen lokalisiert sind (Declerck
Management und Depressivität einhergehe. et al., 2006).
Sehr viel kürzer sind die Zeitabschnitte, in
denen sich der LOC als Folge gezielter Inter-
ventionen verändert. Bei Patienten, die an Abschließende Bemerkungen
Bluthochdruck litten, konnten Pötz et al.
(2002) durch ein ambulantes Training die Ganz ohne Frage handelt es sich bei interna-
externalen Kontrollüberzeugungen (Über- ler vs. externaler Kontrollüberzeugung um
zeugung, dass es hilfreich ist, die Anregungen ein Konstrukt, das ein enormes Anregungs-
des Therapeuten zu befolgen) steigern. Aller- potential für die experimentelle und empiri-
dings muss bei diesem Befund erwogen wer- sche Erforschung aufweist; zahlreiche Frage-
den, dass er zumindest partiell die Folge des stellungen wären ohne die stimulierende
»Aufforderungscharakters« der gesamten Theorie von Rotter nie bearbeitet worden.
Anordnung ist und die Patienten entspre- Allerdings bleibt die Empirie in einem wich-
chende Angaben gemacht haben, um die tigen Punkt hinter den theoretischen Erwä-
Erwartungen der Therapeuten zu erfüllen. gungen zurück: Der Wert der angestrebten
Eine derartige Interpretation liegt weniger Bekräftigungen, der doch zusammen mit den
nahe in Studien, bei denen der Einfluss von Kontrollerwartungen das Verhaltenspoten-
450
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Das erhebliche Gewicht des Konstruktes »interpersonales Vertrauen« rührt nach Rotter aus
dem Umstand, dass nahezu alle Entscheidungen des Zusammenlebens im Alltag Vertrauen
anderen gegenüber beinhalten: der Kauf von Äpfeln (Ist er wirklich »biologisch angebaut«?)
nicht weniger als die Beauftragung einer Bank (bekommen wir eines Tages, wenn wir das
wollen, unser Geld auch zurück?) usw. Insofern beruht in der Tat unsere soziale Ordnung zu
einem erheblichen Teil auf diesem Vertrauen, das insofern ein risikobehaftetes Merkmal
darstellt, als es enttäuscht werden kann. Bei dessen Schwinden muss es zu Störungen im
Verhältnis zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, den politischen Parteien, der
Kirche oder der Judikative kommen. Vertrauensverlust bedeutet in einem Extremfall wie dem
Börsenkrach am »Schwarzen Freitag« im Jahre 1929 gar völligen wirtschaftlichen Zusam-
menbruch. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise 2008/2009 wurde durch das fehlende
Vertrauen zu und zwischen den Banken erschwert. In einer schwierigen Weltlage hat Osgood
(1960) darauf hingewiesen, dass jegliche Abrüstung unmöglich sei, wenn nicht das Vertrauen
zumindest auf einer der beteiligten Seiten zunehme, eine Einsicht, die immerhin der Rede
Kennedys vom Juni 1963 vor der American University zugrunde gelegen haben mag, mit der
durch den einseitigen Stopp von weiteren Atombombenversuchen (¼ eine vertrauensbil-
dende Maßnahme) eine Abwendung vom Kalten Krieg eingeleitet wurde. Eine solche
Auffassung gilt auch in der Gegenwart für die Bewältigung aktueller Konflikte (Kelman,
2005).
Mit diesen Darlegungen sollte die enorme Bedeutung von Vertrauen für das Funktio-
nieren politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Organisationen aufgezeigt wer-
den. Gleichwohl ist evident, dass Vertrauen innerhalb und zwischen Nationen, Institutio-
nen, wirtschaftlichen Unternehmen und Paarbeziehungen (also Aggregaten im weitesten
Sinne) nicht gleichgesetzt werden kann mit dem zwischenmenschlichen Vertrauen, das als
interindividuell variierende Person-Variable nachfolgend allein interessiert (zur Unter-
scheidung zwischen Vertrauen in Institutionen und Personen sowie Vertrauen als Variable
und Prozess, s. Khodyakov, 2007).
451
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Vertrauen
Bei der rationalen Vorauswahl der Items l »Im Umgang mit Fremden sollte man so
stand für Rotter (1967) das Ziel im Vorder- lange vorsichtig sein, bis diese gezeigt
grund, einen möglichst breiten Bereich von haben, dass sie vertrauenswürdig sind.«
sozialen Objekten zu erfassen, damit eine l »Eltern sind gewöhnlich verlässlich in
Testperson ihr Vertrauen gegenüber Eltern, Bezug auf ihre Versprechungen.«
Lehrern, Ärzten, Politikern, Richtern, Klas-
senkameraden, Freunden und dergleichen Ausgehend von den Rotter-Items schlugen
angeben kann. Zusätzlich zu diesen spezifi- Krampen et al. (1982) kurze Subskalen für
schen sollten einige allgemeiner formulierte »soziales Misstrauen« vor. Die Skalen von
Fragen aufgenommen werden, die den Opti- Buck und Bierhoff (1986) gelten der Erfas-
mismus gegenüber der Gesellschaft abde- sung von Vertrauen in eine konkrete Person,
cken. und zwar differenziert nach Vertrauenswür-
452
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
digkeit als einer emotionalen Qualität und tischer Hinsicht. Ein IT für Kinder wird in
Verlässlichkeit in instrumenteller sowie prak- Kasten 10.5 vorgestellt.
Besonderes Augenmerk richtete die Forschung auf die Erfassung von IT bei Kindern. Das
Vertrauen der Kinder in ihre Eltern sei notwendig für die Entwicklung eines gesunden
Selbstwertgefühls, kreativen Intellekts und angemessener Beziehungen zu den Gleichalt-
rigen. Rotenberg et al. (2005) wählten für ihre IT-Skala ein kindgemäßes Itemformat.
Theoretischer Hintergrund war die auch bei anderen Autoren übliche Unterscheidung in
die drei Komponenten
Zudem wurde zwischen Mutter, Vater, Lehrer und Freund unterschieden, auf die sich das
Vertrauen bezog. Insofern handelt es sich weniger um generalisiertes, sondern mehr um
spezifisches IT. Insgesamt 24 Szenarien der folgenden Art bildeten die Items:
l »Sarahs Mutter sagt, dass sie eine halbe Stunde später als sonst ins Bett gehen muss, wenn
sie vorher ihr Zimmer aufräumt. Sarah räumt ihr Zimmer auf. Wie wahrscheinlich ist es,
dass Sarahs Mutter das Kind eine halbe Stunde länger auflässt?« (Verlässlichkeit)
l »Paula hat ein Geschenk für den Geburtstag ihrer Mutter gebastelt. Sie bittet ihren Vater,
der Mutter nicht zu verraten, was es ist. Wie wahrscheinlich ist es, dass Paulas Vater der
Mutter nichts über das Geschenk erzählen wird?« (Emotionale Qualität)
l »Der Lehrer äußerte gegenüber Beverleys Klasse, dass sie am letzten Schultag eine halbe
Stunde früher aufhören könnten. Am letzten Schultag stellt der Lehrer fest, im Stoff nicht
durchgekommen zu sein. Wie wahrscheinlich ist es, dass er die Klasse eine halbe Stunde
früher heimgehen lässt?« (Aufrichtigkeit)
Ein Validitätsbeleg war darin zu sehen, dass die Freunde-Subskala mit der Hilfsbereitschaft
gegenüber Klassenkameraden korrelierte. Mädchen besaßen im Vergleich zu Jungen
sowohl höhere Vertrauenswerte als auch eine höhere Hilfsbereitschaft.
453
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
bei werden zunächst empirische, später ex- Schlussfolgerungen der von Präsident John-
perimentell gewonnene Befunde erörtert. son eingesetzten Warren-Kommission, es
Einer der wichtigsten Belege für die un- gäbe keinerlei Anzeichen für eine Verschwö-
mittelbare Validität der IT-Differenzierung rung bei der Ermordung von Kennedy, nicht
stammt aus den frühen Untersuchungen von glauben konnten.
Rotter (1967) selbst: In einem soziometri- Ein Befund schließlich, der alarmierend
schen Verfahren korrelierten die Fremdurtei- wirken muss: Die jährlich von neuen Stu-
le von männlichen und weiblichen Mitglie- dienanfängern bearbeitete IT-Skala zeigt von
dern studentischer Verbindungen mit den IT- 1964 auf 1969 einen drastischen Abfall der
Werten zu r ¼ 0,37. Wichtig in dieser Studie Mittelwerte (Hochreich & Rotter, 1970).
war die Feststellung, dass Übereinstimmun- Auf einer breiteren Basis (18- bis 89-jährige
gen der IT-Skala mit den soziometrischen Befragungspersonen) registrierten Robinson
Urteilen zu anderen Eigenschaften fast und Jackson (2001) einen Abfall des Ver-
durchgängig niedriger waren. trauens zwischen 1972 und 1998. Als ver-
In der Erhebung von Amelang et al. antwortlich dafür erwiesen sich sowohl ein
(1984) ergaben sich auch hypothesenkonfor- Kohorten- als auch ein Alterseffekt: Seit den
me Mittelwertsunterschiede im mittleren frühen 1940er Jahren weist jede folgende
Vertrauen von Pfarrern und Psychologen Kohorte niedrigere Vertrauenswerte auf, und
(höchste Werte) vs. Bankangestellte (mittlere seit 1980 sinkt das Vertrauen der Personen
Werte) vs. Rechtsanwälte und Polizisten mit niedrigem und mittlerem Lebensalter.
(niedrigste Werte). Ein derartiger Trend ist für die jüngere
Relativ hohe Korrelationen (um r ¼ Vergangenheit auch in Deutschland festge-
–0,65) bestehen zu »Machiavellismus«, also stellt worden. Hier ging zwischen 1984 und
der Tendenz, andere im Sinne der eigenen 1993 das Vertrauen in die regierungspoliti-
Ziele zu manipulieren (s. Christie & Geis, schen Institutionen gravierend zurück, wäh-
1970), zusätzlich auch mit dem Glauben an rend die Verwaltungsinstitutionen deutlich
eine gerechte Weltsowie religiösen Bindun- geringereVertrauenseinbußen erlebten (Pickel
gen (Bègue, 2002). & Walz, 1996), ein Effekt, der sich durch die
Gestützt auf längsschnittliche Erhebungen Aufdeckung der Parteispendenaffären gegen
an 100 Männern und Frauen, die bei der Ende des letzten Jahrhunderts noch verstärkt
Erstuntersuchung zwischen 55 und 80 Jahre haben dürfte. Dabei hat sich das kurz nach der
alt waren, fanden Barefoot et al. (1998) für Wiedervereinigung registrierte West-Ost-Ge-
Personen mit hohen relativ zu niedrigen IT- fälle im Institutionenvertrauen reduziert. Viel-
Werten nicht nur eine bessere gesundheitliche fach geht diese Annäherung jedoch auf einen
Verfassung, sondern auch eine längere Le- Vertrauensverlust im Westen und weniger auf
benserwartung. Das mag damit zusammen- einen Vertrauenszuwachs im Osten zurück
hängen, dass Personen mit niedrigem Vertrau- (Walz, 1996). Generell ist mit dem Rückgang
en unter einer erheblichen Zahl von zwischen- an Vertrauen auch eine reduzierte Partizipa-
menschlichen Problemen leiden (z. B. andere tion an demokratischen Aktivitäten und eine
verdächtigen, sich von anderen angegriffen Abnahme prodemokratischer Haltungen zu
fühlen, sich schuldig fühlen), während Perso- befürchten (s. dazu die Übersichtsdarstellung
nen mit hohen IT-Werten diesbezüglich kaum von Sullivan & Transue, 1999).
Beschwerden äußern und ihr Vertrauen auch Erwähnung verdient schließlich die Unter-
nicht bedeutet, dass sie leichtgläubig sind oder suchung von Gurtman und Lion (1982), in
ausgenutzt werdenkönnten (Gurtman, 1992). der die Autoren eine bessere tachistoskopi-
Hamsher et al. (1968) berichten über sche Erkennungsleistung der Personen mit
niedrigere IT-Werte jener Studenten, die den niedrigen relativ zu denjenigen mit hohen IT-
454
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Werten vor allem bei Wörtern mit negativen weiteren Studien. In einer Befragung an Stu-
Konnotationen fanden (s. dazu die Übersicht dierenden, die ihr erstes Semester an einer
von Wrightsman, 1991). Universität fern des Heimatortes verbrach-
Dieser Befund kann als Ausdruck für die ten, wiesen jene Probanden die höheren IT-
Intensität informationsverarbeitender Pro- Werte auf (sowie einen höheren sozialen Rang
zesse gedeutet werden und fügt sich unschwer und geringeres Heimweh), die ihre Eltern in
in die Konzeption von Luhmann (1973), ihrem Erziehungsverhalten als unterstützend
wonach Vertrauen ein wichtiges Mittel zur erinnerten (Benn et al., 2005). In der Unter-
Reduktion von Komplexität darstellt. Ver- suchung von Rotenberg (1995) wurden 72
trauenssituationen zeichnen sich dadurch Eltern und deren 50 Kinder befragt. Dabei
aus, dass die damit in Verbindung stehenden zeigte sich, dass es vorwiegend die Mütter
Probleme eine geringere Verarbeitungstiefe sind, die durch ihre Zuverlässigkeit maßgeb-
erlauben als Misstrauenssituationen. Situa- lich an der Ausbildung von IT bei den Kindern
tionen des Misstrauens machen zahlreiche beteiligt sind, während die Väter eher verant-
Kontroll- und Prüftätigkeiten notwendig, um wortlich waren für das Vertrauen der Kinder
die Glaubwürdigkeit des Partners oder in einem Prisoner’s Dilemma-Spiel.
Gegenübers zu prüfen, seine Absichten kri- Der differentiellen Theorie von Schweer
tisch zu analysieren, die Folgen eigener Hand- (1997a) zufolge entwickelt sich das Vertrau-
lungen auf den Partner abzuwägen. Mögli- en in Abhängigkeit von der individuellen
cherweise stellt insofern das Aufbringen von Vertrauenstendenz und der individuellen im-
Vertrauen anderen gegenüber auch eine indi- pliziten Vertrauenstheorie, wobei spezifische
viduelle Strategie dar, um das informations- Merkmale der jeweiligen Situation als Mo-
verarbeitende System zu entlasten. deratoren auf Art und Ausmaß der Vertrau-
ensentwicklung wirksam werden. Als Ergeb-
nis von längsschnittlichen Erhebungen for-
Antezedente Faktoren von IT muliert Cocard (2003) acht Thesen zur Ent-
wicklung des Vertrauens bei Jugendlichen.
Rotter (1967) fand bei seiner Analysenstich- Eine These davon besagt, dass zwischen-
probe einen Geschwisterreihungseffekt in menschliche Gratifikationen für den Aufbau
dem Sinne, dass die jüngsten Kinder im Mittel interpersonalen Vertrauens förderlich sind
die niedrigsten IT-Werte aufwiesen und sich (was den verhaltenstheoretischen Kern deut-
darin von den in der Geschwisterreihe mitt- lich macht), eine andere, dass interpersonales
leren Kindern unterschieden. Darüber hinaus Vertrauen nicht zwangsläufig zu einer hohen
stellte er die Beobachtung an, dass die Kinder Kontakthäufigkeit führt, umgekehrt aber die
von Elternpaaren, die im religiösen Bekennt- Kontakthäufigkeit – wie im Übrigen auch das
nis übereinstimmen, wesentlich höhere IT- zwischenmenschliche Vertrauen – die Per-
Werte zeigten als Kinder von Eltern, die sönlichkeitsentwicklung begünstigen kann.
diesbezüglich dissonant waren. In einer Stu-
die an 2033 verheirateten Personen und deren
646 Kindern zeigten die Nachkommen gerin- Abschließende Bemerkungen
geres Vertrauen, wenn sich die Eltern hatten
scheiden lassen, doch verschwanden diese Als ein relativ neues Forschungsfeld, das nach
Unterschiede größtenteils, wenn die Qualität allem Dafürhalten rasch wachsen wird, er-
der Eltern-Kind-Beziehung als Kontrollvaria- weist sich der Einfluss von Vertrauen im
ble herauspartialisiert wurde (King, 2002). Internethandel (E-Commerce, s. die Übersicht
Die wichtige Rolle der Eltern bei der Aus- von Grabner-Kräuter & Kaluscha, 2003),
bildung von IT zeigte sich auch in zwei darüber hinaus im Management sowie in
455
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Paarbeziehungen, doch scheint dabei der isoliert behandelt wurde, mit anderen Ele-
Stellenwert von interindividuellen gegenüber menten der sozialen Lerntheorie in Verbin-
situativen Faktoren nachgeordnet zu sein. dung zu bringen und die wechselseitigen
In Zukunft wird es verstärkt darauf an- Abhängigkeiten der Variablengruppen zu
kommen, die generalisierte Erwartung IT, die untersuchen.
bislang als Konstrukt wie viele andere nur
Innerhalb der sozialen Lerntheorie ist die Auftrittswahrscheinlichkeit für ein bestimmtes
Verhalten in einer Situation eine Funktion von einerseits der Erwartung, dass die besagte
Verhaltensweise in einer gegebenen Situation zu einer Verstärkung führt, und andererseits
dem Wert, den die Verstärkung in der gegebenen Situation für die Person besitzt. Erwartung
und Verstärkungswert, beides kognitive Elemente, sind multiplikativ miteinander verbun-
den. Die Erwartungen sind von unterschiedlicher Spezifität bzw. Generalisierung. Inhaltlich
wurden von Rotter zwei generalisierte Erwartungshaltungen konzeptualisiert: Bei der
»Kontrollüberzeugung« handelt es sich um Erwartungen hinsichtlich der Kontrollinstanz
für die Konsequenzen des eigenen Verhaltens. Nimmt eine Person diese als bei sich selbst
lokalisiert wahr, spricht man von internaler Kontrollüberzeugung; sieht sie den »Locus of
Control« (LOC) hingegen außerhalb ihres eigenen Einflussbereiches (z. B. Glück, Zufall,
andere Leute usw.), so liegt externale Kontrollüberzeugung vor. Die generalisierte
Überzeugung »Zwischenmenschliches Vertrauen« (»Interpersonal Trust«, IT) ist weniger
breit angelegt und steht für das Ausmaß an Vertrauen, das man im sozialen Leben bereit ist,
anderen entgegenzubringen. Beide Erwartungshaltungen lassen sich zum einen durch
experimentelle Anordnungen systematisch verändern (¼ allgemein-psychologisch-situative
Komponente), zum anderen durch Fragebogen erfassen (¼ differentiell-persönlichkeits-
psychologische Komponente). Nachfolgearbeiten haben die allgemeinen Kontrollerwar-
tungen differenziert in verschiedene Bereiche des Lebens, die eigene Gesundheit und auch
die möglichen Handlungen. Sowohl LOC- als auch IT-Werte weisen zahlreiche Korrelate
mit anderen Variablen in erwarteter Weise auf (z. B. für LOC mit Alter, Bildung, ethnischer
Herkunft; IT mit Fremdeinschätzungen, tachistoskopischer Wahrnehmung, Berufsgruppen
u. a.). Sowohl LOC als auch IT scheinen durch den Erziehungsstil der Eltern beeinflusst zu
sein, und sowohl in LOC als auch IT ist in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz zu einer
Reduktion der Ausprägung festzustellen. Es gibt kaum Untersuchungen, die sich mit der
Variablen »Bekräftigungswert« beschäftigt haben.
10.3 Belohnungsaufschub
456
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
457
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
458
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
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Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Beiden Paradigmen sind somit die Situation dungssituation: Wie bereits dargelegt wurde,
der Wahlentscheidung und damit kognitive ist eine Wahl zu treffen zwischen unmittelbar
Bewertungen gemeinsam, im weiteren auch zugänglichen Objekten geringerer und später
das Faktum, dass hier und dort Impulsivität verfügbaren Gegenständen höherer Wertig-
eine Rolle spielt (zum Zusammenhang von keit. Zugrunde liegt also ein behaviorales
Verzögerungsabwertung und Impulsivität s. Kriterium. Insofern bestehen Unterschiede zu
de Wit et al., 2007; von Verzögerungsabwer- vielen anderen Konstrukten, die häufig auf
tung und geringer Intelligenz s. Shamosh & Befragungen beruhen bzw. aus diesen er-
Gray, 2008). Deshalb sind Korrelationen schlossen werden.
zwischen Maßen beider Ansätze wahrschein- Schon in den ersten Untersuchungen hat
lich, auch wenn es dazu bislang keine direk- aber auch Mischel (1961) geprüft, ob das reale
ten Vergleichsstudien gibt. Die Forschungen Entscheidungsverhalten mit den Antworten
zu Verzögerungsabwertung haben in den auf vorgestellte Wahlsituationen überein-
zurückliegenden Jahren sehr stark zugenom- stimmt. Die Items seines Fragebogens laute-
men, möglicherweise deshalb, weil sie in der ten: »Ich würde lieber 10 Dollar jetzt bekom-
Beschränkung nur auf die Wahlen sehr viel men als einen ganzen Monat darauf zu war-
einfacher durchzuführen sind. ten, um dann 30 Dollar zu erhalten«, und »Ich
würde lieber warten, um ein viel größeres
Geschenk viel später zu erhalten als ein klei-
10.3.3 Erfassung und Korrelate neres Geschenk jetzt.« Zur konkreten Wahl
von Belohnungsaufschub standen eine kleine Süßigkeit sofort bzw. eine
größere später. Die Übereinstimmungen der
Ausgangspunkt der Messung ist gewöhnlich Antworten untereinander und mit den Ver-
das konkrete Verhalten in einer Entschei- haltensdaten ist aus Tabelle 10.1 zu ersehen.
Tab. 10.1: Anzahl von Kindern, die im Fragebogen und in der aktuellen Wahl eine Präferenz für sofortige
bzw. verzögerte Belohnung angeben.
sofort, 12 4 15
ein kleineres Stück Zucker
verzögert, 4 19 16
ein größeres Stück Zucker
Nach Mischel (1976).
460
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
testantische Ethik« bei Angehörigen der mit mehr allgemeinen Trendfragen (z. B.
Mittel- und Oberschicht findet (Mischel, »Haben Sie mehr Spaß an Sachen, auf die
1974, S. 253). Der Gegenpol ist durch Im- Sie länger warten und für die Sie mehr planen
pulsivität und Orientierung mehr an der müssen?«, »Verstehen Sie sich mehr auf das
Gegenwart als der Zukunft sowie Indizes Sparen oder das Ausgeben von Geld?«,
von geringerer sozialer und kognitiver Kom- »Stimmen Sie mit der Lebensphilosophie
petenz gekennzeichnet. überein: ›Iss, trink und sei glücklich, denn
Mit dem IQ sind gemäß der o. a. Defini- morgen können wir alle tot sein!‹?«) konnten
tion korrelative Zusammenhänge von mäßi- Ray und Najman (1985) eine Skala von
ger Höhe zu erwarten. Denn: Aufschubent- zwölf Items mit befriedigender interner Kon-
scheidungen werden auf der Basis von kog- sistenz erstellen, d. h., bei geeigneter Erfas-
nitiven und sozialen Kompetenzen sowie sung scheint auch eine breitere Generalisie-
meta-kognitiven Einsichten getroffen. Fun- rung von Belohnungsaufschub gegeben zu
der (1998) verwies aber auf den Umstand, sein.
dass Korrelationen von Belohnungsaufschub Auf der Basis solcher Fragebogenerhe-
mit dem IQ nur dann zu beobachten sind, bungen ist zudem auch eine Unterscheidung
wenn die Bekräftigungen einen eher geringen in spezifische Ausdifferenzierungen von
Wert aufweisen. Im Falle höherer Wertigkeit Belohnungsaufschub möglich, wie beispiels-
der Bekräftigungen (und Versuchsteilneh- weise im akademischen Umfeld. Ein Beispiel-
mern jenseits des Kindesalters) bestünden item hierfür lautet »Die Vorbereitung auf
hingegen Beziehungen zu »Ich-Kontrolle« eine Prüfung zugunsten einer Konzert-, Spiel-
und »Anpassungsfähigkeit« (engl. »ego con- oder Sportveranstaltung verschieben, ob-
trol« bzw. »ego resiliency«). wohl dies eine schlechtere Note bedeuten
Evolutionstheoretische Erwägungen könnte« oder »Zuhause bleiben und arbei-
unterstellen einen für beide Geschlechter ten, um dadurch die Aussicht auf eine bessere
unterschiedlichen Selektionsdruck. Ausge- Note in der Prüfung zu erhöhen« (Bembe-
hend davon ist für Frauen ein durchschnitt- nutty, 2009).
lich höherer Belohnungsaufschub zu erwar-
ten. In einer Meta-Analyse von 38 dazu
vorliegenden Studien (in denen sich aller- 10.3.4 Situative und kognitive
dings auch solche befanden, die unter Ver- Faktoren
zögerungsabwertung eingeordnet werden
müssten) fand Silverman (2003) einen hypo- Mischel selbst hat den Begriff »Trait« im
thesengerechten Unterschied, der allerdings Hinblick auf Selbststeuerung und Beloh-
numerisch sehr gering war. Unter Heranzie- nungsaufschub vermieden und stattdessen
hung nur der kontinuierlichen Maße für die Situationsspezifität herausgestellt sowie
Belohnungsaufschub stieg der Effekt gering- auf die Interaktionen äußerer Faktoren mit
fügig auf r ¼ 0,10. Personenvariablen bei dessen Entstehung
Die insgesamt niedrigen korrelativen Zu- hingewiesen. Dabei konnte etwa in Untersu-
sammenhänge von Belohnungsaufschub mit chungen zur Erfolgserwartung in leistungs-
anderen Variablen werfen die Frage auf, thematischen Aufgaben gezeigt werden, dass
inwiefern Belohnungsaufschub ein eindimen- präexperimentell bestehende interindividu-
sionales Konstrukt ist. Allerdings muss bei elle Unterschiede in der Erfolgserwartung
solchen Erwägungen die starke Situations- gegenüber Variationen der Versuchsbedin-
und Materialspezifität der Itemformulierun- gungen völlig in den Hintergrund traten. Die
gen mit berücksichtigt werden (»Halber entscheidenden Faktoren für den Aufschub
Apfel heute oder ein ganzer morgen?«), denn der Belohnung waren somit die spezifischen
461
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Erfahrungen, die während des Experimentes Wie ersichtlich wird über Beobachtungsler-
gemacht wurden. Lediglich in solchen Fällen, nen das eigene Entscheidungsverhalten we-
wo die situativen Reize schwach oder mehr- sentlich beeinflusst, und zwar auch dann,
deutig waren, beeinflussten allgemeine Er- wenn das Vorbild nur in »symbolischer«
wartungen das Wahlverhalten in bedeutsa- Form vorliegt (Textversion angeblich erfolg-
mer Weise (Mischel, 1974, S. 257f.). ter Wahlen). In analoger Weise waren auch
Als eine wesentliche Größe für die indivi- »Viel/später«-Wahlen bei jenen Versuchsper-
duellen Entscheidungen zwischen »wenig/ sonen hervorzurufen, die ursprünglich die
sofort« und »viel/später« erwiesen sich darü- »Wenig/sofort«-Alternative bevorzugt hat-
ber hinaus Modelle oder Vorbilder mit ten.
ihrem Aufschubverhalten. Um dieses zu In der Zusammenschau solcher und ähn-
demonstrieren, bildeten Bandura und Mi- licher Anordnungen ergibt sich, dass als
schel (1965) in Vorversuchen zunächst Ex- Determinanten von Aufschubentscheidun-
tremgruppen von Kindern mit »Wenig/so- gen vor allem die Wertigkeit der hinausge-
fort«- bzw. »Viel/später«-Wahlverhalten. schobenen Belohnung eine Rolle spielt sowie
Während einer Treatmentphase beobachte- die Erwartung, dass sie tatsächlich eintreffen
ten sodann die Probanden, wie Erwachsene wird. Von daher kommt dem Vertrauen der
eine Reihe von Entscheidungen nach dem Versuchsteilnehmer eine große Bedeutung
Belohnungsaufschub-Paradigma zu treffen zu. Darüber hinaus kommen Intelligenz und
hatten. Die Modelle zeigten konsistent ein Schulleistung, individuelle Leistungsmoti-
Verhalten, das dem der Kinder diametral viertheit und das Alter ebenso in Betracht
entgegengesetzt war; sie begleiteten ihre Ent- wie der emotionale Gehalt von Erfahrungen,
scheidungen zudem mit Kommentaren und die unmittelbar vor dem Wahlverhalten ge-
Begründungen. Im unmittelbaren Anschluss macht wurden (zusammenfassend Mischel,
daran und noch einmal einen Monat später 1974, S. 261). Anscheinend hängen Auf-
mussten die Kinder in jeweils etwas verän- schubentscheidungen auch davon ab, inwie-
dertem Situationskontext analoge Entschei- weit die Versuchsteilnehmer der Tendenz zu
dungen vornehmen. Für die Beobachtung einer Reaktion im Sinne sozialer Erwünscht-
von Modellen mit systematischen »Wenig/ heit folgen. So zeigten die 8- bis 13-jährigen
sofort« -Wahlen sind die Ergebnisse in der Versuchspersonen von Granzberg (1977)
nachfolgenden Abbildung (c Abb. 10.4) zu- dann einen längeren Belohnungsaufschub,
sammengestellt. wenn ihre Entscheidungen vor den Augen
ihrer Klassenkameraden und nicht nur denen
des Versuchsleiters erfolgten.
»wenig/sofort«-Wahlen (%)
lebendes Vorbild
{
60 {
symbolisches Vorbild
{
10.3.5 Erklärungsmodelle
{
40
kein Vorbild
{ Bereits in seinen frühen Arbeiten hat Mischel
{
20 (1974) in einem Zwei-Stufen-Modell des
Belohnungsaufschubs von den Determinan-
{
{
0
ten der Wahl, wie sie oben aufgeführt wur-
Prätest Posttest 1 Monat den, jene Faktoren abgehoben, die es dem
später Einzelnen ermöglichen, im Falle einer Verzö-
Abb. 10.4: Phasen eines Experiments zur Beein- gerungsentscheidung die Wartezeit zu über-
flussung des Entscheidungsverhaltens brücken. Dafür kommen hauptsächlich kog-
(nach Bandura & Mischel, 1965). nitive Prozesse in Betracht. Wie eine ganze
462
10 Kognitiv-affektive Einheiten und Persönlichkeit
Reihe von Experimenten ergab, ist bei selbst hen. Interindividuelle Unterschiede in Beloh-
auferlegter Frustration – also verzögerter nungsaufschub spiegeln somit die Funktions-
Belohnung – eine gedankliche Beschäftigung weise des kalten Systems wider, wobei dessen
mit den Bekräftigungen dem längeren War- Schwäche mit Impulsivität einhergeht.
ten geradezu abträglich. Selbst wenn sich das
Objekt der Aufschubentscheidung nur im
Sichtfeld der Pbn befindet, verkürzt sich 10.3.6 Abschließende
dadurch das Aufschubintervall gegenüber Erörterung
einer »Unsichtbar-Bedingung«. Allgemein
scheint dafür die Aufmerksamkeit verant- Im Unterschied zu anderen Persönlichkeits-
wortlich zu sein, die von den Versuchsteil- konstrukten stützt sich die Forschung zum
nehmern auf das bevorzugte Objekt gerichtet Belohnungsaufschub ganz überwiegend auf
wird (Peake et al., 2002). Umgekehrt ist Stichproben von Kindern. Anscheinend
es hilfreich, kognitiv oder motorisch von gelingen hier die vorgenommenen Operatio-
den erwarteten Bekräftigungen abzulenken. nalisierungen besser als bei Erwachsenen.
Nicht Gegenwart oder Abwesenheit der Deshalb ist weiterhin die Frage offen, welche
präferierten Objekte sind die entscheidenden Anteile an interindividuellen Differenzen im
Größen für die Überbrückung der Wartezeit, Belohnungsaufschub in verschiedenen Auf-
sondern die daran ansetzenden kognitiven gaben durch eine simultane Überlagerung in
Transformationen. Dazu kann auch gehö- Gestalt von Entwicklungs- und Reifeunter-
ren, dass die Versuchsaufgabe als eine solche schieden erklärt werden müssen.
für Willenskraft ausgegeben bzw. aufgefasst Ein weiteres Problem besteht insofern, als
wird (Magen & Gross, 2007). praktisch nur ein Verhaltenskriterium, auch
Unter Einschluss neuropsychologischer wenn dieses der Summenwert aus mehreren
Erkenntnisse haben Metcalfe und Mischel gleichartigen Wahlen sein mag, die Grund-
(1999) zur Erklärung von Belohnungsauf- lage der Theorie darstellt. Bei einer solchen
schub ein Modell vorgestellt, das ein »hei- Spezifität aber sind von vornherein die Aus-
ßes« und ein »kaltes« Subsystem beinhaltet. sichten begrenzt, korrelative Zusammenhän-
Das Modell lehnt sich an die phylogeneti- ge mit anderen Dispositionen nachzuweisen.
sche Entwicklung und Funktionsweise des Solche Beziehungen und auch interkulturelle
menschlichen Gehirns an. Das heiße System Differenzen (s. Price-Williams & Ramirez,
sei verantwortlich für die unmittelbare und 1974) sind dennoch gefunden worden. Ein
unmodulierte Reaktion des Organismus auf Teil der als »situativ« wirkenden Faktoren
externe Stimuli. Seine neuronale Veranke- kann auch im Sinne von Antezedenzfaktoren
rung erfolge vermutlich in der Amygdala, die für überdauernde Veränderungen interpre-
bereits ab der Geburt in Tätigkeit ist. Dem- tiert werden. Dazu gehören etwa Erziehungs-
gegenüber repräsentiere das kalte System die stile der Eltern (Weller & Berkowitz, 1975),
Entwicklung von Selbstkontrolle oder die die Erfahrungen im Umgang mit Modellen
Fähigkeit, Reaktionen des heißen Systems und Personen, das entwickelte Vertrauen und
auf saliente Umgebungsreize zu hemmen. dergleichen.
Dieses System verorten sie im Hippocampus Das Argument von der Spezifität der
und Frontallappen des Gehirns, neuronalen Eigenschaft lenkt den Blick auf die zum
Strukturen, die erst im Laufe der kindlichen Fähigkeits- oder Kompetenzkonzept alter-
Entwicklung in Funktion treten. Das kalte native Auffassung von Funder und Block
System stellt einen aktiven Prozess im Indi- (1989). Danach handelt es sich bei der Wahl
viduum dar, um den Versuchungen des für eine sofortige oder verzögerte Bekräfti-
hochreaktiven heißen Systems zu widerste- gung nur um eine von vielen behavioralen
463
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Manifestationen des Konstrukts der Ich- Kausalität verbunden: Nicht die Aufschub-
Kontrolle, mit den Polen der Unterkontrolle entscheidungen würden zu den mit der
und Überkontrolle. Zwar erscheinen Perso- Hemmung motivationaler Impulse oftmals
nen mit verzögerten Entscheidungen häufi- einhergehenden negativen Konsequenzen im
ger als die klügeren und besser angepassten kognitiven, affektiven und Verhaltensbe-
Menschen, doch ist andererseits auch un- reich führen (s. dazu Polivy, 1998), sondern
verkennbar, dass sie Schwierigkeiten haben, es gelte dann: »Some of those who tend
die Ich-Kontrolle zu vermeiden, sich also toward the overcontrol of motivational
überkontrolliert und unnötig gehemmt ver- impulse may already have problems« (Fun-
halten. Auch sei damit eine Umkehrung der der, 1998, S. 212).
464
11 Konzepte des Selbst in der
Persönlichkeitspsychologie
Personen unterscheiden sich nicht nur in einer Reihe von Eigenschaften, die prinzipiell auch
von außenstehenden Beobachtern erschlossen werden können wie Extraversion oder
Intelligenz, sondern sie haben auch eine Identität, die ihnen nur introspektiv selbst
zugänglich ist und die einen Teil der Persönlichkeit ausmacht. Wie kann dieses Selbst
empirisch erforscht werden? Hierzu liegen verschiedene Ansätze vor, wie beispielsweise
Untersuchungen zu selbstbezogenen Wissenssystemen (11.1) oder Studien zu persönlichen
Überzeugungen bezüglich unserer Fähigkeiten und Fertigkeiten (11.2). Für umfassendere
Darstellungen s. Bracken (1996) und Greve (2000).
11.1 Selbstkonzept
465
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Filipp (1979; Filipp & Mayer, 2005) unter die Vorstellungen einer Person davon, was sie
Selbstkonzept die Gesamtheit des vergleichs- potentiell werden könnte, was sie gerne
weise zeitstabilen Wissens über die eigene werden würde und was sie keinesfalls werden
Person verstehen, also das selbstbezogene möchte. Dabei haben Diskrepanzen zwi-
Wissenssystem der Person. Dieses Wissens- schen dem realen Selbst und den möglichen
system enthält eine Vielzahl deskriptiver Ele- Selbsten eine positive motivationale Funk-
mente, die das faktische Wissen über die tion, da sie einer Zielorientierung dienen.
eigene Person repräsentieren. So könnte bei-
spielsweise das Selbstkonzept eines Lesers
dieses Lehrbuchs folgende Wissenselemente 11.1.2 Quellen selbstbezogenen
beinhalten: »Ich bin Student der Psychologie, Wissens
ich habe eine Freundin, ich gehe regelmäßig
joggen, …«. Darüber hinaus beinhaltet das Für den Aufbau und die Entwicklung des
selbstbezogene Wissenssystem aber auch eva- Selbstkonzepts stehen nach Filipp (1979)
luative Elemente, die einer Bewertung der fünf Quellen selbstbezogenen Wissens zur
eigenen Qualitäten entsprechen. Das Selbst- Verfügung (s. auch Markus & Cross, 1990).
konzept des Beispiellesers könnte dement- Dabei ist eine erste wesentliche Quelle
sprechend auch folgende Elemente aufwei- selbstbezogener Informationen die Beobach-
sen: »Ich bin ein mittelmäßiger Student, ich tung des eigenen Verhaltens, wobei die Rück-
bin ein guter Beziehungspartner, ich bin kör- schlüsse einer solchen Selbstbeobachtung auf
perlich sehr leistungsfähig, …«. Dabei sind die eigene Person als »reflexive Prädikaten-
es diese evaluativen Elemente, die einer Per- zuweisung« bezeichnet werden (»Ich komme
son ein bestimmtes Selbstwertgefühl verlei- zu Verabredungen immer pünktlich, also bin
hen. In diesem Sinne stellt das Selbstkon- ich zuverlässig«).
zept also eine kognitiv-affektive Struktur dar Eine weitere wichtige Quelle selbstbezo-
(für eine Übersicht über weitere Definitionen gener Informationen ist die Interaktion mit
des Selbstkonzepts s. Keith & Bracken, 1996) anderen. Dabei werden bei einer »direkten
Eine in der Literatur häufig getroffene Prädikatenzuweisung« bestimmte Attribute
Unterscheidung ist die zwischen »realem zunächst von anderen Personen explizit for-
Selbst« und »idealem Selbst«. Dabei bezeich- muliert und dann in das eigene Selbstkonzept
net das reale Selbst die Vorstellungen einer übernommen (»Mein Freunde sagen immer
Person davon, wie sie tatsächlich ist (auch wieder, dass ich geizig sei; also bin ich wohl
wenn diese Vorstellungen von der objektiven ein sparsamer Mensch«).
Realität abweichen), während das ideale Im Gegensatz dazu erfolgt bei der »indi-
Selbst auf die (gesellschaftlich) erwünschten rekten Prädikatenzuweisung« eine Eigen-
bzw. erstrebten Attribute zielt, die eine Per- schaftszuweisung aufgrund der Verhaltens-
son gerne aufweisen würde. Diese Differen- beobachtung von sozialen Interaktionspart-
zierung wurde durch Rogers (1951; Rogers nern (»Meine Kommilitonen fragen mich
& Dymond, 1954) in die Klinische Psycho- immer wieder um Rat bei Herzensangele-
logie eingeführt. Nach seinen Vorstellungen genheiten, also bin ich wohl ein einfühlsamer
stellt die Inkongruenz zwischen realem und Gesprächspartner«).
idealem Selbst die Ursache für Neurosen dar. Eine weitere wichtige Quelle für selbstbe-
Eine ähnliche Differenzierung wurde spä- zogene Informationen ist der Vergleich mit
ter von Markus und Nurius (1986) vorge- anderen Personen, wobei eine »kompara-
nommen, die zwischen dem realen Selbst tive Prädikatenzuweisung« erfolgt (»Im Ver-
und »möglichen Selbsten« (engl. »possible gleich mit meinen Geschwistern habe ich
selves«) unterschieden. Letztere bezeichnen mehr Freunde, also bin ich wohl beliebter«).
466
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
Eine letzte Quelle selbstbezogenen Wissens über weitere Fragebogen und den mit ihnen
ist das Nachdenken über vergangenes oder verwirklichten Facettierungen s. Keith &
zukünftiges Handeln, wobei eine »ideatio- Bracken, 1996).
nale Prädikatenzuweisung« resultieren kann Wichtiger als diese Unterschiede in An-
(»Wenn ich über meine Schulzeit nachdenke, zahl und Ausgestaltung von bereichsspezifi-
dann komme ich zu dem Schluss, dass ich ein schen Selbstkonzepten war eine Kontrover-
leistungsorientierter Mensch bin«). se über die Struktur des Selbstkonzepts, die
sich über mehrere Jahrzehnte hinzog und
einen ähnlichen Verlauf nahm wie in der
11.1.3 Struktur und Messung Intelligenzforschung (s. Abschn. 4.3). Dabei
des Selbstkonzepts hat Coopersmith (1967) die extreme Posi-
tion vertreten, dass die verschiedenen Fa-
Die Gesamtheit unseres Selbstwissens um- cetten des Selbstkonzepts zu hoch mitein-
fasst eine breite Mischung aus Faktenwissen ander korrelierten, um überhaupt adäquat
(»Ich bin Student«), Schlussfolgerungen differenziert werden zu können. Dement-
(»Ich bin hilfsbereit«) und Bewertungen sprechend argumentierte er, dass es einen
(»Ich bin ein guter Sportler«), die in den Generalfaktor des Selbstkonzepts gäbe, der
unterschiedlichsten Lebensbereichen (Ar- alle bereichsspezifischen Selbstkonzepte do-
beit, Familie, Sportverein etc.) gesammelt minieren müsse. Nach dieser Auffassung
werden. Um der offensichtlichen Heteroge- weist das Selbstkonzept folglich eher eine
nität dieser Wissenselemente gerecht zu wer- eindimensionale Struktur auf (diese Position
den, wurde bereits von James eine Facettie- entspricht in etwa Spearmans Annahme
rung des Selbst als Objekt in ein materielles, eines g-Faktors der Intelligenz; s. Abschn.
soziales und spirituelles Selbst vorgeschla- 4.3.1).
gen. Spätere Forscher folgten diesem Ansatz Auf der anderen Seite wurde von Marsh
und kategorisierten die Gesamtheit des und Shavelson (1985) die Position vertreten,
Selbstwissens in verschiedene Bereiche, wo- dass die verschiedenen Bereiche des Selbst-
bei diese Kategorisierung besonders bei Fra- konzepts nur schwach miteinander korre-
gebogeninventaren zur Messung des Selbst- lierten und das Selbstkonzept folglich multi-
konzepts zutage tritt. dimensional zu konzipieren sei (dies ent-
Beispielsweise legte Coopersmith (1967) spricht in etwa Thurstones Annahme von
mit dem »Coopersmith Self-Esteem Invento- mehreren gemeinsamen Faktoren der Intelli-
ry« (CSEI) einen Fragebogen zur Messung genz; s. Abschn. 4.3.3). Dieser Konflikt zeigt
des Selbstkonzepts vor, in dem zwischen nicht nur inhaltliche Parallelen zu der Intelli-
selbstbezogenen Einstellungen im sozialen, genzforschung – er wurde sogar mit densel-
familiären und akademischen Bereich unter- ben Methoden ausgetragen.
schieden wurde. In einem Selbstkonzeptin- Um die jeweils eigene Position zu stärken
ventar von Roid und Fitts (1988; »Tennessee und die des Konkurrenten zu schwächen,
Self-Concept Scale«, TSCS) wurde hingegen wurden Korrelationsanalysen, exploratori-
eine Aufgliederung in die Bereiche Identität, sche Faktorenanalysen und später konfirma-
Befriedigung, Verhalten, Physis, Moral- torische Faktorenanalysen der verschiedenen
Ethik, Person, Familie und Soziales durchge- Selbstkonzeptinventare durchgeführt, wobei
führt. Diese beiden Beispiele verdeutlichen die Reanalyse von Daten aus dem »gegneri-
bereits, dass unterschiedliche Forscher recht schen Lager« eine gebräuchliche Forschungs-
unterschiedliche Vorstellungen von Anzahl strategie war (für eine methodisch differen-
und Definition der relevanten Facetten des zierte Darstellung der im Laufe dieser Kon-
Selbstkonzepts vertreten (für eine Übersicht troverse erzielten Forschungsresultate s. die
467
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Übersichtarbeit von Marsh & Hattie, 1996). In einer einflussreichen Übersichtsarbeit zu grund-
Dabei waren belastende und stützende Re- legenden Problemen der Selbstkonzeptforschung
schlugen Shavelson et al. (1976) eine solche hier-
sultate für verschiedene Strukturmodelle im archische Organisation des Selbstwissens vor.
Wesentlichen abhängig von den verwendeten Abbildung 11.1 zeigt das hierarchische Modell,
statistischen Methoden. Mit der Fortent- das von diesen Autoren als eine mögliche Reprä-
wicklung der Analyseverfahren kristallisierte sentation ihres konzeptuellen Vorschlags veröf-
sich schließlich ein heute allgemein an- fentlicht wurde und welches später als das »Sha-
velson-Modell« Eingang in die Literatur gefunden
erkanntes hierarchisches Strukturmodell des hat. An der Basis dieses Modells stehen die Selbst-
Selbstkonzepts heraus (entsprechend dem wahrnehmungen der Person von eigenem Verhal-
Gruppenfaktorenmodell der Intelligenz von ten in bestimmten Situationen, und an der Spitze
Burt; s. Abschn. 4.3.2). des Modells steht das globale Selbstkonzept.
Generelles
Generell Selbstkonzept
Nichtschulisches Selbstkonzept
Schulisches und
Schulisches Soziales Emotionales Physisches
nichtschulisches
Selbstkonzept Selbstkonzept Selbstkonzept Selbstkonzept
Selbstkonzept
Bewertung von
Verhalten in
spezifischen
Situationen
Abb. 11.1: Darstellung der hierarchischen Struktur des Selbstkonzepts in Form des »Shavelson-Modells«
(nach Shavelson et al., 1976).
Das globale Selbstkonzept wird unterteilt in soziales, ein emotionales und ein physisches
die beiden dominanten Lebensbereiche Selbstkonzept zerfällt. Letztere werden
schulisches Selbstkonzept und nichtschuli- dann noch in spezifischere Komponenten
sches Selbstkonzept (dieses Modell wurde aufgeschlüsselt. In diesem Zusammenhang
ursprünglich für Jugendliche entwickelt, ist es erwähnenswert, dass Shavelson et al.
lässt sich aber auch auf Erwachsene über- (1976) dem Selbstkonzept durchaus de-
tragen mit einer Differenzierung zwischen skriptive und evaluative Komponenten
beruflichem und nichtberuflichem Bereich). zugeordnet haben, die allerdings nach An-
Das schulische Selbstkonzept wird weiter sicht der Autoren weder theoretisch noch
aufgefächert in die einzelnen Schulfächer, empirisch klar abgegrenzt wurden, so dass
während der nichtschulische Bereich in ein »Selbstkonzept« und »Selbstwert« in der
468
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
469
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
470
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
r1
e1 Phys. Fähigk.1
e2 ... Phys. Fähigk.
e3 Phys. Fähigk.4
r2
e4 Aussehen1
e5 ... Aussehen
e6 Aussehen4
r3 außerschul.
e7 Freunde1 Selbst
e8 ... Freunde
e9 Freunde4
r4
e10 Eltern1
e11 ... Eltern
e12 Eltern4
r5
e13 Lesen1
e14 ... Lesen sprachl.-schul.
Selbst
e15 Lesen4
r6
e16 Mathe1
e17 ... Mathe mathem.-schul.
Selbst
e18 Mathe4
r7
e19 Allg. Schule1
e20 ... Allg. Schule
e21 Allg. Schule4
Abb. 11.3: Hierarchisches konfirmatorisches Faktorenmodell mit drei Faktoren zweiter Ordnung für den
»Self Description Questionnaire« (SDQ-III) aus der Studie von Marsh und Shavelson (1985).
471
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
dass die Korrelationen zwischen schulischem nissen objektiver Leistungstests und Lehrer-
Selbstkonzept und schulischen Leistungsin- urteilen und berichtete einen Zusammen-
dikatoren je nach Studie zwischen r ¼ 0,27 hang zwischen mathematischem Selbstkon-
und r ¼ 0,70 liegen. Dementsprechend fan- zept und mathematischer Schulleistung in
den Hansford und Hattie (1982) im Durch- einer Größenordnung von r ¼ 0,58; der
schnitt über mehrere Studien hinweg eine entsprechende Zusammenhang für das
Korrelation von r ¼ 0,40 für das schulische muttersprachliche Fach Englisch betrug r ¼
Selbstkonzept und die schulische Leistung. 0,42. Wurde hingegen das generelle schuli-
Diese positiven Zusammenhänge sprechen sche Selbstkonzept mit den Leistungen in
zwar dafür, dass durchaus eine gewisse Mathematik und Englisch korreliert, so zeig-
Übereinstimmung zwischen der selbst wahr- ten sich nur Zusammenhänge in Höhe von
genommenen Leistungsfähigkeit und den r ¼ 0,27 bzw. r ¼ 0,24. Dies deutet darauf
objektiven Indikatoren besteht, aber das hin, dass die Selbstkonzepte bzw. Schulleis-
relativ geringe Ausmaß dieses Zusammen- tungen in den einzelnen Fächern tatsächlich
hangs ist insofern erstaunlich, da Schulkin- nicht einfach aggregiert, sondern differen-
dern ihre objektiven Leistungsindikatoren ziert betrachtet werden müssen.
regelmäßig zurückgemeldet werden und sie In einer weiteren Studie verwendete Marsh
daher über diese informiert sein sollten. (1993) den von ihm entwickelten »Academic
Neben unterschiedlichen psychologischen Self Description Questionnaire« (ASDQ-II;
Erklärungen dieses Befundes (z. B. im Sinne Marsh, 1990; deutsche Fassung s. Rost et al.,
einer Wahrnehmungsverzerrung durch 2007), mit dem die schulischen Selbstkonzep-
selbstwertdienliche Attributionsprozesse) be- te für 15 verschiedene Schulfächer gemessen
steht ein gravierendes methodisches Problem werden können (die von Mathematik und
darin, dass zu der Zeit, als diese Studien Geschichte über Englische Literatur bis zu
durchgeführt wurden, nur wenig über die Musik und Religion reichen). Hier zeigten
Struktur des Selbstkonzepts bekannt war. sich zwischen den fachspezifischen schuli-
Genauer gesagt postulierten Shavelson et al. schen Selbstkonzepten und den entsprechen-
(1976) in ihrem Modell zwar, dass das schu- den Schulleistungen Zusammenhänge zwi-
lische Selbstkonzept in verschiedene Unter- schen r ¼ 0,45 und r ¼ 0,70 (mit einer
bereiche zerfallen könnte (wie z. B. Englisch, durchschnittlichen Korrelation von r ¼ 0,57).
Geschichte, Mathematik etc.; c Abb. 11.1), Insgesamt verweisen diese Befunde darauf,
der empirische Nachweis für diese Annahme dass zumindest bei Jugendlichen eine relativ
wurde aber erst später erbracht. So konnte enge Übereinstimmung zwischen schulischen
beispielsweise in der oben angesprochenen Selbstkonzepten und schulischer Leistung ge-
Studie von Marsh und Shavelson (1985) funden werden kann, wenn die Selbstkonzep-
nachgewiesen werden, dass die mit dem te nur fein genug aufgefächert werden (für
SDQ-I gemessenen schulischen Selbstkonzep- eine ausführlichere Darstellung der For-
te »Lesen« und »Mathematik« nicht unter schung zum schulischen Selbstkonzept sei
einem einzigen übergeordneten Faktor zu- der Leser auf die ausgezeichnete Übersichts-
sammengefasst werden können. Vielmehr arbeit von Byrne, 1996, verwiesen).
mussten die Autoren zwei separate Faktoren
höherer Ordnung einführen (nämlich je einen
für das »sprachlich-schulische Selbst« und Soziales Selbstkonzept
das »mathematisch-schulische Selbst«), um
die Struktur des SDQ-I zu erklären. Ein anderer Bereich des Selbstkonzepts, zu
Marsh korrelierte (1993) die schulischen dem ebenfalls zahlreiche Studien zur Reali-
Selbstkonzepte des SDQ-III mit den Ergeb- tätstreue vorliegen, ist das »soziale Selbst-
472
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
konzept«. Hierunter wird einerseits das Es zeigten sich nur relativ geringe Zusam-
Ausmaß an sozialer Akzeptanz (bzw. sozialer menhänge zwischen sozialem Selbstkonzept
Wertschätzung) verstanden, die eine Person und tatsächlicher sozialer Akzeptanz, die für
bei anderen bezüglich sich selbst vermutet Kinder der zweiten, dritten und vierten Klasse
(»Ich bin bei anderen beliebt«). Andererseits jeweils eine Größe von r ¼ 0,27, r ¼ 0,32 und
wird unter dem sozialen Selbstkonzept auch r ¼ 0,38 erreichten. Dieser Befund kann
das Ausmaß an sozialen Kompetenzen ver- durchaus als repräsentativ für zahlreiche
standen, die eine Person sich selbst zuschreibt ältere Studien angesehen werden. In einer
(»Ich bin einfühlsam«). Beide Begriffsbestim- Übersicht über diese Forschungsliteratur be-
mungen überlappen sich insofern, als Perso- richteten Berndt und Burgy (1996) die Ergeb-
nen mit selbst wahrgenommener ausgepräg- nisse von elf Studien, wobei nahezu alle
ter sozialer Kompetenz sich meist auch sozial Korrelationen zwischen sozialem Selbstkon-
akzeptiert fühlen (Berndt & Burgy, 1996). zept und verschiedenen Indikatoren der sozia-
Für den Zusammenhang zwischen sozia- len Akzeptanz in einem Bereich zwischen r ¼
lem Selbstkonzept bei Schülern und tatsäch- 0,10 und r ¼ 0,50 lagen. Diese Befunde lassen
licher Akzeptanz durch die Mitschüler liegen sich so interpretieren, dass die sozialen Selbst-
zahlreiche Studien vor, wobei das soziale konzepte der untersuchten Kinder zwar ten-
Selbstkonzept (im Sinne von sozialer Akzep- denziell mit ihrer objektiven sozialen Akzep-
tanz) mit entsprechenden Skalen gemessen tanz übereinstimmen, aber die selbst einge-
wurde und die soziale Akzeptanz an sich schätzte soziale Akzeptanz insgesamt als we-
häufig mit soziometrischen Verfahren. Diese nig akkurat angesehen werden muss.
soziometrischen Techniken gehen auf die Die Befunde einer Studie von Patterson
Arbeiten von Moreno (1934) zurück und et al. (1990) könnten dabei möglicherweise
gestatten es, Sozialbeziehungen zu quantifi- erklären, wieso zwischen sozialem Selbst-
zieren. In einer häufig verwendeten Prozedur konzept und sozialer Akzeptanz keine einfa-
muss hierfür jedes Kind einer Klasse seine drei che lineare Beziehung besteht. Die Autoren
liebsten Mitschüler benennen sowie jene drei verwendeten ebenfalls die Subskala für sozia-
Klassenkameraden, die das Kind am wenigs- le Akzeptanz des SPPC, um das soziale
ten mag. Anschließend wird für jedes Kind Selbstkonzept zu messen, und quantifizierten
ausgezählt, wie viele positive und wie viele die soziale Akzeptanz mit dem sozialen Prä-
negative Nominierungen es erhalten hat. ferenzwert. Aufbauend auf diesem Präferenz-
Schließlich wird für jedes Kind ein sozialer wert bildeten die Autoren verschiedene
Präferenzwert berechnet, indem von der An- Untergruppen der Kinder, entsprechend ih-
zahl seiner positiven Nominierungen die An- rem jeweiligen sozialen Status. So wurden
zahl seiner negativen Nominierungen abge- beispielsweise jene Kinder als »unbeachtet«
zogen wird. Dieser Präferenzwert gestattet es, klassifiziert, deren sozialer Präferenzwert
individuelle Unterschiede der Beliebtheit von nahe null war (die etwa gleich viele positive
Kindern innerhalb ihrer Klasse zu quantifi- wie negative Nominierungen erhielten). An-
zieren (Bukowski & Hoza, 1989). dere Kinder wurden als »beliebt« klassifi-
In einer beispielhaften Studie von Boivin ziert, wenn sie einen hohen sozialen Präfe-
et al. (1992) wurde bei insgesamt 1090 Kin- renzwert hatten (also viele positive und
dern der Klassen 2 bis 4 das soziale Selbst- wenige negative Nominierungen). Ein Ver-
konzept mit der Subskala für »soziale Akzep- gleich des sozialen Selbstkonzepts (angenom-
tanz« des »Self-Perception Profile for Chil- mene Beliebtheit) mit dem sozialen Präfe-
dren« (SPPC; Harter, 1985) erfasst und die renzwert (tatsächliche Beliebtheit) für jede
tatsächliche soziale Beliebtheit jedes Kindes der so gebildeten Gruppen zeigte auf, dass die
mit dem sozialen Präferenzwert quantifiziert. als »unbeachtet« klassifizierten Kinder ihre
473
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
474
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
rücksichtigt, dass die Bedeutung der ein- menhang mit dem globalen Selbstwertgefühl
zelnen Lebensbereiche für die Ausbildung aufweist als jede andere Facette des Selbst-
des globalen Selbstwertgefühls von Per- konzepts. Dabei reichten die Korrelationen
son zu Person variieren könnte (so könnte zwischen physischem Selbstkonzept und glo-
z. B. bei einer Person das sprachlich-schu- balem Selbstwertgefühl von r ¼ 0,65 bis r ¼
lische Selbstkonzept mit einem geringeren 0,82, je nach untersuchter Stichprobe (die
Gewicht in die Rechnung eingehen als das einzelnen Studien deckten den Altersbereich
soziale Selbstkonzept, bei einer anderen zwischen 4 und 55 Jahren ab). Als zweit-
Person könnte sich die Wertigkeit dieser wichtigster Bereich folgt nach Harter (1996)
beiden Bereiche umkehren). das soziale Selbstkonzept sensu sozialer Ak-
zeptanz. Die Zusammenhänge zwischen wei-
Welcher dieser drei Aggregationsmechanis- teren Bereiche des Selbstkonzepts und dem
men den Zusammenhang zwischen bereichs- globalen Selbstwertgefühl sind noch geringer
spezifischen und globalen Selbstwertein- und liegen in einem Bereich zwischen r ¼
schätzungen am besten beschreiben kann, 0,30 und r ¼ 0,50.
war Gegenstand zahlreicher empirischer For- Zweitens liegen auch Befunde vor, die für
schungsbemühungen. Hierfür wurden in der individuelle Unterschiede in der Gewichtung
typischen Studie sowohl bereichsspezifische der einzelnen Bereiche des Selbstkonzepts für
Selbstwertschätzungen mit entsprechenden die Bildung des globalen Selbstwertgefühls
Skalen erhoben als auch eine globale Selbst- sprechen. So verweist Harter (1996) in ihrer
wertschätzung (entsprechende Beispielitems Übersicht über eigene Befunde auf entspre-
für die Skala »globales Selbst« aus dem SDQ- chende Daten: Kompetenzen in jenen Berei-
III sind: »Ich habe insgesamt betrachtet ein chen des Selbstkonzepts, die von einer Person
großes Selbstvertrauen« vs. »Insgesamt be- als wichtig erachtet werden, weisen einen
trachtet ist alles, was ich tue, bedeutungs- größeren Zusammenhang mit dem globalen
los«). Schließlich mussten in einigen dieser Selbstwertgefühl auf (r ¼ 0,70) als Kompe-
Studien die Versuchspersonen noch angeben, tenzen in den Bereichen des Selbstkonzepts,
wie wichtig die verschiedenen, mit den die von der Person als unbedeutend angese-
Selbstkonzeptskalen erfassten Lebensberei- hen werden (r ¼ 0,30).
che für sie persönlich sind. Insgesamt scheinen die zuerst genannten
Die in diesen Studien erzielten Befunde Daten mit der Hypothese eines konstant
sind durchaus heterogen, und auch die gewichteten Durchschnitts verträglich, wobei
Schlussfolgerungen aus diesen Untersuchun- das Selbstkonzept der physischen Erschei-
gen werden kontrovers diskutiert (für ent- nung sowie das Selbstkonzept der sozialen
sprechende Darstellungen s. die diversen Akzeptanz die beiden besten Prädiktoren
Übersichtsarbeiten im Reader von Bracken, für das globale Selbstwertgefühl sind. Die
1996). Summarisch können allerdings fol- weiteren Befunde stützen allerdings auch die
gende Ergebnisse festgehalten werden. Hypothese eines individuell gewichteten
Erstens sprechen einige Studien dafür, Durchschnitts, was durchaus kein Wider-
dass die verschiedenen Bereiche des Selbst- spruch sein muss: Zwar spielen physische
konzepts in der Tat eine unterschiedliche Erscheinung und soziale Akzeptanz im Allge-
Bedeutung für die Bildung des globalen meinen eine wichtige Rolle für die Ausbildung
Selbstwertgefühls haben. So führte beispiels- eines positiven Selbstwertgefühls, aber es gibt
weise Harter (1996) in einer entsprechenden bedeutsame individuelle Unterschiede – im
Übersicht über eigene Befunde aus, dass das Einzelfall lohnt es sich also, die persönlichen
Selbstkonzept der physischen Erscheinung Wertigkeiten der verschiedenen Bereiche des
(»Ich bin attraktiv«) einen engeren Zusam- Selbstkonzepts zu berücksichtigen. Ein-
475
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
schränkend muss allerdings an dieser Stelle che erbringen konnten. Eine entsprechende
auf mehrere Studien hingewiesen werden, die methodenkritische Übersicht findet der Leser
kaum einen empirischen Hinweis auf eine bei Marsh und Hattie (1996), die letztendlich
unterschiedliche bzw. individuelle Gewich- der Hypothese des einfachen ungewichteten
tung der verschiedenen Selbstkonzeptberei- Durchschnitts den Vorzug geben.
Das Selbstkonzept lässt sich definieren als die Gesamtheit des relativ zeitstabilen Wissens
einer Person über sich selbst und somit verkürzt als ein selbstbezogenes Wissenssystem.
Dieses System enthält deskriptive und evaluative Elemente. Einige Psychologen unter-
scheiden zwischen einem realen Selbst und einem idealen Selbst. Dieses Wissenssystem wird
aufgebaut durch die Beobachtung des eigenen Verhaltens sowie durch soziale Interaktio-
nen, bei denen man direkt oder indirekt Informationen über die eigene Person gewinnt oder
bei denen man sich mit anderen Personen vergleicht. In der Psychologischen Diagnostik
findet häufig eine Akzentuierung der evaluativen Elemente statt, so dass »Selbstkonzept«
und »Selbstwert« immer wieder auch synonym verwendet werden. Für die Messung des
Selbstkonzeptes wird häufig der Lebensalltag in verschiedene Bereiche segmentiert und
getrennt für diese Bereiche nach dem Selbstkonzept gefragt. Vor allem faktorenanalytische
Untersuchungen dieser bereichsspezifischen Selbstkonzeptvariablen legen eine hierarchi-
sche Struktur nahe, wie sie prototypisch von Shavelson und Mitarbeitern für Jugendliche
vorgeschlagen wurde (c Abb. 11.1). An der Spitze der Hierarchie steht ein genereller
Selbstkonzeptfaktor, der sich eine Schicht tiefer in ein schulisches sowie ein nichtschulisches
Selbstkonzept auftrennt. Letzteres lässt sich – auf der gleichen Hierarchieebene – in ein
soziales, ein emotionales und ein physisches Selbstkonzept aufteilen. Diese Selbstkonzepte
zerfallen dann auf tieferen Schichten in immer spezifischere Bereiche, in denen eine
Selbstbewertung stattfindet. Ein Fragebogen, der ein hierarchisches Modell des Selbstkon-
zeptes bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen operationalisiert, wurde von
Marsh und Mitarbeitern unter dem Namen »Self Description Questionnaire« (SDQ)
eingeführt. Werden die Messwerte für das allgemeine schulische Selbstkonzept mit den
Schulleistungen korreliert, so zeigen sich nur Zusammenhänge in einer Größe von ca. 0,40.
Werden hingegen die schulfachspezischen Selbstkonzeptwerte mit den Fachnoten korre-
liert, so erhöht sich der Zusammenhang auf ca. 0,60. Insgesamt spricht dieser Befund für
eine gewisse Realitätstreue des schulischen Selbstkonzeptes. In Studien zum Zusammen-
hang des sozialen Selbstkonzeptes und der tatsächlichen Beliebtheit von Schülern liegen die
Korrelationen typischerweise in einem Bereich zwischen 0,30 und 0,40. Diese mangelhafte
Realitätstreue kann teils durch selbstwertdienliche Verzerrungen und teils durch Tendenzen
zur Bescheidenheit erklärt werden. Für die Ausprägung des generellen Selbstkonzeptes
scheinen schließlich die Selbstkonzepte der physischen sowie der sozialen Attraktivität eine
besonders gewichtige Rolle zu spielen, allerdings gibt es bei der Bedeutung der spezifischen
Selbstkonzepte für das generelle Selbstkonzept auch individuelle Unterschiede.
476
11 Konzepte des Selbst in der Persönlichkeitspsychologie
11.2 Selbstwirksamkeit
Ein wichtiges psychologisches Konstrukt, Eine für die Forschung wichtige Frage zielt
das mit dem »Selbst« und der »Identität« auf die Breite bzw. Generalisierbarkeit sol-
einer Person verwoben ist, wurde von dem cher Überzeugungen über verschiedene Le-
amerikanischen Psychologen Albert Bandura bensbereiche und Situationen hinweg. Hier
(1977) mit dem Begriff »Selbstwirksamkeit« vertreten einige Autoren wie Maddux und
(»self-efficacy«) in die Literatur einge- Gosselin (2003) die Ansicht, dass Selbstwirk-
führt. Dabei versteht Bandura unter »Selbst- samkeitserwartungen zwar innerhalb relativ
wirksamkeitserwartungen« (»self-efficacy eng umschriebener Klassen von Situationen,
beliefs«) den Glauben an die eigenen Fähig- aber kaum über Situationsklassen hinweg
keiten, »den Handlungsverlauf so zu orga- generalisieren können. So mag beispielsweise
nisieren und durchzuführen, dass ein gege- eine Automechanikerin eine hohe Selbst-
benes Ziel verfolgt werden kann« (Bandura, wirksamkeitserwartung bezüglich des Repa-
1997, S. 3). rierens von Automotoren haben, ebenso wie
Dieses Konstrukt zielt also auf die wahr- sie auch eine hohe Selbstwirksamkeitser-
genommene persönliche Kontrolle und Wirk- wartung für das Reparieren von anderen
samkeit von Personen. Selbstwirksamkeits- mechanischen Geräten aufweisen mag. Dies
erwartungen sind folglich die Überzeugun- impliziert hingegen nicht, dass sie auch eine
gen von Personen bezüglich ihrer Kompeten- hohe Selbstwirksamkeitserwartung bezüg-
zen und ihrer Fähigkeit, diese Kompetenzen lich des Fußballspielens hat. Aufgrund einer
auch in entsprechenden Lebensbereichen und solchen augenfälligen Bereichsspezifität von
Situationen auszuüben. Dabei dürfen Selbst- Selbstwirksamkeitserwartungen hat es nach
wirksamkeitserwartungen nicht mit Ergeb- Maddux und Gosselin (2003) nur wenig
niserwartungen verwechselt werden: Selbst- Sinn, von einer »globalen Selbstwirksam-
wirksamkeitserwartungen resultieren aus ei- keitserwartung« zu sprechen. Tatsächlich
ner Bewertung der eigenen Fähigkeit, die wurden zwar Instrumente zur Messung einer
vorhandenen Ressourcen im Dienst der Ziel- globalen Selbstwirksamkeitserwartung ent-
verfolgung zu mobilisieren. Ergebniserwar- wickelt, wie beispielsweise die Skala zur
tungen resultieren hingegen aus einer Bewer- Messung der »Generalisierten Kompetenzer-
tung der Wahrscheinlichkeit, dass die Ziel- wartung« von Schwarzer (1994). Solche
verfolgung mit bestimmten Mitteln auch zu globalen Selbstwirksamkeitserwartungen er-
einer Zielerreichung führt (Bandura, 1997). wiesen sich allerdings in der empirischen
Darüber hinaus darf der Begriff »Selbst- Forschung im Vergleich zu bereichsspezifi-
wirksamkeitserwartungen« nicht mit schen Maßen der Selbstwirksamkeitserwar-
»Selbstkonzept« verwechselt werden, da tung nicht als bessere Prädiktoren tatsächli-
ersterer wesentlich enger gefasst ist: Zwar cher Handlungsergebnisse (Maddux & Gos-
können Selbstwirksamkeitserwartungen als selin, 2003).
(wichtiger) Teil des Selbstkonzepts einer Per- Aufgrund solcher Überlegungen wurde
son aufgefasst werden, welches die Gesamt- von unterschiedlichen Autoren gefordert,
heit des Wissens über die eigene Person dass ein gutes Instrument zur Messung der
beinhaltet (Filipp, 1979; Filipp & Mayer, Selbstwirksamkeitserwartung spezifisch für
2005). Darüber hinaus aber beinhaltet das einen ganz bestimmten Lebens- oder Hand-
Selbstkonzept noch eine große Anzahl wei- lungsbereich sein sollte (s. Bandura, 1997;
terer deskriptiver und evaluativer Elemente Maddux & Gosselin, 2003). Dementspre-
(s. Abschn. 11.1). chend wurde in den letzten Jahrzehnten eine
477
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Fülle von Fragebogen entwickelt, mit denen – rell aber scheint ein positiver Zusammen-
je nach theoretischer Orientierung oder prak- hang zwischen Selbstwirksamkeitserwar-
tischem Forschungsinteresse – die Selbst- tung und Handlungsergebnis zu bestehen.
wirksamkeitserwartungen in den unter- So gehen höhere Selbstwirksamkeitserwar-
schiedlichsten Lebensbereichen gemessen tungen beispielsweise mit einer erfolgreichen
werden können. Um nur einen kleinen Ein- Veränderung bzw. Aufrechterhaltung von
blick in die Vielfalt der operationalisierten gesundheitsbezogenem Verhalten einher,
Konstrukte zu geben, seien hier einige aufge- wie beispielsweise regelmäßigem Sport, Diät,
listet. Dabei spannt sich der Bogen von der Stressbewältigung, »Safer Sex«, Raucherent-
fachspezifischen akademischen Selbstwirk- wöhnung, Alkoholentwöhnung sowie dem
samkeitserwartung (Bong, 1998) oder der Einhalten von Regeln (engl. »compliance«)
Selbstwirksamkeitserwartung beim Manage- bei Prävention und Therapie.
ment einer Schulklasse (Brouwers & Tomic, Ebenso wurden positive Zusammenhänge
2000) über die Selbstwirksamkeitserwar- zwischen Selbstwirksamkeitserwartungen
tung beim Durchführen einer Diät (Goo- und der Bewältigung von traumatischen
drick et al., 1999), der Selbstwirksamkeits- Lebensereignissen berichtet, aber auch zwi-
erwartung beim Praktizieren von »Safer schen Selbstwirksamkeitserwartungen und
Sex« (Forsyth & Carey, 1998) bis hin zur der Rückfallresistenz bei Drogenabhängigen
Selbstwirksamkeitserwartung beim Bewälti- im Entzug. Schließlich beeinflussen Selbst-
gen von chronischen Krankheiten (Hol- wirksamkeitserwartungen neben der Berufs-
man & Lorig, 1992) oder der Selbstwirk- wahl auch die im Beruf gezeigte Leistung –
samkeitserwartung bei aufgabenspezifi- beispielsweise berichteten Stanjovic und Lut-
schen Gedächtnisleistungen (Gardiner et al., hans (1998) in einer Meta-Analyse von 144
1997). einzelnen Studien eine durchschnittliche Kor-
Diese unterschiedlichsten Selbstwirksam- relation zwischen Maßen der Selbstwirksam-
keitserwartungen wurden oft daraufhin keitserwartung und Indikatoren der berufs-
untersucht, ob sie in einem Zusammenhang bezogenen Leistung in Höhe von r ¼ 0,38.
mit tatsächlichen Handlungsausgängen ste- Für eine ausführlichere Darstellung all dieser
hen (also dem Erreichen entsprechender Befunde sei der Leser auf die ausgezeichnete
Handlungsziele). Die Literatur hierzu ist zu Literaturübersicht von Maddux und Gosse-
umfangreich, um hier auch nur annähernd lin (2003) verwiesen sowie auf die dort
vollständig wiedergegeben zu werden. Gene- zitierte Literatur.
478
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
In diesem abschließenden Kapitel von Teil III, der sich mit interindividuellen Differenzen im
Persönlichkeitsbereich befasst hat, wird die entscheidende Frage zu behandeln sein: Wie gut
können Eigenschaften zukünftiges Verhalten vorhersagen? Welche weiteren Informationen
über die Situation, in der das Verhalten auftritt, sind erforderlich? Hierzu gibt es
verschiedene Modellvorstellungen (12.1). Die Forschung hat gezeigt, dass es eine Reihe von
methodischen und inhaltlichen Aspekten gibt, die zu einer Verbesserung der Verhaltens-
vorhersage beitragen können (12.2). Mit solchen Bemühungen wird nicht nur die Technik
der Verhaltensvorhersage, sondern auch unser Verständnis von der Herkunft von
interindividuellen Unterschieden im Verhalten verbessert.
479
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
einer Situation j als Funktion einer Eigen- dung 12.2 additiv auf das Verhalten einwir-
schaft (P) der Person i versteht: ken, verlaufen die Personenprofile parallel
zueinander. Da Konsistenz als Korrelation
Vij ¼ f ðPi Þ (12.1) jeweils zweier Situationen über die Personen
bestimmt wird, ist in diesem Beispiel die
Abbildung 12.1 zeigt die Auswirkung dieses Konsistenz zwischen allen drei Situations-
Modells auf die Vorhersage eines Verhal- paaren mit r ¼ 1,0 maximal. Dieses Modell
tensmerkmals bei drei Personen in drei Situ- entspricht dem klassischen Eigenschaftsmo-
ationen. Es ist sofort erkennbar, dass nach dell der Persönlichkeitspsychologie: Eigen-
diesem Modell die Situationen keinerlei Ein- schaften der Person und Einflüsse der Situa-
fluss auf das Verhalten nehmen. Anders tion bestimmen additiv das Verhalten.
ausgedrückt, das Modell nimmt eine abso-
lute Konsistenz des Verhaltens an, was viel-
21
leicht in Grenzfällen schwerer Erkrankungen
auftreten mag. Die Plastizität des Verhaltens 18
Verhaltensmerkmal
über Situationen hinweg widerspricht diesem 15
Modell jedoch und erfordert einen Einbezug
12
von Situationseinflüssen auf das Verhalten. Person 1
Daraus resultiert das personistische Modell 9
der relativen Konsistenz: 6
Person 2
Person 3
3
21
0
18 1 2 3
Verhaltensmerkmal
Person 1
15 Situation
0
1 2 3
Situation
Befunde und Kommentar
Abb. 12.1: Personismus-Modell der absoluten Die Annahme von Eigenschaften nach dem
Konsistenz nach Gleichung 12.1. Die personistischen Persönlichkeitsmodell setzt
Verhaltensgleichung lautet in diesem
Beispiel Vij ¼ b Pi þ a, mit a ¼ 6, b ¼ 2
die zeitliche Stabilität der Eigenschaft und
und P ¼ [5, 3, 2] für i ¼ 1 bis 3. transsituationale Konsistenz in der Vorher-
sage von Erleben und Verhalten voraus.
Die zeitliche Stabilität von Eigenschaften
Vij ¼ f ðPi ; Sj Þ (12.2) ist nach den in Abschnitt 7.5 berichteten
Befunden hoch. So betrug nach Conley
Dieses Modell nimmt zusätzlich zu einer (1984) die Jahresstabilität wahrer (d. h.
Eigenschaft der Person auch Situationsein- maximal reliabler) Werte im Intelligenzbe-
flüsse (S) als Prädiktoren des Verhaltens an. reich 0,99, im Persönlichkeitsbereich 0,98
Da die Prädiktoren in dem Beispiel in Abbil- und im Bereich des Selbstkonzepts 0,94.
480
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
Nach zehn Jahren betragen dann die Stabi- umso niedriger sei, je unähnlicher die auslö-
litäten wahrer Werte 0,90, 0,82 bzw. 0,54. senden Situationen ausfielen. Dem wurde
Somit ist für den Leistungs- und Persönlich- entgegengehalten, dass in vielen einschlägi-
keitsbereich eine hohe Stabilität gewährleis- gen Studien die notwendigen Bedingungen
tet. für Konsistenz nicht gegeben waren:
Weniger positiv ist es bestellt um die
Vorhersage von Verhalten in einer Situation l Die zu vergleichenden Situationen sollten
B aus der Kenntnis des Verhaltens in einer annähernd gleiche motivationale Anreiz-
Situation A (transsituationale Konsistenz) bedingungen aufweisen,
oder um die Vorhersage von Verhalten auf- l die Situationen müssen für die untersuch-
grund der Ausprägung einer Eigenschaftsdi- ten Personen Verhaltensoptionen zulas-
mension (Validität), wie sie in herkömmli- sen,
chen Tests ermittelt wird. l die Situationen müssen für die Verhal-
Wie im Einzelnen vorgegangen wird, um tensziele der untersuchten Personen be-
Konsistenz zu überprüfen, mögen einige Bei- deutsam sein und
spiele aus der älteren Literatur illustrieren l die erfassten Verhaltensmerkmale müssen
(c Kasten 12.1). Weiteres Material mit ten- reliabel gemessen worden sein, was für
denziell gleichsinnigen Resultaten findet sich viele Studien zur Konsistenz des Verhal-
in Mischel (1968). Mischel stellte fest, dass tens nicht zutrifft (Epstein, 1979; Epstein
die transsituationale Konsistenz gering und & O’Brien, 1985).
Kasten 12.1: Die Anfänge der Forschung zur Vorhersage von Verhalten
Newcomb (1929) registrierte das Verhalten von 51 Jungen in einem Sommerlager über
mehrere Wochen hinweg. Grundlage waren 30 verschiedene Situationen. Die darin
auftretenden spezifischen Verhaltensweisen wurden konzeptuell in 10 Traits kategorisiert,
die etwa dem Niveau heutiger Primärfaktoren entsprachen (z. B. Dominanz/Submissivität,
Beweglichkeit/Schwerfälligkeit) und ihrerseits die beiden Persönlichkeitstypen der Extra-
vertierten und Introvertierten definieren sollten. Innerhalb der Traits interkorrelierten die
Verhaltensweisen im Mittel zu r ¼ 0,14. Die durchschnittliche Korrelation der Traits
miteinander betrug r ¼ 0,20. Daraus wurde nur eine geringe Konsistenz des Verhaltens
abgeleitet.
Ähnliches berichtete Dudycha (1936) zum Trait »Pünktlichkeit«. Bei mehr als 300
Studenten wurde registriert, ob sie rechtzeitig zu frühmorgendlichen Kursen, zu Verabre-
dungen, Gemeinschaftsveranstaltungen u. Ä. eintrafen. Die mittlere Korrelation zwischen
den einzelnen Indikatoren, interpretierbar auch als transsituationale Konsistenz, belief sich
hier auf r ¼ 0,19.
Die bekannteste Untersuchung ist jene von Hartshorne und May (1928). Die Autoren
registrierten an 850 Kindern in 23 Situationen aus dem Klassenzimmer, aus sportlichen
Wettkämpfen, Partys und der häuslichen Umwelt solche Ereignisse, in denen gelogen,
betrogen und gestohlen wurde. Innerhalb der zu einer Kategorie gehörigen Tests waren die
Interkorrelationen zwar von mittlerer Höhe (z. B. r ¼ 0,44 für Betrügen bei Speed-Tests),
doch fielen die Korrelationen zwischen den Situationen sehr niedrig aus. Das Mittel aller
Koeffizienten betrug nur r ¼ 0,13. Die interindividuelle Konsistenz war damit sehr niedrig.
Der Umstand, ob ein Kind unehrlich ist oder nicht, hängt nach Meinung der Autoren im
481
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Wesentlichen von den Charakteristika der jeweiligen Situation, nicht aber von einer
allgemeinen Eigenschaft der Ehrlichkeit ab.
Allerdings waren die von Hartshorne und May (1928) untersuchten Kinder noch sehr
jung, weshalb man noch nicht eine differenzierte Ausprägung der Eigenschaft Ehrlichkeit
erwarten kann. Erst mit zunehmendem Alter setzt eine Vergegenwärtigung moralischer
Normen mit Hilfe abstrakter Vorstellungen ein. In Einklang damit steht die Beobachtung,
dass diejenigen Kinder, die über die verschiedenen Situationen hinweg immer in etwa gleich
ehrlich oder unehrlich waren und als »integriert« bezeichnet wurden, älter waren und
besonders häufig aus besserem sozialen Milieu stammten. Zudem waren die realisierten
Verhaltensproben größtenteils von fragwürdiger Reliabilität, was von vornherein die
Aussicht auf Zusammenhänge mit anderen Maßen reduzieren musste. In einer Reanalyse
der früheren Daten griff Burton (1963) nur jene Tests heraus, deren Reliabilität mindestens
bei 0,70 lag. Eine Faktorisierung dieser Maße erbrachte einen »Ehrlichkeits«-Faktor, der
bis zu 43 % der Gesamtvarianz erklärte – ein gegenüber der ursprünglichen Arbeit deutlich
positiveres Resultat. In Fortführung des Argumentes der unzureichenden Reliabilität hat
Epstein (1979) zeigen können, dass den meisten der bisherigen Untersuchungen zur
Vorhersage von Verhalten aus Testwerten oder (anderen) Verhaltensstichproben nur
singuläre und punktuelle Verhaltensweisen zugrunde lagen, die notwendigerweise mit einer
hohen Fehlervarianz behaftet sind (s. auch Kapitel 25).
Auch in Bezug auf die Vorhersage von Ver- haltenstendenzen und einer einzelnen
halten durch Tests kritisierte Mischel (1968), Verhaltensweise besteht eine große Asym-
dass die Güte der Vorhersage selten den Wert metrie in Bezug auf deren jeweiligen Gel-
von r ¼ 0,30 übersteige. Dies sei nicht mit tungsbereich und die psychometrischen
einem personistischen Eigenschaftskonzept Güteeigenschaften. Asymmetrie verrin-
vereinbar. Dem wurde entgegnet, dass Eigen- gert aber die Validität (Wittmann, 1988).
schaften funktionell äquivalente, nicht aber l Die Reliabilität einer einzelnen Verhal-
notwendigerweise identische Formen des tensweise ist, wie schon erwähnt, oft viel
Erlebens und Verhaltens vermitteln. Funktio- niedriger als die eines Testverfahrens.
nell äquivalente Formen des Erlebens und Dies senkt die Validität des Testverfah-
Verhaltens besitzen für das Individuum eine rens für diese Verhaltensweise stark ab.
vergleichbare Bedeutung und Funktion (All- Selbst die Items der gebräuchlichen Leis-
port, 1937). Freundlichkeit mag sich in der tungstests und Persönlichkeitsfragebogen
einen Situation in Form von Sprechen, in einer weisen nur Interkorrelationen in der Grö-
anderen gerade durch Schweigen äußern. ßenordnung um 0,20 auf, ohne dass aus
Entsprechend könnte dasselbe Verhalten aus solchen niedrigen Interkorrelationen eine
ganz unterschiedlichen Beweggründen ge- niedrige Konsistenz bzw. eine hohe Situa-
zeigt werden; der eine lüge, um sich einen tionsspezifität abgeleitet worden wäre (in
Vorteil zu verschaffen, während ein anderer diesem Sinne auch Bem & Allen, 1974).
lüge, um einen Freund nicht bloßzustellen. l Eine Validität von r ¼ 0,30 ist nicht als so
Andere Einwände gegen Mischels Kritik gering einzuschätzen, wie Mischel dies
setzten sich mit der »magischen« Validitäts- unterstellt hat. Diese Effektstärke wird
grenze von r ¼ 0,30 auseinander: auch bei vielen, u. a. sozialpsychologi-
schen, Gruppenvergleichen erzielt, dort
l Zwischen den in einer Persönlichkeits- aber als Theoriebestätigung gewertet
skala erfassten breit generalisierten Ver- (Funder & Ozer, 1983).
482
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
l Die praktische Bedeutsamkeit selbst einer Tab. 12.1: Binäres Effektstärkendisplay für einen
niedrigen Validität wird häufig unter- Validitätskoeffizienten von r ¼ 0,30
zwischen Gewissenhaftigkeit und
schätzt. Ein einfach anzuwendendes Einkommen.
Maß, das »Binäre Effektstärkendisplay«
(BESD; s. Rosnow & Rosenthal, 1996), Gewissenhaf- Einkommen
gibt die praktische Bedeutsamkeit des tigkeit
niedrig hoch
Effekts einer Behandlung (erfolgt vs. nicht
niedrig 65 % 35 %
erfolgt) auf die damit zu erzielende Er-
folgsquote (erfolgreich vs. nicht erfolg- hoch 35 % 65 %
reich) an. Auf die hier behandelte Validi- Judge et al. (1999) berichteten eine Korrelation
tätsfragestellung angewendet, wird mit von 0,34 zwischen Gewissenhaftigkeit und Ein-
dem BESD der Effekt eines hohen vs. kommen.
niedrigen Werts in einem Persönlichkeits-
test auf ein dichotomes Kriterium erfasst, muss allerdings differenziert werden zwi-
z. B. Gewissenhaftigkeit (hoch vs. niedrig) schen dem Leistungsbereich einerseits und
und Einkommen (hoch vs. niedrig). Eine Persönlichkeitsmerkmalen im engeren Sinne
Korrelation r zwischen Gewissenhaftig- andererseits. Wie die in Kapitel 5 mitgeteilten
keit und Einkommen gibt dann die rela- Befunde zur Intelligenz erkennen lassen,
tive Häufigkeit an, mit der Personen mit weist Intelligenz fast durchgängig substan-
hoher im Vergleich zu niedriger Gewis- tielle Korrelationen mit Maßen des Berufs-
senhaftigkeit ein hohes Einkommen ha- und Ausbildungserfolges auf, und zwar nicht
ben. Ein r ¼ 0,30 bedeutet demnach, dass nur dann, wenn die jeweiligen Indikatoren
im Vergleich zu einer fehlenden Validität simultan, sondern auch in solchen Fällen, wo
(r ¼ 0) aus der Kenntnis hoher Gewissen- diese prädiktiv längsschnittlich erhoben wer-
haftigkeitswerte für 15 von 100 Personen den. McCall (1977) etwa konnte zeigen, dass
ein höheres und aus der Kenntnis niedri- der Bildungsgrad und die Qualität der Be-
ger Gewissenhaftigkeitswerte ein niedri- rufstätigkeit in einer Größenordnung um r ¼
geres Einkommen zutreffend vorherge- 0,50 aus dem IQ im Lebensalter von sieben
sagt werden kann, wenn die Randwahr- bis acht Jahren vorhersagbar sind und später
scheinlichkeiten jeweils 100 % betragen erhobene Intelligenzwerte keine wesentliche
(c Tab. 12.1). 30 % der Personen werden Verbesserung der Prädiktion mehr bringen.
also richtiger eingestuft. Unterschiede in der Validität zwischen
l Verhaltensweisen oder Fragebogenwerte Persönlichkeitstests (meist Fragebogen) und
sind nur Indikatoren von zugrundeliegen- Leistungstests können u. a. auf deren unter-
den Eigenschaften. Die Korrelation r der schiedliche Operationalisierung der zugrun-
Indikatoren untereinander ist aus dieser deliegenden Eigenschaften zurückgeführt
Perspektive nur ein Nebenprodukt der werden. Schon Fiske und Butler (1963) ha-
eigentlich mehr interessierenden Bezie- ben auf kritische Unterschiede zwischen
hung b zwischen den beiden Indikatoren beiden Testarten aufmerksam gemacht
x und y und der Eigenschaft. Da r ¼ bxyb (c Tab. 12.2; s. auch Bell, 1978).
gilt, kann eine Validität von r ¼ 0,30 mit Die höchsten Übereinstimmungen mit
durchaus akzeptablen Indikator-Eigen- externen Kriterien erzielen Interessenskalen.
schaft-Beziehungen einhergehen, z. B. Dort spielen erfahrungsgemäß wegen der
bx ¼ by ¼ 0,55. wechselseitigen Beeinflussung von Interessen
mit Fertigkeiten kognitive Elemente eine
Hinsichtlich der Vorhersage von Verhalten Rolle, für die die Validitäten besonders hoch
aus den Resultaten standardisierter Tests sind.
483
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Fähigkeitsbereich Persönlichkeitsbereich
Antworten Richtig und Falsch im logisch Kein Richtig oder Falsch im logisch
eindeutigen Sinn. eindeutigen Sinn; nur subjektive
Stimmigkeit.
Einstellung Die Probanden wissen, was von Die Probanden kennen häufig nicht
ihnen erwartet wird. die Erwartungen des Untersu-
chungsleiters.
484
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
485
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Moos (1969) ließ die Patienten einer psychiatrischen Anstalt in sechs verschiedenen
Situationen (bei der Aufnahme, nach Individual- und Gruppentherapie, während des
Mittagessens usw.) mehrere kurze Fragebogen zu ihrem Befinden bearbeiten. Außerdem
wurde das Verhalten der Patienten in z. T. denselben Situationen von verschiedenen
Beobachtern eingeschätzt und in mehrere Klassen kategorisiert. Tabelle 12.3 gibt die
Resultate der varianzanalytischen Aufbereitung wieder.
Wie ersichtlich, erklären die Unterschiede zwischen den Personen 20 %, zwischen den
Situationen aber bereits ca. 22 % der Gesamtvarianz. Noch höher fällt der Anteil zugunsten
der Interaktionen P S mit durchschnittlich ca. 30 % aus. Was eine solche Interaktion
bedeutet, veranschaulicht Abbildung 12.4 anhand der Verhaltensdaten zweier Versuchs-
personen zum Kratzen und Reiben von Körperteilen.
486
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
Tab. 12.3: Prozentsatz für Personen- und Situationsfaktoren sowie deren Wechselwirkungen,
getrennt für einzelne Verhaltensklassen.
P S PS Fehler
5
{ Patient 10 S U U
S
4 D
Zustandsangst
S S
U U S
z U U S
Mittelwert
3 { C
z
z z
2 z z
z
z { B
{ { {
Patient 3 z {
niedrig
z {
1 z { z
{ A
{
0 1 2 3 4 5 6
e ie n it
ng pi ffe stüc
k Situationen
n fa era r ap
r e e ize
A th he nst üh Fr
u al e nt i o Fr Abb. 12.5: Berichtete Angstintensität von vier
p t
vid rup ik
a Versuchspersonen (A, B, C, D) in sechs
di G un vorgestellten Situationen.
In m
m
Ko
487
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
von vier Versuchspersonen für sechs typische Situationen angegebenen Angst grafisch
veranschaulicht. Die Probanden mussten sich die Situationen während der Bearbeitung
eines Fragebogens vorstellen.
Situationen 1 und 4 waren neutral, Situationen 2 und 3 sollten physische Bedrohung,
Situationen 5 und 6 sollten Ich-Bedrohung hervorrufen (nach Magnusson & Endler, 1977).
Wie die Abbildung zeigt, können sich Individuen in Bezug auf die durchschnittlich über
verschiedene Situationen erlebte Intensität von Angst unterscheiden (z. B. die Personen A
und D), was auf eine stabile Differenz in dem Trait Ängstlichkeit (gegenüber der
situationsspezifisch empfundenen Angst als State) hinweist. Darüber hinaus können
Personen mit dem gleichen Mittelwert ein verschiedenes Muster ihrer State-Angst über die
einzelnen Situationen zeigen (z. B. die Profilverläufe von C und D).
Der dabei durchgängig relativ hohe Anteil Bedingungen bzw. deren Wahrnehmung
zulasten des Interaktionsterms war ein An- nicht zu trennen seien von der Person des
lass zur »Überwindung« des Situationismus Wahrnehmenden und die Umwelt z. T. eine
und zur Proklamation des Interaktionismus. Funktion der subjektiven Strukturierung
Allerdings ist der Wert solcher varianzanaly- durch den Wahrnehmenden darstelle.
tischen Anteile von Person, Situation und
deren Interaktion an der Gesamtvarianz nur
begrenzt: Eine Entscheidung zwischen ver- Das Modell
schiedenen Persönlichkeitsmodellen kann
damit nicht gefällt werden, da die Varianz- Das Personismus-Modell der relativen Kon-
prozente ganz erheblich von der Homogeni- sistenz berücksichtigt zwar Person und Situa-
tät bzw. Heterogenität der in einer Untersu- tion als Bedingungsfaktoren des Erlebens
chung verwendeten Personen- und Situa- und Verhaltens. Dieses Modell sieht aber
tionsstichprobe abhängen. nicht vor, dass sich die Rangreihe der Perso-
nen in der Ausprägung oder Häufigkeit ihres
Verhaltens in verschiedenen Situationen än-
12.1.3 Interaktionismus dern könnte. Eben dies ist aber in vielen
Verhaltensbereichen der Fall und zeigt sich
Offensichtlich sind wir bestimmten Situatio- dann in einer erniedrigten relativen Konsis-
nen nicht nur ausgesetzt. Wir suchen Situa- tenz. Das Modell des Interaktionismus trägt
tionen auf, in denen wir uns wohl fühlen. Wir dieser Befundlage Rechnung und postuliert
führen sie aktiv herbei, etwa wenn wir als Einflussfaktoren auf Erleben und Verhal-
Freunde zu einem von uns vorbereiteten ten dreierlei: Person P, Situation S und die
Ausflug einladen. Umgekehrt sind Situatio- Person x Situation-Interaktion P S:
nen in ihren Auswirkungen auf das Erleben
und Verhalten nicht unabhängig von den Vij ¼ f ðPi ; Sj ; Pi Sj Þ (12.4)
Personen beschreibbar, die sich in ihnen
befinden. Mischel (1973) vertrat etwa die Durch die Aufnahme der Person x Situation-
Ansicht, dass Situationen nur gefiltert über Interaktion in die Gleichung 12.4 können
Personenmerkmale wahrgenommen werden. nichtparallele Linienverläufe wie in Abbil-
Namentlich Bowers (1973) hielt fest, dass dung 12.6, d. h. ungleiche Verhaltensstärken
»Situationen ebenso gut eine Funktion der in verschiedenen Situationen, allerdings mit
Person sind wie das Verhalten der Person eine einem interindividuell unterschiedlichen
Funktion der Situation ist«, die situativen Muster, beschrieben werden. Diese Beschrei-
488
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
bung erfolgt u. a. durch die Größe der Va- rentiellen Psychologie durchaus gesehen
rianzanteile, die auf die drei Prädiktoren P, S worden ist. Seit jeher sind die Bedingungen
und P S zurückgehen. Sie beantwortet aber anzugeben, für die Aussagen über und Pro-
noch nicht die Frage, wie das Eigenschafts- gnosen aufgrund von Eigenschaften gemacht
konzept des interaktionistischen Persönlich- werden. Die Differentielle Psychologie be-
keitsmodells zu verstehen ist. Problematisch schäftigt sich nämlich nicht mit den Unter-
ist der Interaktionsterm in Gleichung 12.4, schieden zwischen Personen (zusammenge-
den Pervin (1985) mit der Frage versah: »Was zogen über Situationen) oder denjenigen
in der Person interagiert wie und womit in zwischen Situationen (aufaddiert über alle
der Umwelt?« Eine befriedigende Antwort Personen), sondern mit »genau jener Va-
auf diese Frage vermochte erst das Modell rianz, die nicht allein aus Kenntnis der
des Dispositionismus (s. u.) zu geben. Situationsvarianz (…) erklärbar ist (…) –
also die Person Situation-Wechselwir-
kung!« (Pawlik, 1982, S. 44–45).
21 Person 1
Vor allem führten die varianzanalytische
18 Auswertung von Person Situation-Ver-
Verhaltensmerkmal
489
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
und Pawlik (1984) belegen exemplarisch für Offenkundig ist es für das Verständnis einer
einige Persönlichkeitseigenschaften die trait- Person und die Vorhersage ihres Verhaltens
abhängige und damit interindividuell unter- wichtig, diese intraindividuellen Situation-
schiedliche Vorliebe für ganz bestimmte Set- Verhaltensverknüpfungen zu kennen. In ei-
tings. ner zu Unrecht wenig beachteten Arbeit
Auch die im Experiment realisierten Situ- schreiben Clarke und Hoyle (1988): »Die
ationen selbst sind gewöhnlich nicht entfernt Aufgabe ist es nicht, Verhalten durch Ursa-
vergleichbar mit jenen des alltäglichen Le- chen in Person und Situation zu erklären; es
bens. Der Komplexitätsgrad von Kontextbe- ist vielmehr die Aufgabe, Situation-Verhal-
dingungen außerhalb des Labors mit der tensverknüpfungen zu erklären, die aus Be-
Notwendigkeit, die Verhaltensweisen der sonderheiten von Personen erwachsen«
Mitmenschen zu interpretieren, dürfte we- (S. 136).
sentlich höher sein. Auch tritt im Experiment
üblicherweise ein Versuchsleiter auf, der sich
unabhängig vom Verhalten der Versuchsper- Das Modell
sonen strikt an vorgegebene Regeln halten
muss, um die Standardisierung nicht zu Dispositionen, also Verhaltensbereitschaf-
gefährden. Auf diese Weise wird aber den ten, die unter bestimmten kontextuellen Be-
Versuchspersonen die Möglichkeit genom- dingungen ausgelöst werden können (vgl.
men, ihrerseits eine Situation erst zu gestal- Abschn. 1.6.3) manifestieren sich in einem
ten, was die Konsistenz bewahren helfen bestimmten Verhalten: Glas ist zerbrechlich,
könnte (Wachtel, 1973). weil es zerbricht, wenn es hinfällt. »Zer-
brechlichkeit« ist also eine Disposition, für
die Manifestationsgesetze angegeben werden
12.1.4 Dispositionismus müssen (Groeben & Westmeyer, 1981,
S. 14). »Wenn-dann«-Sätze drücken solche
Das Personismus- und das Interaktionismus- Manifestationsgesetze aus: Wenn Glas auf
Modell geraten jedenfalls sehr rasch an ihre einen harten Untergrund fällt, dann zerbricht
Grenzen, wenn es darauf ankommt, präzise es. Psychologische Dispositionen sind da-
Aussagen darüber zu treffen, wann, wo und nach Gruppen von Wenn-dann-Sätzen, die
mit wem eine Person beispielsweise in freund- die Kontingenzen zwischen antezedenten
licher Weise umgeht. Um dieses zu illustrie- situativen Bedingungen und darauf folgen-
ren: Eine Person A mag sich häufig warm- den Verhaltensweisen zusammenfassen
herzig und sympathisch gegenüber ihren (Wright & Mischel, 1987). Um das obige
Arbeitskollegen verhalten, aber eher kalt Beispiel heranzuziehen: Wenn Person A unter
und distanziert im Umgang mit der Familie. Arbeitskollegen ist, dann bietet sie Hilfe an;
Bei einer Person B sei es genau umgekehrt. wenn sie aber in der Familie ist, dann versagt
Gemittelt über die beiden Kontextbedingun- sie ihre Unterstützung. Für Person A führen
gen »Arbeitskollegen« und »Familienmitglie- die beiden Kontexte also zu unterschiedli-
der« würden die beiden Personen in etwa chen Situation-Verhaltensverknüpfungen. Es
gleich freundlich erscheinen. Dieser Mittel- ist Aufgabe der Persönlichkeitspsychologie,
wert »unterschlägt« jedoch die intraindivi- solche Verknüpfungen durch eine psycholo-
duell unterschiedliche Variation des Verhal- gische Theorie zu erklären. Elemente einer
tens beider Akteure über die Situationen, eine solchen Theorie können Persönlichkeitsdis-
Variation, die sich in den varianzanalyti- positionen, aber etwa auch momentane
schen Plänen in einer Person Situation- affektive und kognitive Prozesse sein. Grund-
Interaktion niederschlägt. lage für die Untersuchung von Persönlich-
490
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
keitsdispositionen sind demnach Situation- (Wieviel Prozent der Gesamtvarianz geht auf
Verhaltensverknüpfungen, die in bestimmten die Person Situation-Interaktion zurück?),
Situationen beobachtet worden sind. es stellt aber keine geeignete Funktionsbe-
Das Dispositionismus-Modell der Persön- schreibung dar, wie ein Verhaltensmerkmal in
lichkeit sagt Verhalten also aus Situation- seiner Ausprägung in Abhängigkeit von einer
Verhaltensverknüpfungen, S → V, gegeben konkreten Person-Situation-Paarung be-
eine Situation Sj, vorher. Dabei wird nur stimmt wird. Die Frage von Pervin »Was in
diejenige Gruppe J von S → V-Verknüpfun- der Person interagiert wie und womit in der
gen herangezogen, zu der auch Sj funktional Umwelt?« zeugt von der Irritation, die das
äquivalent ist, z. B. verschiedene Beobach- Interaktionismus-Modell hinterlässt, wenn es
tungen von Hilfeverhalten am Arbeitsplatz, als Funktionsbeschreibung interpretiert wird.
nicht aber in der Familie, wenn Hilfsbereit- Das Dispositionismus-Modell lässt solche
schaft bei der Arbeit vorhergesagt werden Irritationen nicht entstehen, da es eine indivi-
soll. Da zusätzlich Situation-Verhaltensver- duelle Funktionsbeschreibung erlaubt.
knüpfungen durch Merkmale der Person Pi
erklärt werden sollen, ergibt sich die Verhal-
tensvorhersage des Dispositionismus-Mo- Befunde und Kommentar
dells (in Anlehnung an Clarke & Hoyle,
1988) als Eine Persönlichkeitstheorie, die Situation-
Verhaltensverknüpfungen erklären will,
Vij ¼ f ð SJ ! VJ i ; Sj Þ ¼ f ðPiJ ; Sj Þ (12.5) muss einerseits der transsituationalen Kon-
sistenz des Erlebens und Verhaltens Rech-
Gleichung 12.5 ist sofort zu entnehmen, dass nung tragen. Sie muss andererseits aber auch
der Interaktionsterm P S fehlt. Weiterhin die individuelle Variabilität über und Anpas-
wird deutlich, dass das Personismus-Modell sungsfähigkeit an wechselnde Situationen
der relativen Konsistenz in Gleichung 12.3 erklären können.
ein Spezialfall des Dispositionismus-Modells Freundlichkeit in der einen Situation mag
ist. Die Modelle gehen dann ineinander über, ihren Ausdruck finden in offenem Lächeln, in
wenn die Verknüpfungsfunktion f als Summe einer anderen in lauten Begrüßungen, in einer
bestimmt wird und wenn – was allerdings dritten gerade in zurückhaltendem Schwei-
unrealistisch ist – angenommen wird, dass gen. Offensichtlich bestehen mitunter große
die individuellen Personenmerkmale, die al- interindividuelle wie auch intraindividuelle
len denkbaren Gruppen von Situation-Ver- Unterschiede in der Präferenz für bestimmte
haltensverknüpfungen zugrunde liegen, stets Reaktionsformen bei verändertem situativen
dieselben sind. Kontext. Eine Persönlichkeitstheorie, die eine
Der Unterschied zwischen dem Interak- solche Inkonsistenz des Verhaltens auf
tionismus- und dem Dispositionismus-Mo- »durchschnittliche« Verhaltenstendenzen in
dell der Persönlichkeit liegt darin, dass der Form von Eigenschaftsausprägungen zu-
Interaktionismus eine interindividuelle Sicht- rückführen möchte, würde individuelle situa-
weise, der Dispositionismus hingegen einen tive Anpassungsleistungen systematisch aus-
intraindividuellen Blickwinkel einnimmt, blenden.
denn im ersteren Fall sind die Modellparame- Mischel (2004; Shoda et al., 2007) legte
ter für alle Personen identisch, im letzteren Fall eine Persönlichkeitstheorie vor, die sowohl
hingegen unterschiedlich. Das Interaktionis- interindividuelle transsituationale Konsis-
mus-Modell eignet sich zwar zur statistischen tenz als auch intraindividuelle Verhaltensva-
Beschreibung interindividuell verschieden- riabilität über Situationen zum Gegenstand
artiger Situation-Verhaltensverknüpfungen hat. Damit möchte diese Theorie interindivi-
491
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
»Kurz gesagt, die Suche nach der Invarianz in der »Das Kohärenzkonzept erlaubt es, die Annahme
Persönlichkeit führt über die Berücksichtigung der von Eigenschaften als Form intraindividueller,
Situation und ihrer Bedeutung für die Person, sie mithin idiographisch bestimmter Konsistenz bei-
kann erkannt werden in den stabilen Interaktio- zubehalten, ohne den Nachweis ihrer transsitua-
nen und in dem Zusammenspiel zwischen ihnen« tiven Konsistenz führen zu müssen« (Laux, 2008,
(Mischel, 2004, S. 5). mündl. Mitteilung). Eine empirische Untersu-
chung hierzu ist in Kasten 12.3 dargestellt.
Die Ableitung der beiden Konsistenzmaße, der transsituationalen und der situations-
spezifischen Konsistenz, soll mit der Arbeit von Shoda, Mischel und Wright (1994)
illustriert werden. In einem Ferienlager wurden interpersonelle Situationen untersucht, in
denen das Verhalten einer Gruppe von Kindern eingehend beobachtet und registriert
werden konnte. Unterschieden wurden die fünf Gruppen von Situationen »Wenn ein
Peer positiven Kontakt aufnimmt«, »Wenn ein Peer hänselt, provoziert oder droht«,
»Wenn ein Erwachsener lobt«, »warnt« oder »bestraft«. Solche Situationen traten
während schulischer Unterweisung oder bei Freizeitaktivitäten, während der Essenszeit,
beim Fernsehen oder Holzarbeiten usw. auf. Das registrierte Verhalten bestand in
verbalen Aggressionen, körperlichen Aggressionen, Wimmern, Sichfügen und prosozia-
len Verbalisationen. Auf diese Weise war es möglich, für jede der Verhaltensweisen ein
individuelles Profil über die fünf Situationsgruppen zu ermitteln; gleichzeitig interessierte
dessen Stabilität über der Zeit. Die Abbildungen 12.7a und b geben für das
Verhaltensmerkmal »verbale Aggressionen« das Profil je eines Kindes in jeweils zwei
Messzeitpunkten wieder.
492
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
a) b)
3 Profil-Stabilität = 0,96 3 Profil-Stabilität = 0,11
2 2
Verbale Aggression
Verbale Aggression
1 1
0 0
–1 –1
–2 –2
–3 –3
t r n e e kt er en e e
tak ee ne sen hsen nta h Pe hsen sen hsen
- K on rch P chse a ch a c
- K o r c c a c h
a c
er n du Erw a r w rw er n du Erw a r w r w
Pe l hE hE Pe l hE hE
ä nse b vo
n
d urc durc ä nse b vo
n
d urc durc
H Lo ng ng H Lo ng ng
a rnu trafu a rnu trafu
W s W s
Be Be
Abb. 12.7: Verhaltensprofile für verbale Aggressionen (a) einer Person A und (b) einer Person B
über verschiedene Situationen zu jeweils zwei Messzeitpunkten (nach Shoda et al., 1994,
S. 678).
Wie ersichtlich weisen die beiden Kinder sehr unterschiedliche Profile der Situation-
Verhaltensverknüpfungen auf. Für die Profile der beiden Kinder errechnen sich zudem sehr
unterschiedliche Stabilitäten (Korrelation zwischen den beiden Messzeitpunkten über die
Situationen).
Im Mittel aller Probanden lagen die Retest-Stabilitäten für die Profilgestalt für verbale
Aggressionen und Sichfügen um r ¼ 0,50 sowie für prosoziale Verbalisationen und Wimmern
um r ¼ 0,30 (körperliche Aggressionen wegen fehlender Messwerte nicht prüfbar). Die
intraindividuelle Variation über die ausgewählten Situationen erwies sich damit als
ausreichend verlässliche und nicht etwa nur durch Fehlereinflüsse geprägte Beobachtung.
In Übereinstimmung mit der Grundaussage dieses dispositionistischen Ansatzes war die
transsituative Konsistenz mit Werten um r ¼ 0,35 für den Vergleich innerhalb derselben
interpersonalen Situation – durch Peer gehänselt, durch Erwachsenen gewarnt oder durch
Erwachsenen bestraft – bei Variation des Kontextes (Lageraktivitäten in Freizeit oder
schulische Unterweisung) höher, als wenn die Konsistenz zwischen verschiedenen inter-
personalen Situationen ermittelt wurde.
Diese und weitere Ergebnisse dieser Arbeit (s. Abschn. 12.2) zeigen, dass die Situations-
spezifität des Verhaltens und geringe transsituationale Konsistenz faktisch zwei Aspekte
intraindividueller Stabilität und Organisation der Persönlichkeit sind: »Die Kohärenz der
Persönlichkeit wird weniger sichtbar anhand einer höheren transsituativen Verhaltens-
konsistenz, nach der so lange gesucht wurde, sondern eher in Gestalt stabiler individueller
Variation des Verhaltens über Situationen« (Shoda et al., 1994, S. 684; Übersetzung von
den Verfassern).
493
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Welches sind nun nach Mischel die psycho- von Situationen zählen, ebenso wie Ziele,
logischen Prozesse, die als Mediatoren zwi- Erwartungen, Gefühle, Kompetenzen, selbst-
schen Situation sowie Erleben und Verhalten regulatorische Pläne und die Erinnerungen
vermitteln? Nach Mischel (2004) werden an Menschen und frühere Vorkommnisse.
diese Prozesse von dem »Kognitiv-Affektiven Diese CAUs sind nicht voneinander
Verarbeitungssystem« (engl. »Cognitive-Af- isoliert, sondern sie bilden Netzwerke von
fective Processing System«, CAPS) bereitge- Kognitionen und Affekten, die für eine Per-
stellt. Das Persönlichkeitssystem wird in dem son charakteristisch sind. Interindividuelle
CAPS-Modell als eine Anzahl mentaler Re- Unterschiede bestehen nun einerseits in der
präsentationen verstanden, deren Aktivie- überdauernden Verfügbarkeit von CAUs,
rung die für eine Person charakteristischen was die transsituationale Konsistenz stiftet.
Konsistenzen im Verhalten und Erleben Sie bestehen aber auch in der spezifischen
bewirken. Diese Repräsentationen bestehen Zusammenstellung und Stärke der Aktivie-
aus verschiedenen »kognitiv-affektiven Ein- rung von CAUs, je nach den psychologischen
heiten« (engl. »cognitive-affective units«, Merkmalen einer Situation, was die situa-
CAUs), zu denen die mentalen Repräsenta- tionsspezifische Konsistenz oder Kohärenz
tionen des Selbst, anderer Personen sowie hervorbringt.
Ein erstes Modell, nach dem Verhalten durch Eigenschaften vorhergesagt werden könnte,
ist das Modell des Personismus. In seiner Variante der »absoluten Konsistenz des
Verhaltens« ist Verhalten nur von stabilen Gegebenheiten in der Person abhängig. In seiner
von Eigenschaftstheoretikern verwendeten Variante der »relativen Konsistenz des Verhal-
tens« werden zusätzlich Einflüsse aus der Situation berücksichtigt. Dieses Modell erlaubt
eine situationsabhängige Modulation des Verhaltens. Häufig überschreitet die Güte der
Vorhersage von Verhalten aufgrund von Persönlichkeitseigenschaften nicht den Wert von r
¼ 0,30, was von Walter Mischel als Beleg gegen das personistische Modell gewertet wurde.
Dem wurde entgegnet, dass Eigenschaften funktionell äquivalente, nicht aber notwendi-
gerweise identische Formen des Erlebens und Verhaltens vermittelten. Weitere Themen in
dieser Diskussion zwischen Befürwortern und Kritikern einer eigenschaftstheoretischen
Konzeption der Persönlichkeit waren die Asymmetrie zwischen Persönlichkeitsskalen und
einzelnen Verhaltensweisen, die Reliabilität einzelner Verhaltensweisen, die Bewertung
einer Korrelation von 0,30 als hoch oder niedrig, die praktische Bedeutsamkeit auch
niedriger Validitätskoeffizienten und das zu Grunde liegende Strukturgleichungsmodell.
Die Vorhersage von Verhalten aus den Resultaten standardisierter Tests gelingt im Bereich
der Fähigkeiten oftmals besser als im Bereich der Persönlichkeit.
Das sozialpsychologische Modell der Vorhersage von Verhalten besagt, dass sich
Verhalten aus dem Einfluss der Situation ergibt. Im Vergleich zum personistischen Modell
der relativen Konsistenz wird damit der Personeneinfluss minimiert. Die relative Bedeut-
samkeit des Einflussfaktors »Person« (was dem Verhalten einer Person Konsistenz verleiht)
und des Einflussfaktors »Situation« (was zur Inkonsistenz des Verhaltens aus Sicht von
Beobachtern beiträgt) wurde ausgiebig untersucht. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass
sowohl die Person als auch die Situation für die Verhaltensvorhersage bedeutsam sind.
Das interaktionistische Modell der Vorhersage von Verhalten besagt, dass nicht die
Situation an sich, sondern die individuelle Situationswahrnehmung entscheidend ist.
494
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
Daraus erklärt sich, dass Personen in einer Reihe von vorgegebenen Situationen unter-
schiedliche Verhaltensprofile zeigen; eine Person reagiert vielleicht stark auf Situation 1 und
schwach auf Situation 2, eine andere Person hingegen gerade umgekehrt schwach auf
Situation 1 und stark auf Situation 2. Dies bedeutet varianzanalytisch, dass die Daten neben
den Haupteffekten für Person und Situation auch noch einen bedeutsamen Interaktions-
term aufweisen. Aber ein solches »statistisches« Verständnis dieses Modells ist zunächst
rein deskriptiv und äußerst abhängig von der Auswahl der untersuchten Situationen,
Personen und ihren Möglichkeiten, Verhaltensweisen frei auswählen zu können. Eine
Erklärung darüber, wo dieser Interaktionismus in einem psychologischen Modell stattfin-
det, wird nicht angeboten.
Das dispositionistische Modell der Verhaltensvorhersage versteht psychologische Dis-
positionen als Gruppen von Wenn-dann-Sätzen, die die Kontingenzen zwischen situativen
Bedingungen und darauf folgenden Verhaltensweisen zusammenfassen. Verhalten wird also
aus Situation-Verhaltensverknüpfungen, gegeben eine physikalische Situation, vorherge-
sagt. Das Modell differenziert zwischen der intra- und der interindividuellen Perspektive.
Auf der intraindividuellen Ebene erfolgt die Verhaltensvorhersage aufgrund des personis-
tischen Modells der relativen Konsistenz. Weil die individuellen Modelle der Verhaltens-
vorhersage zwischen den Personen unterschiedlich sind bzw. sein können, ergibt sich auf der
interindividuellen Ebene, wenn also alle individuellen Modelle gleichzeitig betrachtet
werden, eine Interaktion. Aus dem dispositionistischen Modell folgt, dass die Konsistenz des
Verhaltens auf der individuellen Ebene untersucht werden muss, sie wird als »Kohärenz«
bezeichnet. Um Kohärenz angemessen untersuchen zu können, müssen Personen in einer
Reihe von Situationen, die alle mehrmals vorgegeben werden (Replikationen), untersucht
werden. In dem dispositionistischen Modell gewinnen also die intrapsychischen Prozesse auf
der Grundlage von Dispositionen eine besondere Bedeutung, was in dem Kognitiv-
Affektiven Verarbeitungssystem-Modell (CAPS) von Mischel näher ausgeführt wird.
495
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
496
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
497
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Tab. 12.4: Erhebungsbedingungen für eine hohe Vorhersagekraft durch Situationen oder
Eigenschaften.
Situationen Eigenschaften
498
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
Monson et al. (1982) gingen diesem Aspekt gezielt Dabei dürfte auch die spezifische Wahrneh-
nach. In zwei experimentell realisierten Bedingun- mung einer Situation durch die Akteure (ist
gen bestand für die Versuchsteilnehmer ein hoher
situativer Druck in Richtung auf extravertiertes
dieses ein eher formeller oder informeller
bzw. introvertiertes Verhalten; eine dritte Situa- Kontext, soll man sich eher aktiv oder reaktiv
tion war diesbezüglich neutral. Mit der von unab- verhalten usw.) eine wesentliche Rolle spie-
hängigen Beurteilern eingeschätzten Gesprächig- len. Gleiche Situationsbedingungen mögen
keit der Versuchsteilnehmer während der experi- interindividuell verschieden aufgenommen
mentellen Aufgabe korrelierten die präexperimen-
tell erhobenen Extraversionswerte nur unter jener und interpretiert werden, wie umgekehrt
Situation numerisch befriedigend und signifikant Konsistenz durch die spezifische Deutung
(r ¼ 0,56 gegenüber 0,18 und 0,38), die für die von externen Stimuli bedingt sein mag. Des-
Versuchspersonen unbestimmt und mehrdeutig halb ist eine Berücksichtigung der als Media-
war. Dieser Effekt stand, wie nicht anders zu
erwarten, auch mit der Streuung der Kriteriums-
toren fungierenden individuellen Perzeptio-
werte in Zusammenhang. nen und Kognitionen notwendig (s. Mischel,
1977).
Gleichrangig zu der Forderung nach einem Unter psychologischer Perspektive ist die
Entfaltungsspielraum für interindividuelle Ähnlichkeit von Situationen in dem Modell
Unterschiede ist jene nach der Eigenschafts- von Tett und Guterman (2000) zur »Akti-
relevanz der Situationen. Dieser Gesichts- vierung von Eigenschaften« eingehend aus-
punkt ist offenkundig: Soziabilität lässt sich gearbeitet worden. Darunter verstehen die
nur in bestimmten Situationen beobachten, Autoren die Eigenschaftsrelevanz von Situa-
nämlich solchen, in denen mehrere Perso- tionen (»situation trait relevance«) oder das
nen vergleichsweise ungezwungen mitein- »Vermögen« von Situationen, bestimmtes
ander interagieren. Angst ist nur messbar eigenschaftsbezogenes Verhalten hervorzu-
in Situationen, die die Probanden als be- rufen. Sie konstruierten eine Reihe von Sze-
drohlich empfinden. Suggestibilität bedarf narios und ließen von Beurteilern einschät-
des Ein- oder Zuredens anderer Leute usw. zen, wie sehr jede der vorgegebenen Ge-
Vor diesem Hintergrund ist Konsistenz in schichten relevant sei für jede von fünf
erster Linie über solche Situationen hin- Eigenschaften (Risikobereitschaft, Komple-
weg zu erwarten, die bestimmte, die Eigen- xität, Empathie, Soziabilität und Organisa-
schaft beeinflussende Elemente gemeinsam tion). Zu jedem Szenario musste jede Befra-
haben. gungsperson angeben, wie sie darauf reagie-
Den Untersuchungen von Moskowitz ren oder sich verhalten würde. Außerdem
(1994) zufolge bestand in den Eigenschaften lagen Eigenschaftswerte für jeden Probanden
Dominanz, Submissivität, Verträglichkeit in jeder der Dimensionen vor. Deren Korre-
und Streitsucht mit Werten um r ¼ 0,70 eine lationen mit dem Verhalten in den Szenarios
recht hohe Konsistenz über solche Situatio- fielen umso größer aus, je höher die Eigen-
nen, in denen der Interaktionspartner ver- schaftsrelevanz der Situationen war. Zudem
traut und gleichrangig war (Freunde, Be- war transsituative Konsistenz vor allem über
kannte). Hingegen lagen die Konsistenzen jene Szenarios festzustellen, deren Eigen-
niedriger in Situationen, wo Status und schaftsrelevanz hoch war – Konsistenz war
Macht der Interaktionspartner sehr unter- mithin eine Funktion der situativen Eigen-
schiedlich waren. Die niedrigsten Werte zeig- schaftsrelevanz.
ten sich für die verschiedenen Kontakte mit Einen Schritt weiter sind Furr und Funder
dem gegengeschlechtlichen Partner – Hin- (2004) dadurch gegangen, dass sie anstelle
weise darauf, dass für bestimmte Klassen von von Selbstberichten konkretes Verhalten in
Situationen höhere Konsistenzen im Verhal- sozialen Situationen untersuchten. In einer
ten zu gewärtigen sind als für andere. ihrer beiden Studien trafen bis dahin fremde
499
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
500
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
501
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Solche Befunde mögen die Vermutung nahe- schen den jeweils standardisierten Test- und
legen, dass die mit erhöhter Selbstaufmerk- den Kriteriumswerten für Fahreignung kor-
samkeit einhergehenden reflexiven Prozesse relierte. Seitdem hat es an Bemühungen zum
mehr Zeit benötigen und deshalb die übli- Auffinden solcher Skalen, die eine Modera-
cherweise in Fragebogen gegebene Instruk- torfunktion erfüllen, nicht gefehlt. Häufig
tion, bei der Beantwortung »nicht lange waren die Befunde jedoch nicht replizierbar,
nachzudenken«, einen folgenschweren Miss- was u. a. daran gelegen haben mag, dass teils
griff darstellen könnte. Diesem Problem ist die Suche nach Moderatoren vorwiegend
mit zwei verschiedenen Ansätzen nachgegan- »blind«-analytisch vor sich ging, teils einige
gen worden, nämlich die Bearbeitungszeit methodische Probleme bei der Verwendung
experimentell zu verlängern (um eine diffe- von Moderatorvariablen außer Acht gelas-
renziertere Verarbeitung zu ermöglichen) sen wurden. Einiges spricht dafür, dass posi-
oder diese zu verkürzen (um bewusste Ver- tive Resultate dann zu erwarten sind, wenn
stellungen zu unterbinden). theoriegeleitet vorab bestimmt würde, wel-
Krämer und Schneider (1987) variierten che Variablen vermutlich geeignet wären, die
die Instruktion in den Abstufungen »Spon- empirische Vielfalt des Beobachtbaren in
tanes Antworten« und »Genaues Überlegen« äquivalente Klassen aufzuteilen nach den
und fanden an Stichproben von jeweils nur Gesichtspunkten,
24 Probanden keine Validitätsunterschiede.
Holden et al. (2001) sahen neben der Stan- l welche Gruppen von Personen wohl ein
dardbedingung eine »Faking-good«-Varian- konsistentes, eigenschaftsbestimmtes Ver-
te vor, wobei hier wie dort die Bearbeitungs- halten aufweisen,
zeit entweder unbegrenzt oder verkürzt war. l welche Verhaltensweisen bei diesen Per-
Unter keiner der Bedingungen hatte die sonen kovariieren und
Bearbeitungszeit einen nennenswerten Ein- l welche Situationen für die Betreffenden
fluss auf die Mittelwerte und Korrelationen funktional äquivalent sind.
der Testwerte mit einer globalen Selbstein-
stufung. Den Autoren zufolge sprechen diese Bem (1972) arbeitete diese Fragen heraus
Befunde nicht dafür, dass ein Verstellen und begründete, warum das Streben nach
im Sinne sozialer Erwünschtheitsreaktionen Anerkennung, Lob und Akzeptanz, gewöhn-
Zeit beanspruche. lich gemessen mit Skalen zur sozialen Er-
wünschtheit (SE), den aufgeführten Kriterien
entsprechen könnte. Personen mit hoher
12.2.8 Identifikation von Ausprägung auf dieser Dimension würden
Personen mit hoher sozial erwünschtes Verhalten immer in sol-
Vorhersagbarkeit chen Situationen an den Tag legen, wo
Bewertungen des Verhaltens eine Rolle spiel-
Erstmals Ghiselli (1960) gelang es, ein ge- ten. Sozial erwünschte Reaktionen oder Ant-
sondertes Testverfahren zu konstruieren, worten bildeten deshalb eine Klasse von
nach dessen Punktwert entschieden werden äquivalenten Verhaltensweisen, das Vorhan-
konnte, für welche Probanden in einer Stich- densein zwischenmenschlicher Bewertungen
probe von Taxifahrern genauere Vorhersa- eine Klasse äquivalenter Situationen. Dem-
gen hinsichtlich deren allgemeiner Fahrtaug- gegenüber würden diese Verhaltensweisen
lichkeit aus Leistungstests möglich waren und Situationen für Personen mit niedrigen
und für welche nicht. Der fragliche Test war SE-Werten nichts miteinander zu tun haben,
deshalb einer zur individuellen Prognosti- eben weil für sie die Bewertungen nicht
zierbarkeit, weil er mit der Differenz zwi- relevant seien, weshalb ihr Verhalten in der
502
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
einen Situation nicht aus demjenigen in einer Dienst des Selbstbildes gestellt werden, deren
anderen vorhergesagt werden könne. Von Bedeutungen dem Handelnden jeweils be-
daher könne die SE-Skala im Sinne eines kannt sind (s. auch Bem, 1983).
Moderators Aufschluss darüber liefern, wel- Im Falle der erwähnten Untersuchung zur
che Personen sich konsistent, also gemäß differentiellen Reliabilität war dieses etwa bei
dem Eigenschaftsmodell verhielten, und wel- den Skalen »Intoleranz gegenüber Ambigu-
che nicht. Diejenigen mit starker Tendenz im ität« (IA) und »Dogmatismus« (DO) sehr
Sinne von SE seien entweder unwillig oder viel weniger der Fall als bei Extraversion und
unfähig, situative Veränderungen zu berück- Neurotizismus, was sich daran zeigte, dass in
sichtigen. IA und DO die Mittelwertsdifferenzen zwi-
Ganz auf der Linie dieser Überlegungen schen Normal- und »Faking-good«-Instruk-
lagen Befunde von Amelang und Bartussek tion viel geringer ausfielen, die Versuchsper-
(1970), denen zufolge Probanden mit hohen sonen also anscheinend nicht recht wussten,
SE-Werten höhere Retestreliabilitäten in welches die sozial erwünschten Antworten
mehreren Persönlichkeitstests aufwiesen als sind. Entsprechend waren die Reliabilitäts-
solche mit niedrigen SE-Werten (c Abb. unterschiede in den beiden Skalen IA und
12.9), offenbar deshalb, weil sie zu allen DO geringer (c Abb. 12.10).
Zeiten bemüht sind, ihre Selbstdarstellung
an dem existierenden Stereotyp der Sozialen Z rtt
Erwünschtheit zu orientieren, und dieses
Stereotyp reliabler ist als die unmittelbare 1,6 {
Einschätzung ihres Persönlichkeitsstatus. Intoleranz gegen-
0,91
über Ambiguität
{
{
Abb. 12.9: Retest-Reliabilitäten in den Skalen Schließlich könnten Bem (1972) zufolge nur
»Extraversion« und »Neurotizismus« solche Verhaltensweisen in den Dienst des
in Abhängigkeit von der Ausprägung Selbstbildes gestellt werden, die einer Kon-
»sozialer Erwünschtheit« (nach Ame- trolle durch den Handelnden unterlägen.
lang & Bartussek, 1970). Zwei Arbeiten nehmen direkten Bezug auf
die Vorstellungen Bems: Snyder und Monson
Das Modell von Bem (1972) mit dem postu- (1975) griffen auf das sozialpsychologische
lierten Bestreben zur Aufrechterhaltung des Konstrukt des »Self-monitoring« zurück.
Selbstbildes hat auch Implikationen für die Personen mit hoher Ausprägung darin seien
Konsistenz des Verhaltens über verschiedene besonders sensitiv für den Ausdruck und die
Variablen bzw. Reaktionsmodi. Nur solche Selbstdarstellung anderer in sozialen Situa-
Verhaltensweisen können nämlich in den tionen und würden aus deren Verhalten
503
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Hinweise für die Gestaltung ihres eigenen präsentieren. Anhand einiger Laboraufgaben
Sozialverhaltens beziehen. Aus diesem Grun- wurden diese Vorhersagen weitgehend be-
de müssten sie eine größere situativ bedingte stätigt.
Verhaltensvariabilität zeigen als Personen Mit prinzipiell gleicher Anordnung fanden
mit niedriger Selbstkontrolle. Mit Hilfe eines Scheier et al. (1978) für Personen mit hohen
Fragebogens (z. B. »Wenn ich unsicher bin, Werten in der Skala »Private Selbstaufmerk-
wie ich in einer sozialen Situation agieren samkeit« eine Validität von rtc ¼ 0,66 für
soll, schaue ich auf das Verhalten anderer, einen Aggressivitätsfragebogen gegenüber
um daraus einen Hinweis zu erhalten«, »Ich der »Aggressionsmaschine« (Applizierung
lache mehr, wenn ich eine Komödie zusam- von Elektroschocks in einem vermeintlichen
men mit anderen schaue als wenn ich allein Lernprogramm); der entsprechende Koeffizi-
bin«) wurden die Versuchspersonen in drei ent für die Probanden mit niedriger Selbst-
Gruppen unterschiedlicher Merkmalsaus- aufmerksamkeit war hingegen insignifikant
prägung eingeteilt. Sowohl hinsichtlich sozia- (rtc ¼ 0,09).
ler Konformität als auch selbsteingeschätzter Noch direkter machten sich den Modera-
Verhaltensweisen in verschiedenen Kontex- torenansatz Bem und Allen (1974) in einer
ten zeigten die »high-monitoring« Versuchs- berühmt gewordenen Arbeit zunutze: Die
personen die höchsten Situationsvarianzen. Autoren fragten ihre Versuchspersonen ledig-
Turner (1978) benutzte die Konstrukte lich, ob sie hinsichtlich jedes der beiden
»private« bzw. »öffentliche Selbstaufmerk- Merkmale Freundlichkeit und Gewissenhaf-
samkeit«als Moderatoren. Die erstere Di- tigkeit eher gleich bleibend oder je nach den
mension bezieht sich auf die Reflexion eige- Umständen verschieden agieren würden.
ner Gedanken, Gefühle und Motive, die Diese Selbsteinschätzungen zur Konsistenz
letztere gilt dem Bewusstsein von der eigenen standen mit der (ipsativ bestimmten) Varianz
Person als sozialem Objekt. Zur Erfassung des Verhaltens in verschiedenen Situationen
der beiden Komponenten von Selbstauf- in Beziehung. Darüber hinaus waren für die
merksamkeit lagen Fragebogen vor (z. B. Versuchsteilnehmer, die sich als konsistent
»Ich denke oft über meine Träume nach, bezeichneten, verschiedene Kriteriumswerte
weil ich mich dadurch selbst besser kennen für Freundlichkeit aus den Werten einer
lerne« oder »Wenn ich mit Personen zusam- Extraversionsskala wesentlich besser vorher-
men bin, die ich nicht gut kenne, mache ich sagbar als für die variablen, also »inkonsis-
mir Sorgen, dass ich mich danebenbenehme« tenten« Befragungspersonen (c Tab. 12.5).
als Beispiele für private bzw. öffentliche Zu diesen Resultaten fügte sich erwartungs-
Selbstaufmerksamkeit). Gestützt auf die konform die Beobachtung ein, dass die
Theorie von Fenigstein et al. (1975) wurde Urteile von Fremdeinschätzern über solche
erwartet, dass wegen der fortlaufenden Eva- Personen besser übereinstimmen, die sich
luation eigener Haltungen und Gefühle die selbst als transsituativ konsistent bezeichne-
Selbsteinschätzungen von Personen mit ho- ten (Woodruffe, 1985; Amelang, 1985).
hen Werten in »Privater Selbstaufmerksam- Allerdings wiesen Mischel und Peake
keit« valider seien als diejenigen von Perso- (1982) nach, dass die Maße für selbsteinge-
nen mit niedriger Merkmalsausprägung. schätzte transsituative Variabilität nur die
Umgekehrt sollten die Validitäten für Perso- zeitliche Stabilität dieser Verhaltensweisen,
nen mit hoher »Öffentlicher Selbstaufmerk- nicht aber die auf behavioraler Ebene be-
samkeit« niedriger sein als für jene mit stimmte Konsistenz moderierten. Dies galt
niedrigen Werten, weil diese Probanden stets auch nur für prototypische Verhaltenswei-
nur an das sozial Erwünschte dächten und sen. Die Stabilität der als prototypisch einge-
versuchten, sich so vorteilhaft wie möglich zu schätzten Verhaltensweisen betrug bei den
504
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
Tab. 12.5: Korrelationen zwischen einer Extraversionsskala und sechs verschiedenen Kriterien für
»Freundlichkeit«, getrennt für Gruppen von hoher bzw. niedriger selbsteingeschätzter
Variabilität.
MPI-E Variabilität
niedrig hoch
Befragungspersonen mit selbstwahrgenom- von Shoda et al. (1994), die bereits Erwäh-
mener geringer situationsübergreifender Va- nung gefunden hat.
riabilität 0,71, bei denen mit hoher Variabi- In der Studie von Pelham (1993) mit einer
lität nur 0,47. Die entsprechenden Koeffizi- Stichprobe von 639 Studierenden schätzte
enten für die als weniger prototypisch einge- jede Person zunächst sich selbst auf 5 Skalen
schätzten Verhaltensweisen lauteten 0,65 hinsichtlich Intelligenz, sozialer Kompetenz,
und 0,64, diejenigen für Konsistenz lagen künstlerischer Begabung, athletischen Fähig-
allesamt in der Nähe von null, gleich, ob die keiten und physischer Attraktivität ein. In
Variabilitätsneigung hoch oder niedrig und gleicher Weise lieferte je ein Freund Fremd-
die Verhaltensweisen prototypisch waren einschätzungen. Die nomothetische Analyse
oder nicht. Solche Resultate erklären nach sah Korrelationen nach der R-Technik (zwi-
Mischel (1984) das Paradox, wonach Perso- schen Variablen, über Probanden; s. Abschn.
nen gern Konsistenz zugeschrieben wird – 1.4.1) vor, die idiographische solche nach der
diese Konsistenz hingegen empirisch im Ver- Q-Technik (zwischen Selbst- und Fremdein-
halten nur schwer zu objektivieren ist, mit schätzern über die 5 Skalen). Im Mittel
einem systematischen Irrtum der Befragten, betrugen die Koeffizienten r ¼ 0,35 bzw.
nämlich bei der Einschätzung der situati- r ¼ 0,55. Unter Verwendung von 30 Items,
onsübergreifenden Konsistenz von der die die Big Five (s. Abschn. 7.4) erfassen
selbstbeobachteten Stabilität einiger prototy- sollten, lauteten die an 189 anderen Personen
pischer Verhaltensweisen auszugehen. ermittelten Durchschnittskoeffizienten r ¼
Bei Bem und Allen (1974) hatten sich 0,21 bzw. r ¼ 0,48 – was eine deutliche
zusätzlich zu den bereits geschilderten Be- Überlegenheit des idiographischen Zugangs
funden verschiedene Hinweise auf eine indi- belegt. Zudem konnte Pelham (1993) zeigen,
viduelle Interpretation einzelner Konstrukt- dass die Übereinstimmungen auch davon
indikatoren ergeben. Das legt eine mehr abhängen, ob ein Proband seine relativen
idiographische anstelle der nomothetischen Stärken oder Schwächen als wichtig erachtet
Betrachtung nahe, ein Gesichtspunkt, dem in oder nicht. Analog dazu korrelierten in der
der Folgezeit häufiger entsprochen wurde. Untersuchung von Diener und Fujita (1995)
Besonders hervorzuheben ist dabei die Arbeit persönliche Ressourcen wie Durchsetzungs-
505
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
506
12 Verhaltensvorhersage durch Eigenschaften
0,6
0,4 Dispositioniertheit
Korrelation
vorhanden
in beiden
Skalen
0,2
in einer
Skala
in keiner
0 Skala
Extraversion x Personale Identität x Soziale Identität x
Kontrollüber- Private Selbst- Öffentliche Selbst-
zeugung aufmerksamkeit aufmerksamkeit
Korrelierte Eigenschaften
Moderator der Validität, hier aber für das modell sei im Grunde nicht ernsthaft er-
Gesamt von individuellen Eigenschaftsaus- schüttert, die referierten Ergebnisse würden
prägungen. es aber erlauben, die Vorhersage zu präzi-
Trotz mancher methodischer Probleme sieren und zu verbessern. Dafür sind somit
haben die geschilderten Ansätze zur Diffe- Indikatoren vonnöten, die einerseits auf
renzierung des Eigenschaftsmodells beige- Meta-Eigenschaften wie Dispositioniertheit,
tragen. In einer Meta-Analyse der Ende der Konsistenz, Zentralität u. Ä. abheben. An-
1980er Jahre vorliegenden Untersuchungen dererseits sind aber auch Indikatoren ge-
zur Variabilität, Wichtigkeit, Angemessen- fragt, die die Feinheiten der Aktionen und
heit usw. von Eigenschaften konnte ein Reaktionen von Personen erfassen und
gesicherter Moderatoreffekt in der erwar- wenig zur differentiellen Vorhersagbarkeit
teten Richtung ausgewiesen werden (Zu- des Verhaltens beitragen.
ckerman et al., 1989). Auch Brody (1988, Auch wenn die Forschungsarbeiten inner-
S. 115) gelangte nach einer sehr sorgfälti- halb des Feldes weitere Erfolge zeitigen wer-
gen Durchsicht der Literatur zur differen- den, wird wohl auf absehbare Zeit gelten,
tiellen Vorhersagbarkeit zu der Überzeu- was Bem und Funder (1978) durchaus nicht
gung, dass die aufgezeigten Moderatoren resignativ festgehalten haben: »Predicting all
die Annahme gemeinsamer Eigenschaften of the people all of the time is still in
nicht in Frage stellten. Das Eigenschafts- preparation«.
507
Teil III Interindividuelle Differenzen im Persönlichkeitsbereich
Im Verlauf der so genannten Konsistenzdebatte (siehe 12.1) wurde eine Reihe von
Verbesserungsvorschlägen für den Grad der Verhaltensvorhersage durch Persönlichkeits-
eigenschaften untersucht: (1) Eine Erhöhung der Reliabilität der Verhaltens- bzw.
Erlebensmaße durch Aggregation (Zusammenfassung) von Messungen derselben Variab-
len über die Zeit kann die Verhaltensvorhersage deutlich verbessern. (2) Eine Erhöhung der
Reliabilität und eine Verbreiterung der Verhaltensstichprobe durch Aggregation von
Messungen verschiedener Variablen aus dem gleichen Konstruktbereich (»multiple-act«-
Kriterien) können die Verhaltensvorhersage ebenfalls verbessern. (3) Die Aggregation über
verschiedenartige Situationen kann eine Erhöhung der transsituationalen Konsistenz
zur Folge haben. Wichtig dabei ist allerdings, dass in den verschiedenen Situationen
möglichst viele gemeinsame psychologische Situationselemente enthalten sind. (4) Situa-
tionen eignen sich mehr oder weniger gut dafür, dass in ihnen gemessenes Verhalten oder
Erleben durch Eigenschaften vorhersagbar ist. Situationen mit einem hohen Uniformie-
rungseffekt lassen wenig Spielraum für interindividuelle Verhaltensunterschiede zu (»star-
ke« Situationen). Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass – wie im dispositionistischen
Modell erwartet – Situationen für einzelne Eigenschaften sehr unterschiedlich relevant sind.
Untersuchungen haben bestätigt, dass die Konsistenz eine Funktion der situativen
Eigenschaftsrelevanz ist. (5) Da sich die Sichtbarkeit von einzelnen Persönlichkeitseigen-
schaften unterscheidet (z. B. ist Extraversion von Fremdbeobachtern recht gut, Neuroti-
zismus hingegen nicht gut erkennbar), wird ihre Konsistenz unterschiedlich ausfallen,
wenn das Verhalten durch Fremdbeobachtung oder Fremdbeurteilung erfasst wird. (6) Die
für Personen zentralen Eigenschaften haben eine stärkere Vorhersagekraft für Verhalten als
irrelevante Eigenschaften. (7) Wenn Persönlichkeitsfragebogen von den Probanden unter
Bedingungen einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit ausgefüllt werden, erhöht sich die
Vorhersagbarkeit späteren Verhaltens durch die so gewonnenen Eigenschaftsmaße.
Untersuchungen konnten zeigen, dass für diesen Effekt nicht die verlängerten Bearbei-
tungszeiten verantwortlich sind, die durch die experimentelle Manipulation der Selbstauf-
merksamkeit hervorgerufen werden. (8) Personen unterscheiden sich darin, inwieweit das
Eigenschaftsmodell auf sie zutrifft. Entsprechend wurde nach Variablen gesucht, die den
Grad der Passung zum Eigenschaftsmodell erfassen könnten. Solche Variablen werden als
Moderatorvariablen bezeichnet, da sie den Zusammenhang zwischen einer Eigenschaft
und dem vorherzusagenden Verhalten moderieren. Als Moderatorvariablen wurden
untersucht: soziale Erwünschtheit (Streben nach Aufrechterhaltung eines positiven Selbst-
bildes in den verschiedensten Situationen, erhöht die Konsistenz), »Self-Monitoring«
(Beachtung der Selbstdarstellung anderer und Justierung des eigenen Verhaltens danach,
erniedrigt die Konsistenz), private bzw. öffentliche Selbstaufmerksamkeit (Reflexion
eigener Gedanken, Gefühle und Motive bzw. Bewusstsein von der eigenen Person als
sozialem Objekt, erhöht bzw. erniedrigt die Konsistenz), Selbsteinschätzungen der
Konsistenz (erhöht die Konsistenz) sowie Dispositioniertheit (eine Meta-Eigenschaft,
dispositioniert oder undispositioniert zu sein, erhöht die Konsistenz). Die Bedeutung
solcher Moderatorvariablen stellte sich in verschiedenen Untersuchungen heraus. Dies
weist darauf hin, dass ein personenzentrierter neben dem überwiegend verwendeten
variablenzentrierten Forschungsansatz verfolgt werden sollte.
508
Teil IV Determinanten interindividueller
Unterschiede
13 Genetische Faktoren
Nach einführenden Bemerkungen (13.1) zur Erblichkeit als einer Maßzahl, die auch von
der Interaktion mit und der Varianz von Umgebungsfaktoren abhängt, wird auf die Art und
das Ausmaß der Erbbedingtheit (13.2) ebenso eingegangen wie auf allgemeine Vorstellun-
gen über Erbe und Umwelt (13.3). Dabei wird expliziert, dass für die Analyse der
Erblichkeit nicht der qualitative Aspekt einer Feststellung des jeweiligen Erbgangs zur
Verfügung steht, sondern allein der quantitative Gesichtspunkt einer Bestimmung des
Ausmaßes der Erbbedingtheit von Merkmalen. Dafür wird die Variabilität von Merk-
malsausprägungen zurückgeführt auf vorwiegend erbliche oder umweltbedingte Anteile.
Die Prinzipien dieser Varianzzerlegung und die ihr zugrundeliegenden Forschungsdesigns
kommen in Kapitel 13.4 zur Sprache, die damit erhaltenen Ergebnisse in Kapitel 13.5.
Wenn in den vorangegangenen Kapiteln auf and I’ll guarantee to take any one at random
die Theorien und Befunde zu interindividu- and train him to be any kind of specialist I might
select – regardless of his talents, penchants, ten-
ellen Differenzen in den verschiedenen Ver- dencies, abilities, vocations, and race of his ances-
haltensbereichen eingegangen wurde, war es tors« (Watson, 1930, S. 104).
z. T. unumgänglich, wenigstens kurz auf
deren mögliche Entstehung und Verursa- Demgegenüber müssen Theorien wie jene
chung einzugehen. So wird deutlich gewor- von Eysenck, die interindividuelle Differen-
den sein, dass lerntheoretische Konzepte der zen auf neuroanatomische Systeme zurück-
Persönlichkeit stärker umweltbezogene Ge- führen, zwangsläufig auch genetischen Fak-
sichtspunkte in den Vordergrund rücken. In toren Rechnung tragen, da eine Beeinflus-
der pointierten Sichtweise des Behaviorismus sung vieler struktureller physischer Merk-
sind die zufälligen oder systematischen Kon- male durch die Umwelt, etwa Bezahnung,
tingenzen von Reizen und Reaktionen, unbe- Blutgruppe, Behaarung oder Körpergröße,
dingten Auslösern und Bekräftigungen die kaum in Betracht kommt.
alleinige Ursache für Unterschiede im Ver- Schließlich ist an Vorstellungen wie dieje-
halten: nige der Psychoanalyse zu denken. Nach
Freuds Auffassung stellt das Es einen Fundus
»Give me a dozen healthy infants, well formed, angeborener Triebe dar, die sich jedoch erst
and my own specified world to bring them up in im Zusammenwirken mit der Umwelt mani-
511
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
festieren und unter dem Einfluss des Über- tration: Die phänotypische Varianz bestimm-
Ich, das als Instanz der internalisierten Nor- ter Merkmale könnte z. B. bei sehr einheitli-
men einer Gesellschaft gilt, sublimiert, ver- chen Umgebungen sinken. Bei gleich blei-
drängt und verschoben werden. Erbe und bender genotypischer Varianz würde die
Umwelt stehen danach in einem komplizier- Erblichkeit nach o.a. Definition zunehmen!
ten Beziehungsgeflecht zueinander, sie bedin- Erblichkeit ist mithin keine absolute oder auf
gen einander gegenseitig – eine durchaus ein einzelnes Individuum bezogene Größe.
moderne und aktuelle Betrachtungsweise. Erblichkeit bedeutet in der Regel auch
Die Frage nach dem Zusammenwirken nicht Determinismus. Zum einen ist Erblich-
von Erbe und Umwelt hat von der Entwick- keit immer die Kehrseite von Umwelteinflüs-
lung origineller methodischer Ansätze und sen als Ursache für individuelle Unterschiede
Analysetechniken profitiert. Insgesamt konn- in Merkmalen. Zum anderen bedarf es gele-
te damit das Wissen über die Ursachen der gentlich des Zusammentreffens von be-
interindividuellen Unterschiede in psychi- stimmten genetischen und situativen Einflüs-
schen Merkmalen entscheidend vertieft wer- sen, ehe ein Merkmal manifest wird. So wird
den. die Phenylketonurie, eine angeborene Stoff-
Erblichkeit ist eine Maßzahl, die angibt, wechselstörung, bei der die Aminosäure
wie viel von der phänotypischen interindivi- Phenylalanin nicht regulär abgebaut werden
duellen Varianz eines Merkmals auf genoty- kann, zwar durch die Mutation eines einzel-
pische Unterschiede in einer Population zu- nen Gens ausgelöst. Die gefürchteten Folgen,
rückgeht. Daraus folgt, dass Erblichkeit nur wie Störungen im zentralen Nervensystem,
ein relativer Begriff ist, der stets auf eine epileptische Anfälle und schwere mentale
bestimmte Population und einen bestimmten Retardation, treten aber bei Einhalten einer
historischen Zeitraum bezogen ist. Zur Illus- eiweißarmen Diät nicht auf.
Viele phänotypische Merkmale vom Körperbau bis zur Neuroanatomie unterliegen einem
genetischen Einfluss, dessen Größe in der Maßzahl der Erblichkeit angegeben wird. Unter
Erblichkeit wird das Verhältnis der phänotypischen zur genotypischen interindividuellen
Varianz verstanden. Erblichkeit ist ein relativer Begriff, der stets auf eine bestimmte Popula-
tion und einen bestimmten Zeitraum bezogen ist. Erblichkeit bedeutet in der Regel keinen
Determinismus; vielmehr werden Gene oft durch bestimmte Umwelteinflüsse aktiviert.
512
13 Genetische Faktoren
Hypothesen« formuliert und an dem Auftre- Im Falle einiger polygen determinierter Cha-
ten bestimmter Merkmale in einer Parental- rakteristika ist deren Auftreten selbst wieder
und möglichst vieler Filial-Generationen abhängig vom Vorliegen weiterer Faktoren.
empirisch geprüft (s. Fuller & Thompson, Sind diese nicht vorhanden, kann es auch
1960; Merz & Stelzl, 1977). nicht zur Ausbildung des betreffenden Merk-
Solche genetischen Hypothesen sind mitt- mals kommen. Ein Beispiel dafür ist die
lerweile durch Genkartierung bestätigt und Färbung der Iris, die von der Gegenwart
präzisiert worden. Nicht weniger als ca. 3219 mehrerer Faktoren abhängt. Hat ein Indivi-
Krankheiten und Varianten beruhen in diesem duum allerdings von beiden Elternteilen den
Sinne auf einem Gen mit bekannter Sequenz, (rezessiven) Albinofaktor erhalten, wird die
bekannter zugrundeliegender molekularer Färbung völlig ausfallen, ungeachtet der
Struktur oder einem Mendel’schen Erbgang ansonsten vorhandenen Genkombination,
(McKusick-Nathans Institute of Genetic Me- deren Effekte im Falle von Albinismus völlig
dicine). Davon liegen etliche auf dem X-Chro- neutralisiert werden.
mosom und sind oft rezessiver Natur. Da- Das damit gegebene hoch differenzierte
durch kommt es nur dann zur Manifestation Wirkungsgefüge wird zusätzlich kompliziert
im Phänotypus, wenn sich auf dem anderen X- durch die an verschiedenen Punkten des
Chromosom am selben Locus ebenfalls ein Entwicklungsprozesses ansetzenden Um-
»mutiertes« Gen befindet oder aber ein Aus- weltfaktoren. Die Aufklärung dieses multi-
gleich durch ein normales Allel deshalb nicht faktoriellen Netzwerkes steht erst noch an
möglich ist, weil dem X- ein Y-Chromosom ihrem Anfang.
gegenüberliegt. Phänomene, die diesen Geset-
zen gehorchen (z. B. Rot-Grün-Blindheit, Hä-
mophilieoderprogressiveMuskeldystrophie), Ausmaß der Vererbung
treten daher beim männlichen Geschlecht sehr
viel häufiger auf als beim weiblichen. Es bleibt der quantitative Aspekt bzw. die
Bei Krankheiten mit einem Erbanteil han- Frage nach dem Ausmaß der Erbbedingtheit
delt es sich um Besonderheiten oder qualita- von Merkmalen. Dafür wird die Variabilität
tiv eindeutig unterscheidbare Typen. Die weit von Merkmalsausprägungen zurückgeführt
überwiegende Mehrzahl der anatomischen auf vorwiegend erbliche oder umweltbeding-
und physiologischen Merkmale ist hingegen te Anteile. Daher sind nur solche Merkmale
quantitativ kontinuierlich abgestuft und ab- einer Analyse zugänglich, in denen sich Indi-
hängig von der Wirkung zugleich mehrerer viduen voneinander unterscheiden. Anderer-
Gene. Dabei wird die Analyse des Erbganges seits ist auch für solche Merkmale eine
durch den Umstand erschwert, dass zum genetische Verankerung anzunehmen, für
einen mehrere Gene auf ein phänotypisches die eine weitgehende Uniformität in der
Merkmal wirken können (Polygenie), zum menschlichen Spezies besteht (z. B. Zahl der
anderen ein Gen simultan mehrere Merkma- Zähne und Extremitäten, Behaarung des
le zu beeinflussen vermag (Polyphänie bzw. Kopfes usw.).
Pleiotropie).
Bei der Betrachtung der Vererbung von Merkmalen ist die Art der Vererbung (Erbgang) von
ihrem Ausmaß (Erblichkeit) zu unterscheiden. Der Erbgang von mehreren tausend
Krankheiten ist bereits aufgeklärt. Dies gelingt leichter dort, wo ein einzelnes Gen ein
513
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Das Erbgut jedes Individuums besteht aus Umgekehrt ist auch die Gesamtheit von
der Gesamtheit der im doppelten Chromo- Umwelteinflüssen nicht als eine für sich
somensatz lokalisierten Information, ge- existente Größe vorstellbar. Zwar ist sie in
schätzt auf 30 000 bis 40 000 Gene. Sprechen Grenzen physikalisch erfassbar, entspricht
wir von der genetischen Determination eines im Sinne eines Zusammenwirkens mit dem
Merkmals, Faktors oder Charakterzuges, so Genotyp jedoch nicht dieser »Reizmenge«,
impliziert dies stets, dass dessen Manifesta- weil weitgehend der Organismus selbst darü-
tionen auf die Wirkung eines oder mehrerer ber entscheidet, was als Stimulation in Frage
Gene und deren Kombination untereinander kommt. Insofern besteht der »Paratyp« (um-
zurückgeführt werden können. weltbedingter Anteil am Phänotyp) nur in
Dennoch wäre es falsch, wollte man die im einer Einflussnahme auf die im Genotyp
Genotyp enthaltene Information als fixe Grö- programmierten Möglichkeiten; er bestimmt
ße und losgelöst von irgendwelchen Umwelt- lediglich innerhalb der von den Genen ge-
wirkungen betrachten, denn die fraglichen steckten Grenzen über die Ausprägung des
Informationen können nur durch Stimula- phänotypischen Merkmals. Die Reaktion des
tion von Seiten der Umwelt irgendeine Wirk- Organismus kann nur innerhalb der gene-
samkeit entfalten und durch die spezifischen tisch determinierten Grenzen erfolgen
Umwelteinflüsse erst objektiviert werden. (»Reaktionsnorm«).
Um dafür ein oft zitiertes Beispiel zu geben: Stellt sich der Wirkungsmechanismus im
Bereits Hoge (1915) hat zeigen können, dass Falle einiger physiologischer Größen wie der
bei der Drosophila melanogaster ein defektes Blutgruppe, einer Farbenblindheit oder Stö-
Gen, das für Schäden an den Gliedmaßen rungen des Lipidstoffwechsels noch als rela-
sorgt, unter bestimmten Temperaturbedin- tiv direkt dar, muss bei allen psychologischen
gungen über Generationen hinweg vererbt Variablen von einer »Kette von Indirekthei-
werden kann, ohne dass es phänotypisch zum ten« ausgegangen werden, die zu der Fest-
Auftreten der Anomalie käme. Werden da- stellung berechtigt, dass kein psychologi-
gegen zu irgendeinem Zeitpunkt reguläre sches Merkmal als solches vererbt wird.
Temperaturen hergestellt, treten sogleich Anlagemäßig verankert kann ein Hör- und
mehr Gliedmaßen oder Teile davon auf, als Sehschaden sein, die Anfälligkeit für körper-
»serienmäßig« angelegt sind. Daraus wird liche Krankheiten mit der Folgeerscheinung
deutlich, wie eine genetische Information zur langwieriger gesundheitlicher Beeinträchti-
Expressivität auf die Wirkung spezifischer gung oder aber Hautfarbe, Bau und Gestalt
Umweltreize angewiesen ist. des Körpers. Inwieweit sich aufgrund dieser
514
13 Genetische Faktoren
primären Faktoren allerdings sekundär Stö- wie Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ent-
rungen der Sprachentwicklung und Interak- wickeln, hängt von der eigenen Reaktion und
tion, intellektuelle Defizite, Minderwertig- namentlich jener der Umwelt auf eben diese
keitsgefühle oder besondere Charakteristika »primären« Merkmale ab.
Die genotypische Information kann oft nicht losgelöst von Umweltwirkungen auf den
Phänotyp verstanden werden, wie auch umgekehrt die Gesamtheit von Umwelteinflüssen
nicht ohne den Genotyp verstanden werden kann. Der durch die Umwelt bedingte Anteil
am Phänotyp (Paratyp) wird nur innerhalb der durch die Gene gesetzten Grenzen wirksam
(Reaktionsnorm).
Die in der Grundgesamtheit bzw. bei reprä- Additive Varianz, VA, stellt jene interindivi-
sentativen Stichproben bestehende interindi- duelle Variabilität dar, die durch additive
viduelle Varianz einer jeden Eigenschaft kann Effekte der beiden Gene an einem Genort
konzeptuell in einzelne Komponenten zerlegt entsteht. Die Merkmalsausprägung verdop-
werden, die sich zur Gesamtvarianz addieren. pelt sich also, wenn ein Individuum zwei
Allele anstatt nur eines Allels mit symptoma-
tischer Wirkung auf das Merkmal besitzt.
Haupteffekt-Modell Die unabhängige Wirkung des mütterlichen
und väterlichen Gens an einem Genort auf
In einem zunächst vereinfachten Hauptef- die Merkmalsausprägung ist die Grundlage
fekt-Modell (ohne Kovarianz oder Interak- für die additive genetische Varianz. Auf dem
tion der Prädiktoren, c Abb. 13.1a) wird Einfluss der additiven Gene beruht die Ähn-
die phänotypische Varianz, VP, in drei lichkeit zwischen Verwandten in gerader
Komponenten zerlegt: die genetisch beding- Linie, etwa Eltern und Kindern.
te Varianz, VG, die auf Umwelteinflüsse Üblicherweise wird die Varianz aufgrund
zurückgehende Varianz, VU, sowie die mit »gezielter Partnerwahl« (engl. »assortative
jeder Messung einhergehende Fehlerva- mating«), VAM, mit zur additiven Komponen-
rianz, Vf. te gerechnet, kann aber auch davon unab-
hängig geschätzt werden. Sie entsteht dann,
VP ¼ VG þ VU þ Vf (13.1) wenn in der Population eine hinsichtlich be-
stimmter Merkmale systematische Paa-
Die beiden ersten Komponenten lassen sich rung der Partner stattfindet. Folge ist eine
weiter zerlegen. Die genetisch bedingte Va- höhere (»Gleich und Gleich gesellt sich gern!«)
rianz wird in vier Bestandteile aufgeteilt: oder niedrigere Ähnlichkeit der Partner
515
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
4 Genotyp 1
größer sein als in der Parental-Generation.
2 Ausgehend von dieser Überlegung ist etwa
3 Genotyp 2
für das untere Ende der Intelligenzverteilung
3 Genotyp 3 gefolgert worden, dass gezielte Partnerwahl
6
mehr Personen in den Bereich IQ < 75
12 dränge, wo aber nach verschiedenen Unter-
suchungen (Bajema, 1996; Higgins et al.,
I II 1962) die Fortpflanzungschancen geringer
»Umwelten« sind. Auf lange Sicht dürfte deshalb gezielte
c) Partnerwahl dazu führen, dass das allgemei-
ne Intelligenzniveau der Bevölkerung ange-
Merkmalsausprägung
516
13 Genetische Faktoren
Die auf Umwelteinflüsse zurückgehende Va- Wenn in die genetische Varianz ausschließ-
rianz lässt sich in zwei Bestandteile aufteilen: lich die additive Varianz, VA, einbezogen
wird, spricht man auch von Erblichkeit im
V U ¼ V C þ VE (13.3) »engeren Sinne«, ansonsten von Erblichkeit
im »weiteren Sinne«.
Der erste Term ist die Varianz aufgrund von In ähnlicher Weise können Maßzahlen für
unterschiedlichen Umwelten in verschiede- die relative Größe des Einflusses der Umwelt,
nen Familien, jedoch der gleichen oder ge- u2, und ihrer Komponenten der geteilten (¼
teilten (¼ gemeinsamen) Umwelt, VC, inner- gemeinsamen), c2, und der nichtgeteilten
halb von Familien (der Index c rührt von (¼ nicht gemeinsamen) Umwelt, e2, be-
engl. »common«). Die geteilte Umwelt macht stimmt werden.
die Kinder einer Familie einander ähnlich
und gegenüber anderen Familien unähnlich.
Solche Umweltfaktoren sind beispielsweise Erweitertes Modell
die Wohngegend, das Familienklima oder
religiöse Überzeugungen. Diese Varianz ist Das vollständige Modell zur Aufklärung der
also in der Varianz zwischen Familien ent- phänotypischen interindividuellen Varianz
halten. weist gegenüber dem Haupteffekt-Modell
Der zweite Term ist die Varianz aufgrund von Gleichung 13.1 zwei wesentliche, zu-
der von Kindern einer Familie nichtgeteilten sätzliche Bestandteile auf, die Erbe-Umwelt-
(¼ verschiedenen oder getrennten) Umwelt, Kovarianz, VG,U, und die Erbe-Umwelt-
VE. Die von den Kindern einer Familie Interaktion, VGxU,
nichtgeteilte Umwelt macht sie einander un-
ähnlich. Nichtgeteilte Umwelten sind z. B. die VP ¼ VG þVU þ2 VG;U þVGxU þVf (13.5)
jeweiligen Freunde, die unterschiedlichen
Schulklassen, der eigene Sportverein jedes Genotypen verteilen sich nicht zufällig auf
der Kinder, aber auch die unterschiedliche mögliche Umwelten. Daher werden Genoty-
Behandlung der Kinder durch die Eltern. pen teilweise unterschiedlichen Umwelten
Diese Varianz ist also in der Varianz inner- und deren jeweiligen Einflüssen auf den
halb von Familien enthalten. Phänotyp ausgesetzt. Die Erbe-Umwelt-
In der angloamerikanischen Literatur ist Kovarianz bezieht sich auf diesen Effekt
der Terminus »ACE-Modell« für die Unter- (c Abb. 13.1b). Um ein sehr augenfälliges
suchung der drei Komponenten additive Extrembeispiel zu geben: In der Savanne
(genetische) Effekte (A), geteilte (C) und südlich der Sahara leben sehr viel mehr
nichtgeteilte Umwelt (E) üblich. Giraffen, Löwen und Antilopen als in unse-
ren Breitengraden. Im Humanbereich lassen
sich nach Plomin et al. (1977) diesbezüglich
Erblichkeit drei Formen unterscheiden.
Der passive Typ einer Erbe-Umwelt-Ko-
Die Erblichkeit oder »Heritabilität«, h2, ist variation liegt dann vor, wenn Eltern ihren
eine Maßzahl für die relative Größe des Kindern sowohl vorteilhafte (bzw. nachtei-
Einflusses des Genotyps auf den Phänotyp lige) Gene wie auch günstige (bzw. ungüns-
und bestimmt sich als Anteil der genotypi- tige) Umweltbedingungen vermitteln. Die
schen an der phänotypischen Varianz, Kinder sind am Zustandekommen der Ko-
variation nicht beteiligt; daher wird dieser
VG Typ als passiv bezeichnet. Das dürfte etwa
h2 ¼ (13.4)
VP im Falle der Intelligenz zutreffen: Über-
517
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Fehlerzahl
Der aktive Typ umfasst jene Fälle, in
Tiere
denen sich ein Individuum die für seine
»kluge«
genetische Ausstattung optimal stimulieren-
Tiere
de Umwelt selbst aussucht bzw. herstellt,
etwa ein hochbegabtes Kind zusätzliche ¨ ¡
Aktivitäten entfaltet, die wiederum auf seine ¨
Intelligenz positiv rückwirken.
Im konkreten Fall vorliegender Variablen restringiert normal angereichert
oder Stichproben von Merkmalsträgern wird Umwelt
eine eindeutige Bestimmung nach dieser Ty-
Abb. 13.2: lllustration einer Erbe-Umwelt-lnter-
pologie sicher kaum möglich sein, da die
aktion für Fehlerwerte im Labyrinth-
Erbe-Umwelt-Kovarianz in der Regel wohl lernen von Ratten, die in restringier-
einen Mischeffekt aus allen Konstellationen ter, normaler und angereicherter
darstellt. Im Falle eines »reinen« Typus von Umwelt aufgezogen wurden (nach
aktiver Erbe-Umwelt-Kovariation wird man Cooper & Zubek, 1958).
dazu tendieren können, den entsprechenden
Varianzanteil der Erblichkeit zuzurechnen, Soweit solche Interaktionen bestehen, ist die
im Falle absoluter Abhängigkeit von exter- Frage nach der Erblichkeit des betreffenden
nen Faktoren, wie sie allenfalls in tierexperi- Merkmals nicht mehr allgemein zu beant-
mentellen Anordnungen vorstellbar ist, ent- worten. Die Erblichkeit fällt dann in Abhän-
sprechend der Umweltwirkung. Insofern gigkeit von der wirksamen Umwelt verschie-
kann, da die erwähnten Extreme im Human- den hoch aus, wie auch umgekehrt die
bereich unrealistisch sind, eine Zuordnung Wirkung der Umwelt vom jeweiligen Geno-
des Terms in befriedigender Weise nicht typ abhängig ist.
geschehen.
Streng zu unterscheiden von der Kova-
rianz ist die Interaktion zwischen Erbe und 13.4.2 Bestimmung der
Umwelt. Darunter wird der Tatbestand Parameter
verstanden, dass sich der genetische Ein-
fluss auf den Phänotyp in verschiedenen Ausgangspunkt für die Bestimmung der Va-
Umwelten unterschiedlich auswirkt. Ein rianzanteile für Erblichkeit, geteilte sowie
Beispiel ist die schon erwähnte Phenylke- nichtgeteilte Umwelt ist die theoretisch ab-
tonurie, wo mentale Retardation erst unter leitbare Ähnlichkeit von Verwandten. So
518
13 Genetische Faktoren
Tab. 13.1: Erwartete Beiträge der additiven genetischen Einflüsse (VA ), Dominanzabweichung (VD ) und
geteilter Umwelteinflüsse (VC ) auf die phänotypische Kovarianz von Verwandten.
Verwandtschaftsverhältnis VA VD VC
EZ gemeinsam aufgewachsen 1 1 1
EZ getrennt aufgewachsen 1 1 0
Die geteilten Umwelteinflüsse (VC ) sind immer spezifisch für den jeweiligen Verwandtschaftsgrad.
Nach Chipuer et al. (1990, S. 15).
Im einfachsten Fall stützt man sich auf die rEZ ¼ a 1,00 a þ d 1,00 d
Ähnlichkeit innerhalb der Paarlinge eineiiger þ c 1,00 c (13.6)
und zweieiiger Zwillinge (EZ bzw. ZZ) in ¼a þd þc
2 2 2
dem jeweils untersuchten Merkmal. Die In-
formation in Tabelle 13.1 für gemeinsam
aufgewachsene EZ und ZZ ist in Abbil- während sich für die Korrelation zwischen
dung 13.3 als Strukturmodell wiedergege- ZZ ergibt:
ben. Die Korrelation eines Merkmals zwi-
schen Zwillingen P1 und P2 ergibt sich aus
rZZ ¼ a 0,50 a þ d 0,25 d
der Summe der Produkte der Koeffizienten
über alle Pfade, die von P1 zu P2 verlaufen. þ c 1,00 c (13.7)
Für die Korrelation zwischen EZ ergibt sich ¼ 0,50 a þ 0,25 d þ c
2 2 2
daraus
519
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
E1 C1 D1 A1 A2 D2 C2 E2
e c d a a d c e
rEZ
P1 bzw. P2
rZZ
Fehler Fehler
Abb. 13.3: Strukturgleichungsmodell zur Erklärung der Ähnlichkeit r zwischen EZ- und ZZ-Paaren,
die gemeinsam aufwachsen. EZ ¼ eineiige Zwillinge. ZZ ¼ zweieiige Zwillinge. P1 und
P2 ¼ Phänotyp eines Zwillingspartners 1 und 2. A ¼ additiver genetischer Einfluss.
D ¼ Einfluss der Dominanzabweichung. C ¼ Einfluss der geteilten Umwelt. E ¼ Einfluss
der nichtgeteilten Umwelt. a, d, c und e ¼ relative Einflussstärken (standardisierte
Pfadkoeffizienten).
Wenn ein vereinfachtes Modell zur Erklä- Für die Ermittlung der Erblichkeit mit der
rung der phänotypischen Korrelation zwi- Falconer-Formel können sich in bestimmten
schen EZ und ZZ angewendet wird, in dem Fällen auch Probleme ergeben:
der genetische Anteil ausschließlich aus dem
Anteil der additiven Genwirkung besteht, l Viele genetische Einflüsse sind nicht nur
dann fallen die Terme d2 aus den Gleichun- durch additive, sondern auch durch non-
gen 13.6 und 13.7 weg. Auflösen nach a2 additive Effekte der Gendominanz be-
ergibt die »Falconer-Formel« (Falconer, schreibbar, es liegt mithin Erblichkeit »im
1960) zur Bestimmung der Erblichkeit im weiteren Sinne« vor. Im Extremfall sei die
engeren Sinne (d. h. nur aufgrund des addi- additive genetische Varianz null und die
tiven genetischen Effekts), gesamte genetische Varianz beruhe auf
Dominanzabweichung. Dann schätzt die
h2 ¼ a2 ¼ 2 ðrEZ rZZ Þ; Differenz
c2 ¼ 2 rZZ rEZ sowie (13.8)
rEZ rZZ ¼ 0,75 d2 , (13.9)
2
e ¼ 1 rEZ
deren Verdoppelung in der Falconer-For-
Die Korrelationskoeffizienten rEZ und rZZ mel einen Schätzwert für h2 in Höhe
werden als Intraklassenkorrelation be- von 1,5 d2 ergibt. Folglich wird in die-
stimmt. Die Parameter h2, c2 und e2 summie- sem Fall h2 um ein Drittel überschätzt!
ren sich zu eins auf. Zu beachten ist, dass e2 l Bei selektiver Partnerwahl wird die Ähn-
eine Restvarianz darstellt, die aus den Effek- lichkeit der Geschwister und damit auch
ten nichtgeteilter Umwelt, Erbe-Umwelt- rZZ überhöht ausfallen, und h2 wird
Interaktion (sofern vorhanden) und Mess- unterschätzt.
fehler besteht.
520
13 Genetische Faktoren
l Unterschiede zwischen rEZ und rZZ kön- wird, scheint allerdings eine Vielzahl von
nen nicht nur auf die unterschiedliche Befunden zu sprechen. Danach spielen EZ
genetische Ähnlichkeit von EZ- und ZZ- längere Zeit miteinander, sind nahezu immer
Paaren, sondern auch auf unterschied- gemeinsam in der Schule, werden häufiger
liche Umwelten von EZ und ZZ zurück- ähnlich behandelt und gekleidet, öfters mit-
gehen (Verletzung der Annahme gleicher einander verwechselt usw. (s. Anastasi,
Umwelten). Ein Beispiel sind Kontrastef- 1966, S. 287ff.). Die entscheidende Frage,
fekte zwischen EZ-, nicht aber zwischen ob diese unzweifelhaft größere Ähnlichkeit
DZ-Paaren, die rEZ vermindern und da- der Umwelt auch tatsächlich zu Konsequen-
mit h2 unterschätzen. zen im Verhalten führt, ist freilich erst relativ
spät eingehender bearbeitet worden. Loehlin
Die Verletzung einer oder mehrerer dieser und Nichols (1976) analysierten innerhalb
Voraussetzungen ist u.U. daran zu erkennen, einer Stichprobe von insgesamt 850 Zwillin-
dass rEZ mehr als doppelt so groß wie rZZ ist, gen die eineiigen Paare danach, ob eine
was zu einer – unzulässigen – Erblichkeits- größere Übereinstimmung in der Umwelt
schätzung von größer 1 führt. mit höheren Übereinstimmungen der Intelli-
Setzt man z. B. in die Gleichung 13.8 die genztestleistungen einherginge. Dabei waren
von Erlenmeyer-Kimling (1963) über Unter- aber nur Nullkorrelationen zu beobachten.
suchungen verschiedener Autoren gemittel- Von daher gesehen lassen sich – im Vergleich
ten Werte von r ¼ 0,88 für die Übereinstim- zu EZ-Paaren – die größeren Testwerteunter-
mung der Allgemeinen Intelligenz bei ge- schiede von ZZ-Paaren nicht auf die größe-
meinsam aufgewachsenen EZ und r ¼ 0,53 ren Unterschiede in deren Umwelten zurück-
als entsprechenden Wert für ZZ ein, resul- führen, wie dies regelmäßig geschieht (in
tiert ein h2 von 0,70. Die Erblichkeit, der diesem Sinne auch Loehlin, 1978, S. 72).
Anteil phänotypischer Varianz, der auf gene- Umweltmäßige Determinanten von Ähnlich-
tische Variation zurückgeht, beliefe sich keiten und Unterschieden zwischen EZ und
damit auf 70 %. ZZ weisen demnach allgemein eine geringere
Die Anwendung solcher Prozentzahlen Bedeutung auf, als vielfach angenommen
auf individuelle Werte (etwa in der Art »Bei wird.
60 %iger Erblichkeit sind bei einem IQ von Merz und Stelzl (1977) geben einen Über-
120 Punkten 72 Punkte durch Vererbung, blick über andere, teils nur noch historische
der Rest durch die Umwelt bedingt…«) ist Schätzmethoden für die interessierenden
nicht zulässig. Erblichkeitsschätzungen beru- Maßzahlen für Erb- und Umwelteinflüsse
hen auf interindividuellen Unterschieden, auf den Phänotyp. Eine wesentlich voraus-
mithin auf Daten für eine Gruppe von Merk- setzungsärmere, wenn auch rechnerisch auf-
malsträgern. Die Anwendung oder Übertra- wendigere Methode als die Falconer-Formeln
gung solcher gruppenstatistischer Daten auf zur Schätzung der Einflussgrößen auf die
einen Einzelfall ist prinzipiell nicht möglich. phänotypische Varianz und Kovarianz stellt
Dessen ungeachtet steht eine rechnerisch die Methode der Strukturgleichungsanalyse
hohe Erblichkeit für ein gegebenes Merkmal dar (s. Abschn. 2.1.4; eine kurze Einführung
keinesfalls zwangsläufig einer möglichen in verhaltensgenetische Anwendungen findet
Veränderung desselben durch Training, sich in Plomin et al., 1999). Damit können
Übung oder Behandlung entgegen. Darauf simultan alle Parameter eines theoretischen
wird in Kapitel 14 näher eingegangen. Modells geschätzt werden. Zudem können
Gegen die Annahme einer gleichen Um- verschiedene Modelle hinsichtlich ihrer An-
welt von EZ und ZZ, die auch bei Anwen- passung an die empirischen Daten miteinan-
dung der Falconer-Formel implizit gemacht der verglichen werden. Auf diese Weise wird
521
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
das bestpassende theoretische Modell ermit- halten innerhalb der Paare deshalb nur auf
telt. nichtgenetische Faktoren zurückgeführt wer-
den. Da bei gemeinsam aufgewachsenen
Zwillingen eine besondere Ähnlichkeit der
13.4.3 Designs auf sie einwirkenden Umweltbedingungen
vorliegt, kann eine weitgehende Übereinstim-
Solche Analysen führen je nach Annahmen mung innerhalb der Paare nicht zweifelsfrei
über das Ausmaß an selektiver Platzierung auf entweder die Erb- oder die Umweltein-
und das Vorhandensein von gezielter Part- flüsse zurückgeführt werden. Daher sind vor
nerwahl sowie Dominanzabweichung zu allem jene Fälle aufschlussreich, wo es zu
durchaus verschiedenen Resultaten. Letztlich einer Auflösung der Konfundierung beider
soll post hoc ein Beziehungsgeflecht zerglie- Einflussgrößen kommt. Dies trifft dann zu,
dert werden, das idealerweise in experimen- wenn EZ nach ihrer Geburt voneinander
tellen Anordnungen untersucht werden getrennt wurden und in verschiedenen Fami-
müsste. Natürlich verbieten sich Letztere im lien/Umwelten aufwachsen.
Humanbereich. Dem Hauptmerkmal eines Aus forschungstechnischen Gründen mag
Experimentes, der isolierten Variation von man es bedauern, dass diese Konstellation
Bedingungen, kommen einige natürlich vor- sehr selten vorkommt; noch seltener sind
kommende Konstellationen jedoch nahe und natürlich jene Fälle, die im Zuge psychologi-
ermöglichen dadurch Analysen von hoher scher Untersuchungsprogramme bislang er-
Teststärke. Drei Untersuchungsansätze grei- fasst werden konnten.
fen solche Konstellationen auf: Ein potentielles Problem stellt die Annah-
me von unabhängigen Umwelten bei ge-
l Konstanthaltung des Erbes bei Variation trennt aufgewachsenen EZ dar. So machte
der Umwelt. Dies erfordert die Untersu- Kamin (1974) darauf aufmerksam, dass ein
chung von getrennt aufgewachsenen ein- Großteil der getrennten Zwillinge aus der
eiigen Zwillingen. Studie von Shields (1962) in verwandten
l Kontrastierung von Erb- und Umweltein- Familien aufgewachsen waren. Nichtver-
flüssen. Dies erfordert die Untersuchung wandte Familien waren zudem häufig Freun-
von Adoptivkindern mit einem Vergleich de der Mutter.
von leiblichen Eltern und Adoptiveltern.
l Konstanthaltung der Umwelt bei Varia- Die getrennten EZ-Paare trafen sich vielfach in der
tion des Erbes. Dies legt die Untersuchung Schule und auf dem Spielplatz. Eine gesonderte
von Heimkindern nahe. Berechnung durch Kamin (1974) ergab denn auch,
dass hinsichtlich der Intelligenz die Korrelation
innerhalb der EZ-Paare, die in verwandten Fami-
Das erste Design sowie der in der Falconer- lien aufwuchsen, r ¼ 0,83 betrug, die Korrelation
Formel verwendete Vergleich zwischen EZ der in nichtverwandten Familien lebenden EZ-
und ZZ werden nachfolgend besprochen. Paare jedoch mit r ¼ 0,51 deutlich niedriger lag –
Auf die anderen beiden Ansätze wird in was für einen klaren Umwelteinfluss spräche.
Shields (1978) nahm eine Reanalyse seiner Daten
Abschnitt 14.2.2 gesondert eingegangen.
von 1962 vor, indem er nach objektiven Kriterien
Extremgruppen von Paaren bildete, die entweder
in sehr ähnlichen bzw. sehr unähnlichen Umge-
Getrennt aufgewachsene eineiige bungen aufgezogen worden waren. Im Unter-
Zwillinge schied zu Kamin erhielt er nur eine geringfügige
Differenz zwischen den entsprechenden Korrela-
tionen (r ¼ 0,87 versus 0,84).
Da EZ-Paare ein vollständig identisches Erb- Unter Anwendung einer »Constructive Repli-
gut aufweisen, können Differenzen im Ver- cation«-Technik, bei der bislang nicht verrechnete,
522
13 Genetische Faktoren
in den Publikationen aber mitgeteilte Testwerte nen wurden tatsächlich erst wieder im Zuge
verwendet wurden, kam Bouchard (1983) für die der Untersuchung zusammengeführt (s. Bou-
Studien von Newman et al. (1937) sowie Juel-
Nielsen (1965) auf mittlere Koeffizienten von r ¼
chard et al., 1986). Insofern stellt sich hier
0,67 versus 0,70 für starke bzw. minimale Ähn- das Problem von (partiell) gemeinsamen
lichkeit der Umwelten. An einer schwedischen Umwelten sehr viel weniger.
Stichprobe von N ¼ 34 ZZ-Paaren waren die spät Weithin ungeklärt ist die Rolle von nicht
voneinander getrennten Paare einander im IQ ausschaltbaren Einflüssen der gemeinsamen
sogar unähnlicher als die früh getrennten ZZ-
Paare (Pedersen et al., 1985). Bouchard et al. intrauterinen Entwicklung, die als erste
(1990) erfassten mit einem aufwendigen Instru- Phase von Umwelteinflüssen als angeboren,
mentarium verschiedene Umweltfaktoren (dar- aber eben nicht ererbt, die Erblichkeitskoef-
unter Bildung und sozioökonomischen Status der fizienten erhöhen dürften (Jensen, 1970).
Adoptiveltern, physische und kulturelle Ressour-
cen sowie den retrospektiv von den Probanden
Mehreren Studien zufolge (z. B. Marsh,
eingeschätzten elterlichen Erziehungsstil) und kor- 1980) bestehen in der Tat bedeutsame Kor-
relierten damit die IQ-Werte der Zwillinge. Im relationen zwischen den Geburtsgewichts-
günstigsten Fall betrug der Beitrag der Platzie- und IQ-Differenzen eineiiger Zwillinge, was
rungsunterschiede zur Korrelation innerhalb der eine Wirksamkeit des intrauterinen Milieus
EZ-Paare nur 0,03.
vermuten lässt, wenngleich noch nicht im
Einzelnen erklärt.
Im Lichte dieser Untersuchungen stellt sich
das potentielle Problem einer Verletzung der
Annahme von unabhängigen Umwelten bei Schwächere Designs: Vergleich EZ/ZZ
getrennt aufgewachsenen EZ also als nicht
sehr gravierend dar. Neben den Untersuchungen von getrennt
Der Minnesota-Studie unter Leitung von aufgewachsenen EZ sind weitere Ansätze
David Lykken und Thomas Bouchard verfolgt worden, um die Größe der Effekte
kommt aus mehreren Gründen die größte von Erblichkeit und Umwelt in Erfahrung zu
Bedeutung unter den Untersuchungen an bringen. An erster Stelle stehen hierbei die
getrennt aufgewachsenen Zwillingen zu. Untersuchungen von EZ und ZZ, eine Me-
Zum einen stützt sie sich mittlerweile auf thode, mit der ein erheblicher Teil des Be-
den größten Stichprobenumfang von Perso- fundmaterials zu Persönlichkeitsmerkmalen
nen, nachdem bis zum Ende der 1980er gewonnen wurde.
bereits 48 Zwillingspaare erfasst worden Eine Schwäche von EZ/ZZ-Designs ist die
waren. Zum anderen ist auch die Stichprobe damit einhergehende Beschränkung auf die
der Variablen ohne jedes Beispiel: Die Zwil- Varianz innerhalb der Familien, wohingegen
linge absolvierten, wenn sie in irgendeinem die Varianz zwischen den Familien unbe-
Land der Erde »entdeckt« und in die USA rücksichtigt bleibt. Sodann muss davon aus-
geflogen worden waren, ein ca. einwöchiges gegangen werden, dass die oben angespro-
Untersuchungsprogramm. Im Vergleich zu chene Rollendifferenzierung von Zwillingen,
den wenigen anderen Stichproben der Lite- etwa im Sinne von Kontrasteffekten, erst im
ratur wurden sie zudem sehr viel früher nach Laufe der Jugendzeit einsetzt. Bevor sich eine
der Geburt getrennt (durchschnittlich nach solche Rollendifferenzierung herausbildet,
3,6 Monaten) und sehr viel später wieder können aber Tendenzen zur Homogenisie-
vereinigt (durchschnittlich im Alter von rung innerhalb der Zwillingspaare vermutet
27,9 Jahren; Details s. Bouchard, 1987). werden, die etwa dann entstehen, wenn sich
Vor allem aber hatte ca. die Hälfte aller EZ- der eine Zwilling den anderen zum Vorbild
Paare zeit ihres Lebens keinen Kontakt zu nimmt. Auch wird wohl häufiger eine beson-
ihren Zwillingsgeschwistern. Einige von ih- ders ähnliche Umwelt auf die ZZ-Paarlinge
523
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
einwirken, weil sie – bei gleichem Ge- kinder sowie Geschwister. Die Auswertung
schlecht – aufgrund ihres identischen Alters erfolgt mit multivariaten Methoden zumeist
vielleicht irrtümlich für EZ gehalten werden. aus der Klasse der Strukturgleichungsmo-
Schließlich muss eine größere pränatale delle, die auf die Prüfung theoretisch abge-
Konkurrenz der EZ-Paarlinge gegenüber leiteter Modelle hinauslaufen. Ein grafisches
ZZ-Paarlingen unterstellt werden. ZZ-Em- Beispiel wurde bereits in Abbildung 13.3
bryonen wie auch etwa ein Drittel der EZ- gegeben. Mit diesen Methoden können si-
Embryonen wachsen in einem doppelten multan Parameter für additive und nonaddi-
Chorion (Zottenhaut) auf, etwa zwei Drittel tive genetische Effekte, für geteilte und nicht-
der EZ-Embryonen wächst hingegen in dem- geteilte Umwelten, für selektive Partnerwahl
selben Chorion auf. Dies kann bedeutsame und selektive Platzierung, für mögliche Inter-
Unterschiede in der pränatalen Umwelt zur aktionen und für die Fehlervarianz geschätzt
Folge haben, wie schon die häufigeren Dis- werden (zur Einführung, s. Plomin et al.,
krepanzen bei EZ in Strukturmerkmalen wie 1999). Liegen aus Längsschnitterhebungen
dem Geburtsgewicht zeigen. All diese Fakto- wiederholte Messungen vor, können aus den
ren beeinflussen in einer nicht mehr präzis Korrelationen zwischen den Zeitpunkten
entwirrbaren Weise Verhaltensmerkmale, so damit auch Parameter für Stabilität und
dass alle Erblichkeitsschätzungen nach dem Veränderung ermittelt und deren Erblichkeit
Prinzip der Falconer-Formel recht unsichere bestimmt werden (s. Bleidorn et al., 2009).
Anhaltspunkte liefern. Gerade wegen der Heranziehung verschiede-
ner Verwandtschaftsgrade in einem Modell
vermeidet dieser Ansatz weitgehend die
Strukturgleichungsmodelle Schwächen, die mit dem Einzelvergleich etwa
von EZ mit ZZ verbunden sind. Insgesamt
Die moderne Verhaltensgenetik stützt sich haben die diesbezüglichen Forschungen kein
auf Studien, in denen simultan die Daten von grundsätzlich anderes Bild ergeben als dasje-
Personen ganz unterschiedlichen Verwandt- nige, das sich aus den zuvor geschilderten
schaftsgrades analysiert werden, beispiels- »klassischen« Ansätzen ergeben hat, wohl
weise ein- und zweieiige Zwillinge, Adoptiv- aber differenzierende Einsichten geliefert.
Konzeptuell können die folgenden Varianzkomponenten (V) als Folge genetischer Faktoren
unterschieden werden: Additive V, erzeugt durch additive Effekte der beiden Gene an einem
Genort; V durch gezielte Partnerwahl; V durch Dominanzabweichung, also nonadditiv;
Epistase, nonadditive V, die durch Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Genen
entsteht. Üblicherweise werden auch noch die Erbe-Umwelt-Kovarianz und Erbe-Umwelt-
Interaktion zu den genetischen Komponenten gerechnet, darüber hinaus noch ein
Fehlerterm für »Zufallseffekte«. Die Summe dieser Komponenten wird zur phänotypischen
Varianz in dem jeweiligen Merkmal in Relation gesetzt und gilt als Maß für die Heritabilität
oder Erblichkeit. Die Varianz zulasten von Umgebungsunterschieden teilt sich auf in V
durch gleiche oder geteilte Umgebung einerseits und V durch nichtgeteilte oder verschie-
dene Umwelt andererseits. Je nach Verwandtschaftsgrad (z. B. ein- oder zweieiige
Zwillinge) und Beschaffenheit der Umwelt (z. B. geteilt oder nichtgeteilt) können Erwar-
tungen über die relativen Beiträge der einzelnen Komponenten formuliert und daraus die
Parameter anhand der korrelativen Ähnlichkeiten ermittelt werden. Eine naheliegende
524
13 Genetische Faktoren
Annahme geht beispielsweise dahin, dass zweieiige Zwillinge (ZZ) einander nur halb so
ähnlich sind wie eineiige (EZ). Nach der »Falconer-Formel« errechnet sich eine darauf
aufbauende Schätzung der (engeren) Erblichkeit somit als h2 ¼2 (rEZ rZZ ). Wesentlich
komplexer sind Strukturgleichungsmodelle, in denen auch Annahmen über die nonaddi-
tiven Komponenten berücksichtigt werden. Zur Ermittlung der Korrelationskoeffizienten
werden Daten aus Erhebungen an gemeinsam und getrennt aufgewachsenen EZ herange-
zogen, im Weiteren solche aus dem Vergleich EZ/ZZ, Adoptiv- und Geschwisterkindern
sowie weiterer Personen verschiedenen Verwandtschaftsgrades.
13.5.1 Allgemeine Intelligenz le 13.2 ist ein Großteil der relevanten Studien
zur Allgemeinen Intelligenz zusammenge-
Die Intraklassenkorrelation von getrennt stellt. Insgesamt beruhen die Daten auf 163
aufgewachsenen EZ sollte eine obere Schran- EZ-Paaren.
ke für die Erblichkeit darstellen. In Tabel-
Die Untersuchungen stammen aus vier ver- muss die relative Invarianz der Intraklassen-
schiedenen Ländern (USA, Großbritannien, korrelationen und die geringe durchschnitt-
Dänemark und Schweden); verschieden wa- liche Höhe der Differenzwerte innerhalb der
ren darüber hinaus die altersmäßige und Paare beeindrucken, zumal die Reliabilität
sozioökonomische Zusammensetzung der der Tests nur bei 0,90 liegen dürfte und
Stichproben sowie Mittelwert und Varianz Terman und Merrill (1937) an ihrer Eich-
der Zeitdauer des frühkindlichen Zusam- stichprobe eine mittlere intraindividuelle
menlebens. Selbst die Tests und die Auswer- Differenz von 4,68 IQ-Einheiten bei der
tung waren unterschiedlich. Umso mehr wiederholten Vorgabe der parallelen Formen
525
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
des Stanford-Binet-Tests fanden. Insoweit Tab. 13.3: Anteile für Erblichkeit und Umwelt im
wäre von einer Erblichkeit für den IQ in IQ aus einer Strukturgleichungsana-
lyse der internationalen Datenbasis bis
einem Bereich um 70 % auszugehen. ca. 1980.
Ganz auf dieser Linie liegen auch die
Resultate, die Burt (1966) an weiteren 53 EZ- Parameter Verwandt- Schät-
Paaren ermittelt hatte. Da aber Zweifel an schaftsgrad zung
der sorgfältigen Berechnung der Kennwerte Erblichkeit h2 0,51
bestehen (z. B. waren in mehreren aufeinan- 2
a 0,32
derfolgenden Untersuchungen trotz wach-
sender Stichprobenumfänge die Korrela- d2 0,19
tionskoeffizienten auf die dritte Stelle gleich) Umwelt 0,49
und sogar unklar ist, wie und ob überhaupt 2
c Zwillinge 0,35
Erhebungen stattgefunden hatten, soll das
besagte Material hier außer Acht gelassen Geschwister 0,22
werden (s. Kamin, 1974; Fletcher, 1990; eine
Elternteil – Kind 0,20
gedrängte Darstellung von Anschuldigungen
und Entlastungen findet sich bei Green, Cousins 0,11
1992). e 2
Zwillinge 0,14
Bouchard und McGue (1981) fassten die
Geschwister 0,27
Weltliteratur zum damaligen Zeitpunkt in
Bezug auf die Ähnlichkeit im IQ von EZ, ZZ Elternteil – Kind 0,29
und weiteren Verwandtschaftsverhältnissen Cousins 0,38
zusammen. Aus 34 Studien mit 4672 EZ- 2 2
Paaren wurde die Ähnlichkeit von zusammen a ¼ additiver, d ¼ nonadditiver genetischer
Varianzanteil. c2 ¼ geteilter, e2 ¼ nichtgeteilter
aufgewachsenen EZ mit rEZ ¼ 0,86, aus 41 Umweltanteil an der Varianz. Schätzungen unter
Studien mit 5533 ZZ-Paaren die Ähnlich- Berücksichtigung der gezielten Partnerwahl. Um-
keit von zusammen aufgewachsenen ZZ mit weltanteile c2 und e2 addieren sich pro Verwandt-
rZZ ¼ 0,60 bestimmt. Nach den Falconer- schaftsgrad auf den gesamten Umwelteffekt von
0,49. Nach Chipuer et al. (1990).
Formeln (Gleichung 13.8) ergibt sich damit
eine Erblichkeit des IQ von h2 ¼ 0,52, ein
Effekt der geteilten Umwelt c2 ¼ 0,34 und ein In sehr guter Übereinstimmung mit Bou-
Effekt der nichtgeteilten Umwelt e2 ¼ 0,04, chard und McGue (1981) fand sich eine
unter Annahme einer Reliabilität der IQ- Erblichkeit des IQ in Höhe von 51 %, wobei
Tests in Höhe von 0,90. allerdings ein substantieller Anteil (19 %) auf
Die Daten von Bouchard und McGue nonadditive genetische Effekte der Domi-
(1981) wurden später einer Reanalyse mit nanzabweichung zurückging. Neu war auch
Hilfe von Strukturgleichungsmodellen unter- der – nicht unerwartete – Befund, dass der
worfen (Chipuer et al., 1990). Damit sollte Effekt der geteilten Umwelt auf den IQ mit
der Erblichkeitsanteil einer genaueren Ana- abnehmendem Verwandtschaftsgrad gerin-
lyse seiner Bestandteile additiver und nonad- ger wurde und der Effekt der nichtgeteilten
ditiver genetischer Varianz unterzogen, der Umwelt entsprechend anstieg. Wichtig ist,
Effekt der gezielten Partnerwahl auf die dass diese Analyse selektive Platzierung,
Ergebnisse kontrolliert und die Daten der Erbe-Umwelt-Kovarianzen und Interaktio-
übrigen Verwandtschaftsbeziehungen in nen oder Geschlechts- und Alterseffekte nicht
die Schätzungen mit einbezogen werden. berücksichtigen konnte.
Tabelle 13.3 gibt die wesentlichen Ergebnisse Bemerkenswerterweise ermittelten auch
wieder. Haworth et al. (2009) an ihrer Stichprobe
526
13 Genetische Faktoren
von nicht weniger als 11 000 Zwillingspaa- die Daten von 483 gleichgeschlechtlichen
ren ganz unterschiedlichen Alters für Allge- Zwillingspaaren oder nur diejenigen der
meine Intelligenz eine Erblichkeit von 50 %, 15 % IQ-Besten davon herangezogen wur-
obwohl es sich bei ihren Probanden um die den. Anscheinend hatte die Selektion nach
15 % Besten der Leistungsverteilung handel- dem Phänotyp (also dem IQ) in vergleichba-
te. Ganz ähnlich dazu fanden auch Brant rer Weise zur Einengung der genetischen
et al. (2009), dass die Erblichkeitsschätzun- Varianz und derjenigen der Umweltfaktoren
gen in etwa dieselben waren, wenn entweder geführt (c Kasten 13.1).
Die Darstellung von Erblichkeitsschätzungen hat erkennen lassen, dass die Koeffizienten
und Prozentzahlen zwischen den vorliegenden Studien mehr oder weniger stark variieren.
Diese Variation ist teils unsystematischer Art, beispielsweise als Folge der unterschiedlichen
Reliabilität der eingesetzten Tests oder als Folge von Besonderheiten der herangezogenen
Personen-Stichproben. Sie ist aber teils auch systematischer Art, wie etwa die Zunahme der
Erblichkeit mit ansteigendem Lebensalter beim IQ, bei depressiven Symptomen und bei
sozialen Einstellungen (Bergen et al., 2007). Wie in Abbildung 13.4 dargestellt, können als
systematisch auch die Unterschiede in der Erblichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen in
Abhängigkeit vom Ausmaß wahrgenommener Eltern-Kind-Konflikte sowie elterlichem
Erziehungsverhalten gelten (Krueger et al., 2008).
1,2
0,9 z
Varianz
U
0,6
z
U
zU
z z U
0,3 U
0
–2 –1 0 1 2
Elterliche Wertschätzung
z A C U E
Abb. 13.4: Varianz von »Positive Emotionalität«, die auf A, C und E zurückgeht, in Abhängigkeit
vom Ausmaß der Wertschätzung des Kindes (im Alter von 17 Jahren) durch die Eltern.
A ¼ additiver genetischer Einfluss. C ¼ Einfluss der geteilten Umwelt. E ¼ Einfluss der
nichtgeteilten Umwelt. Nach Krueger et al. (2008).
Als Ursachen für die systematischen Effekte kommen Unterschiede der genetischen
Expression, der Gen-Umwelt-Korrelationen oder der Umweltvarianzen in Betracht – oder
auch ein Gemenge aus all diesen Faktoren. Denn: Das jeweilige Ausmaß von h2 hängt nicht
nur ab von der genetischen Variabilität in einer Stichprobe von Personen, sondern auch von
527
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
der Variabilität der Umgebungsfaktoren, und ebenso ist e2 direkt auch abhängig von der
Varianz der genetischen Faktoren. Ist die Varianz der Umweltfaktoren null, wird die
gesamte phänotypische Varianz durch genetische Unterschiede erklärt und umgekehrt.
Zur Veranschaulichung hat Moore (2006) eine höchst illustrative Analogie gewählt: Am Nordpol, wo
es normalerweise kalt genug ist, dass der Niederschlag als Schnee fällt, ist die Variation von Schneefall
zwischen verschiedenen Tagen (fast) ausschließlich eine Funktion der relativen Feuchtigkeit in der
Atmosphäre. Desgleichen wird in einer stets feuchten Bergregion die Form des Niederschlags (Regen
bzw. Schnee) nur eine Funktion der jeweiligen Höhe sein. Obwohl wir also wissen, dass die
Voraussetzungen für Schneefall sowohl hohe Feuchtigkeit als auch niedrige Temperaturen sind, würde
eine Varianzanalyse des Schneefalls am Nordpol ergeben, dass die Temperatur nichts beiträgt zur
Erklärung des Phänomens, und eine solche des Niederschlags im Bergwald würde keinen Einfluss der
Feuchtigkeit erkennen lassen. Das Ergebnis der jeweiligen Analyse für die Wirksamkeit des einen
Faktors ist somit direkt abhängig von der Variation des anderen.
In Bezug auf Erblichkeitsschätzungen sind die Gegebenheiten insofern misslich, als bislang
nicht hinreichend geklärt ist, welche Umweltfaktoren genau für die Ausbildung von
Intelligenz- oder Persönlichkeitsmerkmalen maßgeblich sind und ob diese Faktoren
zwischen den verschiedenen Untersuchungsansätzen und Testsituationen nur ein wenig
oder aber erheblich variieren.
Die Unterschiedlichkeit der Erblichkeitskoeffizienten macht zudem deutlich, dass
genetische Faktoren nicht etwa monokausal auf die jeweils untersuchte Eigenschaft
einwirken können; eine derartige Kausalität besteht nur in einer unauflöslichen Verbindung
mit ebenfalls kausalen Umweltwirkungen (Johnson, 2007). Auch entfaltet sich die
genetische Kausalität, die seit geraumer Zeit als solche unbestritten ist (nach Turkheimer,
2000, handelt es sich dabei um das »first law of behavior genetics«), auf eine Eigenschaft
nicht in direkter Weise. Vielmehr prädisponieren die Gene nur für eine der individuellen
Entwicklung zugrundeliegende Kette von offenen oder verdeckten behavioralen Entschei-
dungen. Diese Entscheidungen haben Auswirkungen auf Umstände, die ihrerseits auf
spätere Optionen für genetisch beeinflusste behaviorale Entscheidungen wirken usw.
(Johnson et al., 2009). Zudem wird nur aus Variabilitäts- und Korrelationskoeffizienten auf
die Kausalität geschlossen. Auch komplexe Strukturgleichungsmodelle können das Han-
dikap nicht wettmachen, dass im Humanbereich aus ethischen Gründen dem Experiment
als der via regia zum Auffinden von kausalen Wirkungen enge Grenzen gesetzt sind.
Nur der Vollständigkeit halber sei auch an dieser Stelle erneut der Hinweis darauf
gegeben, dass Kausalität im vorliegenden Kontext keineswegs bedeutet, dass die Ausprä-
gung in einer Eigenschaft nicht durch Schulung, Übung oder anderweitige Interventionen
verändert werden könnte.
Was Erbe-Umwelt-Interaktionen angeht, spielte eine größere Rolle bei jenen Kindern,
konnten van Leeuwen et al. (2008) für eine die eine Prädisposition zu niedriger Intelli-
Stichprobe von 112 Familien mit EZ- und genz hatten. Während sich Erbe-Umwelt-
ZZ-Kindern sowie »normalen« Geschwis- Interaktionen auch in anderen Untersuchun-
tern zeigen, dass der mit Hilfe des Raven- gen an Kindern sichern ließen, konnten van
Tests bestimmte IQ zu 67 % durch additive der Sluis et al. (2008) an Erwachsenen für
genetische Effekte zu erklären war. Zusätz- den Wechsler-IQ keine moderierende Wir-
liche 9 % der IQ-Varianz gingen auf Erbe- kung mehrerer Umweltvariablen feststellen.
Umwelt-Interaktion zurück: Die Umwelt Sie vermuteten deshalb, dass jene Gene, die
528
13 Genetische Faktoren
während der Kindheit sensitiv für Umwelt- Erblichkeit der »großen« Persönlichkeitsfak-
effekte sind und damit signifikante Interak- toren von ca. 50 %.
tionseffekte hervorrufen, bei der Entwick- Zu Vergleichszwecken wurden in Tabel-
lung beispielsweise des Gehirns eine Rolle le 13.4 (unten) die Daten zu EZ, rEZ ¼ 0,48,
spielen. und ZZ, rZZ ¼ 0,23, aus der Zusammen-
Vielen Untersuchungen an Zwillingen schau von Nichols (1978) mit aufgenommen.
kann entgegengehalten werden, dass ihre Im Sinne der Falconer-Formel (s. Gleichung
Ergebnisse an hoch selektierten Stichproben 13.8) resultiert aus der doppelten Differenz
gewonnen worden sind, die Ergebnisse also rEZ – rZZ ein Wert für h2 von 0,50, was trotz
keine Repräsentativität für eine Population des anderen Ansatzes und z. T. anderer Ska-
beanspruchen könnten. Diesen Einwand len dem o.a. Wert aus den Untersuchungen
untersuchte eine Studie, in der aufgrund an getrennt aufgewachsenen EZ in bemer-
von Archivmaterial die gesamte Population kenswerter Genauigkeit entspricht. Für die
der Zwillinge unter den 11-jährigen Schülern geteilte Umwelt ergibt sich c2 ¼ –0,02 und für
in Schottland ausgewertet wurde (Benyamin die nichtgeteilte Umwelt e2 ¼ 0,32 (unter
et al., 2005). Schottische Schüler waren über Annahme einer Reliabilität von 0,80).
einen langen Zeitraum derselben Intelligenz- Mit einer Strukturgleichungsanalyse ge-
testung (verbale Verarbeitungskapazität) langte Loehlin (1989) für Extraversion und
unterzogen worden. Die Ergebnisse der ge- Neurotizismus zu einer ähnlichen Feststel-
trennt durchgeführten Auswertungen der lung: Ungefähr die Hälfte der Varianz ist
beiden Jahrgänge stimmten hochgradig über- genetisch erklärbar, die andere Hälfte kann
ein: Additive genetische Effekte kamen für auf Effekte der nichtgeteilten Umgebung und
ca. 70 %, geteilte Umwelt kam für ca. 21 % auf den Messfehler zurückgeführt werden,
und nichtgeteilte Umwelt für ca. 9 % der IQ- fast nichts aber auf die Umgebung, die den
Varianz auf. Zwillingen gemeinsam ist.
Eine Zusammenfassung der Erb- und Die umfangreichste Studie überhaupt
Umwelteinflüsse in der Allgemeinen Intelli- stammt von Floderus-Myrhed et al. (1980)
genz erfolgt erst nach der Diskussion von und stützt sich auf 4999 EZ- und 7813
Adoptionsstudien in Abschnitt 14.2.2. ZZ-Paarlinge, die Kurzformen des EPI
(s. Abschn. 7.4.2) bearbeiteten. Für Neu-
rotizismus und Extraversion waren die Ge-
13.5.2 Persönlichkeit schwister-Korrelationen sehr ähnlich und
betrugen bei EZ 0,50 bzw. 0,51 und bei ZZ
Auch im Persönlichkeitsbereich soll am An- 0,23 bzw. 0,21. Daraus wurde auf eine
fang der Ergebnisdarstellung eine Übersicht Erblichkeit von 54 % bzw. 60 % für Neu-
über Studien zur Ähnlichkeit von gemeinsam rotizismus und Extraversion geschlossen,
und getrennt aufgewachsenen EZ stehen was gut mit den entsprechenden Schätzun-
(c Tab. 13.4). Wie erinnerlich, stellt die Intra- gen von Eaves und Young (1981) in Höhe
klassenkorrelation von getrennt aufgewach- von 47 % und 55 % übereinstimmt (s. auch
senen EZ eine direkte Schätzung der Erblich- Rose et al., 1988).
keit im weiteren Sinne dar. Riemann et al. (1997) untersuchten die
Obwohl die Befunde nicht absolut kon- »Big-Five«-Persönlichkeitsfaktoren nicht nur
sistent und die Koeffizienten insgesamt z. T. in Selbsteinschätzungen, sondern – was eine
wegen der geringeren Reliabilitäten und Va- wichtige Innovation darstellt – auch anhand
liditäten niedriger als bei Intelligenz sind, von Fremdbeurteilungen an einer großen
spricht die mittlere Korrelation von ca. 0,50 Stichprobe von EZ und ZZ. Mit den Fremd-
für getrennt aufgewachsene EZ doch für eine beurteilungen ließ sich das Problem
529
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Tab. 13.4: Ähnlichkeitsbeziehungen für Persönlichkeitsmerkmale bei gemeinsam und getrennt aufge-
wachsenen eineiigen Zwillingen sowie zusammen aufgewachsenen zweieiigen Zwillingen.
ZZ 0,23a
getr. ¼ getrennt aufgewachsen. zus. ¼ zusammen aufgewachsen. *Statistisch signifikant. a Median.
530
13 Genetische Faktoren
untersuchen, ob in den bisherigen Untersu- punkte dafür ausmachen können, dass ein
chungen die ZZ-Ähnlichkeit möglicherweise ähnlicheres Erziehungsverhalten der Eltern
unterschätzt wurde. Grund für eine Unter- die Übereinstimmung innerhalb EZ und ZZ
schätzung könnte sein, dass sich ZZ bei ihren substantiell beeinflusst hätte (mehr dazu in
Antworten auf die Fragen in Persönlichkeits- Abschn. 14.2.1).
tests nicht am Durchschnitt der Gesamtbe- Über epistatische Effekte (s. 13.4.1) be-
völkerung, sondern an ihrem Geschwister richteten Tellegen et al. (1988) für ein Design,
und dessen Verhalten orientieren. Ein solcher in dem erstmals simultan jeweils getrennt und
Kontrasteffekt würde notwendigerweise zu gemeinsam aufgewachsene EZ und ZZ
einer Unterschätzung der Bedeutung der untersucht wurden (N ¼ 402; darunter N ¼
geteilten Umwelt führen. In den Ergebnissen 44 getrennt aufgewachsene EZ). Diese epi-
spielten derartige Kontrasteffekte aber keine statischen Effekte traten jedoch nur in drei der
Rolle. Erneut ergaben sich eine mittlere Erb- insgesamt 14 Skalen eines Persönlichkeitsfra-
lichkeit von ca. 50 % und substantielle An- gebogens auf. Die über alle Skalen gemittelten
teile von nichtgeteilter Umwelt, Erbe-Um- Korrelationen sind in Tabelle 13.5 zusam-
welt-Interaktion und Messfehler von zusam- mengestellt. Epistatische Effekte zeigten sich
men ca. 50 % im Selbstbericht. Die geschätz- hauptsächlich daran, dass innerhalb der ZZ-
te Erblichkeit stieg aber an, wenn anstelle des Paare mehrfach Korrelationen um null auf-
Selbstberichts die Fremdbeurteilungen her- traten. Die Autoren prägten dafür den Begriff
angezogen wurden, und zwar offenbar des- »Emergenesis« und bezeichnen damit »jedes
halb, weil bei den Fremdbeurteilungen eine Merkmal, das aus dem Zusammenwirken
geringere Fehlervarianz vorlag, was die Resi- oder der Konfiguration zweier oder mehrerer
dualvarianz e2 verminderte. (Die Residual- unabhängiger Eigenschaften hervorgeht, die
varianz enthält die Effekte von nichtgeteilter selbst genetisch bestimmt sind« (Lykken &
Umwelt, der Erbe-Umwelt-Interaktion und Bouchard, 1983, S. 98).
des Messfehlers.)
In einer noch weitergehenderen Verfeinerung des Ein geläufiges Beispiel dafür ist etwa die Stimme,
die von den Proportionen der Resonanzräume in
methodischen Ansatzes videographierten Borke-
nau et al. (2001) von jedem ihrer Zwillinge Kopf und Rachen, den Merkmalen der Stimmbän-
Verhaltensstichproben und ließen die Beurteiler der usw. abhängt. EZ haben gewöhnlich sehr
ähnliche Stimmen, während sich Geschwister meist
nur jeweils einen der beiden Zwillinge einschätzen.
Über alle Merkmale hinweg ergaben sich ca. 40 % sehr verschieden anhören. Das liegt daran, dass der
genetische Einflüsse und Anteile in Höhe von 25 % Klang nicht aus der einfachen Summe der für sich
erblichen anatomischen Artikulations- und Reso-
für geteilte sowie von 35 % für nichtgeteilte
Umwelt. nanzmerkmale resultiert, sondern aus deren ein-
zigartiger Kombination; schon das Fehlen einer
Teilkomponente (bei einem »normalen« Geschwis-
Die aus der Ähnlichkeit von EZ ableitbare ter oder Nachkommen wahrscheinlich, nahezu
Erblichkeit einiger Persönlichkeitsmerkmale ausgeschlossen jedoch bei einem EZ-Paarling)
bedeutet keineswegs, dass einige Gene direkt kann das Ergebnis vollständig verändern. »Offen-
für die Ausprägung von etwa Soziabilität bar arbeiten in der Genfabrik nicht alle Fließbän-
der nach dem additiven Prinzip, bei dem jeder
oder dergleichen verantwortlich sind. Zu
Arbeiter dasselbe tut. (Es) werden nicht einfach
denken ist an eine mittelbare Wirkung der gleichartige Elemente zusammengefügt, es müssen
Gene über Variablen wie Körperbau oder vielmehr zahlreiche verschiedene Bestandteile in
Attraktivität des Äußeren, die ihrerseits erb- einer genau vorgegebenen Reihenfolge arrangiert
lich sind und auf Seiten der Umwelt kon- werden…Fehlt an einem solchen Fließband einer
der Arbeiter, dann wird nicht das typische Produkt
sistente Reaktionen hervorrufen. Anderer- (z. B. Auge oder Molekül) erzeugt, nur etwas
seits haben Loehlin und Nichols (1976) auch kleiner als normal, sondern etwas qualitativ völlig
im Persönlichkeitsbereich keine Anhalts- Anderes« (Lykken & Bouchard, 1983, S. 96).
531
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Tab. 13.5: Mittlere Intraklassenkorrelationen r und Schätzungen für Erblichkeit und Umwelteinflüsse
für die 14 Skalen des »Multidimensional Personality Questionnaire«.
Gleich ob mit oder ohne Epistase: Auch bei male Anpassung daran verändern (Miller,
Tellegen et al. (1988) resultierte relativ inva- 1997).
riant für die einzelnen Persönlichkeitsskalen Ähnliche Überlegungen stellte Allen
eine Erblichkeit von etwa 50 %. Ihre Analy- (1970) zum Wechselspiel zwischen Erblich-
sen ergaben ferner einen Einfluss der geteilten keit und Selektion im Laufe der Evolution an.
Umwelt von durchschnittlich 7 %, dem- Warum liegt die Erblichkeit der Persönlichkeit
gegenüber aber einen Effekt der nichtgeteil- mit ca. 50 % in einem mittleren Bereich? Die
ten Umwelt, Erbe-Umwelt-Interaktion und genetische Komponente der Variation in
Messfehler von zusammen 45 %. Eigenschaften nehme so lange zu, bis der
Obwohl das Wissen über genetische Netz- Prozess der natürlichen Auslese diesen Anteil
werke und biologisch wirksame Entwick- vor dem Hintergrund umweltbedingter Va-
lungsstränge das Auftreten von Epistase auf riation »sehe« und daran ansetzen könne.
der Ebene der Gene wahrscheinlich macht, WennUmweltunterschiedeabnähmen,diefür
sind paradoxerweise die empirischen Belege Eigenschaften relevant sind, komme es vorü-
dafür doch überwiegend schwach. In einer bergehend zu einer Erhöhung der Erblichkeit,
Meta-Analyse (Hill et al., 2008) von zahlrei- was zugleich der Selektion einen effizienteren
chen Studien mit größeren Fallzahlen von EZ Eingriff in die genetische Variation der Eigen-
und ZZ sowie unter Einschluss von bis zu 86 schaft verschaffe und dadurch diese (ein-
verschiedenen Eigenschaften ermittelten die schließlich der Erblichkeit) wieder reduziere.
Autoren einen mittleren Wert von nur 0,003 Dadurch werde eine Art Gleichgewicht zwi-
für die Differenz rEZ – 2rZZ. Dies bedeutet, schen Erblichkeit und Selektion gewährleis-
dass die genetischen Effekte ganz überwie- tet. Darüber hinaus lassen diese spekulativen
gend additiv sind. Überlegungen vermuten, dass sich die Bedeu-
Der oben angesprochene geringe Einfluss tung verschiedener Eigenschaften für die re-
der geteilten Familienumwelt auf die Per- produktive Fitness (d. h. das Anreichern der
sönlichkeit trägt zur Unähnlichkeit von eigenen Gene in zukünftigen Generationen)
Geschwistern bei und ermöglicht eine Di- grundsätzlich im Ausmaß der Gesamtvaria-
versifizierung der Phänotypen, die von den tion widerspiegelt und nicht so sehr im jewei-
elterlichen Genotypen ausgehen. Diese Di- ligen Mischungsverhältnis von Erb- und Um-
versifizierung durch zufällige, nichtgeteilte weltanteilen. Eine Eigenschaft mit essentieller
Umwelteinflüsse verschafft einen Selek- Wichtigkeit für die Fortpflanzung wird nur
tionsvorteil in der Evolution, wenn sich geringe Variation zwischen Individuen zei-
die natürliche und kulturelle Umwelt und gen, eine unbedeutende hingegen viel, ob-
damit die Voraussetzungen für eine opti- gleich die Erblichkeiten in etwa gleich sein
532
13 Genetische Faktoren
mögen – »ein Grund vielleicht dafür, weshalb behavioral genetics«). Abbildung 13.5 veran-
sexuelles Begehren und Kinderliebe so weit schaulicht diese Zusammenfassung für den
verbreitet sind, während Vorliebe für Statistik Persönlichkeitsbereich.
stark nur bei wenigen von uns ausgeprägt ist«
(Nichols, 1978, S. 169).
Zusammenfassend kann im Bereich der r
hle
Fe
selbstberichtetenPersönlichkeitvoneinermit-
telhohen Erblichkeit im Bereich von 50 % 15 %
ausgegangen werden, wobei nonadditive
genetische Effekte einen geringeren Anteil zu
habenscheinenalsadditive Effekte.DerEffekt
der geteilten Umwelt ist niedrig zu veranschla-
n i c h t g et e i l
50 %
gen(ca.5 %)undfolgtdamitdem»secondlaw
of behavioral genetics« von Turkheimer 30 %
Erbe
(2000). Gemeint ist damit, dass der Umstand,
te U
gemeinsam in ein- und derselben Familie
mw
aufgezogen zu werden, eine geringere Aus-
el t
5%
wirkung auf die individuellen Unterschiede
hat als die genetische Ausstattung. Der Effekt
g e t e il
der geteilten Umwelt wird höher nur dann, te
wenn bestimmte Verhaltensbereiche durch
Abb. 13.5: Zusammenfassung der verhaltensge-
oder unter Beteiligung von Fremdbeobach-
netischen Ergebnisse zur Varianzauf-
tungen eingeschätzt werden. Der Einfluss der teilung interindividueller Unterschie-
nichtgeteilten Umwelt ist hingegen mit ca. de in der selbstberichteten Persön-
30 % der Varianz substantiell (»third law of lichkeit.
Im Mittel der dazu vorliegenden Studien beträgt in Allgemeiner Intelligenz (IQ) die
Ähnlichkeit zwischen getrennt aufgewachsenen EZ-Paaren (N ¼ 163 Fälle) r ¼ 0,74.
Zusammen aufgewachsene EZ (N ¼ 4 672 Paare) sind einander zu r ¼ 0,86 ähnlich,
zusammen aufgewachsene ZZ (N ¼ 5 533 Paare) zu r ¼ 0,60. Nach der Falconer-Formel
ergibt das eine Schätzung der Heritabilität von 52 %; 34% entfallen auf geteilte und 4 %
auf nichtgeteilte Umwelt. Die Schätzungen schwanken etwas in Abhängigkeit vom
herangezogenen Test sowie der Alters- und Leistungsgruppe der Personen. Für selbstbe-
richtete Persönlichkeitsmerkmale scheinen trotz der niedrigeren Reliabilität der Tests
ähnliche Gegebenheiten zu bestehen: Im Mittel sehr vieler verschiedener Studien, Personen
und Tests ergibt sich eine Erblichkeit von ca. 50 %. Anders als beim IQ fallen die Effekte
zulasten geteilter und nichtgeteilter Umwelten aus, nämlich zu 5 % bzw. 30 % (15 %
Fehler). Auf Grund der häufig nicht geprüften, mitunter auch gar nicht prüfbaren
Annahmen, die den Schätzungen der Parameter zugrunde liegen, handelt es sich bei den
angegebenen Werten weiterhin um grobe Orientierungen. Dass aber intellektuelle und
affektiv-emotionale Merkmale im Grundsatz erblich sind, steht außer Zweifel.
533
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Angesichts des beschränkten Platzes konnten typische Varianz von Intelligenz- und mehr
die meisten Themen nur angesprochen, kaum noch Persönlichkeitstests durch Erbfaktoren
aber ausreichend vertieft werden. Auf weite- determiniert ist, wird weiter Gegenstand
re Ansätze wie Inzuchtstudien, Stammbaum- entschiedener Kontroversen sein. Angesichts
und Familienuntersuchungen wurde deshalb der zahlreichen Probleme, die aus selektiver
nicht eingegangen, weil sie gegenüber den Platzierung, der Varianz von Umwelt- und
erwähnten methodischen Zugängen noch Individualmerkmalen, der Vergleichbarkeit
größere Interpretationsprobleme aufwerfen. von Experimental- und Kontrollgruppen,
Des Weiteren musste auf die Darstellung den erheblichen Diskrepanzen zwischen den
gezielter Züchtungen im Tierexperiment ver- einzelnen Untersuchungen hinsichtlich der
zichtet werden wegen der größeren Distanz zugrundeliegenden Modelle und Annahmen
zur vorliegenden Thematik. Auch auf das usw. resultieren, wäre es voreilig, vermeint-
sich neu entwickelnde Feld der molekularen lich genaue Zahlenangaben (wie die in Ab-
Verhaltensgenetik, in der Genorte identifi- bildung 13.5 berichteten) als unumstößliches
ziert werden, die an polygenetischen Erbgän- Faktum zu verstehen. Diese Zahlenangaben
gen beteiligt sind, kann hier nur verwiesen sind vielmehr grobe Schätzungen aufgrund
werden (Plomin, 2002; Vink & Boomsma, der heute vorhandenen Datenlage.
2002). Wichtig ist, dass Erblichkeitsschätzungen
Die Untersuchung getrennt aufgewachse- nach den geschilderten Prinzipien nichts über
ner Zwillinge ebenso wie die Adoptionsstu- die Wirkung möglicher Fördermaßnahmen
dien und auch die »einfache« Zwillingsme- aussagen, weshalb es zukünftig mehr darauf
thode (s. Abschn. 13.4.3) belegen das Fak- ankommt, die Auswirkung einer geänderten
tum der Erblichkeit menschlicher Merkmale Umwelt bei gegebener genetischer Ausstat-
als solches. »Ein umsichtiger Mensch hat gar tung einer bestimmten Person zu ermitteln
keine andere Möglichkeit, als die Hypothese und daraus Konsequenzen für die Praxis
einer gänzlich fehlenden Erblichkeit kogniti- oder Bildungspolitik abzuleiten. In diesem
ver Fähigkeiten zurückzuweisen« (DeFries & Sinne ist die weitere Aufklärung von Erbe-
Plomin, 1978, S. 501). Intelligenz scheint Umwelt-Interaktionen und Kovarianzen vor
dabei – jedenfalls im Erwachsenenalter – in allem in der kognitiven und sozialen Ent-
stärkerem Maße durch genetische Faktoren wicklung in Kindheit und Jugend jüngst zu
erklärbar zu sein als Persönlichkeitsmerk- einem wichtigen Forschungsthema gewor-
male. In welchem Ausmaß genau die phäno- den.
Eine vertiefte Behandlung des Themengebietes der Erblichkeit, insbesondere der moleku-
laren Verhaltensgenetik, konnte an dieser Stelle nicht erfolgen. Die vorhandenen Zahlen-
angaben über die Erblichkeit von Intelligenz- und Persönlichkeitsmerkmalen sind ange-
sichts diverser methodischer Einschränkungen bis auf Weiteres als grobe Schätzungen zu
verstehen. Die weitere Aufklärung von Erbe-Umwelt-Interaktionen und -Kovarianzen vor
allem in der kognitiven und sozialen Entwicklung in Kindheit und Jugend stellt ein
gesellschaftlich relevantes zukünftiges Thema der Persönlichkeitspsychologie dar.
534
14 Umweltfaktoren
Weil »Umwelt« aus sehr vielen verschiedenen Komponenten besteht, die ganz unterschied-
liche Einflüsse auf den Organismus aufweisen mögen, hat es frühzeitig Bemühungen
gegeben, diese Faktoren zu bestimmen (14.1). Die meisten Studien begnügen sich allerdings
notwendigerweise mit allgemeinen Milieu- und Anregungsfaktoren (14.2) wie z. B.
gemeinsamer oder getrennter Umwelt, Verweildauer darin, Kontaktdichte zwischen
Geschwistern und sozioökonomischem Status. Daneben wurden spezifische Faktoren
untersucht (14.3) wie Ernährung, Krankheiten, Stellung in der Geschwisterreihe und das
Erziehungsverhalten der Eltern, der Effekt von Übung und Training sowie die physische
Attraktivität der Personen.
Unter Umweltfaktoren werden in diesem Kapitel alle nichtgenetischen Einflüsse aus dem
Lebensraum von Menschen verstanden, etwa Milieu- und Anregungsbedingungen, Sozial-
status, Ernährung, Krankheiten, Stellung in der Geschwisterreihe, Erziehungsverhalten der
Eltern, Übung und Training oder physische Attraktivität.
Auch wenn das vorangegangene Kapitel sich in erster Linie mit den Auswirkungen
genetischer Faktoren auf die Entwicklung von Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmalen
befasste, war es doch an mehreren Stellen unumgänglich, bereits einige Worte auf den
Einfluss von Umweltbedingungen zu verwenden. Wie schon einleitend festgestellt wurde,
können die beiden Bereiche nicht losgelöst voneinander gesehen werden, da sie sich bei der
Entwicklung von Lebewesen gegenseitig bedingen. Von daher ist jede strikte Dichotomie
»Natur (Erbe) versus Kultur (Umwelt)« letztlich unangemessen und nur vorübergehend aus
begrifflichen und didaktischen Gründen gerechtfertigt. Es wird deutlich werden, dass das
Motto vielmehr »Natur (Erbe) via Kultur (Umwelt)« lauten muss.
Schon Peters (1925, S. 338) riet davon ab, unterschieden werden. Gewöhnlich wurden
»die Umwelt wie einen großen, groben, deshalb beispielsweise für den Sozialstatus
ungeformten Block zu behandeln, der als einzelne Indikatoren herausgearbeitet wie
Ganzes gut oder schlecht, günstig oder un- Einkommen und Beruf des Vaters und diese
günstig wirkt«. Vielmehr müssen differen- sowohl einzeln als auch zu einem Globalwert
zierte Faktoren und spezifische Funktionen kombiniert in die Analysen eingebracht.
535
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
536
14 Umweltfaktoren
lung. Bei Kindern zwischen drei und fünf in gewissem Ausmaß genetisch determiniert
Jahren liegen die Korrelationen von HOME ist, erschwert allerdings die Analyse von Erb-
mit den intellektuellen und schulischen Leis- und Umweltfaktoren bei der Ausbildung von
tungen zwischen 0,30 und 0,60 (s. die Zu- Intelligenz- und Persönlichkeitsunterschie-
sammenfassung von Bradley & Corwyn, den (Lamb, 1994; Plomin, 1995). Hinzu
2007). kommt, dass sehr globale oder erst im
Von besonderem Wert sind die Untersu- Nachhinein bearbeitete Fragebogen von
chungen dann, wenn es gelingt, Umweltdif- nur geringem Wert für einen Umwelttheore-
ferenzen mit interindividuellen Unterschie- tiker sind, der daran interessiert sein muss,
den im Verhalten und Erleben in verschiede- was aus den vorliegenden Reizen und auf
nen Situationen in Beziehung zu setzen. welche Weise im Zusammenspiel mit Anla-
gefaktoren für die Entwicklung der Persön-
So gelang es etwa Kahl et al. (1977), die Schul- lichkeit wirksam ist. Die schwächste Kon-
leistung in der 6. Klasse über die üblichen Leis-
tungsvariablen hinaus durch Schülereinschätzun-
zeptualisierung der Umwelt als nur gleich
gen von Lernsituationen aufzuklären. Die Lern- oder verschieden findet sich in verhaltensge-
situationen gliederten sich in Faktoren wie »Ko- netischen Studien, etwa im Falle von Adop-
häsion« (z. B. »Die Schüler vertragen sich sehr gut tivkindern, Bewohnern von Heimen oder
miteinander«), »Identifikation mit der Unter- getrennt aufgewachsenen EZ, ohne dass
richtsarbeit« (z. B. »Die Arbeit in der Klasse gefällt
den Schülern gut«) und »Leistungsanforderungen überhaupt eine direkte oder indirekte Mes-
im Unterricht« (z. B. »Von den Schülern wird sung von Umweltvariablen vorgenommen
ständig viel verlangt«). Eder (1998) hat einen worden wäre! Ein derartiger Ansatz beinhal-
Fragebogen zum Schul- und Klassenklima vorge- tet die Gefahr einer drastischen Überschät-
stellt und ihn an Kriterien wie Schulnoten und
Schulschwänzen validiert. Die dabei ermittelten
zung der genetisch bedingten zuungunsten
Korrelationen lagen nur selten über 0,40. umweltbedingter Varianz (nach Wachs,
1983).
Schon früher hat Wolf (1966) den Komplex Die nachfolgend zu besprechenden Unter-
des sozioökonomischen Status aufdifferen- suchungen bleiben oft auf dieser schwächs-
ziert und herausgefunden, dass der Anre- ten Konzeptualisierung von Umwelt stehen.
gungsgehalt zur Entwicklung von Leistungs- Insbesondere für die präzise und hypothe-
motivation, die Art und Intensität erfahrener sengeleitete Untersuchung von Wechselwir-
Hilfen bei der Überwindung von schulischen kungen zwischen Eigenschaften/Genotypen
Schwierigkeiten, Arbeitsgewohnheiten, die und Umweltmerkmalen (deren Ergebnisse
Aktivitäten und das intellektuelle Niveau häufig kaum zu replizieren sind) bedarf es
der Personen in der individuellen Umgebung einer darauf ausgerichteten Konzeption,
gute Prädiktoren für akademische Leistun- brauchbarer Messinstrumente zur Erfassung
gen waren. Hingegen korrelierten Anregun- von Umweltmerkmalen und überhaupt einer
gen zur geistigen Entwicklung, besonders »Psychologie der Situationen« (Funder,
Schulung der verbalen Fertigkeiten und Ver- 2007, S. 601). Die Differentielle Psychologie
mittlung allgemeiner Lernerfahrung höher hat sich in der Vergangenheit ganz überwie-
mit dem IQ als mit der akademischen Leis- gend mit interindividuell stabilen Unterschie-
tung. Craik (1976) berichtete analog dazu den und deren präziser Erfassung beschäftigt.
über Zusammenhänge zwischen Persönlich- Sie hat aber die Klassifizierung der entwi-
keitsvariablen und physikalischer Umgebung cklungs- und handlungsrelevanten Umwelt-
(zu einer umfassenden Übersicht s. Schwenk- variablen vernachlässigt. Dies spricht für
mezger et al., 2000). einen Bias gegen umwelttheoretische Erklä-
Die Beobachtung, dass die individuelle rungen, dem nur durch Konstruktionsbemü-
Wahrnehmung von Umweltfaktoren selbst hungen für die Erfassung von Umwelt und
537
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
den gezielten Einsatz solcher Instrumente zu Abhängigkeit von Situationen mit unter-
begegnen ist. schiedlicher Gelegenheit oder Notwendigkeit
für extravertiertes Verhalten, etwa Gesellig-
keit, Aktivität oder soziale Dominanz. Inso-
Umweltdimensionen in fern sei ein Umweltfaktor auszumachen, zu
Persönlichkeitsbegriffen dem ein Pendant im Individualbereich beste-
he. So bestechend der zugrundeliegende Ge-
Buss (1977) hat einen anderen Zugang ge- danke auch ist, darf nicht übersehen werden,
wählt und für die Umwelt ein hierarchisches dass eine Ausarbeitung der Konzeption im
Modell der Dimensionierung vorgestellt, das Detail noch aussteht.
isomorph zu solchen der Persönlichkeit sein Von Bem und Funder (1978) stammt ein
soll. Umwelt- und Persönlichkeitsunterschie- Ansatz, der unter Verwendung der Q-Sort-
de werden in denselben Begriffen beschrie- Methode die Merkmale sowohl der Umwelt
ben und wechselseitig aufeinander bezogen. als auch der darin agierenden Personen in
Das »Bindeglied« sollen differentielle Pro- einem gemeinsamen Beschreibungssystem
zessvariablen des Lernens sein. Insoweit als abbildet. In einem Q-Sort werden auf Kärt-
solche prozessualen Lernvariablen in unter- chen geschriebene Aussagen nach einem
schiedlichen Umweltsituationen eine wech- festgelegten Attribut in Stapel sortiert, wobei
selnde Bedeutung haben, produzieren sie die Stapel eine vorgegebene Anzahl (meist
interindividuelle Differenzen, und zwar je orientiert an einer Normalverteilung) Karten
nach Betrachtungsweise Differenzen inner- aufnehmen.
halb und zwischen den Kulturen. So wurde in einem Experiment zum
Um ein Beispiel dafür aus dem Leistungs- Belohnungsaufschub registriert, wie lange
bereich zu geben: Von den Inuit (die frühere Kinder auf das attraktivere von zwei vor
Bezeichnung dafür war »Eskimos«) ist be- ihnen liegenden Geschenken warten konn-
kannt, dass sie im Durchschnitt hohe Werte ten oder stattdessen das unattraktivere Ge-
in Raumvorstellungs- und Wahrnehmungs- schenk sofort haben wollten. Mit der Ver-
aufgaben erzielen. Die natürliche Umwelt der zögerungszeit wurde jedes einzelne von 100
Inuit erfordert u.a. Fähigkeiten, die den Items eines Q-Sorts korreliert, den die
Erfolg beim Jagen sicherstellen, und dazu Eltern durchgeführt hatten. Attribut des
gehören zweifellos die Faktoren der Wahr- Q-Sorts war der Grad des Zutreffens der
nehmung. Entsprechend werden diese Berei- Aussagen auf ihr Kind. Aussagen waren
che mehr geübt als in Kulturen, die auf z. B. »Legt hohe Leistungsstandards an sich
Ackerbau oder Viehzucht beruhen. Ein inter- an« oder »Scheint ein hohes Denkvermö-
kultureller Vergleich im Hinblick auf Lern- gen zu besitzen«. Diese Aussagen korrelier-
situationen für Raumwahrnehmung könnte ten mit der Verzögerungszeit, wie lange die
somit die Umweltvariablen für räumliche Kinder also auf das attraktive Geschenk
Beziehungen identifizieren und gleichzeitig warten konnten, zu r ¼ 0,48 bzw. 0,62.
den Unterschieden Rechnung tragen, die in Auf diese Weise bilden die zunächst nur für
eben dieser Variable auf Seiten der Personen, die Beschreibung von Personen gedachten
also in der Eigenschaft »Raumwahrneh- Items auch eine Grundlage zur Kennzeich-
mung«, bestehen. nung einer Situation. Besonders relevant
Für den Persönlichkeitsbereich erwähnte sind die Aussagen mit hohen Korrelations-
Buss (1977, S. 200) u.a. Extraversion. Unge- koeffizienten und individuell hoher Ausprä-
achtet der möglichen genetischen Veranke- gung. Vergleicht man korrelativ den indivi-
rung seien auch hier bedeutsame Lernpro- duellen Q-Sort mit dem nach korrelativer
zesse aufzeigbar, die aktiviert werden in Ähnlichkeit mit dem Kriteriumsverhalten
538
14 Umweltfaktoren
Umwelt wirkt nicht als Ganzes, sondern in vielen einzelnen Faktoren. Moos fasste diese zu
sechs Typen zusammen: ökologische Dimensionen, Hintergrund des Verhaltens, organi-
satorische Strukturen, Charakteristika der Bewohner, psychosoziale und organisatorische
Klimavariablen sowie Bekräftigungsfunktionen der Umwelt. Solche Typen sind ein Beispiel
für soziale und behaviorale und dabei weniger für physikalische Aspekte typischer
Umweltsituationen. Für die Erfassung von Umwelteinflüssen (Stimulation und Unterstüt-
zung von Kindern) innerhalb der häuslichen Umgebung wurde ein Fragebogen (HOME)
entwickelt, der sich an sechs Aufgabenbereichen elterlichen Erziehungsverhaltens orien-
tiert. Die Wirkung von Umwelteinflüssen ist in der einzelnen Person allerdings abhängig
von der Wahrnehmung und Interpretation der jeweiligen Umwelt. Solche individuellen
Wahrnehmungen können auch erblich bedingt sein. Insofern verschwimmt die früher als
klar geltende Grenze zwischen Erb- und Umwelteinflüssen auf die Person. Es bleibt eine
Aufgabe für die zukünftige Forschung, die »Psychologie der Situationen« als Merkmals-
bereich der »Psychologie der Person« zur Seite zu stellen. Ein weit gehender Vorschlag
hierzu wurde von Buss unterbreitet, nach dem Umwelt- und Persönlichkeitsunterschiede in
denselben Begriffen erfolgen und damit in wechselseitiger Abhängigkeit aufeinander
bezogen sein sollten.
539
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
540
14 Umweltfaktoren
Intraklassenkorrelation
fänge stützen, die in ihrer Gesamtheit ca.
14 000 Personen umfassen. Zum anderen
0,4
basiert die Untersuchung auf einem längs-
schnittlichen Ansatz, was sie von vielen
anderen Studien abhebt. 0,2
Eine Teilstichprobe von 540 EZ, die zum
Zeitpunkt der Erstuntersuchung zwischen 19
und 25 Jahre alt waren und zusammenleb- 0
Ausgangswerte Nachuntersuchung
ten, wurde 6 Jahre später erneut mit den
Skalen Extraversion und Neurotizismus des leben im Augenblick zusammen
»Eysenck Personality Inventory« getestet. häufiger Kontakt
Desgleichen wurde der Alkoholkonsum
seltener Kontakt
registriert. Zur Zeit der Nachuntersuchung
lebten ungefähr 24 % der Paare noch zusam- Abb. 14.2: Intraklassenkorrelationen (plus/minus
men. 64 % hatten täglichen oder wöchentli- Standardfehler) für Neurotizismus bei
chen Kontakt, und 12 % sahen einander nur EZ-Paaren, die während einer Erhe-
bung der Baseline-Daten zusammen-
einmal im Monat oder noch seltener. Die
lebten und sechs Jahre später nach der
Intraklassenkorrelationen für Neurotizismus Häufigkeit ihres wechselseitigen Kon-
sind in Abbildung 14.2 grafisch veranschau- taktes kategorisiert wurden (häufig ¼
licht. Für Alkoholkonsum fielen die Resultate täglicher oder wöchentlicher Kontakt,
genauso aus. selten ¼ Kontakt nicht häufiger als
Wie ersichtlich, geht mit zurückgehendem einmal pro Monat). Nach Kaprio et al.
(1990, S. 271).
Kontakt in der Nachuntersuchung eine ab-
nehmende Ähnlichkeit der Zwillinge einher –
anscheinend ein glänzender Beleg für die gemeinsamen Umwelterfahrungen reichen,
These, wonach häufigere Kontakte zu grö- wie z. B. einer gescheiterten Liebesbeziehung,
ßeren Ähnlichkeiten führen. Auf den zweiten dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer
Blick muss allerdings eingeräumt werden, Krankheit.
dass die Antithese (»Abnehmende Ähnlich- Lykken et al. (1990) haben solche Über-
keit hat eine geringere Kontaktdichte zur legungen zudem empirisch untermauert, und
Folge«) nicht minder plausibel ist und durch zwar in mehrfacher Weise: In dem Datenma-
die obigen Resultate nicht ausgeschlossen terial der Minnesota-Studie finde sich nur
wird. So könnte es sein, dass nach dem eine minimale Korrelation zwischen Kon-
Auszug aus dem Elternhaus einer der heran- taktdichte und Ähnlichkeit, die in keiner
wachsenden Zwillinge begonnen hat, dem Variable mehr als 1 % der gemeinsamen
Alkohol zuzusprechen, und sich als Konse- Varianz erkläre. Darüber hinaus verlange die
quenz dieses Verhaltens der andere Zwilling strenge Formulierung der Hypothese, wo-
befremdet gefühlt und den Kontakt zum nach intensiver Kontakt zu größerer Ähn-
Geschwister abgebrochen hat. Weil es sich lichkeit führe, dass bei älteren Zwillingen, die
um EZ handelt, müssen die Ursachen für die entweder längere Zeit in häufigem Kontakt
Diskrepanzen der Zwillinge im Trinkverhal- oder – bei getrenntem Aufwachsen – allein
ten und der über die N-Skala erfassten verbracht hätten, eine höhere Korrelation
emotionalen Labilität sozialisationsbedingt zwischen Ähnlichkeit und Kontaktdichte
sein, wobei die potentiellen Ursachen dafür auftreten müsse als bei jüngeren. Genau das
von perinatalen Schädigungen bis zu nicht Gegenteil trete aber gewöhnlich auf. Schließ-
541
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
lich müssten auch die Intra-Paar-Korrelatio- sich speziell die EZ der wechselseitigen
nen bei Eheleuten mit wachsender Dauer der Gegenwart deshalb erfreuen, weil sie einan-
Beziehung ansteigen, was empirisch jedoch der so ähnlich sind in Einstellungen, Interes-
ebenfalls nicht der Fall sei. Lykken et al. sen und Persönlichkeit (c Kasten 14.1 und
(1990) vertreten denn die Auffassung, dass 14.2)
Umweltfaktoren scheinen selbst unter dem Einfluss genetischer Faktoren zu stehen. In der
Studie von Rowe (1981) schätzten beispielsweise die EZ-Zwillinge die elterliche »Akzep-
tanz vs. Zurückweisung« mit r ¼ 0,74 sehr viel übereinstimmender ein als die ZZ-Paare mit
r ¼ 0,21. Gleichsinnige Resultate werden für die Wahrnehmung von kritischen Lebens-
ereignissen und sozialer Unterstützung aus der schwedischen Adoptions- und Zwillings-
studie zum Altern berichtet (Pedersen et al., 1991). Hingegen sprechen die Befunde nur für
einen sehr geringen Einfluss genetischer Faktoren bei der Einschätzung des elterlichen
Erziehungsstils. Da der IQ und die Persönlichkeit der Eltern nicht als Ursachen für die
Wirksamkeit genetischer Faktoren auf die Punktwerte in derartigen Umweltskalen in
Betracht kommen (s. Bergeman et al., 1988), müssen die Ergebnisse weiterer Forschungen
abgewartet werden.
Ob der Umstand des Zusammenlebens von Zwillingen vor der Geburt in einem
gemeinsamen Uterus eher im Sinne einer Erhöhung der Ähnlichkeit wirkt und damit einen
Bias zugunsten des Erblichkeitskoeffizienten hervorruft oder eher eine Differenzierung zur
Folge hat, ist noch ungeklärt. Einerseits beeinflusst Gestagen als ein Bestandteil des
mütterlichen Hormonspiegels (der ja beide Zwillinge in gleicher Weise berührt) die spätere
körperliche Entwicklung und auch die Intelligenz. Andererseits ist verschiedentlich
beobachtet worden, dass EZ-Paare häufiger Unterschiede in der Händigkeit zeigen
(zwischen 11,5 und 31,6 % der Fälle, s. von Bracken, 1969, S. 440/441) oder der eine
Partner einen körperlichen Defekt wie Beeinträchtigung der Seh- oder Hörleistung,
Sauerstoffmangelversorgung u.Ä. aufweist, was möglicherweise durch die Konkurrenz im
Uterus begünstigt wird. Beim Fehlen ausreichenden Materials und einer hinreichenden
Abschätzung der Bedeutung solcher Faktoren für die Ausbildung von Intelligenz- und
Persönlichkeitsmerkmalen begeht man vermutlich den geringsten Fehler, bis auf weiteres
von einem ungefähren Ausgleich und einer gegenseitigen Neutralisierung der im Sinne von
Uniformierung einerseits, Differenzierung andererseits wirkenden pränatalen Faktoren
auszugehen.
Ungelöst ist auch die Frage, inwieweit die regelhaft gefundene Minderleistung von
durchschnittlich ca. 4 IQ-Punkten eineiiger Zwillinge gegenüber parallelisierten »Normal-
kindern« (s. etwa Husén, 1960) durch pränatale oder erst nach der Geburt wirkende
Faktoren bedingt ist, da zum einen gewöhnlich die EZ nach der Geburt auch gemeinsam
aufwachsen und deshalb eine Trennung der konfundierten Faktoren nicht möglich ist, zum
542
14 Umweltfaktoren
anderen die geringe Zahl der getrennt aufgewachsenen EZ keine schlüssige Beantwortung
erlaubt. In einer interessanten Analyse verglichen Record et al. (1970) die Leistungen im
verbalen schlussfolgernden Denken 11-jähriger Kinder, die als Zwillinge geboren, deren
Partner aber während oder kurz nach der Geburt gestorben war, mit allein Geborenen
sowie auch mit Zwillingen, bei denen beide Partner noch lebten. Differierten die
vollständigen Zwillingspaare von den Einzelkindern um die üblichen 4 bis 5 IQ-Punkte,
waren die überlebenden »Zwillinge« den Einzelkindern nur noch um 1,3 Punkte
unterlegen.
Demgegenüber berichteten aber Myrianthopoulos et al. (1971), gestützt auf eine ganz
ähnliche Anordnung, dass die alleingebliebenen Partner Leistungen zeigten, die identisch
sind mit denjenigen typischer Zwillingspaare. Gestützt auf eine längsschnittliche Untersu-
chung gelangten Lytton et al. (1987) zu der Überzeugung, dass in frühen Lebensjahren die
verminderten verbalen Fähigkeiten eher mit geringer Sprachstimulierung jedes Zwillings
durch die Eltern zusammenhängt und nicht mit einem biologischen Handikap oder dem
mütterlichen Bildungsgrad.
543
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
formität), bei der es ab einem bestimmten wobei in der letzteren Gruppe noch einmal
Grenzwert von Häufigkeit und/oder Schwere eine Reduktion von den gleich- zu den
zu einem Einschreiten der staatlichen Instan- gegengeschlechtlichen Geschwistern zu er-
zen kommt. Dieses vorausgesetzt, erlaubt das warten ist.
Modell die Vorhersage einer höheren Krimi- Tabelle 14.1 gibt die aus den dänischen
nalitätsrate bei EZ im Vergleich zu ZZ, Statistiken entnommenen Raten wieder.
Die Differenzen zwischen den Zeilen sind erhoben wurden, für deren Registrierung
statistisch bedeutsam, was die Vorhersage oder Einschätzung es nur minimaler Infe-
des Modells bestätigt. Entsprechende Analy- renzen auf Seiten der Untersuchungsleiter
sen könnten auch für Phänomene wie psy- bedurfte. In einer der Analysen stützten
chische Abnormitäten und Drogenabhängig- sich Borkenau et al. (2001) auf die Zahl
keit als diskrete Merkmale auf dem negativ von verbalen Äußerungen, die 169 EZ und
bewerteten Extrempunkt der jeweiligen 131 ZZ bei der Erledigung der vorgege-
Konstruktdimensionen ebenso angestellt benen Aufgaben machten. Getrennt nach
werden wie für herausragende kooperative Fragen, Kommentaren und Bemerkungen
und konstruktive Aktivitäten als Elemente erfolgte entweder eine Aggregation inner-
des positiven Pols. halb oder zwischen den Aufgaben (Level I
bzw. II); auf Level III standen die Verhal-
tensweisen für die Eigenschaft »Gesprä-
Umweltfaktoren und genetische chigkeit«. Den multivariaten Modellprü-
Faktoren: differenzierte Auswirkungen? fungen zufolge erklärten die für die Zwil-
linge gemeinsamen und nichtgemeinsamen
Der hochbedeutsamen Frage, auf welchem Umweltfaktoren nur auf Level I und II die
Niveau innerhalb der Hierarchie von Ver- aufgetretenen Varianzen und Kovarianzen.
haltensweisen über Gewohnheiten bis zu Auf Level III waren die Unterschiede hin-
Eigenschaften (s. Abschn. 1.6.1 bis 1.6.3) gegen ganz überwiegend durch genetische
sich Umweltfaktoren am deutlichsten ma- Faktoren bedingt.
nifestieren, ist in der »German Observa- Diese Ergebnisse legen eine faszinierende
tional Study of Adult Twins« (GOSAT) Interpretation für die Kontroverse zwischen
nachgegangen worden. Die herausragende Eigenschaftstheorie auf der einen und der
Besonderheit des Untersuchungsansatzes Sozialen Lerntheorie auf der anderen Seite
besteht darin, dass von EZ und ZZ im nahe: Demzufolge könnten genetische Fak-
Labor verschiedene Verhaltensstichproben toren generell für Konsistenz des Verhaltens
544
14 Umweltfaktoren
und Umweltfaktoren für dessen Situations- Studien zur Ähnlichkeit in der Intelligenz
spezifität verantwortlich sein.
Bei Adoptionsstudien gestattet die Schät-
zung der Ähnlichkeit zwischen leiblichem
14.2.2 Adoptionsstudien Elternteil und wegadoptiertem Kind eine
direkte Schätzung der (halben) additiven
Intelligenz genetischen Effekte und die Ähnlichkeit zwi-
schen Adoptiveltern sowie deren leiblichen
Sofern nichtverwandte Pflege- und Waisen- Kindern und Adoptivkindern die direkte
kinder, die gemeinsam in Heimen aufwach- Schätzung des Einflusses der ihnen gemein-
sen, einander ähnlicher sind als zufällig aus samen Umwelt auf das untersuchte Merk-
der Bevölkerung herausgegriffene Kinder, mal, hier den IQ (c Tab. 13.1). Aus umwelt-
kann dieses auf den Effekt der für sie ähnli- theoretischer Sicht ist zu erwarten, dass die
cheren Umgebung zurückgeführt werden – Korrelationen zwischen psychologischen
freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Merkmalen der Kinder und ihrer Adoptiv-
Pflegekinder und Waisen ebenfalls eine Zu- eltern, bei denen sie nahezu die gesamte Zeit
fallsstichprobe darstellen. seit ihrer Geburt leben, hoch sind. Zudem
Davon ist jedoch kaum auszugehen. Das sollte die Kind–Adoptiveltern-Korrelation
ergibt sich schon aus der Alltagserfahrung, höher sein als die Korrelation zwischen Kind
dass es Eltern mit besonderen Einstellungen und biologischen Eltern, mit denen keinerlei
und Sozialmerkmalen sind, die ihre Kinder in Kontakt mehr besteht. Umgekehrt würden
Heime geben, zudem häufig veranlasst durch hohe Zusammenhänge zwischen den biolo-
körperliche Anomalien oder Verhaltensauf- gischen Eltern und ihren wegadoptierten
fälligkeiten. Auch ist die Aussicht auf die Kindern für eine starke genetische Determi-
Vermittlung von Adoptiveltern stark von der nation sprechen.
Vorgeschichte der leiblichen Mutter und der Die empirischen Befunde weisen eindeutig
psychophysischen Unauffälligkeit des Kindes in Richtung eines genetischen Einflusses auf
abhängig. Sind diesbezüglich ungünstige An- die Intelligenz.
zeichen zu registrieren, öffnet sich vielfach fast
zwangsläufig der Weg in ein Heim. Aus diesen
Burks (1928) korrelierte die Intelligenz von 178
Gründen wäre eine verminderte Varianz von
adoptierten Kindern, die während ihres ersten
Pflegekindern gegenüber der Grundgesamt- Lebensjahres von den Müttern abgegeben worden
heit nicht im Sinne einer Homogenität der waren, mit Indikatoren der Intelligenz ihrer Ad-
in Heimen wirkenden Umweltbedingun- optiveltern. Zur Kontrolle wurde auch eine par-
gen interpretierbar. Frühe Untersuchungen allelisierte Stichprobe von 105 Kindern unter-
sucht, die bei ihren leiblichen Eltern aufwuchsen.
(s. Woodworth, 1941) haben jedoch sogar Im Mittel ergaben sich Koeffizienten von r ¼ 0,20
beträchtliche Leistungsvarianzen ergeben – (Adoptivfamilien) versus r ¼ 0,52 (natürliche
und gegenüber der Norm im Durchschnitt Familien). Dort, wo Erb- und Umweltfaktoren
deutlich verminderte Mittelwerte. Bei einem zusammenwirkten (in den natürlichen Familien),
war also die Übereinstimmung zwischen Eltern
Vergleich von vier in der Literatur vorliegen- und Kindern wesentlich höher als dort, wo nur
den Arbeiten zur Ähnlichkeit biologisch nicht Umwelteinflüsse eine Rolle spielten (in den Adop-
verwandter, aber in gleicher Umgebung tivfamilien). Diese Schlussfolgerung kann auch
aufgewachsener Kinder (Jencks et al., 1972, deshalb als besonders abgesichert gelten, weil im
S. 266–319) resultierten Ähnlichkeitskoeffi- Material von Burks keine Anzeichen für eine
selektive Platzierung der Kinder durch die mit
zientenbeieinemMittelwertvonr¼ 0,50,was der Adoption befassten Behörden zu finden sind
insofern eine ungefähre Schätzung für die (Korrelation zwischen der Berufstätigkeit von
Umweltkomponente darstellen könnte. leiblichem Vater und Adoptivvater r ¼ 0,02).
545
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Jede selektive Platzierung führt zu einer Eine artifizielle Erhöhung der Korrelation zwi-
artifiziellen Erhöhung der Korrelation zwi- schen leiblichen Eltern und ihrem wegadoptierten
Kind liegt z. B. in der Untersuchung von Scarr und
schen Adoptiveltern und adoptiertem Kind Weinberg (1979a) vor. Dort wurden 150 Jugend-
(indiziert höheren Effekt gemeinsamer Um- liche, deren Adoption während des ersten Lebens-
welt) und ebenso zu einer artifiziellen Erhö- jahres erfolgte, mit 237 Kontrollpersonen in deren
hung der Korrelation zwischen leiblichen »natürlichen« Familien verglichen. Die wichtigs-
Eltern und ihrem wegadoptierten Kind (indi- ten Korrelationen der Werte im Wechsler-Intelli-
genz-Test bzw. den vorgegebenen vier Untertests
ziert höhere Erblichkeit). sind in Tabelle 14.2 zusammengestellt.
Tab. 14.2: Korrelation des Gesamt-IQ in biologischen Familien und in Adoptivfamilien mit Testergeb-
nissen des Kindes.
Wie ersichtlich, lagen innerhalb der biologi- len andeutet). Zweifellos ist die Sprache ein
schen Familien die Korrelationen stets we- besonders wichtiges Feld der sozialen Inter-
sentlich und statistisch bedeutsam über den- aktion, und es ist wahrscheinlich, dass zu-
jenigen der Adoptivfamilien, wo hinsichtlich sammenlebende Personen ähnliche Begriffe
des Gesamt-IQ nur Beziehungen im Zufalls- und Fertigkeiten entwickeln. Nicht verwun-
bereich bestanden. Die sich darin manifes- derlich auch, dass die gezielte Partnerwahl der
tierende Erblichkeit des IQ, die die Autoren Eltern sich wesentlich stärker am Wortschatz
grob auf etwa 0,46 schätzten (Scarr & orientierte (Korrelation Vater-Mutter in Ad-
Weinberg, 1979a, S. 72), muss wohl etwas optiv- und anderen Familien ca. 0,38) als am
niedriger veranschlagt werden, da zwischen Gesamt-IQ (Korrelation hier nur ca. 0,28)!
dem Bildungsgrad der biologischen Mutter In der »Minnesota Adoption Study« von
und dem IQ des Adoptivvaters bzw. der Scarr und Weinberg (1983) korrelierten die
Adoptivmutter Korrelationen von 0,10 bzw. Leistungen biologischer Geschwister sowohl
0,20 bestanden (und somit eine geringe in verschiedenen Fähigkeits- als auch Fertig-
selektive Platzierung vorlag). keitstests in einer Größenordnung von 0,33
Bezeichnenderweise war lediglich im miteinander. Hingegen betrugen die Ge-
Wortschatz-Untertest eine überzufällige Be- schwister-Korrelationen nur 0,09 bzw. –
ziehung zwischen Eltern und Kind der Adop- 0,03 im Falle von fehlender Verwandtschaft.
tivfamilien festzustellen (alle sozioökonomi- Der Effekt ein- und derselben Familie, Nach-
schen Indikatoren wie Beschäftigung und barschaft oder Schule auf eine mögliche
Verdienst der Familie usw. korrelierten mit Ähnlichkeit im IQ war absolut unerheblich,
dem IQ des Kindes im Übrigen zu null, was sofern die Betreffenden keine gemeinsamen
eine nur geringe Wirksamkeit solcher Variab- Erbanlagen besaßen.
546
14 Umweltfaktoren
In dem umfassenden »Texas-Adoption-Pro- drückt sich der Einfluss der geteilten Umwelt
ject« von Horn et al. (1979) wurden die IQs in der Adoptivfamilie (ca. 20 %) auf den IQ
der biologischen Mütter, diejenigen ihrer des Adoptivkindes aus. Für die nichtgemein-
wegadoptierten Kinder, der Adoptiveltern same Umwelt und den Messfehler bleiben
und deren leiblicher Kinder ermittelt. Die dann zusammen noch 16 % Varianzanteil.
Korrelationen sind in Tabelle 14.3 wiederge- Diese Zahlen sind als grobe Schätzungen zu
geben. Wie ersichtlich, besteht zwischen den verstehen, denn selektive Platzierung hatte in
IQs der Mütter und der Intelligenz ihrer zur dieser Untersuchung eine gewisse Bedeutung,
Adoption weggegebenen Kinder eine Bezie- wie an der Korrelation von r ¼ 0,07 der IQs
hung von r ¼ 0,32. Weil diese Korrelation von leiblicher Mutter des betrachteten Ad-
nur die Hälfte der additiven genetischen optivkinds und weiteren nichtverwandten
Varianz schätzt, ergibt sich nach seiner Ver- Adoptivkindern in derselben Familie erkenn-
doppelung der gesuchte Erblichkeitskoeffizi- bar ist. Der Effekt der selektiven Platzierung
ent additiver Effekte in Höhe von 64 %. Die tritt stärker in den in Tabelle 14.3 nicht
Korrelationen zwischen dem IQ des adop- wiedergegebenen Korrelationen der IQs zwi-
tierten Kindes und den IQs der Adoptiveltern schen biologischen Müttern und Adoptiv-
und deren Kindern liegen in dem engen müttern (0,21) bzw. Adoptivvätern (0,22)
Bereich zwischen r ¼ 0,17 und 0,22. Hierin hervor.
IQ der leiblichen 0,32 (53) 0,23 (162) 0,42 (162) 0,353 (46)
Kinder
1
Dieser Koeffizient bezieht sich auf die Ähnlichkeit zwischen biologischer Mutter und (weiteren)
Adoptivkindern in jenen Familien, in denen auch ihr leibliches Kind aufwächst. 2Alle adoptierten Kinder
innerhalb einer Familie. 3Alle leiblichen Kinder innerhalb einer Familie. Nach Horn et al. (1979).
Eine sehr interessante Erweiterung der Studie ve genetische als auch die Effekte der ge-
von Horn et al. (1979) wurde von denselben meinsamen Umwelt signifikant. Die IQ-Wer-
Autoren vorgelegt (Loehlin et al., 1989). te wiesen über den Zeitraum von zehn Jahren
Zehn Jahre nach der Ersttestung wurden 258 eine gute Stabilität auf (rtt ¼ 0,80). Die
der ursprünglich 469 Adoptivkinder einer Erblichkeit zum zweiten Zeitpunkt wurde
zweiten IQ-Testung unterzogen. Dieser An- auf 37 % geschätzt, die Hälfte davon ging
satz erlaubte die Frage, ob sich genetischer auf die (additiven) genetischen Effekte der
Einfluss und der Einfluss der gemeinsamen Ersttestung zurück, die andere Hälfte auf neu
Umwelt über die Zeit verändern würden. Für hinzugekommene, inkrementelle genetische
die Auswertung wurde ein komplexes Struk- Effekte. Dieser inkrementelle Varianzanteil
turgleichungsmodell entwickelt. In die Ana- war signifikant. Anders bei den Effekten der
lyse wurden auch Parameter für gezielte geteilten Umwelt: Wies der Einfluss der ge-
Partnerwahl, selektive Platzierung und den teilten Umwelt bei der Ersttestung noch einen
Einfluss des elterlichen IQ auf den sozioöko- signifikanten Effekt auf (6 %), so war bei der
nomischen Status der Familie einbezogen. Zweittestung kein inkrementeller Varianzan-
Zum ersten Zeitpunkt waren sowohl additi- teil mehr nachweisbar. Auf eine kurze Formel
547
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
gebracht: Der Erbanteil an der IQ-Varianz stand vom 1. bis zum 12. Lebensjahr hin-
steigt mit dem Lebensalter, während der sichtlich allgemeiner kognitiver Fähigkeiten
Anteil der geteilten Umwelt sinkt. untersuchten. Zu jedem Zeitpunkt war der
Die Ergebnisse einer Adoptionsstudie mit genetische Einfluss hoch und stieg über die
gemischtethnischen Eltern-Kind-Konstella- Zeit noch an (cAbb. 14.4). Der Einfluss der
tionen weisen in die gleiche Richtung (s. Scarr geteilten Umwelt auf den IQ war bereits
& Weinberg, 1983). Unter zusätzlicher Be- nach dem vierten Lebensjahr vernachlässig-
zugnahme auf die Korrelationen mit Ge- bar, während der Einfluss der nichtgeteilten
schwistern und die Effekte des Lebensalters Umwelt plus Messfehler relativ konstant
sprechen die Autoren von einer in jungen war. Sehr bedeutsam sind auch die Angaben
Jahren höheren, durch den Familienkontext über die neuen, inkrementellen Varianzan-
geförderten wechselseitigen Ähnlichkeit der teile zu jedem Lebensalter. Bis zum Alter von
Kinder. Diese verliere sich im Laufe der etwa acht Jahren üben Gene neue Effekte
Entwicklung, während derer die adoptierten auf den IQ aus, die zuvor noch nicht
Kinder ihren leiblichen Eltern ähnlicher wür- wirksam gewesen waren. Insofern tragen
den, und zwar deshalb, weil sich die Heran- genetische Faktoren gleichermaßen zu Kon-
wachsenden aufgrund ihrer genetischen Aus- tinuität wie zu Veränderung im IQ bei. Die
stattung zunehmend eigene Nischen bildeten geteilte Umgebung wirkt hingegen gänzlich
im Sinne der in Abschnitt 13.4.1 bereits er- im Sinne von Kontinuität und die nichtge-
wähnten aktiven Erbe-Umwelt-Kovariation. teilte Umgebung ausschließlich in Richtung
Bishop et al. (2003) konnten den Ent- auf Veränderung.
wicklungsverlauf von Erb- und Umweltein- Gestützt auf eine gemischte Stichprobe
flüssen noch präziser abbilden, da diese von Zwillingen, biologischen und Adoptiv-
Autoren Kinder unterschiedlichen Ver- geschwistern sowie verschiedene Analyse-
wandtschaftsgrades in engem zeitlichen Ab- techniken berichteten Kirkpatrick et al.
0,8 59 % 0%
17 %
0,7
70 %
relativer Varianzanteil
0,6
h2 17 %
0%
0,5 47 %
0,4 e2
0% 100 %
0,3 100 % 99 %
100 % 90 %
100 %
100 %
0,2 0%
0%
0%
0,1 0%
0% 0%
c2
0
1 2 3 4 7 9 10 12
Lebensjahr
Abb. 14.4: Schätzung der relativen Varianzanteile für Erbe (h2 ), geteilte Umwelt (c2 ) und nichtgeteilte
Umwelt plus Fehler (e2 ) vom 1. bis 12. Lebensjahr. Im Alter von 12 Jahren lagen noch keine
Zwillingsdaten vor, daher sinkt vermutlich der Erbanteil zu diesem Zeitpunkt. Über den
Datenpunkten stehen die Prozentangaben der gegenüber dem vorherigen Lebensalter neu
hinzukommenden Varianz (nach Bishop et al., 2003).
548
14 Umweltfaktoren
(2009) ebenfalls über einen nur bescheidenen zunehmender zeitlicher Distanz von der ge-
Einfluss der geteilten Umgebung auf den IQ meinsamen Familienumgebung muss dessen
in einer Größenordnung von 0,20. Einfluss sinken; tatsächlich geht er im Er-
Zusammenfassend kann festgestellt wer- wachsenenalter gegen null. Abbildung 14.5
den: Die verhaltensgenetischen Befunde zur stellt diese Schlussfolgerung (Plomin et al.,
Aufklärung der interindividuellen Unter- 1999) dar.
schiede in der Allgemeinen Intelligenz weisen Einschränkend muss allerdings ange-
auf einen mittelhohen bis hohen Erbanteil merkt werden, dass die bislang und nachfol-
sowie einen in der Kindheit deutlichen Ein- gend bei den persönlichkeitspsychologischen
fluss der geteilten und auch der nichtgeteilten Adoptionsstudien berichteten Koeffizienten
Umwelt hin. Diese Einflussstärken sind aber vermutlich die tatsächlichen Effekte von Sei-
mit zunehmendem Alter Veränderungen ten der Umwelt in einem schwer festzustel-
unterworfen. Im Erwachsenenalter wächst lenden Ausmaß unterschätzen. Die dafür
der Erbanteil weiter an, was auch für den verantwortlichen Faktoren sind in Kasten
Effekt der nichtgeteilten Umwelt gilt. Mit 14.3 dargestellt.
Fehler
Erwachsenenalter
5%
elt
10 %
nichtgeteilte Umw
Kindheit
35 %
25 % 40 %
Abb. 14.5: 25 % 60 %
Zusammenfassung der ver- ge
tei
haltensgenetischen Ergeb- lte U m welt
nisse zur Varianzaufteilung
be
Er
interindividueller Unter-
schiede in der Allgemeinen
Intelligenz (nach Plomin
et al., 1999).
549
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Gleichfalls entspricht es weithin gemachten Erfahrungen, dass die zur Adoption freigege-
benen Kinder mehrheitlich aus einem sozialen und sozioökonomisch weniger positiven
Umfeld kommen. So ist die Mutter häufig alleinerziehend und wegen unzureichender
Ressourcen in materieller und kognitiver Hinsicht nicht bereit oder in der Lage, das Kind
aufzuziehen. Mitunter sind dafür auch körperliche oder verhaltensmäßige Auffälligkeiten
des Kindes maßgeblich. Auch dieses hat Einfluss auf die Variabilität der erhobenen Maße.
Ob davon allerdings mehr die Mutter-Kind- oder Adoptivmutter-Adoptivkind-Korrela-
tionen betroffen sind, kann nicht beurteilt werden – doch mindert dieser Umstand die
Aussagekraft der Ergebnisse.
Für das Adoptionsparadigma wird gemeinhin unterstellt, dass genetische und Umwelt-
faktoren unabhängig und additiv zusammenwirken und so die Variation in einer
Eigenschaft hervorbringen. Diese Auffassung ist auf der Basis von neueren molekularbio-
logischen und verhaltensgenetischen Studien nicht länger haltbar. Zumindest im Tierbe-
reich scheinen Gen-Gen-, Gen-Umwelt- und sogar Umwelt-Umwelt-Interaktionen eher die
Regel als die Ausnahme zu sein (Richardson & Norgate, 2006). Verantwortlich dafür sind
vermutlich u.a. Steuergene, die in Abhängigkeit vom individuellen Entwicklungsstand und
sensitiv für Gegebenheiten sowie Veränderungen in der Umgebung »anspringen« und
andere Gene zur Aktivität veranlassen. Dieses führt zu Kaskaden von Interaktionen der
Selbstorganisation von Entwicklungsprozessen. Die statistische Teststärke von Adoptions-
studien reicht aber nicht aus, um diese Kaskaden aufzudecken.
Eine weitere Annahme bei Forschungen mit dem Adoptionsparadigma geht dahin, dass
darin die Natur das »genetische Treatment« darstelle und die Umwelteffekte kontrolliert
würden oder aber randomisiert wären. Richardson und Norgate (2006) listen eine Vielzahl
von Faktoren auf, die in systematischer Weise die Korrelationen zwischen Mutter und Kind
erhöhen, aber diese für Adoptivmutter und Adoptivkind vermindern, darunter intrauterine
Umgebungseffekte, eine Vererbung mütterlicher epigenetischer Effekte, Informationen von
Adoptiveltern über die Familie des wegadoptierten Kindes sowie familiale Stress- und auch
Behandlungseffekte.
All diese Gesichtspunkte beeinträchtigen die Aussagekraft des Adoptionsparadigmas in
schwer abschätzbarer Weise.
550
14 Umweltfaktoren
leiblichen Eltern nur durchschnittliches Bil- haben dürften (s. auch Scarr & Weinberg,
dungsniveau aufwiesen (IQ-Untersuchungen 1979b). Für ihre »Adolescent Adoption
waren nicht vorgenommen worden) und Study« teilten die Autoren in einer neueren
nach Schätzung der Autoren die Kinder Arbeit die in Tabelle 14.4 wiedergegebenen
deshalb kaum höhere IQs als ca. 95 erreicht Durchschnittswerte mit.
Tab. 14.4: Mittlerer IQ adoptierter Kinder in Abhängigkeit vom Bildungsgrad ihrer biologischen Mutter
und dem für die Adoptiveltern gemittelten Intelligenzquotienten.
11 12 >12 Mittelwerte
551
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
552
14 Umweltfaktoren
untersuchten den Einfluss des sozioökono- Betracht. Allenfalls ist an die Erblichkeit von
mischen Status von biologischen und Adop- Variablen zu denken, die als vermittelnde
tiveltern auf die Kriminalität und gelangten Bindeglieder die Internalisierung konformer
dabei zu einer ausgeglicheneren Gewichtung Normen erschweren (wie z. B. die Tendenz
von Erb- und Umweltfaktoren (van Dusen zum Aufbau reaktiver Hemmungen im Ner-
et al., 1983). Die somit gegebene Befundsi- vensystem) oder die Verübung von Straftaten
tuation im Sinne des »Sowohl-als-auch« begünstigen (z. B. hohe Körperkraft oder
macht neben der Erfahrungsabhängigkeit Impulsivität). Denkbar ist auch die genetische
delinquenter Tendenzen auch eine biologi- oder vorgeburtliche, vielleicht auch perina-
sche Komponente wahrscheinlich, wie sie für tale Einwirkung von Faktoren, die das Äu-
zahlreiche andere psychologische Variablen ßere mitbedingen und an der äußeren Er-
ebenfalls gefunden wurde. Da die Definition scheinung (also nicht notwendigerweise am
der Strafbarkeit eines spezifischen Verhaltens Verhalten) negative Reaktionen der Umwelt
abhängig ist von national-räumlichen und ansetzen, wonach etwa Personen mit körper-
temporären Faktoren und da in anderen lichen Missbildungen oder einer allgemein
Ländern oder zu anderen Zeiten z. T. völlig reduzierten physischen Attraktivität be-
andere Handlungen das Kriterium »krimi- stimmte Ausbildungs- und Berufschancen
nell« erfüllen als etwa in unserem Staatsver- vorenthalten und sie damit ins Abseits ge-
band der Gegenwart, kommen von vornhe- trieben werden (c Kasten 14.4).
rein dafür nur höchst indirekte Erbgänge in
Adoptierte Kinder sind im Vergleich zu nichtadoptierten, wie oben berichtet, im Mittel etwas
weniger intelligent, ihre Werte in Allgemeiner Intelligenz liegen aber deutlich höher, als es der
Bildungsgrad ihrer leiblichen Mütter erwarten ließe. Wie wirkt sich der daraus erschließbare
positive Anregungsgehalt der Adoptiveltern auf den Persönlichkeitsbereich aus?
Die Literatur hierzu ist umfangreich (s. Brodzinsky et al., 1992). Einzelne Hinweise legen
zwar die Ansicht nahe, dass das weit verbreitete Stereotyp von den adoptierten Kindern als
einer traumatisierten Risikogruppe mit negativen Persönlichkeitsmerkmalen nicht ange-
messen ist. Aber die überwiegende Mehrheit der empirischen Belege spricht doch dafür,
dass genetische und pränatale Vulnerabilitäten zusammen mit intrapersonalen, familialen
und soziokulturellen Stressfaktoren bei Adoptivkindern zu einer Vielzahl von emotionalen,
sozialen und schulischen Problemen führen (Brodzinsky, 1987). Im Bereich des »Unauf-
fällig-Normalen« haben Loehlin et al. (2007) in dem »Texas Adoption Project« durch-
gängige Unterschiede der adoptierten zu den nichtadoptierten Teilnehmern in den
eingeschätzten Persönlichkeitsdimensionen gefunden. Diese waren signifikant und fielen
in den folgenden Variablen stets zuungunsten der adoptierten Teilnehmer aus: »Bildungs-
niveau«, »exzellente Leistungen in der High School«, »Nähe zur Mutter«, »Stabilität des
Arbeitsplatzes«, »(nicht) ängstlich oder depressiv«, »viele Freunde und soziale Aktivitä-
ten«, »unabhängig und selbstbestimmt«, »reif, hilfsbereit«, »verantwortungsbewusst,
zuverlässig« sowie »nett, liebenswürdig«.
Die Gründe für die Auffälligkeiten und weniger positiven Merkmalsausprägungen sind
vermutlich zahlreich und reichen von genetischen Faktoren über Selektionseffekte und
elterliche Erziehungsmerkmale bis zu den Schwierigkeiten einer Identitätsfindung, wenn
553
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
das adoptierte Kind eines Tages erfährt, dass es nicht das leibliche Kind seiner Eltern ist.
Zwar sprechen einige Beobachtungen dafür, dass Adoptiveltern im Vergleich zu biologi-
schen besonders intensiv in die Erziehung der von ihnen adoptierten Kinder investieren und
deren Leben anreichern (was evolutionären Konzepten widerspricht) – anscheinend im
Versuch, den Mangel an biologischen Bindungen wettzumachen und die Herausforderun-
gen der Adoption zu bestehen (Hamilton et al., 2007). Aber anderen Quellen zufolge
kommt es in Adoptivfamilien häufiger zu Konflikten zwischen Eltern und Kindern sowie
zwischen den Kindern (Rueter et al., 2009). Freilich: Das vorliegende Material basiert
überwiegend auf den Beobachtungen und Berichten von Eltern, Lehrern und Sozialarbei-
tern; weiterhin fehlt es an Untersuchungen, die sich auf die Wahrnehmung der Adoptierten
zu ihrer persönlichen Situation richten.
Nur mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen konnte ein derart subtiler Effekt
nachgewiesen werden, wie ihn Johnson et al. (2007) berichten. In ihrer Untersuchung an
617 Adoptivfamilien und biologischen Familien fanden sie, dass die drei Pfade – 1) vom
soziökonomischen Status zum IQ, 2) von den elterlichen Erziehungserfolgserwartungen
zum IQ und 3) von einem multidimensionalem Maß für die Eltern-Kind-Beziehung zum
kindlichen Engagement in der Schule – verschieden stark für die beiden Familientypen
waren (c Abb. 14.6).
Geschlecht
(w = 1, m = 0) –0,2
0
# IQ
, 0,23 0,3
0,11* 2
Sozioökono-
mischer Status 0,1
0,12 9
Schulnoten
0,1
9
0,11
0,15
Eltern-Kind-
#
,08
Beziehung 40
0,
,0
0,33
3*
*, 0, Schulisches
0,3
5 1#
Engagement
Elterliche Erziehungs-
erfolgserwartungen
Vieles spricht also dafür, dass adoptierte Kinder (wie auch adoptierende Eltern) nicht
repräsentativ für die Grundgesamtheit sind. Das schränkt die Aussagekraft von Adop-
tionsstudien teilweise ein.
554
14 Umweltfaktoren
Auf die Details der Berechnung der Werte in Variabilität zwischen den einzelnen Merkmals-
der letzten Spalte kann hier nicht eingegan- trägern verantwortlich gemacht werden kön-
gen werden. Die Koeffizienten stehen für das nen, sorgen also nicht für eine größere Ähn-
Ausmaß, in dem Umweltfaktoren, die indi- lichkeit auch der Zwillinge untereinander. Die
viduelle Differenzen in einer Eigenschaft Effekte zugunsten der gemeinsamen Umwelt
produzieren, auch denselben Effekt auf die (c2) lassen sich auch auf der Basis von Adoptiv-
beiden Zwillinge eines Paares haben. und Geschwisterkonstellationen schätzen.
Während dieses für Leistungen und Aktivi- Auch dabei waren niedrige Werte das Ergebnis,
täten weitgehend der Fall ist, streuen die Koef- die mit zunehmendem Alter gegen null konver-
fizienten für die Persönlichkeitsvariablen doch gieren (Loehlin, 2007). Das aber bedeutet, dass
um null. Die Gegebenheiten der Umwelt, die für die innerhalb einer Familie bestehenden, »glei-
555
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
556
14 Umweltfaktoren
Intelligenz-
werte
60 60
55 55
Regressions- Regressions-
ebene für ebene für
Mädchen Jungen
50 50
45 45
40 40
70 70
60 60
50 50
40 40
Wahrnehmung 30 30
Eltern-Kind-
der Schulumwelt als
Beziehung
strafend
DM
0,26 0,33
0,24 0,15
0,63 BM
–0,26 0,11
–0,31
–0,61
GP –0,24 AL
0,87
–0,18
–0,16 ZK
0,78
0,10 0,31
BV 0,62
WD 0,32
DV
557
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Solche Resultate machen deutlich, dass viel- Leistung« das bei weitem höchste Gewicht,
fach unklar bleiben muss, ob ein bestimmter wie aus Abbildung 14.8 zu ersehen ist.
Faktor – und mehr noch: was daran im Den Resultaten vonVandenbergund Haks-
Einzelnen – wirksam ist. Dies gilt auch tian (1978) zufolge variiert die Wertigkeit
im Hinblick auf andere Beobachtungen: ökologischer Anregungsfaktoren und diejeni-
Brandtstädter (1976) konnte im Rahmen ge des Sozialstatus außerordentlich stark zwi-
einer Reanalyse der Majoribanks-Daten für schen verschiedenen Kulturkreisen. So korre-
eine Stichprobe von 185 Schülern im Alter lierte ein Maß für kulturelle Stimulation (Bil-
von 11 Jahren nachweisen, dass ökopsycho- dungsgrad der Familienmitglieder, Zahl von
logische Prozessvariablen generell einen Büchern und Zeitschriften zu Hause usw.)
höheren entwicklungsprognostischen Wert zwar bei den Inuit, Indianern und Bewohnern
aufweisen als sozioökonomische Indikato- der Hebriden mit verbaler Intelligenz, nicht
ren. Für das Merkmal »Sprachliche Fähig- aber bei Ugandern. Nur bei den Afrikanern
keit« besaß das Konstrukt »Anforderung an stand hingegen regelmäßiger Schulbesuch mit
dem Verbalgeschick in Beziehung.
Lange Zeit galten Adoptionsstudien als ein zielführendes Design, um die Wirkung von
Umwelteinflüssen zu untersuchen, denn wenn die adoptierten Kinder ihren Adoptiveltern
ähnlich sind, mit denen sie ja genetisch keine Gemeinsamkeiten aufweisen, muss das für den
Einfluss der gemeinsamen Umwelt in den Adoptivfamilien sprechen (ohne genauer
analysieren zu müssen, worin im Einzelnen die »Umwelt« denn besteht). In der Tat fanden
sich für den IQ und Persönlichkeitsfaktoren Korrelationen mehrheitlich um r ¼ 0,25
zwischen Adoptiveltern und den bei ihnen aufwachsenden adoptierten Kinder. Allerdings
sind diese Koeffizienten Minimalschätzungen deshalb, weil die Adoptiveltern und auch die
Adoptivkinder aus vielerlei Gründen nicht als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten
können, sondern hinsichtlich vieler Merkmale in ihrer Variabilität eingeschränkt sind, was
die ermittelten Koeffizienten in ihrer Höhe in unbekanntem Ausmaß erniedrigt. Der
gegengerichtete, also korrelationserhöhende Effekt, der durch selektive Platzierung ent-
steht, konnte in den meisten Studien immerhin ansatzweise kontrolliert werden. Viele
Befunde sprechen dafür, dass der genetische Einfluss und derjenige der nichtgeteilten
Umwelt mit dem Lebensalter zu-, hingegen derjenige von geteilter Umwelt abnimmt.
558
14 Umweltfaktoren
wirkung eines Bündels ungünstiger Faktoren und zwar gleichermaßen auf den IQ wie auf
auf, liegt die Vermutung auf der Hand, dass das Vorliegen geistiger Beeinträchtigungen.
weniger drastische Effekte eine ähnliche Ver- Daraus kann geschlossen werden, dass erst
teilung zeigen und sich später in Struktur- erhebliche Nahrungsdefizite schwangerer
und Verhaltensmerkmalen nachteilig auswir- Mütter die spätere Intelligenzentwicklung
ken. der Kinder beeinträchtigen können, eventuell
in Abhängigkeit von bestimmten sozioöko-
nomischen Faktoren.
Kindesalter Offenkundig hatte die mütterliche Man-
gelernährung und insbesondere deren Zeit-
Als eine mögliche Determinante aus diesem punkt einen Einfluss auf das spätere Gewicht
Netzwerk kommt zuerst die Ernährung in ihrer Söhne: Hatten die Mütter nur während
Frage. Sowohl aufgrund theoretischer Über- des ersten Drittels ihrer Schwangerschaft
legungen als auch auf der Basis des vorlie- hungern müssen, kamen die Kinder normal-
genden Befundmaterials muss dabei zwi- gewichtig zur Welt und neigten später zu
schen prä- und postnataler Phase unterschie- Übergewicht. Hingegen blieben jene Männer
den werden. Aus naheliegenden Gründen im Erwachsenenalter meist normalgewichtig,
kann jedoch der Einfluss von Umfang und deren Mütter nur im letzten Drittel der
Wertigkeit der Nahrung auf jeden dieser Schwangerschaft an Unterernährung litten.
beiden Lebensabschnitte nur in äußerst be- Für den ersten Effekt ist daran zu denken,
grenztem Maße experimentell erforscht wer- dass während der prägenden frühen Monate
den. Unser Wissen muss sich deshalb auf die der Schwangerschaft der Körper auf eine Art
vorfindbaren Gegebenheiten in Feldstudien »Sparmodus« umschaltet mit dem Ziel, jede
stützen. Von besonderem Wert sind dabei verfügbare Kalorie zu verwerten. Demgegen-
solche Untersuchungen, die eine quasi-expe- über erklärt sich lebenslange Schlankheit
rimentelle Struktur aufweisen. nach Mangelernährung in der Spätphase
Dieses trifft beispielsweise auf die Erhe- der Schwangerschaft vielleicht durch den
bung von Stein et al. (1972) zu. Diese Umstand, dass während dieser Zeit der
Autoren suchten aus den Karteien der Rou- Organismus weniger Fettzellen ausbilden
tinetestungen für den Wehrdienst die Proto- konnte. Vieles spricht zudem dafür, dass
kolle des Raven-Intelligenztests aller jener mütterliche Mangelernährung und in der
19-jährigen Probanden heraus, die während Folge reduziertes Geburtsgewicht der Säug-
einer Hungersnot im damals von den Deut- linge das Risiko stark erhöht, später an
schen besetzten West-Holland gezeugt, aus- Herzinfarkten und Schlaganfällen zu sterben
getragen oder geboren wurden. Gruppen aus (Forsen et al., 1999). Der Grund dafür
anderen Zeiträumen und Distrikten, die könnte sein, dass diese Personen oftmals
nicht von der Hungersnot betroffen waren, unter erhöhtem Blutdruck, Altersdiabetes,
bildeten die Vergleichsbasis. Die Testwerte Störungen des Fettstoffwechsels, des Choles-
unterschieden sich markant in Abhängigkeit terinspiegels und der Blutgerinnung leiden.
davon, ob die Probanden einen Vater mit Dafür mag wiederum verantwortlich sein,
manuellem oder nichtmanuellem Beruf hat- dass – wie im Tierversuch gezeigt – eiweiß-
ten. Das kann für eine unterschiedliche gene- arme Kost zu einem verringerten Abbau des
tische Ausstattung sprechen oder/und dafür, Stresshormons Cortisol führt und die Föten
dass in Familien mit nichtmanueller Berufs- deshalb zur Ausbildung hohen Blutdrucks
tätigkeit des Vaters die Ernährung besser neigten. Denkbar ist auch ein Mechanismus,
war. Nur bei den manuellen Berufen zeigte wonach bei Mangelernährung die wenigen
sich ein negativer Einfluss der Hungersnot, verfügbaren Kalorien zur vorrangigen Aus-
559
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
bildung des Gehirns herangezogen werden, Schaden nehmen, was sich in späteren Er-
darunter aber andere Organe nachhaltig krankungen äußert (c Kasten 14.5).
Niedriges Geburtsgewicht ist zwar für sich selbst kein zwingender Indikator für pränatale
Mangelernährung, gilt aber als ein Hinweis darauf, dass diese vorgelegen haben mag.
Shenkin et al. (2004) fanden bei einer Sichtung der Literatur zum Zusammenhang von
Geburtsgewicht regulär ausgetragener Kinder und deren IQ in frühen Lebensjahren zwar
niedrige, aber konsistent positive Korrelationen (mit einem nichtlinearen Anteil bei den
höchsten Geburtsgewichten). Diese Beziehungen blieben auch nach Kontrolle möglicher
konfundierender Variablen wie Geschlecht, Schwangerschaftsdauer, Alter der Mutter etc.
erhalten. Höher mit dem Geburtsgewicht korrelierte der elterliche Sozialstatus, und da
dieser auch mit der Intelligenz der Kinder in Beziehung steht, kommen als vermittelnde
Mechanismen für den gefundenen Zusammenhang zwischen Geburtsgewicht und kind-
lichem IQ sehr wohl auch genetische Faktoren in Betracht.
Untersuchungen liegen auch dazu vor, wenn waren perinatale Komplikationen oder ande-
Ernährungsmängel zumindest postnatal zu re medizinische Besonderheiten berichtet
konstatieren sind. Winick et al. (1975) erho- worden, die gegebenenfalls ihre Entwicklung
ben den IQ und die Schulleistungen von hätten beeinträchtigen können. Infolge des
koreanischen Kindern, die im Alter von spä- frühkindlichen Proteinmangels lag der
testens zwei Jahren zur Adoption in die USA durchschnittliche IQ um 12 Punkte unter
gegeben und von der zuständigen Behörde demjenigen der Kontrollgruppe. In der Schule
seinerzeit als »schlecht«, »mäßig« oder »gut traten zudem gehäuft kognitive und behavio-
ernährt« klassifiziert worden waren. Die Ge- rale Störungen auf, deren Wurzeln in Beein-
samtgruppe zeigte überdurchschnittliche trächtigungen der Konzentrationsfähigkeit,
Leistungen, damit die Beobachtungen aus des Gedächtnisses und der schulischen Leis-
anderen Adoptionsstudien bestätigend, doch tungen sowie in erhöhter Ablenkbarkeit
war auch später eine klare Binnendifferenzie- lagen. Wie erneute Untersuchungen zu spä-
rung in Abhängigkeit vom früheren Ernäh- teren Zeitpunkten zeigten, dauerten die Pro-
rungszustand registrierbar (positive Korrela- bleme mit der Konzentration und Ablenk-
tion zwischen Ernährung und Leistung). barkeit zumindest bis zum 18. Lebensjahr an;
In der auch methodisch interessanten oftmaliges Scheitern an der Hürde zu weiter-
Untersuchung von Galler (1984) wurden führenden Schulen und hohe Ausfallquoten
129 schulpflichtige Kinder der Insel Barba- waren die Folge. Für diese Auffälligkeiten
dos, die während ihres ersten Lebensjahres, waren Umweltfaktoren nicht verantwortlich
also in einer für das Gehirnwachstum kriti- zu machen. Eingehendere Betrachtungen der
schen Phase, unter schwerem Proteinmangel Mikro-Umwelt während der Zeit nach der
gelitten hatten, mit einer gleich großen Grup- Unterernährungsphase ließen aber erkennen,
pe von Klassenkameraden ähnlichen sozio- dass die Mütter dieser Kinder häufiger Symp-
demographischen Hintergrundes verglichen, tome von depressiven Verstimmungen und
in deren Biographie es keine Hinweise auf insbesondere Gefühle der Hoffnungslosigkeit
Unterernährung gab. Bei keinem der Kinder aufwiesen. Diese Emotionen leisteten einen
560
14 Umweltfaktoren
561
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
konnten Ramey et al. (1999) die Wirksam- zu geben. Ernährungsvorlieben und -gewohn-
keit von Interventionen in den ersten fünf heiten im Erwachsenenalter stehen mit sehr
Lebensjahren nicht nur für Unterernährung, vielen Variablen in Beziehung, darunter Wis-
sondern auch Armut, geringe Intelligenz und sen, Interessen, Alter, Geschlecht und auch
Ausbildung der Eltern sowie niedriges Ge- Persönlichkeitsfaktoren (s. z. B. Goldberg &
burtsgewicht der Kinder zeigen, wobei die Stycker, 2002) sowie Angeboten und Res-
am stärksten benachteiligten Kinder am sourcen aus der individuellen Umgebung.
meisten im Hinblick auf Spracherwerb, intel- Innerhalb solcher korrelativer Netzwerke ist
lektuelle und soziale Entwicklung von den es aber besonders schwer, Verursachungsket-
Programmen profitierten. Auch wenn es sich ten empirisch nachzuweisen.
bei einem Teil der Fortschritte um eine Re-
gression zur Mitte gehandelt haben mag, ist
die mit den Programmen verbundene Her- 14.3.2 Krankheiten
ausforderung bei 40 bis 60 % von Kindern
der Weltbevölkerung, die an leichten bis In Bezug auf viele Krankheiten ist die Ver-
mittleren Formen der Unterernährung leiden, mutung nicht abwegig, dass bei Entstehung
und bei 3 bis 7 % der Kinder, die in Teilen der und Verlauf psychologische Faktoren eine
Welt an schweren Formen der Unterernäh- Rolle spielen. Asthma und Herz-Kreislauf-
rung leiden, gewiss gewaltig. Erkrankungen sind dafür Beispiele. Nachfol-
Verschiedentlich interessiert nicht so sehr gend soll aber eine Perspektive eingenommen
die Menge der Nahrung und deren Kalorien- werden, der zufolge Krankheiten nicht ab-
gehalt, sondern die spezifische Zusammenset- hängige, sondern unabhängige Variablen
zung der Diät. So lässt sich beispielsweise die sind. Um einen regressus ad infinitum zu
Erwartung begründen, dass sich reichlicher vermeiden, müssen in den einschlägigen
Genuss von Fisch (wegen dessen Gehalt an Untersuchungen möglichst viele dieser poten-
Omega-3-Fettsäuren) während der Schwan- tiellen Hintergrundfaktoren durch entspre-
gerschaft positiv auf das Verhalten und die chende Erhebungen oder Partialisierung kon-
Intelligenz der Kinder auswirkt. In der Tat trolliert werden.
fanden Gale et al. (2008), dass Kinder von Fast alle Krankheiten mit nichtreaktiven
Müttern mit einer derartigen Ernährungsvor- psychischen Implikationen sind mit Beein-
geschichte einen um 7,55 Punkte höheren IQ trächtigungen der kognitiven Funktionen,
zeigten, doch verschwand dieser Effekt bei also primär Aufmerksamkeit, Intelligenz
einer Kontrolle der maßgeblichen Hinter- und Gedächtnis verbunden. Zahlreiche Stu-
grundfaktoren (darunter vor allem sozioöko- dien haben an Personen, die etwa an Schizo-
nomischer Status, SÖS) – meist ein entschei- phrenie, bipolaren Persönlichkeitsstörungen,
dender Schwachpunkt einschlägiger Untersu- Huntington, nichtdementen Formen von Par-
chungen im Ernährungsbereich. In einer ande- kinson, unfallbedingten Gehirnschädigun-
ren Studie (Arija et al., 2006) ließ sich an 6- gen oder posttraumatischen Belastungsstö-
jährigen Kindern zwar eine Beziehung zwi- rungen leiden, mehr oder weniger starke
schen dem Gehalt an Eisen sowie Vitamin B9 Minderleistungen im Vergleich zu gesunden
und B11 in ihrer Nahrung und dem IQ sichern, Kontrollpersonen gefunden.
auch bei Kontrolle von SÖS und Geschlecht. Bei der Mehrzahl der oben genannten
Benton (2008) zieht jedoch die Generalisier- Auffälligkeiten handelt es sich um »System-
barkeit derartiger Einzelbeobachtungen in erkrankungen«. Im Unterschied zu den loka-
Zweifel und wirft die Frage auf, ob es gerecht- lisierten Erkrankungen, bei denen ein Organ
fertigt sei, auf dieser schmalen Basis individu- oder ein Teil eines Organs betroffen ist, wirkt
elle oder kollektive Ernährungsempfehlungen sich hier die Erkrankung auf ein gesamtes
562
14 Umweltfaktoren
Organsystem aus, wie etwa das Blut (Leuk- ten beiden Lebensjahren (und damit zusam-
ämie, Anämie), das Zentrale Nervensystem menhängend, Ernährungsmängeln) 5 bis
oder die Muskulatur als Ganzes. Nach Steen 10 Jahre später bedeutsame Defizite in der
und Campbell (2008) liegt das Ausmaß der Sprachentwicklung aufwiesen. Diese Effekte
IQ-Minderungen durch derartige Erkran- blieben auch bei Kontrolle der mütterlichen
kungen meist niedriger als 10 Punkte. Her- Bildung, dem Stillen und der schulischen
vorgerufen werden die Beeinträchtigungen Unterrichtung erhalten (Patrick et al., 2005).
dadurch, dass die Produktion oder Bereit- Auch wenn eingewendet werden mag, dass
stellung jener Substanzen gestört wird, die die Zahl der Kinder mit akuten Beeinträchti-
für den zerebralen Stoffwechsel unerlässlich gungen relativ gering gewesen ist, die heran-
sind. Diese Störung mag je nach Stadium und gezogenen Tests nicht eigens in Südamerika
Form der Erkrankung durch krankheits- validiert und das Erziehungsverhalten der
oder behandlungsbedingte toxische Wirkun- Eltern nicht zusätzlich kontrolliert wurde,
gen hervorgerufen werden. Wenn beispiels- fügen sich die Befunde doch stimmig in ein
weise Jugendliche, die eine frühkindliche Bild, wonach krankheitsbegünstigende Be-
Krebserkrankung überlebten, im Kurzzeitge- dingungen zu mehr oder weniger generalisier-
dächtnis und dem Zahlen-Symbol-Test des ten kognitiven Beeinträchtigungen führen.
Wechsler-Tests Schwierigkeiten erkennen In vielen Untersuchungen mit Indikatoren
lassen, so sagt dieses Ergebnis etwas über für physische Krankheiten und mentale
die besondere Verletzlichkeit dieser Funktio- Kompetenz sind diese positiv korreliert mit
nen durch Krebs und (konfundiert damit) dem sozioökonomischen Status (SÖS). Die
dessen Behandlung mittels Bestrahlung aus meisten einschlägigen Theorien machen die
(Winqvist et al., 2001). mit niedrigem Status verbundenen materiel-
Besondere Aussagekraft kommt auch hier len Nachteile direkt oder über den Umweg
längsschnittlichen Ansätzen zu. So konnte von psychosozialen Beeinträchtigungen für
etwa gezeigt werden, dass die Zahl epilepti- die Ungleichheiten verantwortlich. Wie Gott-
scher Anfälle die Intelligenz zunehmend fredson (2004) jedoch monierte, können
beeinträchtigt (Bjornæs et al., 2001). Auch diese Ansätze die bemerkenswerte Robust-
die perinatal diagnostizierte Spina bifida heit der Beziehung zwischen SÖS und Ge-
(»Spaltwirbel«) geht mit späteren Leistungs- sundheitsmaßen (Wissen, Verhalten, Morbi-
einbußen Hand in Hand (Jacobs et al., dität, Mortalität) über Zeit, Ort, Krankhei-
2001). Eine international zusammengesetzte ten und Gesundheitssysteme nicht hinrei-
Autorengruppe erhob an einer Stichprobe chend erklären; auch lieferten sie keine
von 239 peruanischen Kindern unter ande- Deutung dafür, dass die Beziehung in glei-
rem anthropometrische Maße und Stuhlpro- cher Weise entlang des gesamten SÖS-Kon-
ben von der Geburt bis zum 9. Lebensjahr tinuums bestehe. Im Hinblick darauf wurde
(Berkman et al., 2002). Die Krankheit (und verschiedentlich von Epidemiologen eine
damit konfundiert Mangelernährung sowie »fundamentale Ursache« angenommen –
Wachstumshemmung) wurde durch Durch- für die Autorin ist dieses schlicht die Allge-
fallserkrankungen und parasitäre Infekte meine Intelligenz.
indiziert. Im Wechsler-Test zeigten sich IQ- Selbstverständlich kann Intelligenz nur
Einbußen von bis zu 10 Punkten, die nicht indirekt Gesundheit und Krankheit beein-
vom sozioökonomischen Status und dem flussen, etwa über Verhaltensweisen wie ge-
Bildungsgrad abhingen. sunde vs. schädliche Ernährung, körperliche
Gleichfalls in Südamerika konnte festge- Aktivität, Rauchen und Trinken oder über
stellt werden, dass Kinder mit schwerwie- Faktoren der Arbeitsbelastung und des Le-
genderen Durchfallerkrankungen in den ers- bensstils (s. dazu u.a. Deary & Starr, 2009).
563
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
564
14 Umweltfaktoren
a Körpergröße
0,1 b
a Intelligenz
c
d b
d
0 e
c
f
z-Werte
e
–0,1
–0,2
–0,3
1 2 3 4 5 6
Geburtenfolge
Abb. 14.9: Geschwisterreihungseffekte für Körpergröße und Intelligenz in Familien mit ein bis sechs
Kindern. a ¼ 2, b ¼ 3, c ¼ 4, d ¼ Einzelkinder, e ¼ 5 Kinder, f ¼ 6 Kinder. Die Daten stammen
von großen Stichproben holländischer Wehrpflichtiger, die bei ihrer Rekrutierung mit dem
Raven-Test untersucht wurden (nach Belmont et al., 1975).
565
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Gesamtpotential der Familie beitragen. Die abschnitt dem Erstgeborenen überlegen sein
besonders niedrigen Leistungen der Letztge- kann, bis dieses seine Lehrerfunktion nutzt
borenen erklärt das Modell damit, dass diese und daraus einen Vorteil zieht, der unter
»weniger Gelegenheit haben, in die Rolle günstigen Bedingungen sowohl zum Über-
eines ›Lehrers‹ zu schlüpfen« (Zajonc, 1979, holen des Zweitgeborenen als auch des Ein-
S. 34) und ihren jüngeren Geschwistern be- zelkindes führen mag.
stimmte Fertigkeiten beizubringen, was ihr Untersuchungen verschiedener verbaler
eigenes Verständnis fördern könnte. Gleiches Funktionen (u.a. Wortschatz, Wortverständ-
trifft zu für die ansonsten bevorteilten Ein- nis, Analogien und Sprichwörter) an einer
zelkinder – weshalb aus dieser Perspektive sehr großen Stichprobe französischer Kinder
betrachtet und entgegen landläufiger Mei- belegen das Phänomen, wie Abbildung 14.10
nung das Einzelkind mehr einem zuletzt zeigt.
Geborenen und weniger einem Erstgebore- Das Modell ist wertvoll in mehrerer Hin-
nen ähnelt (s. auch Zajonc, 1979). sicht. Zum einen wird das Modell den durch-
Darüber hinaus sind dem Modell zufolge schnittlich verminderten Leistungen von sol-
die Unterschiede zwischen Geschwistern auf- chen Kindern gerecht, die gegenüber ihren
grund der Geburtenposition auch abhängig Geschwistern nur relativ geringe Altersunter-
vom Lebensalter der Kinder, wie der Vergleich schiede aufweisen. Zum anderen erklärt die
einer Zwei-Kind-Familie mit einer Ein-Kind- Theorie die Minderleistungen von Zwillin-
Familie verdeutlicht: In beiden Familien gen, die einen Extremfall rascher Geburten-
wächst das Erstgeborene zunächst in einer abfolge darstellen, sowie darüber hinaus den
Umgebung mit gleichem Anregungsgehalt etwas höheren IQ allein aufwachsender Zwil-
auf, bis dann in der Zwei-Kind-Familie das lingspartner. Ferner kommt das Modell auch
zweite Kind geboren wird. Dadurch erfährt in Bezug auf die Effekte alleinerziehender
das Erstgeborene dieser Familie gegenüber Elternteile zu Vorhersagen, die sich empirisch
dem Einzelkind eine Verlangsamung seiner bestätigen lassen (s. Zajonc, 1976), und er-
Intelligenzentwicklung, da das qualitative Ni- laubt die Ableitung der bislang noch unge-
veau durch das Neugeborene insgesamt redu- prüften Hypothese, dass zusätzliche Erwach-
ziert wird. Das Zweitgeborene ist zum Zeit- sene in einer Familie (»Großfamilie«) den
punkt seiner Geburt ebenfalls im Nachteil, da Anregungsgehalt der Umgebung für die Zeit
es in ein niedrigeres Niveau als sein älteres ihrer Präsenz erhöhen müssten. Damit nicht
Geschwister und auch das Einzelkind hinein- genug: Zajonc (1986) vermag zu zeigen, dass
geboren wird. Dieser Nachteil kehrt sich spä- der Abfall der Punktwerte im »Scholastic
ter um, da es ab einem bestimmten Alter eine Aptitude Test« (SAT), einem Verfahren, dem
höherwertige »Intelligenz-Umgebung« er- sich jährlich viele tausend Schülerinnen und
fährt, als das Erstgeborene im selben Alter Schüler unterziehen, zwischen den Jahren
erfahren hat, wie das folgende Beispiel zeigt: 1973 und 1980 sowie deren kontinuierlicher
Das Erstgeborene sei 8 Jahre alt → Intelli- (Wieder-)Anstieg in den 80er Jahren durch
genz-Niveau ¼ (100 þ 100 þ 8 þ 4) : 4 ¼ 53. zwei Faktoren erklärt werden können: zum
Das Zweitgeborene sei 8 Jahre alt → einen gleichsinnige Veränderungen in der
Intelligenz-Niveau ¼ (100 þ 100 þ 12 þ mittleren Geburtenabfolge durch zunächst
8) : 4 ¼ 55. größere, dann kleinere Kinderzahlen in den
An den Werten von 8 und 12 ist erkenn- Familien, zum anderen die mittlere Quote von
bar, dass es sich dabei – ebenso wenig wie bei Probanden, die als Teil jeder Kohorte an dem
100 – nicht um IQ-Maße handelt. Verfahren teilnehmen.
Aus dem Rechenbeispiel folgt, dass das Gerade wegen des beachtlichen Anre-
Zweitgeborene in einem bestimmten Alters- gungsgehaltes, den das Konfluenzmodell für
566
14 Umweltfaktoren
106
{
{ {
104
{
{
IQ
{
{
102
{ { Familie mit einem Kind
Familie mit zwei Kindern
Geburtsfolge
100 1 2 1 2 1 2 1 2 1 2 1 2 1 2 1 2
6 7 8 9 10 11 12 13
Alter
Abb. 14.10: IQ von Einzelkindern und von Kindern aus Familien mit zwei Kindern für unterschiedliche
Altersstufen, N ¼ 33 339 (nach Zajonc, 1979).
die Forschung aufweist, und der vermeintlich kenntnistheoretische Fragen, denn Unter-
überzeugenden Belege für seine Angemessen- schiede zwischen Familien erlauben keine
heit sind ernste Bedenken vorgetragen wor- Rückschlüsse darauf, was sich innerhalb von
den. Diese richteten sich in erster Linie Familien ereignet. Wichtig sind demzufolge
darauf, dass es sich bei den in Abbil- Erhebungen an allen Geschwistern einer
dung 14.9 wiedergegebenen Daten der Ge- Familie (»innerhalb von Familien«; längs-
schwister um solche aus verschiedenen Fa- schnittlicher Ansatz). So gut begründet die
milien handelt (»zwischen Familien«; quer- Forderung nach einem derartigen Ansatz
schnittlicher Ansatz). Beispielsweise stam- auch ist, so sind bei diesem doch ebenfalls
men bei Vier-Kind-Familien die vier Konfundierungen unvermeidbar insofern,
Messpunkte nicht etwa aus Erhebungen an als bei Testungen zur gleichen Zeit die Ge-
allen Geschwistern von ausschließlich Vier- schwister unterschiedlich alt sind (s. Zajonc,
Kind-Familien. Auf diese Weise aber stelle 2001). Etwa könnten die Spätergeborenen in
der Geschwister-Reihungseffekt lediglich ein einer Phase aufgewachsen sein, während
Artefakt dar, erzeugt von den zahlreichen derer die (zwischenzeitlich älteren) Eltern
Faktoren, in denen sich Familien voneinan- sich weniger um die Kindern kümmern
der unterscheiden. Dazu zähle hauptsächlich konnten, sei es wegen höherer beruflicher
das Faktum, dass die Messwerte der Später- Anforderungen oder nachlassendem Interes-
geborenen vorrangig aus Familien mit grö- se an ihren Kindern. Ungeachtet dessen aber
ßerer Kinderzahl und damit niedrigerem würden die längsschnittlichen Studien gar
Intelligenzniveau stammten (s. z. B. Wich- keine signifikanten Resultate im Sinne des
man et al., 2007; sowie die Replik darauf von Modells zeitigen, so Wichman et al. (2006),
Zajonc & Sulloway, 2007). die nicht nur frühere Studien kritisch wür-
Über derartige methodische Probleme digten, sondern auch eigene Daten im besag-
hinaus ergeben sich schwerwiegende er- ten Sinne präsentieren.
567
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Genau zum gegenteiligen Schluss gelangten von Belmont und Marolla (1973) nur ca. 1
Bjerkedal et al. (2007), die längs- und quer- Punkt im Raven-Test (dieses auch als Hin-
schnittlich die Daten von nicht weniger als weis zur Interpretation der Effektstärken in
176 850 norwegischen Rekruten analysier- Abbildung 14.9). Das Modell selbst, das
ten und für alle Familiengrößen einen Unter- ersichtlich nur für aggregierte, nicht aber
schied zwischen benachbarten Brüdern zu- individuelle Daten gilt, muss sich vor allem
gunsten der jeweils Frühergeborenen fanden wegen seiner extrem mechanistischen Kon-
(c Abb. 14.11). Wegen der enorm großen zeptualisierung der intellektuellen Umwelt
Datenmenge kommt dieser Studie eine be- der Kritik stellen. Ausschlaggebend für die
sondere Aussagekraft zu, auch wenn sie sich Vorhersagen des Modells ist nur die Gesamt-
nur auf männliche Personen stützt. Untersu- summe der Beiträge von Seiten der einzelnen
chungen anderer Autoren gelangten jedoch Mitglieder des Familienverbandes. Also
zu dem Schluss, dass der Geschwister-Rei- müssten zwei Eltern mit den Werten von
hungseffekt für beide Geschlechter in etwa 125 und 75 denselben Effekt ausüben wie
gleich ausfällt (Boomsma et al., 2008; aller- zwei andere Personen mit jeweils 100 und
dings querschnittliche Analyse). drei ältere Geschwister mit je 50 zur intel-
lektuellen Umwelt in derselben Weise beitra-
gen wie drei mit 63, 53 und 33 usw.
5,4
Ähnliche, aber weniger präzise Vorhersa-
Allgemeine Intelligenz
568
14 Umweltfaktoren
einem Motoriktest, der Tendenz nach auch besagte Merkmalsausprägung aber bei Kin-
für jene des im Alter von vier Jahren vor- dern in einer Mittelposition auf, mag es an
gegebenen Stanford-Binet-Intelligenztests einer Vernachlässigung dieser weniger her-
hatte. Ganz allgemein ist das Geburtsgewicht ausgehobenen Geschwister liegen.
ein Indikator für die Reife des Fötus und stellt Ernst und Angst (1983, S. XI), die sich in
einen starken Prädiktor für spätere intellek- diesem Sinne äußerten, haben deshalb zu-
tuelle und behaviorale Gesundheitsmaße dar nächst eine umfassende Literaturrecherche
(Schlotz & Phillips, 2009). Zudem scheint angestellt, um zu prüfen, ob überhaupt und
der weibliche Körper für die völlige Wieder- gegebenenfalls welche Persönlichkeitsunter-
herstellung optimaler Entwicklungsbedin- schiede in Abhängigkeit von der Geschwis-
gungen eine längere Zeitspanne zu benöti- terposition konsistent berichtet werden. Ganz
gen, als sie durch den Wiedereintritt der allgemein macht ihre Analyse deutlich, dass in
Konzeptionsfähigkeit angezeigt wird. den meisten der dazu durchgeführten Arbei-
Zudem lässt das von Foster und Archer ten weder der sozioökonomische Status noch
(1979) zusammengestellte Material die alter- die Zahl der Geschwister beim Vergleich
native Erklärung zu, dass das Immunsystem verschiedener Geburtspositionen kontrolliert
der Mutter das Gehirn des Embryos schädigt wurde. Unter Berücksichtigung dieser Hin-
und diese Effekte, in Wechselwirkungen mit tergrundvariablen reduzieren sich beobach-
den Antikörpern Erstgeborener, bei zukünf- tete Effekte auf ein vernachlässigbares
tigen Schwangerschaften stärker werden. Ausmaß oder sie fallen inkonsistent aus.
Entgegen landläufiger Meinung stellte
sich ein größerer Geschwisterkreis als nach-
Persönlichkeit teilig für die Sozialisation heraus, da Befra-
gungen von Eltern zufolge sich diese dann
Seit Jahren gibt es eine Fülle von Arbeiten, die weniger um die schulischen Belange küm-
sich mit der Ausbildung von Persönlichkeits- mern konnten, mehr mit Strafe reagierten
merkmalen bei Geschwistern in unterschied- und nicht in der Lage waren, ein befriedi-
licher Geburtsposition beschäftigen. In die- gendes Verhältnis zu den Kindern herzustel-
sem Bereich fehlten allerdings lange Zeit len. Entsprechend sollte die Interpretation
kohärente Theorien, die es erlauben würden, von möglichen Persönlichkeitsunterschieden
die Befunde aus verschiedenen Persönlich- zwischen Geschwistern unterschiedlicher
keitsdimensionen unter einer halbwegs ein- Geburtsposition an einer unterschiedlichen
heitlichen Perspektive zu sehen. Stattdessen Sozialisation ansetzen. In der Tat erfahren
überwogen Ad-hoc-Erklärungen derart, Ge- Erstgeborene während der frühen Kindheit
schwisterreihungseffekte durch drei Arten mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung so-
von Prozessen zu erklären, nämlich solche, wie eine intensivere sprachliche Stimulation
die durch die Eltern, durch Interaktion mit als später Geborene, während ihnen im
Geschwistern und auch das Fehlen von Ge- Vorschulalter mit stärkerer Kritik und weni-
schwistern verursacht werden. Naheliegend ger Gefühl begegnet wird. Die vielzitierte
sind Interpretationen etwa in dem Sinne, eine »Entthronung« als Folge der Geburt eines
höhere Ängstlichkeit bei Erstgeborenen auf jüngeren Geschwisters (ein Konzept, das auf
die Unerfahrenheit der Eltern oder deren die Psychoanalyse von Alfred Adler zurück-
übergroße Vorsicht im Umgang mit Kindern geht) stört die Beziehungen zur Mutter er-
zurückzuführen, erhöhte Ängstlichkeit bei heblich und führt während der ersten Mo-
später Geborenen hingegen darauf, dass nate zu einigen Verhaltensstörungen. Tat-
diese lange Zeit unter ihren stärkeren Ge- sächlich gab es Hinweise auf eine Häufung
schwistern hätten leiden müssen. Tritt die von Zwangsneurosen sowie höhere Neuro-
569
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
tizismus- und Ängstlichkeitswerte unter Erst- 2003). Zudem fanden Healey und Ellis
geborenen. Weiterhin identifizieren sich die (2007) an zwei getrennten Stichproben in-
Erstgeborenen stärker mit ihren Eltern und nerhalb und zwischen Familien bei Erstge-
akzeptieren deren Autorität eher, was bei borenen hypothesengerecht höhere Punkt-
ihnen, relativ zu den später Geborenen, zur werte in »Gewissenhaftigkeit« (verantwor-
Ausbildung geringerer sozialer Fertigkeiten tungsbewusst/gut organisiert, sorgfältig in
führen mag. Als Resümee stellten Ernst und der Schule), bei später Geborenen höhere
Angst (1983, S. 240–241) fest, dass weder Werte in »Offenheit für Erfahrungen«
Geburtenabfolge noch Geschwisterzahl ei- (rebellisch, nichtkonformistisch, offen für
nen starken Einfluss auf die Persönlichkeit zu neue Erfahrungen). Auch die höheren
haben scheinen, wie auch eine Studie an fast Extraversionswerte der später geborenen
10 000 Probanden ergab (Jefferson et al., Geschwister gegenüber den früher gebore-
1998). Das verfügbare Material weist statt- nen Geschwistern (die Zahl der Geschwister
dessen auf unvollständige Familien, einen variierte zwischen 6 und 16!) in der Unter-
unfreundlichen Erziehungsstil und eine vor- suchung von Dixon et al. (2008) sehen die
zeitige Unterbrechung der Beziehungen zu Autoren in Übereinstimmung mit Sulloways
den Eltern als Begleitumstände von Neuro- Nischentheorie, weil extravertiertes Verhal-
tizismus hin (Ernst & Angst, 1983, S. 284). ten ein Mittel sein mag, um die Aufmerk-
Erst Sulloway (1996) hat eine kohärente samkeit der Eltern zu erhöhen. Allerdings
Theorie zur Ausbildung von Persönlich- fanden Dunkel et al. (2009) bei einer sorg-
keitsmerkmalen in Abhängigkeit von der fältigen Kontrolle konfundierender Hinter-
Geschwisterabfolge formuliert. Sie basiert grundvariablen an 710 Studierenden, die
auf evolutionstheoretischen Überlegungen neben einem Fragebogen zum Fünf-Fakto-
insofern, als höhere elterliche Investitionen ren-Modell der Persönlichkeit auch einen
(etwa in materiellen, kognitiven oder inter- Fragebogen zur eigenen Identität (z. B. »Ich
personalen Einheiten) die Wahrscheinlich- fühle mich völlig ausgereift«) bearbeiteten,
keit für das Überleben der Nachkommen keine bedeutsamen Unterschiede in Abhän-
erhöht. Unterschiede in der Persönlichkeit gigkeit von der Geburtsabfolge.
entstehen daraus, dass die Eltern ihre be- Insgesamt spricht die Befundlage dafür,
grenzten Ressourcen auf die Kinder unter- dass Geschwistereffekte im Persönlichkeitsbe-
schiedlich verteilen, und zwar abhängig von reich – sofern sie überhaupt zu sichern sind –
deren momentaner oder erwarteten Fitness. allenfalls sehr schwach ausgeprägt sind. Die
Umgekehrt bemühen sich die Geschwister meisten der durchgeführten Studien werden
um die Ressourcen und konkurrieren darin der beträchtlichen Komplexität des For-
miteinander, indem sie verschiedene »Ni- schungsfeldes nicht annähernd gerecht, denn
schen« in der Familie besetzen, d. h. unter- schon die Messung der Geburtenabfolge er-
schiedliche Strategien anwenden im Bestre- weist sich als schwierig: Wie steht es um die
ben, die Gunst und Zuneigung der Eltern Rolle von Stief-, Halb- und Adoptivgeschwis-
auf sich zu lenken. Dabei würden sich die tern, geschiedenen Eltern, den zeitlichen Ab-
älteren Geschwister mit den Eltern und stand zwischen den Geburten, im Weiteren das
deren Autorität identifizieren und den Sta- (mit steigender Zahl der Kinder zunehmende)
tus quo unterstützen, die jüngeren Ge- Alter der Eltern und deren sozioökonomischen
schwister hingegen dagegen rebellieren. In Status, schließlich das jeweilige Investment von
der Tat konnte seitdem ein höheres Maß an Eltern in ihre Kinder und umgekehrt deren
»Aufsässigkeit« bei den später im Verhältnis Identifikation mit den Eltern – alles Fragen, die
zu den früher Geborenen beobachtet wer- bei einer umfassenden Prüfung Berücksichti-
den (Paulhus et al., 1999; Rohde et al., gung finden müssten (c Kasten 14.6).
570
14 Umweltfaktoren
Eine der Aussagen in Sulloways Nischentheorie geht dahin, dass Erstgeborene innerhalb
der Familie als Ersatzeltern agieren und die Rolle eines Aufsehers einnehmen. Dieser Aspekt
ist Teil der evolutionären These von der Verwandtschaftsselektion. Danach können
Individuen ihre Fitness nicht nur durch die eigene Fortpflanzung erhöhen, sondern auch
durch eine Investition von Zeit und andere Ressourcen in Verwandte. Dabei ist die
Beziehung nicht symmetrisch, weil ältere Individuen die Fitness ihrer jüngeren Geschwister
in einem größeren Ausmaß oder zu geringeren Kosten steigern können als umgekehrt.
Zudem haben jüngere Personen im Vergleich zu älteren einen höheren reproduktiven Wert,
d. h. ein weiter in die Zukunft reichendes Potential. Daraus leitet sich die Erwartung ab,
dass ältere Geschwister eher in jüngere investieren als umgekehrt.
Als Indikator für die besagten Investitionen wählten Pollet und Nettle (2007) die
Häufigkeit von direkten Kontakten mit Geschwistern. Diese können näherungsweise für
unterstützendes Verhalten und die Bereitschaft stehen, Kosten in Kauf zu nehmen, wenn
damit dem Geschwister geholfen wird.
Insgesamt 1558 Personen im mittleren Alter von 43 Jahren teilten in einem Interview unter
anderem mit, wie häufig sie ein Geschwister in den letzten 12 Monaten gesehen hatten. Das
zentrale Ergebnis bestätigte die Vorhersagen: Die Erstgeborenen hatten häufiger als die
später Geborenen »mindestens einmal pro Woche« Kontakt zu ihren Geschwistern
(c Abb. 14.12). In den anderen Zeitkategorien gab es keine signifikanten Unterschiede.
0,4
relative Häufigkeit
0,3
0,2
0,1
en
e ne en
e
r ore r
bo eb bo
e g ge
stg el zt
Er itt Le
t
M
Abb. 14.12: Geburtsreihenfolge und relative Häufigkeit des Kontaktes mit den Geschwistern in den
vergangenen 12 Monaten (nach Pollet & Nettle, 2007).
571
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
572
14 Umweltfaktoren
573
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Arbeitskreis um Herrmann (1968; Stapf einen mögen den negativen Konsequenzen eines
et al., 1972) Darin wurde mit Hilfe eines Aufwachsens in einer konfliktträchtigen Familie
diejenigen entgegenstehen, die daraus resultieren,
Fragebogens – getrennt für Vater und Mutter wenn Eltern sich trennen. Zum anderen mögen
– das Ausmaß erfasst, in dem aus der Sicht- einige Sozialisationsvorteile daraus erwachsen,
weise des Kindes das Erziehungsverhalten dass Kinder mit ihrer Mutter allein aufwachsen.
durch Unterstützung oder Strenge gekenn- So können Kinder von allein erziehenden Müttern
zeichnet ist. Die dafür jeweils bestimmten ein größeres Ausmaß an Verantwortlichkeit und
Selbstgefühl entwickeln (…), das ihnen letztlich
Skalenteile interkorrelieren negativ in nied- auf dem Arbeitsmarkt zum Vorteil gereicht.«
riger bis mittlerer Höhe. Motivierbarkeit
durch Anreize, positive Zukunftserwartung, Bei einer Kontrolle des sozioökonomischen
bessere Schulleistungen, aber auch Ängst- Status an vielen tausend Familien gelangte
lichkeit und verstärkte Konformitätsneigung auch DeBell (2008) zu der Feststellung, dass
gingen mit elterlicher Unterstützung einher. nur noch geringe Unterschiede zulasten von
Häufig sind die Beziehungen allerdings Scheidungskindern in Bezug auf Gesundheit
von komplexer Natur. Beispielsweise waren und schulische Leistungen bestünden und
bei der Analyse problematischen Verhaltens dass von daher in der Volksmeinung die
in einer holländischen Untersuchung mit abträglichen Effekte von fehlenden Vätern
längsschnittlichem Design und zwei sehr wohl überschätzt würden. Hierin wird der
großen Stichproben replizierbare Wechsel- Wandel in der gesellschaftlichen Akzeptanz
wirkungen zwischen dem elterlichen Erzie- von alleinerziehenden Müttern und Vätern
hungsverhalten und den Persönlichkeits- und der Rolle von helfenden sozialen Netz-
merkmalen der Kinder zu beobachten (Van werken sowie staatlichen Unterstützungen
Leeuwen et al., 2004). deutlich.
In Hinblick auf die interne Validität
(Erklärungseindeutigkeit) kommen den
längsschnittlichen Untersuchungen auf den 14.3.5 Übung, Training,
ersten Blick die Studien mit abwesenden
Unterweisung
Vätern nahe (engl. »father absence«). Nach
häufig berichteter Beobachtung zeigen Kin-
Definitionen und methodische Probleme
der alleinerziehender Mütter etwas vermin-
derte kognitive und schulische Leistungen
»Übung macht den Meister« lehrt ein altes
(z. B. Shinn, 1978). Die Unterschiede in
Sprichwort, und in der Tat gibt es keine
kognitiven Leistungen, dem Selbstgefühl
praktisch bedeutsame psychische Funktion
und der Delinquenzneigung zwischen Schei-
mit Leistungscharakter, die nicht durch
dungskindern und Kindern mit zwei erzie-
Schulung verbessert werden könnte. Nach
henden Elternteilen verschwinden jedoch
allem, was über die Ausformung von Fertig-
meist, wenn der sozioökonomische Status
keiten durch das Ineinanderwirken geneti-
kontrolliert wird (Barber & Eccles, 1992; s.
scher und umweltmäßiger Faktoren gesagt
auch die Abhandlung von Jeynes, 2002).
wurde, kann eine solche Feststellung nicht
Ihre Literaturübersicht abschließend stellen
überraschen: Übung stellt eine Massierung
Barber und Eccles (1992) fest:
bestimmter Anregungsbedingungen dar.
Unter bestimmten Voraussetzungen lassen
»Sicher ist es im Allgemeinen richtig, dass zwei
Elternteile die Aufgabe, die Kinder zu erziehen, sich über die Wiederherstellung externaler
besser erledigen können als nur ein Elternteil. Aber und internaler Faktoren bestimmte Verhal-
daraus folgt nicht, dass es allen Kindern besser tensweisen direkt wiederholen. Diese Me-
geht, wenn ihre Eltern zusammenbleiben. Zum thode weist augenscheinlich Vorteile bei
574
14 Umweltfaktoren
einfachen kognitiven und motorischen Pro- rer Faktoren wie Einsicht, Regellernen, Ver-
zessen wie Kopfrechnen, Radfahren etc. auf. gessen, Hemmungen und dergleichen.
In einem solchen Fall spricht man von »di- Für die Differentielle Psychologie ergeben
rekter Übung« oder Training. Stellt man fest, sich daraus mehrere Probleme: Die interpre-
dass die Beschäftigung mit spezifischen Ma- tative Einordnung einer individuellen Merk-
terialien oder Verhaltensweisen das Leis- malsausprägung ist immer dann faktisch
tungsniveau in anderen, nicht unmittelbar unmöglich, wenn nicht zugleich Anhalts-
geübten Funktionen positiv beeinflusst, hat punkte über den Grad der erfahrenen Vor-
man es mit einer »Mitübung« zu tun. Schließ- übung gegeben sind. Der individuelle
lich ist an die verbale oder anschauliche Übungsverlauf kann interindividuell (und
Vermittlung sehr allgemeiner Prinzipien für über verschiedene Aufgaben hinweg auch
unser kognitives und soziales Verhalten intraindividuell) sehr verschieden aussehen,
durch Vorgänge und Personen in Familie, zeigt in der Regel jedoch mit zunehmender
Schule und Beruf zu denken. Dann spricht Übung die für die allgemeine Wachstums-
man von »Erziehung und Bildung«. Die funktion typische Abflachung. Je nachdem,
konkrete Ausprägung in Variablen wie Wort- zu welchem Zeitpunkt des Übungsverlaufes
flüssigkeit, mechanisch-technischem Ver- Aussagen im Sinne einer punktuellen
ständnis oder sozialer Intelligenz erklärt sich Momentaufnahme gemacht werden, mögen
gewöhnlich als das Endprodukt eines im die Feststellungen über die relative Position
Nachhinein nicht mehr auflösbaren Wir- zweier Probanden zueinander verschieden
kungsgeflechtes dieser Prinzipien und weite- ausfallen (c Abb. 14.13).
C
E
B
A
Messwerte
t1 t2 t3
Zeitpunkte
575
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Verbunden ist damit offenkundig eine – Veränderungen erfährt, etwa im Sinne der in
gegenüber dem »Endzustand« der asympto- Abbildung 14.13 veranschaulichten Funk-
tischen Abflachung – ganz allgemein redu- tion. Daneben könnten auch qualitative Mo-
zierte Reliabilität der Messwerte. Hinzu difikationen stattfinden. Anlass zu derartigem
kommt eine nur geringe Aussicht, das jewei- Zweifel lieferten erstmals die Trainingsver-
lige Verhaltensmaximum oder die Entwick- suche von Bryan und Harter (1899), in denen
lungsmöglichkeiten valide vorherzusagen; die Fertigkeit beim Erwerb und der Ausübung
dem stehen die unterschiedliche Steilheit des Morsens untersucht wurde. Für sinnfreie
und Höhe individueller Lernkurven ent- Texte zeigte sich eine negativ beschleunigte
gegen. Dies ist einer der Gründe dafür, Funktion von nur geringer Steigung und
warum bereits seit geraumer Zeit verstärkt Höhe. Im Falle der Verarbeitungsgeschwin-
eine »Prozessdiagnostik« anstelle der her- digkeit für sinnvolle Texte hingegen kam es
kömmlichen »Statusdiagnostik« gefordert nach einer anfänglich dem sinnfreien Mate-
wird (s. Pawlik, 1976). rial ähnlichen Übungskurve mit einem länge-
Darüber hinaus erscheint es fraglich, ob ren Plateau zu einem erneuten markanten
unter dem Einfluss von Übung und Training Leistungsanstieg, sodass sich das Bild zweier
die untersuchte Funktion in ihrer psychologi- aufeinander gestellter, seitlich verschobener
schen Bedeutung tatsächlich nur quantitative Lernkurven ergab (c Abb. 14.14).
108
Leistung in Buchstaben pro Minute
sinnvoller Text
96
84
72
unverbundene Wörter
60
48 unverbundene Buchstaben
36
24
12
1896 1897
Abb. 14.14: Individuelle Leistung einer Versuchsperson in Buchstaben pro Minute während aufeinan-
derfolgender Übungsabschnitte. Die oberste Linie bezeichnet die Morsegeschwindigkeit für
sinnvollen Text, die mittlere für unverbundene Wörter, die untere für unverbundene
Buchstaben (nach Bryan & Harter, 1899).
Die damit für die Übermittlung sinnvoller re Silbenzahl erklärt sich letztlich durch die
Zusammenhänge realisierte wesentlich höhe- nach einer gewissen Zeit vorgenommene
576
14 Umweltfaktoren
Definition der Übung. Die Übung kann als gleich gelten, wenn die Zahl der darauf
verwendeten Durchgänge bzw. Wiederholungen oder aber die damit zugebrachte Zeit
identisch ist. Geht man davon aus, dass die bereits zu Beginn leistungsfähigeren Probanden
in der Zeiteinheit mehr von einem Übungsangebot profitieren als die weniger leistungs-
fähigen, stellen fixierte Wiederholungszahlen für sie eher eine Benachteiligung, festgelegte
Zeiten dagegen eine Bevorzugung dar.
Festlegung des Übungsgewinns. In zahlreichen Leistungsbereichen wird das erzielte
Niveau durch die Zahl der in gegebener Zeit gelösten Aufgaben ausgedrückt. Durch
einfache Beispiele, die nur unterschiedliche Ausgangswerte der Probanden vorsehen
müssen, ist leicht aufzeigbar, dass je nachdem, ob ein übungsbedingter Zuwachs an
gelösten Aufgaben oder ein solcher an benötigter Zeit zugrunde gelegt wird, sich völlig
verschiedene Aussagen ergeben.
Interpretation von Variabilitätsmaßen. Im Zuge der allgemeinen Frage, inwieweit
Übung die Unterschiedlichkeit der Individuen beeinflusst, ob diese im Sinne einer
Vergrößerung oder Verringerung der Variabilität wirkt, entsteht gewöhnlich die Notwen-
digkeit, Varianzen miteinander zu vergleichen, die auf Messwerten mit unterschiedlichen
Mittelwerten beruhen. Etwa könnte ein Kreativitätstraining die durchschnittlichen Punkt-
werte beträchtlich erhöht, aber auch die Varianzen vergrößert haben. Solange aber die
Skalen keine Verhältnisqualität aufweisen, ist jeder Bezug auf die Mittelwerte und ein
darauf aufbauender Vergleich der Varianzen letztlich wertlos.
Ausschaltung der statistischen Regression. Erfahrungsgemäß zeigen Messwerte mit
fehlender absoluter Zuverlässigkeit die Tendenz, bei Wiederholung der Messung zum
Mittelwert der jeweiligen Verteilung zu regredieren, anscheinend deshalb, weil die seltene
Kombination von zufälligen Faktoren, die einen Messwert zusätzlich als extrem hoch oder
extrem niedrig ausfallen lässt, im Wiederholungsfall nicht in derselben Weise auftritt
(Postulat von der Zufallsverteilung von Fehlerfaktoren). Bei Vortest-Nachtest-Messungen
mit zwischengeschalteten Übungen muss dadurch aber mit unterschiedlichen Mittelwerts-
differenzen der Randgruppen gerechnet werden.
Ausgangswertegesetz. Schließlich stellt die in der Biologie und Stochastik bekannte Regel
von der negativen Korrelation zwischen Ausgangswert und Zuwachs einen weiteren Faktor
dar, der Kopfzerbrechen bereitet, handelt es sich dabei doch um ein Phänomen, dessen
einzelne Komponenten (statistische Regression, mathematische Artefakte, biologische
Homöostase u.Ä.) noch nicht für jeden Funktionsbereich bekannt sind (Stemmler, 2003).
577
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
578
14 Umweltfaktoren
bis zu 30 IQ-Punkten gegenüber einer unbe- Variation. Anders dagegen bei Fragebogen:
handelten Kontrollgruppe im Laufe von Wenn hier zwischen wiederholten Bearbei-
8 Jahren auf ungefähr 10 Punkte. Vor allem tungen Mittelwertsdifferenzen auftreten
waren in den schulischen Leistungen auf dem (Amelang & Bartussek, 1970), sind derartige
insgesamt recht niedrigen Niveau der Kinder Effekte natürlich nicht auf Übung in irgend-
nur unbedeutende Differenzen zwischen ex- einer Form zurückzuführen; vielmehr spie-
perimenteller und Kontrollgruppe zu beob- geln Mittelwertsdifferenzen vermutlich die
achten, was die Vermutung nahelegt, dass die geänderten Einstellungen und Erwartungen
Übung vorwiegend die Beherrschung des der Probanden bezüglich des Untersuchungs-
Iteminhalts der Tests verbesserte, ohne mit zieles und der Gesamtsituation wider.
einer substantiellen Anhebung von g einher- Größere Schwierigkeiten als das Aufzei-
zugehen (s. Jensen, 1989). gen von Mittelwertsunterschieden zwischen
Betrifft die Übung oder die Erhöhung der Gruppen unterschiedlichen Übungs- und
Testweisheit nur das Testverhalten, muss Vertrautheitsgrades bereitet die Frage, inwie-
darunter zwangsläufig die Validität der je- weit Training die Unterschiede zwischen den
weiligen Skala leiden, weil an solchen Unter- Messwertträgern beeinflusst. Maßgeblich
suchungen sowohl geübte als auch ungeübte dafür ist die für eine solche Problemstellung
Probanden teilnehmen. Die geübten Proban- gewöhnlich nicht hinreichende Skalenquali-
den sind im Test zwar besser, können diesen tät der verfügbaren Verfahren, vor allem also
Vorteil aber nicht auch im Kriterium aus- das Kriterium der Gleichabständigkeit ein-
spielen – ein Problem, das etwa angesichts zelner Skaleneinheiten auf verschiedenen Ab-
eines Einsatzes von Leistungstests bei der schnitten der jeweiligen Dimension. In einer
Vergabe von Studienplätzen in harten NC- bereits älteren, aber beispielgebenden Unter-
Fächern und dem Angebot von »Test- suchung hat Anastasi (1934) an einer Stich-
Übungsinstituten« eine erhebliche praktische probe von nicht weniger als 1000 Versuchs-
Bedeutung aufweist. personen zunächst diese Voraussetzungen für
Andererseits ist auch vorstellbar, dass die mehrere einfache Tests zu schaffen versucht
Auswirkungen gezielter Unterweisung so und die Verfahren sodann gesonderten Stich-
generell ausfallen, dass davon sowohl das proben in sukzessiven Übungsdurchgängen
Test- als auch das Kriteriumsverhalten be- vorgegeben. Die Tests sahen das Ankreuzen
troffen ist und darüber die Validität eines des Buchstaben »A«, das Unterstreichen aller
Verfahrens erhöht wird. Im letzteren Sinne 4-Buchstaben-Wörter in einem Text, die Zu-
dürfte der Faktor »Sozioökonomischer Sta- ordnung von Ziffern zu Symbolen sowie von
tus« mit seinen unterschiedlichen Anre- sinnfreien Silben zu anderen Silben vor.
gungs- und Bildungsmöglichkeiten wirken; Einen Ausschnitt gibt die folgende Tabelle
durch Herauspartialisierung seines Einflusses 14.8 wieder.
ist eine erhebliche Schrumpfung der üblichen Neben dem zu erwartenden Anstieg der
Validitätskoeffizienten zu befürchten. Mittelwerte in Form der negativ beschleunig-
Bemerkenswerterweise treten Mittel- ten Wachstumsfunktion kam es in allen Tests
wertsdifferenzen auch bei der wiederholten zu einer Vergrößerung der Standardabwei-
Vorgabe einiger Persönlichkeitstests auf. Im chungen. Die Probanden wurden durch
Falle verschiedener projektiver Verfahren Übung einander also unähnlicher. Aus den
kann das nicht verwundern, weil die Pro- in der Tabelle ebenfalls mitgeteilten Korrela-
banden teils ihre zuerst gelieferten Deutun- tionskoeffizienten geht hervor, dass größere
gen erinnern und zusätzliche produzieren, Rangplatzverschiebungen eher selten auftre-
teils vielleicht ganz andere Lösungen erarbei- ten (Ausnahme: Zahlen-Symbol-Test), die zu
ten unter dem selbstauferlegten Zwang zur Beginn bestehenden Unterschiede vielmehr
579
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Tab. 14.8: Mittelwerte und Standardabweichungen von vier Tests in verschiedenen Übungsabschnitten.
M s M s M s M s
r (1/15) 0,82
M ¼ Mittelwert, s ¼ Standardabweichung. Nach Anastasi (1966).
weiter akzentuiert werden. Die anfänglich die Quantität der Leistung ansteigen lässt,
Besseren ziehen aus der zeitbegrenzten sondern auch zu qualitativen Verschiebun-
Übung also den größeren Nutzen – ein aus gen auf Seiten der eingesetzten psychischen
der Forschung zur Intelligenzentwicklung Funktionen führt. Ähnlich wird eine zeich-
bekanntes Ergebnis. nerische Vorlage zu einem mechanisch-tech-
Die interindividuellen Differenzen nach nischen Problem bei Menschen, denen Zahn-
exzessiver Übung etwa als Ausdruck geneti- räder und Transmissionsriemen kaum ver-
scher Unterschiede interpretieren zu wollen traut sind, andere Funktionen mobilisieren
verbietet sich schon deshalb, weil bereits die als bei Personen, die damit täglichen Umgang
zu Beginn bestehenden Leistungsunterschie- haben.
de das kumulative Produkt des komplizierten Die Umstrukturierung der psychischen
Wechselspiels von Anlage- und Erfahrungs- Prozesse kann eine mehr beiläufige Folge
faktoren darstellen. der situativen Bedingungen sein. Anderer-
seits mag die Anwendung geänderter Be-
arbeitungsstrategien durch den Handelnden
Beeinflussung von Strukturmerkmalen erst die Voraussetzung für einen nennens-
durch Übung werten Übungsfortschritt darstellen. Ein der-
artiger Fall liegt wohl in der bereits geschil-
Relativ schwierige Denkaufgaben, wie sie derten Untersuchung von Bryan und Harter
etwa im Denksport-Test von Lienert (1964) (c Abb. 14.14) vor.
zusammengestellt sind, werden bei einer Wenngleich auch das Kausalitätsproblem
wiederholten gegenüber der ersten Vorgabe noch offen ist, so gehen markante Änderun-
z. T. mit Hilfe ganz anderer psychischer gen im Einsatz der psychischen Funktionen
Prozesse bearbeitet. Die originellen Lösun- mit besonders ausgeprägten Übungsfort-
gen bleiben im Gedächtnis haften und brau- schritten einher. Dafür sprechen jedenfalls
chen später, unter Umgehung der ursprüng- schon die Befunde von Greene (1937), der in
lich erforderlichen Operationen, nur abgeru- fortlaufenden Übungsdurchgängen neben
fen zu werden – ein Beispiel dafür, wie den individuellen Leistungen über Selbstbe-
Vertrautheit mit Anforderungen nicht nur obachtung und Fremdeinschätzungen den
580
14 Umweltfaktoren
Übungsdurchgänge
1 2 3 4 5 6 7 8
6 0,85 0,86
7 0,90
Nach Fleishman und Hempel (1954, S. 243).
Bei dem besagten Modell handelt es sich den hätte (»natürliche Entwicklung«). Die
keineswegs nur um einen Sonderfall. Viel- Interkorrelationen folgten weitestgehend
mehr scheint es auch für Gegebenheiten dem in Tabelle 14.9 erkennbaren Muster.
außerhalb experimenteller Anordnungen zu Pawlik (1982b) stellte aus der Literatur und
gelten. So haben Ahnert et al. (2009) die dem eigenen Arbeitskreis 36 Datensätze zu-
Entwicklung motorischer Leistungen vom 4. sammen und konnte die Super-Diagonalform
bis zum 23. Lebensjahr untersucht, ohne dass von Lern- und Übungskorrelationen bestäti-
zwischen den insgesamt sieben Erhebungs- gen. Im Mittel aller Untersuchungen war
zeitpunkten ein gezieltes Training stattgefun- festzustellen, dass sich die Korrelation zweier
581
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
582
14 Umweltfaktoren
Prozent
100
Rechenfertigkeit
Restvarianz
80
psychomotorische
Geschwindigkeit
manuelle Geschwindigkeit
Veranschaulichung
60
Wahrnehmungsgeschwindigkeit
mechanische Kenntnisse
psychomotorische Koordination
räumliche Beziehungen 40
20
testspezifische Faktoren
0
1 2 3 4 5 6 7 8
Versuchsdurchgang
Abb. 14.15: Der Anteil der Varianz verschiedener Faktoren an der Leistung in einem Koordinationstest
nach unterschiedlicher Einübung (nach Fleishman & Hempel, 1954).
Ackerman (1987) hat die Daten von Fleish- l Autonome Phase 3, prozedurale Stufe:
man und Hempel einer Reanalyse unterzo- Automatisierung, zeitliche Optimierung
gen. Dieses geschah unter Zugrundelegung und Effektivierung der zuvor erworbenen
eines allgemeinen Modells für den Erwerb Fertigkeiten, Feinabstimmung.
von Fertigkeiten, das geeignet scheint, der
Entwicklung von Novizen zu Experten ge- Nach Ackerman (1987) sind für die optimale
recht zu werden. Das Modell sieht im We- BewältigungderdreiPhasenganzunterschied-
sentlichen drei Abschnitte vor: liche Fähigkeiten von Bedeutung. Dabei ver-
laufe die Ausbildung einer Fertigkeit entlang
l Kognitive Phase 1, deklarative Stufe: Er- eines Kontinuums mit den Polen »Niveau«
werb deklarativen Wissens über den und»Geschwindigkeit«.ImEinzelnenkomme
Gegenstandsbereich, die einzelnen Wis- für die erste Phase den allgemeinen kognitiven
senselemente stehen noch unverknüpft Fähigkeiten eine vorrangigeRollezu,während
nebeneinander. für Phase 2 vor allem Wahrnehmungsge-
l Assoziative Phase 2, Stufe der Wissens- schwindigkeit und für Phase 3 psychomotori-
verknüpfung: Verbindung der Elemente sche Leistungen wichtig seien, oder – unter der
zu größeren Einheiten, Überführung des Perspektive des Verlaufes – von Phase 1 über
deklarativen Zustandes in einen prozedu- Phase 2 nach 3 gehe der Einfluss von allgemei-
ralen, Ausbildung bereichsspezifischer ner Intelligenz zurück, während derjenige von
und auf die typischen Anforderungen Psychomotorik zunehme; die Bedeutung von
zugeschnittener Verhaltensweisen. Wahrnehmungsgeschwindigkeit nehme von
583
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Phase 1 nach 2 zu und gehe dann von 2 nach 3 tiven Determinanten interindividueller Unter-
wieder zurück. schiede nahegelegt. Sicher gilt die Theorie in
Die Reanalysen der von Fleishman und ihrer spezifischen Ausgestaltung nur für Pro-
Hempel erhobenen Daten durch Ackerman bleme, in denen motorische Operationen statt-
(1988) sprachen insoweit für diese theoreti- finden, also Tätigkeiten, wie sie im militäri-
sche Konzeption, als mit Zunahme der Übung schen und industriellen Bereich häufig sind,
die Korrelationen zwischen einigen Leis- weniger dagegen etwa für Anforderungen, wie
tungsvariablen und Wahrnehmungsschnel- sie etwa beim Schach bewältigt werden müs-
ligkeit abnahmen, diejenigen mit psychomo- sen, wo kognitiven Faktoren im Vergleich zu
torischem Geschick hingegen zunahmen. In motorischen ein ungleich höheres Gewicht
einem gesonderten Experiment wurde die zukommt. Beaunieux et al. (2006) unterschie-
Generalisierungsfähigkeit dieser Beobach- den aber auch bei einer Lernaufgabe mit
tungen an einer Aufgabe von größerer Kom- primär kognitiven Ansprüchen (einer Variante
plexität geprüft. An einem Bildschirm sitzend des Turms von Hanoi) mit fortlaufender
mussten die 56 Probanden fortlaufend Ent- Übung die drei Abschnitte kognitiv-assozia-
scheidungen an einem Fluglotsen-Simulator tiv-autonom. Während der frühen Übungs-
treffen. Die während der verschiedenen durchgänge bestanden positive Korrelationen
Übungsstadien ermittelten Korrelationen zur Intelligenz der 100 Versuchsteilnehmer,
der Leistung in dieser Aufgabe mit Referenz- während der späten solche zu den psychomo-
tests sind in Abbildung 14.16 wiedergegeben. torischen Fähigkeiten, was vollständig den
Vorhersagen entsprach (c Abb. 14.17).
0,4 Unter Heranziehung der sehr aufwen-
Korrelationskoeffizient
digen Positronen-Emissions-Tomographie
0,3 konnten zudem Hubert et al. (2007) an 12
Versuchsteilnehmern zeigen, dass ganz
0,2 unterschiedliche Areale des Gehirns während
jeder dieser Phasen aktiv sind – eine ein-
0,1 drucksvolle Bestätigung für die Angemessen-
heit der Phasenunterscheidung.
0 In ihrer Gesamtheit sprechen die Befunde
1 2 3 4 5 6 dafür, dass individuelle Leistungen, die inter-
Trainingssitzungen und/oder intraindividuell in unterschiedli-
chen Übungsstadien erbracht werden, auch
Reaktionszeit
differentiell zu interpretieren sind, d. h., in
Wahrnehmungsgeschwindigkeit einem Fall mag eine spezifische Leistung vor
Allgemeines Schlussfolgern allem durch Handgeschick, in einem anderen
dieselbe vor allem durch kognitive Faktoren
Abb. 14.16: Die Bedeutung von Allgemeiner bedingt sein. Ein besonderes Problem ergibt
Intelligenz, Wahrnehmungsge-
schwindigkeit und Reaktionszeit bei
sich dabei aus dem Umstand, dass ein be-
einer Fluglotsen-Aufgabe als Funk- stimmter Punktwert für sich keine Aussagen
tion des Trainingsgrades (nach über den jeweiligen Übungszustand enthält;
Ackerman, 1988). darüber könnten allenfalls wiederholt durch-
geführte Messungen etwas aussagen. Aber:
Wie ersichtlich, wurden die Vorhersagen aus Auf stattgefundene Übung hin allein darauf
dem Modell überzeugend bestätigt, d. h. Äqui- schließen zu wollen, dass Testteilnehmer im
valenzen zwischen drei breiten Phasen von Wiederholungsfall nur einen vergleichsweise
Fertigkeitserwerb und drei intellektuell-kogni- geringen Übungsgewinn zeigen, ist zumindest
584
14 Umweltfaktoren
0,7
0,6
0,5
Korrelationskoeffizient
0,4
0,3
0,2
0,1
–0,1
5 10 15 20 25 30 35 40
Durchgänge
Abb. 14.17: Korrelationen zwischen der Leistung bei der Bearbeitung des »Turms von Hanoi« und
Intelligenz (Linie mit Sternchen) bzw. psychomotorischen Fähigkeiten (Linie mit Punkten)
während der 40 Übungsdurchgänge. Die horizontale Linie markiert die Signifikanzgrenze
bei alpha ¼ 0,05 (nach Beaunieux et al., 2006).
bei Konzentrationstests nicht gerechtfertigt Ausmaß, in dem ihre Erscheinung auf andere
(Hagemeister, 2007). apart oder anmutig wirkt. Attraktives Äuße-
Die hier gegebene Sachlage ist derjenigen res, das evolutionspsychologischen Konzep-
ähnlich, wonach Leistungen in unterschied- ten zufolge ein Hinweis auf Gesundheit und
lichen Altersabschnitten durch unterschied- Fertilität ist (s. Buss, 2002), erhöht die soziale
liche Faktoren erbracht werden (s. z. B. Deary Aufmerksamkeit; so stellt es häufig den
et al., 2009). Auch ist die Vermutung nicht Anlass für eine erste Kontaktaufnahme von
abwegig, dass extreme von mittleren Leis- Seiten potentieller Partner dar. Auch im
tungen nicht nur in quantitativer, sondern Berufsleben kann eine attraktive Figur und
auch in qualitativer Hinsicht verschieden ein hübsches Gesicht dem Fortkommen
sind. Auf verschiedenen Abschnitten der durchaus dienlich sein. Jedenfalls gibt es
Skala werden andere Funktionen bei der einige Arbeitsplätze, für die physische At-
Erbringung einer Leistung eingesetzt. traktivität unabdingbare Voraussetzung ist.
Zudem bestimmt offenbar das Aussehen
auch mit über den sozialen Status innerhalb
14.3.6 Physische Attraktivität von Gruppen (Anderson et al., 2001). Alles
dies spricht dafür, dass physische Attraktivi-
Die Mitmenschen, die uns umgeben, unter- tät ein Merkmal ist, welches auf den Men-
scheiden sich nicht nur in Bezug auf den schen aus der Umwelt auf ihn oder sie
Typus ihres Körperbaus, sondern auch hin- zurückwirkt und dadurch zu beeinflussen
sichtlich dessen Wohlgestalt, d. h. dem vermag.
585
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
586
14 Umweltfaktoren
Ausbildungs- »Schulen« den voraussichtli- den Äußeren als gesellig erachtet, wird er
chen Erfolg der Behandlung einer ihnen häufigere Einladungen zu Partys und
vorgelegten Aggressionsproblematik ein. Unternehmungen erhalten, Situationen
Die Erfolgserwartung war höher, wenn das mithin, die soziale Fertigkeiten erst einzu-
der fingierten Fallgeschichte beigelegte Foto üben erlauben.
das Gesicht einer attraktiven Klientin zeigte, l Erwartungsgemäßes Verhalten der Ziel-
niedriger hingegen, wenn es das Gesicht einer person wird verstärkt. Vagt und Majert
weniger attraktiven Klientin zeigte. (1977) haben das in folgende These ge-
Angenehm klingende Stimmen führten in kleidet:
der Studie von Zuckerman et al. (1990) zum
Eindruck von höherer emotionaler Stabilität, »Wenn an gut aussehende Menschen überwiegend
positive Erwartungen herangetragen werden,
Bilder von Personen mit gutem Aussehen wenn sie durchweg freundlicher behandelt werden
zum Eindruck höherer Extraversion. Insge- und mehr positive Rückmeldungen erhalten, dann
samt scheint damit die Umwelt auf physische steht zu erwarten, dass sich hübschere Zeitgenos-
Attraktivität differentiell zu reagieren in einer sen auch insgesamt sozial besser akzeptiert fühlen.
Art und Richtung, die den vorwissenschaft- Damit steigt ihr Selbstwertgefühl, und sie können
sich den Erwartungen gemäß verhalten«.
lichen Vermutungen entspricht. Bei sonst
gleichen Voraussetzungen eröffnen sich da- In der Tat fanden Jackson und Huston
durch den attraktiveren Zeitgenossen größe- (1975), dass hochattraktive Frauen schneller
re Chancen und Vorteile als den weniger auf eine experimentell manipulierte Unhöf-
attraktiven (s. auch Schuler & Berger, 1979), lichkeit eines Versuchsleiters reagierten als
und zwar besonders bei der Partnerwahl unattraktive Frauen. Verschiedene Autoren
(s. dazu Mikula & Stroebe, 1991). (s. z. B. Reis et al., 1980) registrierten bessere
soziale Fertigkeiten bzw. eine höhere Rate
sozialer Interaktionen der attraktiven gegen-
Differentialpsychologische über unattraktiven Probanden.
Implikationen Mathes und Kahn (1975) ließen Zielper-
sonen von Kommilitonen hinsichtlich ihrer
Für den Fall, dass solche Beurteilungen und physischen Attraktivität beurteilen, während
die damit verbundene Zuschreibung von die Zielperson einen Persönlichkeitsfragebo-
Eigenschaften zeitlich stabil und situativ gen ausfüllte. Zwar nicht bei den männlichen,
konsistent auftreten, dürften sie auch für wohl aber bei den weiblichen Zielpersonen
die beurteilte Zielperson nicht verborgen korrelierten die Attraktivitätseinschätzungen
bleiben. Auf die Dauer wäre damit die Aus- signifikant mit »Fröhlichkeit« (r ¼ 0,37),
bildung von Verhaltensunterschieden im »negativer Emotionalität« (r ¼ –0,22) und
Sinne der Erwartungen der Umwelt wahr- »Selbstwertgefühl« (r ¼ 0,24). Die Autoren
scheinlich, wobei der Mechanismus dafür im interpretierten diese Ergebnisse wie folgt:
Einzelfall sehr verschieden ausfallen könnte:
»Den Resultaten gemäß ›bringt‹ physische Attrak-
tivität mehr für Frauen als für Männer und die
l Die Zielpersonen werden in ganz ver- auffallendsten Folgen von physischer Attraktivität
schiedene Situationen gebracht. – Freunde und Verabredungen – sind für Studen-
l Den Zielpersonen wird in unterschiedli- tinnen wertvoller als für Studenten. Die herausra-
cher Weise Gelegenheit geboten, be- gend positiven Auswirkungen auf Seiten der at-
traktiven Frauen machten diese glücklicher, psy-
stimmte Verhaltensweisen zu erproben chisch stabiler und stolzer auf sich selbst«.
und zu trainieren. Dies führt zu unter-
schiedlichen Bekräftigungen. Wird je- In Übereinstimmung damit zeigten physisch
mand etwa aufgrund seines ansprechen- attraktive gegenüber weniger attraktiven
587
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Frauen eine höhere Erwartung auf Erfolg in Darüber hinaus liegen Anhaltspunkte dafür
sozialen Situationen (Abbott & Sebastian, vor, dass in das Urteil über die physische
1981). Der Effekt, wonach die physische Attraktivität von Zielpersonen auch Infor-
Attraktivität für Frauen mehr »bringt« als mationen über deren Eigenschaften einfließt.
für Männer, konnte später nicht regelmäßig Die physische Attraktivität wird somit ver-
repliziert werden. Gestützt auf eine umfas- mutlich nicht nur auf der Basis von physi-
sende Meta-Analyse haben Langlois et al. schen Merkmalen eingeschätzt, sondern
(2000) unter anderem die folgenden Feststel- auch unter dem Einfluss von beziehungsrele-
lungen getroffen: Generell werden attraktive vanten Faktoren wie Respekt, Vertrautheit
Personen im Vergleich zu unattraktiven, ob und Verfolgung gemeinsamer Ziele (s. z. B.
Kinder oder Erwachsene, sowohl von Frem- Kniffin & Wilson, 2004). Insofern dürften
den als auch Bekannten positiver einge- fremde Personen auf der einen Seite und
schätzt und auch besser behandelt. Zudem Bekannte sowie Verwandte auf der anderen
zeigen attraktive Kinder und Erwachsene zu recht unterschiedlichen Urteilen der Ein-
relativ zu unattraktiven positivere Verhal- schätzung der physischen Attraktivität von
tensweisen und Persönlichkeitseigenschaf- Zielpersonen gelangen, was der Ausbildung
ten. einer hohen Korrelation zwischen physischer
Selbst- und Fremdurteile zur physischen Attraktivität und Persönlichkeit entgegen-
Attraktivität korrelieren interessanterweise steht.
nur niedrig miteinander. Die Attraktivitäts-
einschätzung bei Selbst- und Fremdbe-
urteilung folgt also unterschiedlichen Infor- Abschließende Erörterung
mationsquellen. In der Meta-Analyse von
Feingold (Feingold, 1992) korrelierten Per- Die Befundlage im hier behandelten For-
sönlichkeitsmerkmale höher mit der selbst- schungsfeld ist – darin anderen Problembe-
eingeschätzten (r ¼ 0,20) als der fremdein- reichen durchaus ähnlich – nicht frei von
geschätzten (r ¼ 0,05) physischen Attrakti- Inkonsistenzen. Das mag zum Teil an der
vität. Eine Übersichtsdarstellung findet sich verschiedentlich unzureichenden Versuchs-
bei Vagt (2000). planung liegen. Im Weiteren sind hier, viel
Möglicherweise ist die entscheidende Va- stärker als bei traditionellen Forschungs-
riable weder die Selbst- noch die Fremdein- gegenständen, die Grundlagen noch nicht
schätzung allein, sondern deren Korrespon- hinreichend aufbereitet. Dies beginnt häufig
denz im individuellen Fall. Zwar bestanden bei der Definition der physischen Attrakti-
bei Amelang et al. (1983) für die Gesamt- vität, für die den Beurteilungspersonen in
stichprobe aller Studienteilnehmer nur unbe- der Instruktion meist keine präziseren
deutende Beziehungen zwischen verschiede- Richtlinien an die Hand gegeben werden,
nen Persönlichkeitsmerkmalen und der auf- ebenso wenig dahingehend, worauf sie be-
grund von Videoaufnahmen selbst- wie auch sonders achten sollen, etwa Gesicht oder
fremdeingeschätzten physischen Attraktivi- Figur. Auch ist im Weiteren eine entschei-
tät. Für die Untergruppe jener Personen aber, dende Voraussetzung für das Auftreten von
bei denen Selbst- und Fremdurteile relativ gut Verhaltens- und Persönlichkeitsunterschie-
übereinstimmten, waren mittelgroße Korre- den bei Individuen unterschiedlicher physi-
lationen mit mehreren Persönlichkeitsskalen scher Attraktivität noch nicht hinreichend
beobachtbar. Dieser bemerkenswerte Befund geklärt, die Frage nämlich, inwieweit das
konnte von Greitemeyer und Brodbeck Merkmal physische Attraktivität über der
(2000) unter Verwendung von Porträtfotos Zeit stabil ist. Zwar sprechen beispielsweise
eindrucksvoll bestätigt werden. die Beobachtungen von Yerkes und Petti-
588
14 Umweltfaktoren
john (2008) für eine hinreichende Stabilität, nen des Attraktivitäts-Stereotyps, dem nicht
doch waren hier die studentischen Beurtei- nur junge Leute, sondern auch ältere Men-
ler der Bilder aus den verschiedenen Alters- schen folgen (Johnson & Pittenger, 1984),
abschnitten (Geburt, 6, 12 und 18 Jahre) können als nachgewiesen gelten (Snyder
immer gleich alt. In der sozialen Realität et al., 1977). Bei den Personen, die als
werden hingegen die Maßstäbe ganz unter- attraktiv oder nicht attraktiv gelten, wird
schiedlicher Personen aus dem persönlichen Verhalten hervorgerufen, das dem Inhalt des
Umfeld wirksam. Stereotyps entspricht.
Unabhängig von derartigen Erwägungen Die besondere Bedeutung der physischen
eignet sich das Gebiet als Demonstrations- Attraktivität liegt unter anderem darin be-
beispiel dafür, wie ausgehend von körperli- gründet, dass die körperliche Erscheinung
chen Merkmalen, die einer Beeinflussung häufig das erste und unmittelbar Augenfäl-
von Seiten der Betroffenen nur in Grenzen lige ist, was uns an Informationen von
zugänglich sind, über die Reaktionen der einem Gegenüber zur Verfügung steht und
Umwelt darauf das Verhalten von Individuen wir darauf je unterschiedlich reagieren –
und deren Persönlichkeit modelliert werden mit allen daraus resultierenden Konsequen-
kann. Die sich selbst erfüllenden Implikatio- zen.
Die naheliegende Vermutung, wonach sich eine mangelhafte Ernährung nachteilig auf die
Entwicklung der intellektuellen Leistungsfähigkeit auswirkt, lässt sich im Humanbereich
nicht experimentell untersuchen. Die dazu durchgeführten Erhebungen bestechen zum Teil
durch die Brillanz des Designs, konnten aber keine einfachen »Botschaften« herausarbei-
ten. Entsprechende Effekte ließen sich zwar wiederholt beobachten, doch spielt – darin
ähnlich den Gegebenheiten zum Einfluss von Krankheiten – dabei der sozioökonomische
Status als Hintergrundvariable eine wichtige Rolle, deren Effekte generalisierter und im
Zweifel auch markanter sind. Eindeutig, wenngleich numerisch sehr gering, scheint ein
Geschwisterreihungseffekt in dem Sinne zu sein, dass mit zunehmender Position in der
Abfolge der Geschwister die Intelligenz abnimmt. Inkonsistent sind hingegen die Befunde
zu Persönlichkeitsunterschieden in Abhängigkeit von der Geschwisterposition, vielfältig
und methodisch wie theoretisch eher schwach fundiert diejenigen in Abhängigkeit vom
elterlichen Erziehungsstil. Mittlere Korrelationen scheinen zu bestehen zwischen »positi-
ven« Persönlichkeitsmerkmalen und der physischen Attraktivität für solche Personen, bei
denen Selbst- und Fremdeinschätzung der Attraktivität übereinstimmen. Experimentell
untersuchen lässt sich der Einfluss von Übung und Wiederholung. In psychomotorischen
Funktionen fand man dabei nicht nur die erwartete Leistungszunahme, sondern auch eine
inhaltliche Umstrukturierung im Sinne eines zunehmenden Einflusses spezifischer Faktoren.
Ähnliches gilt auch für komplexere Aufgaben mit einer stärkeren kognitiven Ausrichtung.
589
15 Gruppenunterschiede
15.1 Geschlecht
590
15 Gruppenunterschiede
591
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
der psychometrischen Intelligenz darstel- Neben diesem Abriss scheint eine knappe
len oder ob es sich dabei um die Auswir- Erörterung jener Untersuchungsansätze und
kungen von frühzeitig ausgebildeten ste- der damit gewonnenen Resultate nützlich zu
reotypen Geschlechtsrollenvorstellungen sein, die auf die kritische Frage nach den
handelt. Ganz allgemein haben Forschun- Ursachen der Geschlechterdifferenzen Bezug
gen dazu gezeigt, dass die Stereotype nicht nehmen. Damit werden zumindest indirekt
nur außerordentlich weit reichen, son- wichtige Determinanten individueller Diffe-
dern ihrerseits Verhalten reproduzieren renzen angesprochen. Ähnlich wie bei der
und evozieren, das auf der Linie dieser Intelligenzentwicklung und den ethnischen
Erwartungen liegt. Solche Erwartungen sowie sozioökonomischen Unterschieden
sind im Zusammenhang mit einer Akti- spitzt sich auch hier das Problem auf eine
vierung von geschlechtsbezogenen Selbst- Dichotomie in dem Sinne zu, wie viel im
Schemata und situativen Normierungs- Ausmaß der Geschlechtsunterschiede durch
zwängen verantwortlich für das Auftre- Vererbung einerseits und Umwelt- sowie
ten von Unterschieden im sozialen Ver- Erziehungseinflüsse andererseits bedingt ist
halten von Männern und Frauen (s. dazu (c Kasten 15.1).
Deaux & Major, 1987).
592
15 Gruppenunterschiede
brachte er fast zwei Jahre in britischer Gefangenschaft. Dölle nahm 1947 seine Arbeit an der
Universität wieder auf, jedoch gelangen ihm in den folgenden Jahren kaum noch
Publikationen. Vier Jahre nach seiner Emeritierung 1968 starb Dölle überraschend im
Alter von 74 Jahren. In Form seiner Theorie der binauralen Rivalität hinterließ er der
psychologischen Fachwelt ein wertvolles Erbe, durchgängig ist sein Werk (wie strecken-
weise auch sein Leben) von Dichotomie und Duplizität geprägt.
Werk und Person E.A. Dölles sind insbesondere in der von Herrmann (1974) heraus-
gegebenen Monographie ausführlich gewürdigt worden.
593
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
weiblichen Tieren (meist Nager) diese zu sonen, bei denen aber aufgrund eines Gen-
einem späteren Zeitpunkt eindeutig azykli- defekts die Körperzellen nicht auf das
sche Hormonproduktion und Ausbleiben der ausgeschüttete Testosteron ansprechen. Die
Ovulation zeigen, ungeachtet also ihres chro- Entwicklung verläuft in diesen Fällen nach
mosomalen Geschlechts und des Umstandes, dem Grundmuster, also weiblich. Obwohl
dass die artifizielle Hormonzufuhr längst Hoden angelegt sind, kommt es zur Ausbil-
wieder abgesetzt worden war. dung primärer weiblicher Geschlechtsorga-
Umgekehrt weisen kastrierte männliche ne, an denen orientiert die Erziehung auch
Tiere, die wegen der Entfernung der Gona- als Mädchen erfolgt. Beobachtungen von
den nicht unter dem Einfluss der von ihnen Money und Ehrhardt (1972) zufolge unter-
selbst produzierten Keimdrüsenhormone ste- scheiden sich diese Personen in ihrem Ver-
hen, zyklische Hormonproduktion und halten nicht von demjenigen chromosomal
weibliches Sexualverhalten auf. Wird ihnen weiblicher Probanden. Da Äußeres, Erzie-
jedoch während der kritischen Phase Testo- hung und Verhalten hierbei nicht im Wi-
steron zugeführt, ist das Sexualverhalten derspruch zueinander stehen, ist über die
später ihrem chromosomalen Geschlecht ad- determinierenden Faktoren im Einzelnen
äquat. Solche Versuche belegen, dass eine Art nichts auszusagen. Wohl aber zeigen diese
»Hirnprägung« (Neumann et al., 1971) oder Fälle, dass das chromosomale Geschlecht
»Determination« (Merz, 1979) stattfindet. unerheblich ist, wenn nicht zu einem späte-
Die Zufuhr männlicher Keimdrüsenhormo- ren Zeitpunkt eine »Bestätigung« des Ge-
ne während kritischer Phasen bewirkt später schlechts in Form fetaler Hormone erfolgt.
also männliches, deren Entzug weibliches Ein besonders aufschlussreicher Einzelfall
Verhalten. bezüglich der Effekte der »Maskulinisie-
Den geschilderten Versuchen kommt des- rung« des Gehirns durch Hormone ist in
halb eine besondere Bedeutung zu, weil es im Kasten 15.2 dargestellt. Dieser Fall führt
Humanbereich vereinzelt zu Anomalien in eindrücklich vor Augen, dass einerseits die
der körperlichen Erscheinung und im Ver- Sozialisation die hormonelle Prägung des
halten kommt, die den geschilderten Beson- Gehirns nicht einfach ungeschehen machen
derheiten in gewissem Sinne entsprechen. kann, andererseits die Effekte der hormo-
Eine solche Fehlentwicklung betrifft nellen Prägung des Geschlechts ebenfalls
chromosomal und gonadal männliche Per- begrenzt sind.
Ein von Money und Tucker (1975) berichteter Fall kommt den Bedingungen eines
Experimentes mit N ¼ 1 sehr nahe. Dem einen Zwilling eines EZ-Paars war im Alter von
sieben Monaten beim Versuch der Beschneidung versehentlich der Penis verstümmelt
worden. Die Eltern entschlossen sich nach eingehender Beratung durch die Ärzte zu einer
Kastration im Alter von 21 Monaten, der operativen Anlegung weiblicher Geschlechts-
organe, einer hormonalen Behandlung und anschließender Erziehung des Kindes als
Mädchen. Bruce Reimer, so der Name des Kindes, wuchs jetzt als Brenda auf. Abgesehen
von einer gewissen Dominanz gegenüber dem Bruder waren in der Tat alsbald deutliche
Anzeichen einer Feminisierung zu erkennen (Spielverhalten, Imitation der Mutter u. dgl.).
Allerdings ließen spätere Untersuchungen von unabhängigen Ärzten erkennen, dass das
»Mädchen« im Alter von 13 Jahren erhebliche Probleme mit seiner Geschlechtsrolle hatte,
594
15 Gruppenunterschiede
eher männlich aussah, sehr unglücklich war und maskuline Tätigkeiten anstrebte
(Diamond, 1982). Den ca. 20 Jahre später angestellten Recherchen eines Journalisten
zufolge (Colapinto, 2000) weiteten sich diese Schwierigkeiten bis zu wiederholten
Suizidversuchen aus. Erst die bewusste Übernahme der durch die Chromosomen-Struktur
nahegelegten männlichen Geschlechtsrolle mit 15 Jahren, begleitet von hormonalen und
operativen Maßnahmen nunmehr in der zur frühen Kindheit »gegenteiligen« Richtung
(darunter Rekonstruktion eines Penis), verhalf diesem Patienten dann zunächst zu einer
halbwegs zufriedenstellenden Identität. Allerdings ließen ihn intime Schwierigkeiten und
eine unglücklich verlaufende Beziehung als junger Mann erneut einen Suizidversuch
unternehmen. Mit 25 Jahren heiratete er schließlich eine Mutter von drei Kindern, die er
dabei adoptierte. Wie weitere Recherchen eines anderen Journalisten allerdings ergaben
(Braune, 2004), folgten weitere Krisen, in deren Verlauf er arbeitslos wurde, und die Ehe
ging in die Brüche. Als finanzielle Schwierigkeiten dazukamen, betrachtete er sein Leben
erneut als gescheitert. Mit 38 Jahren nahm sich David Reimer das Leben.
Damit erwies sich die ursprünglich an diesen Fall geknüpfte »Sozialisationseuphorie« als
ebenso unbegründet wie die Vorstellung von der nahezu unbegrenzten Wirkung der
Hormone.
595
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
wendet werden (z. B. Halpern, 2000; Wood- muten McEwen et al. (1997), dass dieser
son & Gorski, 2000). Dieser Sprachgebrauch mikroanatomische Geschlechtsunterschied
darf allerdings nicht dahingehend missver- erklären könnte, warum männliche und
standen werden, dass dieser Geschlechts- weibliche Ratten verschiedene Strategien
unterschied in grobanatomischer Weise fass- wählen, um räumliche Orientierungsaufga-
bar ist; vielmehr sind die Differenzen zwi- ben zu lösen. Dass mit diesem Befund auch
schen männlichem und weiblichem Gehirn die bekannten Geschlechtsunterschiede für
meist recht subtil, auch wenn der »kleine visuell-räumliche Orientierung bei Men-
Unterschied« gravierende Konsequenzen für schen erklärt werden können (Männer zeigen
das Verhalten haben kann. in entsprechenden Aufgaben eine bessere
Ein erster Unterschied betrifft die Größe Leistung als Frauen; s. Hyde, 2005), legt eine
des Gehirns, das bei Männern durchschnitt- neuere Studie von Gron et al. (2000) nahe.
lich ein größeres Volumen aufweist als bei Die Autoren ließen ihre Versuchspersonen
Frauen (so sind z. B. männliche Gehirne bei eine Navigationsaufgabe in einem virtuellen
der Geburt um 12 % schwerer als weibliche; Labyrinth durchführen und registrierten de-
Janowsky, 1989). Allerdings sind Hirngröße ren Hirnaktivität mit der funktionellen Ma-
und Körpergewicht positiv korreliert. Wird gnetresonanztomographie (fMRI). Dabei
die Hirngröße am Körpergewicht adjustiert, zeigte sich im Hippocampus (neben anderen
so verschwindet dieser Geschlechtsunter- Hirnstrukturen) ein unterschiedliches Ak-
schied fast vollständig (Gur & Gur, 1990). tivierungsmuster für Männer und Frauen.
Da sich Männer und Frauen in ihrer Allge- Ein beim Menschen klar belegter Ge-
meinen Intelligenz kaum unterscheiden (s. schlechtsunterschied findet sich in verschie-
Abschn. 4.5), hat Jensen (1998) die Vermu- denen Kernen des Hypothalamus, wie bei-
tung aufgestellt, dass die neuronale Dichte spielsweise bei einigen der an der Hormon-
(Anzahl von Neuronen pro Volumeneinheit regulation beteiligten Zellgruppen. So wird
des Gehirns) bei Frauen entsprechend größer beispielsweise bei Frauen von verschiedenen
ist. Männliches und weibliches Gehirn unter- hypothalamischen Zellsystemen das Luteini-
schieden sich dann nicht in der absoluten sierende Releasing-Hormon (LHRH) ausge-
Anzahl der Nervenzellen. Ein zweiter Unter- schüttet, wodurch ein komplexes Muster von
schied betrifft den Hirnstoffwechsel, der bei weiteren Hormonsekretionen gesteuert und
Frauen auf einem höheren Niveau abläuft als so schließlich die Menstruation reguliert
bei Männern. Dies legen Befunde nahe, die wird. Analog dazu schütten hypothalamische
mit der Positronen-Emissions-Tomographie Zellen das Thyrotropin-Releasing-Hormon
(PET) gewonnen wurden und auf eine bei aus, welches neben anderen Hormonen die
Frauen erhöhte Hirndurchblutung sowie Prolaktinsekretion reguliert und somit an der
einen erhöhten zerebralen Glukose-Metabo- Steuerung der Milchsynthese in der Brust-
lismus hinweisen (Gur et al., 1995; Gur & drüse der Frau beteiligt ist (Birbaumer &
Gur, 1990). Schmidt, 2005). In diesen Zellsystemen des
Ein weiterer Geschlechtsunterschied fin- Hypothalamus besteht folglich ein gravie-
det sich – zumindest bei der Ratte – im render funktionaler Unterschied zwischen
Hippocampus, der bei männlichen Tieren männlichem und weiblichem Gehirn. Ein
u.a. eine höhere synaptische Dichte (Anzahl weiterer, anatomisch beeindruckender Ge-
von Synapsen pro Volumeneinheit des Ge- schlechtsunterschied findet sich beim soge-
hirns) aufweist als bei weiblichen Tieren nannten sexuell dimorphen Nukleus der
(Parducz & Garcia-Segura, 1993). Diese präoptischen Area (SDN-POA) des Hypotha-
Hirnstruktur spielt eine besondere Rolle für lamus, der bei Männern etwa zwei- bis
das räumliche Gedächtnis; demzufolge ver- dreimal größer ist als bei Frauen (Swaab &
596
15 Gruppenunterschiede
Fliers, 1985). Dieser Kern wurde bei Ratten sum der Frauen einen größeren Durchmesser
mit dem Sexualverhalten in Verbindung ge- aufweist als das der Männer (und dass für
bracht, da eine chemische oder elektrische Frauen eine bessere Konnektivität zwischen
Stimulation dieses Kerns bei männlichen den Hemisphären besteht, s. z. B. Westerhau-
Tieren zu einer Häufung des Kopulations- sen et al., 2004). Solche Befunde lassen
verhaltens sowie von Ejakulationen führt. folglich vermuten, dass bei Frauen ein besse-
Zudem kann eine Läsion dieses Kerns das rer Informationstransfer zwischen den bei-
aggressive Verhalten von Ratten reduzieren, den Hemisphären stattfindet als bei den
womit dieser Struktur möglicherweise auch Männern, was möglicherweise einige der
für diese Verhaltensweise eine gewisse Be- berichteten kognitiven Geschlechtsunter-
deutung zukommt (s. Woodson & Gorski, schiede zu erklären vermag. Dies führt zu
2000). einem Forschungsfeld, das in den letzten
In der breiteren Öffentlichkeit wurde die- Jahrzehnten ausgiebig untersucht wurde,
ser Kern allerdings aus einem anderen Grund nämlich den Geschlechtsunterschieden in
berühmt, nachdem LeVay (1991) in dem der hemisphärischen Spezialisierung für kog-
Wissenschaftsmagazin Science die Ergeb- nitive Funktionen.
nisse einer anatomischen Studie an Leichen Die deutlichsten Geschlechtsunterschiede
veröffentlichte. Er bestimmte das Volumen im kognitiven Bereich zeigen sich bei verba-
dieses Kerns bei heterosexuellen Männern len und visuell-räumlichen Aufgaben, wobei
und Frauen sowie bei homosexuellen Män- Frauen bei Ersteren und Männer bei Letzte-
nern und berichtete, dass dieser Kern bei den ren eine bessere Leistung erbringen (Hyde,
heterosexuellen Männern etwa doppelt so 2005). Darüber hinaus ist für dieselben
groß war wie bei den heterosexuellen Frauen beiden Aufgabentypen auch eine hemisphä-
und den homosexuellen Männern – zwischen rische Spezialisierung bekannt – die linke
beiden letztgenannten Gruppen unterschied Hemisphäre hat eine höhere Kompetenz bei
sich das Volumen dieses Kerns hingegen der Verarbeitung von sprachlicher Informa-
nicht. Obwohl LeVay mit seiner Interpreta- tion und die rechte für visuell-räumliche
tion dieses Befundes selbst sehr vorsichtig Information als die jeweils andere Hirnhälfte
war, wurde sein Forschungsergebnis in der (Springer & Deutsch, 1997). Aus dieser
allgemeinen Presse als Nachweis für ein Koinzidenz wurde vielfach die Vermutung
biologisches Substrat der sexuellen Orientie- abgeleitet, dass die Geschlechtsunterschiede
rung rezipiert nach dem Motto: »Schwule in diesen beiden kognitiven Bereichen auf
haben ein weibliches Gehirn!« Vor einer einer unterschiedlichen Lateralisierung (Spe-
solchen Interpretation sollte man allerdings zialisierung) der Hemisphären für eben jene
berücksichtigen, dass Swaab und Hofman beiden kognitiven Funktionen beruhen
(1990) einen gegenteiligen Befund berichte- könnten (mit Spezialisierung ist hierbei kei-
ten. In ihrer Studie zeigte sich nämlich kein nesfalls gemeint, dass eine Funktion exklusiv
Unterschied in der Größe von SDN-POA in der linken oder der rechten Hemisphäre
zwischen heterosexuellen und homosexuel- lokalisiert ist, sondern dass eine Hemisphäre
len Männern. eine graduell höhere Kompetenz bzgl. der
Eine weitere anatomische Struktur, für die Funktion aufweist als die andere). Allerdings
ein Geschlechtsunterschied beschrieben wur- konnten auch weitreichende neuropsycholo-
de, ist das Corpus callosum (breites Faser- gische Forschungsbemühungen nicht schlüs-
bündel, das die beiden Hemisphären verbin- sig klären, inwiefern hier zwischen hemi-
det). Auch wenn hier die Befundlage nicht sphärischer Lateralisierung und kognitiver
ganz einheitlich ist, so verweisen doch zahl- Leistungsfähigkeit ein kausaler Zusammen-
reiche Studien darauf, dass das Corpus callo- hang besteht (s. Halpern, 2000). Dessen
597
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
ungeachtet kann bei der geschilderten Be- Eine ähnliches Instrument wurde von Spence und
fundlage kein Zweifel bestehen, dass sich die Helmreich (1978) entwickelt, das als »Personal
Attributes Questionnaire« (PAQ) bezeichnet wur-
Gehirne von Männern und Frauen unter- de und ebenfalls eine Skala für Maskulinität und
scheiden; dass diese biologischen Unterschie- Femininität beinhaltet. Personen mit hohen Wer-
de auch verhaltenswirksam sind und zu den ten auf der M-Skala bezeichnen sich beispielsweise
beobachteten Geschlechtsunterschieden im als unabhängig, aktiv und selbstsicher, während
Verhalten beitragen, ist naheliegend. hohe Werte auf der F-Skala durch Selbstattribu-
tion als gefühlsbetont, sanft und hilfreich zustande
kommen. Auch diese beiden Skalen sind praktisch
unkorreliert, zeigen aber die schon für das BSRI
15.1.2 Geschlechtsrollen genannten Geschlechtsunterschiede. Später wurde
die M-Skala in »Instrumentalität« umbenannt
und die F-Skala in »Expressivität«, um den Item-
Die biologische Dichotomie männlich – inhalten besser gerecht zu werden (Spence &
weiblich legt es nahe, auch in psychologi- Helmreich, 1980).
scher Hinsicht von typisch »männlich« oder
»weiblich« zu sprechen, wenn die Rede von Diese Skalen zur Messung des Geschlechts-
Geschlechtsrollen ist. Dabei gibt es zahlrei- rollenselbstkonzepts wurden in verschiede-
che Attribute, die typischerweise mit der nen Studien mit einem Fokus auf seelische
Rolle eines Mannes oder einer Frau assoziiert Gesundheit und Gesundheitsverhalten einge-
sind. Das Ausmaß, in dem sich eine Person setzt. In der Zusammenschau zeigt sich, dass
mit solchen geschlechtstypischen Attributen Instrumentalität und Expressivität jeweils
identifiziert, kann als »Geschlechtsrollen- mit positiven und negativen Aspekten der
selbstkonzept« bezeichnet werden. Da es Gesundheit korrelieren (Helgeson, 1994).
durchaus Personen gibt, die sich sowohl als Personen mit ausgeprägter Instrumentalität
typisch männlich als auch typisch weiblich neigen einerseits weniger zu Depressionen
erachtete Attribute zuschreiben, hat Sandra und Ängsten, haben einen höheren Selbst-
Bem (1974) einen Fragebogen entwickelt, wert und berichten über weniger Gesund-
der zwei getrennte Skalen für »Maskulinität« heitsbeschwerden. Andererseits neigen diese
(M) und »Femininität« (F) enthält. Personen, Personen zu einem Typ-A-Verhalten (Streben
die hoch auf der M-Skala punkten, bezeich- nach schlecht definierten Zielen; Wettbe-
nen sich u. a. als aggressiv, analytisch, ambi- werbsverhalten; Wunsch nach Anerkennung
tioniert, dominant, stark und unabhängig. und Vorwärtskommen; Zeitdruck; außerge-
Personen mit hohen Werten auf der F-Skala wöhnliche körperliche und geistige Wach-
halten sich für gefühlsbetont, kindlich, sanft, heit), betreiben eine schlechtere Gesundheits-
loyal, schüchtern und warmherzig. Die bei- vorsorge und zeigen Verhaltensauffälligkei-
den Skalen dieses »Bem Sex Role Inventory« ten. Personen mit ausgeprägter Expressivität
(BSRI) sind unkorreliert, wobei Männer berichten einerseits über eine größere Zufrie-
durchschnittlich höhere Werte für Masku- denheit in ihren Partnerschaften und besserer
linität erzielten als Frauen, die ihrerseits sozialer Unterstützung, erleben aber ande-
höhere Werte bei Femininität aufweisen. rerseits mehr Stress unter emotionaler Belas-
Personen mit hohem Wert auf der M-Skala tung.
und niedrigem Wert auf der F-Skala werden Instrumentalität und Expressivität zeigen
als »maskulin« bzw. in umgekehrter Aus- substantielle Überlappungen mit etablierten
prägung als »feminin« bezeichnet. Personen Persönlichkeitsfaktoren wie den Big Five (s.
mit hohen Werten auf beiden Skalen sind Abschn. 7.5) und dispositionellen Affekten
hingegen »androgyn« und Personen mit ent- (s. Abschn. 8.4). Beispielsweise korrelierten
sprechend niedrigen Werten »undifferen- in einer Studie von Lippa (1991) verschiede-
ziert«. ne Maße (BSRI/PAQ) der Instrumentalität
598
15 Gruppenunterschiede
mit Offenheit für Erfahrung (0,52/0,46), Spätestens um diese Zeit treten auch Ver-
Extraversion (0,40/0,37) und Neurotizismus haltensunterschiede im Sinne einer bei Jun-
(–0,36/–0,39), und Expressivität korrelierte gen größeren motorischen Aktivität auf.
mit Verträglichkeit (0,59/0,57) und Gewis- Mehr als Mädchen machen Jungen von
senhaftigkeit (0,38/0,33). Analog zu diesem dem ihnen verfügbaren Raum Gebrauch (s.
Befund zeigte in einer weiteren Studie von Maccoby & Jacklin, 1974). Im Zusammen-
Saragovi et al. (2002) der dispositionelle hang damit kann auch das erhöhte Risiko,
Positive Affekt (PA) eine positive (0,57) und einen Unfall zu erleiden, gesehen werden
der Negative Affekt (NA) eine entsprechend und auch die stärkere Aggressivität, weil
negative Ladung (–0,54) auf einem Faktor vielleicht häufiger Kontakte mit hemmenden
für Instrumentalität. Aufgrund des Ausma- Personen und Dingen entstehen, die »über-
ßes dieser Zusammenhänge lassen sich die wunden« werden müssen. Schließlich kön-
M- und F-Skalen in diesen Persönlichkeits- nen vor dem Hintergrund der Aktivitätsrate
systemen gut darstellen, was allerdings auch sogar die stärkere Körperkraft und die dar-
gewisse Zweifel an der Eigenständigkeit die- aus vielleicht indirekt resultierende erhöhte
ser Konstrukte aufwirft (s. dazu auch die Selbstsicherheit und gesteigerte Dominanz
Diskussion in Lippa, 2001). gedeutet werden. Entsprechende Unterschie-
de treten bereits frühzeitig auf und bleiben
auch dann bestehen, wenn die für die Ge-
15.1.3 Zugeschriebenes und schlechter unterschiedliche Körpergröße
erlebtes Geschlecht, herauspartialisiert wird (s. a. Rüddel et al.,
Erziehungsfaktoren 1982).
Die erwähnten Geschlechtsunterschiede in
Trotz der geschilderten Wirksamkeit hormo- Merkmalen wie Dominanz oder Aggressivi-
naler Faktoren wäre es irrig, diesen eine tät werden gewöhnlich als Folge spezifischer
ausschließliche oder irreversible Bedeutung Sozialisationseinflüsse aufgefasst. Dabei wird
zuzumessen. Ganz ohne Zweifel spielen bei bei vielen Erklärungsansätzen aus theoreti-
der Entwicklung des subjektiven, d. h. des scher Sicht auf eine besondere Rolle der
selbstwahrgenommenen Geschlechts und der differentielle Verstärkungen entsprechender
Übernahme der jeweiligen Geschlechtsrolle Verhaltensweisen von Seiten der Erziehungs-
Faktoren der Umwelt und Erziehung eine berechtigten hingewiesen. Allerdings fehlt es
maßgebliche Rolle. doch im Falle der Aggressivität bislang an
In der Regel können Kinder »ihr«, d. h. positiven Belegen dafür. Das vorliegende
das ihnen zugeschriebene und subjektiv Material lässt zumindest für die frühen Jahre
erlebte Geschlecht mit Einsetzen der Sprach- der Entwicklung eine relativ freizügige Hal-
entwicklung schon richtig angeben. Dagegen tung von Eltern und Kindergärtnerinnen er-
dauert es wesentlich länger, bis sie aus vor- kennen. Wie diese bekräftigen anscheinend
liegenden Abbildungen nach Merkmalen wie auch die Lehrer eher »feminine« Verhaltens-
Haartracht, Kleidung und besonders Be- weisen (Etaugh & Hughes, 1975) und tragen
schaffenheit der Genitalien das Geschlecht dadurch zu einer Nivellierung möglicher
anderer unzweideutig erkennen. Um das Unterschiede bei. Wenn diese nicht völlig
dritte Lebensjahr weisen Jungen und Mäd- verschwinden, so vielleicht deshalb, weil sub-
chen bereits typische Unterschiede in der tile Unterschiede im Bekräftigungsverhalten
Präferenz von Spielzeug (Autos gegenüber der Eltern doch bestehen, die sich bislang nur
Puppen) und in der Wahrnehmung mehrdeu- einer Quantifizierung entzogen haben (in
tiger Figuren als Angehörige ihres eigenen diesem Sinne auch Perry & Bussey, 1979).
Geschlechts auf (Fling & Manosevitz, 1972). Immerhin wären dann noch die Differenzen
599
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
im Verbalen und der Raumvorstellung zu Andererseits ist auch an die in Richtung auf
klären, für die es soweit keinerlei Anhalts- weibliche Interessen und feminines Verhalten
punkte einer Ausformung durch Bekräfti- verschobene Entwicklung solcher Jungen zu
gung gibt, nachdem auch die Persönlichkeit denken, deren Väter berufsbedingt oder
der Eltern und die Geschlechtsrollenpräfe- durch Scheidung der Eltern länger abwesend
renz ihrer Kinder kaum substantielle Über- sind (s. Biller, 1971), was den formenden
einstimmungen zeigen (Hetherington, 1965; Einfluss eines männlichen Vorbildes nach-
Mussen & Rutherford, 1963). haltig vor Augen führt. Anscheinend werden
Maccoby und Jacklin (1974) kamen nach erst in der Interaktion verschiedengeschlecht-
der Sichtung der einschlägigen Befunde zu licher Erwachsener die geschlechtsbedingten
dem Resümee, dass das frühzeitige Auftreten Unterschiede dem Beobachter besonders
von Aggressionsunterschieden, die Gleich- deutlich.
sinnigkeit der Differenzen in den verschie- Für die Ausbildung geschlechtstypischen
densten Kulturkreisen und auch bei den Verhaltens könnte auch die Interaktion mit
Primaten sowie die Beeinflussbarkeit ihrer gleich- und gegengeschlechtlichen Geschwis-
Aggressionsrate durch Hormone zumindest tern eine Rolle spielen. Das Zusammenleben
auch eine biologische Beteiligung wahr- mit gegengeschlechtlichen Geschwistern ver-
scheinlich machen. hilft nach Toman (1971) zu Persönlichkeits-
In dieses Bild einer anscheinend nur be- merkmalen und Verhaltensweisen, die sich
grenzten Anerziehung des geschlechtstypi- positiv auf den Bestand einer späteren Ehe
schen Verhaltens fügt sich gut eine Untersu- auswirken, und zwar umso mehr, je ähnli-
chung von Nickel und Schmidt-Denter cher die Konstellation der Geschwister der-
(1980). Diese Autoren registrierten das So- jenigen der Ehepartner ist. Eine günstige
zialverhalten von Kindern, die entweder die Voraussetzung für eine Partnerschaft wäre
»traditionellen« Kindergärten oder die »pro- also dann gegeben, wenn ein Mann, der eine
gressiven« Kinderläden besuchten. Obwohl jüngere Schwester hat, mit einer Frau zusam-
die Eltern, deren Sprösslinge den Kindergar- men wäre, die einen älteren Bruder hat.
ten besuchten, stärkere Geschlechtsstereoty- Birtchnell (1979) konnte anhand je 1000
pien aufwiesen, waren es gerade die Kinder glücklicher und unglücklicher Ehen diese
aus den Kinderläden, die überraschend These allerdings nicht bestätigen. Ernst und
große geschlechtsbedingte Unterschiede im Angst (1983) gelangten im Zuge ihrer um-
Sozialverhalten zeigten. Die absichtliche Zu- fassenden und außerordentlich sorgfältigen
rückhaltung der Erzieher in Elterninitiativen Literatursichtung zu derselben Feststellung.
ließ also geschlechtsspezifische Unterschiede Bislang spricht also nicht sehr viel dafür, dass
deutlicher hervortreten. Allerdings teilten die die Lernerfahrungen aus der Interaktion mit
Autoren eine solche Interpretation nicht und gegengeschlechtlichen Geschwistern einer
vermuteten vielmehr, dass die Übernahme spezifischen Geschwisterposition auf die
der männlichen Geschlechtsrolle mit einem Interaktion außerhalb der Familie übertra-
Dominanzkonstrukt verbunden sei. Mögli- gen würden.
cherweise würden die Kinder durch die
offenkundigen Bemühungen ihrer Eltern,
Unterschiede bei den Geschlechtsrollen abzu- 15.1.4 Abschließende
bauen, noch zusätzlich für diese sensibilisiert. Bemerkungen
Dennoch steht bei einer solchen These die
Frage im Raum, warum dann schließlich die Auch die notgedrungen knappe Darstellung
Rolle des eigenen Geschlechts übernommen hat erkennen lassen, dass die Fragestellung
wurde. von Geschlechtsunterschieden größere Pro-
600
15 Gruppenunterschiede
601
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
602
15 Gruppenunterschiede
Gegenwart unumstritten. Parallelisiert man (1974) zufolge nicht so sehr auf sogenannten
die erfassten Stichproben nach dem sozio- Level-I-Fähigkeiten (wie Kurzzeitgedächtnis
ökonomischen Status und dem allgemeinen und mechanisches Lernen), sondern auf
Milieu, reduziert sich der Unterschied auf Faktoren des Niveaus II (schlussfolgerndes
etwa die Hälfte (Herrnstein & Murray, Denken, Abstraktion, Problemlösen). Als
1994). Die dann noch bestehende Leistungs- Beleg dafür dienen Beobachtungen wie die
diskrepanz beruht der Auffassung von Jensen in Abbildung 15.1 wiedergegebenen.
55
50
Faktorwerte
45
40
Verbaler IQ Nichtverbaler IQ Gedächtnis Sozioökonomischer
(gc ) (g ) Status
f
Amerikaner latein-
europäischer amerikanischer afrikanischer
Herkunft Herkunft Herkunft
Abb. 15.1: Mittlere Faktorwerte (M ¼ 50, s ¼ 10) für vier Variablen von Kindern europäischer,
lateinamerikanischer und afrikanischer Herkunft. Die Faktorwerte der Dimensionen sind
voneinander unabhängig (nach Jensen, 1985, S. 251).
Bemerkenswert sind vorrangig die folgenden len Bereich, für den doch eine stärkere
Befunde: Amerikaner lateinamerikanischer Beeinflussung durch Sozialisationsfaktoren
Herkunft weisen den mit Abstand niedrigs- als im nichtverbalen Bereich zu erwarten
ten sozioökonomischen Status aller Gruppen wäre. Umweltfaktoren können also kaum
auf. Doch sie übertreffen die Amerikaner als alleinige Erklärung für die aufgetretenen
afrikanischer Herkunft im verbalen und Mittelwertsdifferenzen herangezogen wer-
nichtverbalen IQ deutlich. Darüber hinaus den.
sind die Leistungsdefizite der Amerikaner Heftig umstritten ist nach wie vor die
afrikanischer im Vergleich zu solchen euro- Interpretation der mittleren IQ-Differenz.
päischer Herkunft besonders groß im verba- Einmal mehr stehen sich genetische und
603
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
604
15 Gruppenunterschiede
Abb. 15.2: Veranschaulichung des Umstandes, dass die Erblichkeit innerhalb jeder von zwei Gruppen
selbst dann hoch sein kann, wenn die Unterschiede zwischen den Gruppen vollständig durch
Umwelteinflüsse verursacht sind (nach Lewontin, 1970).
Fall, wo schwarze Kinder in weißen Adop- blieben (Weinberg et al., 1992). Im Einzelnen
tivfamilien aufwachsen. lagen die IQs von Adoptivkindern, deren
Scarr und Weinberg (1976) stellten an den leibliche Eltern beide schwarz waren, nicht
schwarzen und multiethnischen Adoptivkin- nennenswert über der Leistung von schwar-
dern ihrer Untersuchung einen mittleren IQ zen Jugendlichen, die in schwarzen Familien
von ca. 108 fest. Dieser Wert lag zwar aufwuchsen. Über die angemessene Interpre-
niedriger als derjenige der leiblichen Kinder tation dieser Resultate hat es eine entschie-
in denselben Familien, aber wesentlich dene Debatte gegeben (Waldman et al., 1994;
über dem Erwartungswert, der sich aus dem Levin, 1994; Lynn, 1994). Nach Auffassung
Bildungsgrad der leiblichen Eltern der zur von Scarr (1995) erlaubt die Studie eine
Adoption weggegebenen Kinder schätzen Deutung sowohl im Sinne von sozialer Dis-
lässt. Zudem deckt sich der beobachtete krimination als auch eine solche von gene-
Mittelwert weitgehend mit dem Durch- tisch bedingten Unterschieden ethnischer
schnitt weißer Adoptivkinder, die in ver- Gruppen, da die absinkenden Punktwerte
gleichbaren Familien aufwachsen. Von daher der schwarzen Adoptivkinder eine primäre
ist es unwahrscheinlich, dass genetische Fak- Folge jedes dieser Faktoren sein könnten –
toren den Hauptanteil an der Leistungsdis- oder auch deren gleichzeitiger Wirkung.
krepanz zwischen Menschen afrikanischer Ein anderer Ansatz bedient sich der Schät-
und europäischer Herkunft erklären. Gleich- zung ethnischer Zugehörigkeit auf der Basis
wohl sprachen mehrere Anhaltspunkte auch der Blutgruppen bzw. der diese bedingenden
für einen genetischen Einfluss, da beispiels- Gene. In einer Reihe von Genarten bestehen
weise der Bildungsgrad der schwarzen Eltern nämlich zwischen Menschen afrikanischer
mit dem IQ ihrer wegadoptierten Kinder zu und europäischer Herkunft relativ deutliche
ca. r ¼ 0,40 korrelierte. Zusätzlich kompli- Unterschiede. Je nach dem Vorliegen oder
ziert wird der Sachverhalt durch die Beob- Fehlen eines bestimmten Allels kann die
achtung, dass im Alter von 18 Jahren die IQs Wahrscheinlichkeit ermittelt werden, mit
der wegadoptierten schwarzen Kinder hinter dem der betreffende Faktor von der eigenen
denjenigen von weißen oder asiatischen Ad- bzw. der anderen ethnischen Gruppe ererbt
optivkindern in denselben Familien zurück- wurde. Die Methode liefert letztlich eine
605
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Schätzung der Zugehörigkeit zu einer ethni- einen an die ethnische Herkunft gebundenen
schen Gruppe auf der Basis der Blutgruppen- genetischen Einfluss auf den IQ. Aber: Eine
faktoren. solche Interpretation ist an die (nicht geprüf-
Aufgrund solcher Analysen ist beispiels- te!) Voraussetzung geknüpft, dass die
weise wahrscheinlich gemacht worden, dass schwarzen Väter im Durchschnitt etwa so
bei US-Bürgern, die sich als »Schwarze« intelligent waren wie die weißen Väter, was
bezeichnen, der Anteil genetischer Elemente bei den Rekrutierungsstrategien der US-ame-
von Weißen etwa 20 % beträgt, und analog rikanischen Armee einerseits und den sozia-
dazu haben auch sich selbst als »Weiße« len Barrieren in Deutschland kurz nach dem
bezeichnende Personen multiethnische Vor- Ende des Nazi-Regimes andererseits unwahr-
fahren. In keiner der vorliegenden Untersu- scheinlich ist.
chungen, die sich dieser Methode bedienten Generell werden in Studien zur vorliegen-
(Loehlin et al., 1973; Scarr et al., 1977), den Fragestellung die Sozialisationsfaktoren
korrelierte jedoch das Vorhandensein eines für verschiedene ethnische Gruppen in etwa
der Blutgruppenfaktoren innerhalb der gleichgesetzt. Daraus ergab sich notgedrun-
Gruppe der Menschen afrikanischer Her- gen ein etwas schiefes Bild. Helms (1992) hat
kunft bedeutsam mit den Ergebnissen von in einer einfühlsamen Analyse aber deutlich
Leistungstests, d. h., genetische Elemente von gemacht, dass sich Menschen afrikanischer
Europäern bedeuten für Amerikaner afrika- Herkunft in den Vereinigten Staaten, unge-
nischer Herkunft keinerlei Vorteil in leis- achtet der geographischen und zeitlichen
tungsmäßiger Hinsicht. Oder umgekehrt: Distanz zu ihren afrikanischen Wurzeln, eine
Ein Mehr an afrikanischer Herkunft korre- Vielzahl von Elementen der afrikanischen
liert nicht mit niedrigeren Testpunktwerten. Kultur bewahrt haben. Dazu zählen
Aus diesem Grunde kann nach Ansicht von
Scarr (1995, S. 7) afrikanische Herkunft l »Spiritismus«, d. h. eine stärkere Geltung
keine Erklärung für die IQ-Differenzen zwi- von immateriellen Kräften im Alltagsle-
schen Menschen afrikanischer und europäi- ben relativ zum linearen, an Fakten aus-
scher Herkunft liefern. gerichteten Denken,
So ingeniös die Methode erscheint, haftet l die Organisation des persönlichen Ver-
ihr allerdings der Nachteil an, dass die haltensstils durch Bewegung,
untersuchten Faktoren möglicherweise sehr l die Messung der Zeit durch sozial bedeu-
»leistungsdistant« sind und vielleicht nur in tungsvolle Ereignisse und Bräuche.
einem für intellektuelle Funktionen völlig
irrelevanten Gesichtspunkt zwischen den Jedes dieser Elemente mag mit der Ausbil-
ethnischen Gruppen differenzieren. Freilich: dung von Kenntnissen oder Motiven zum
Wie sollen die definitiv leistungsdeterminie- »Bestehen« von Tests interferieren. So ist
renden Faktoren gefunden werden? leicht vorstellbar, dass eine Präferenz für
Eyferth (1961) hat die unehelichen Kinder soziale Zeit sich nicht gut verträgt mit den
von deutschen Müttern und US-Soldaten engen Festlegungen von zeitbegrenzten IQ-
afrikanischer und europäischer Herkunft Tests, für deren Bearbeitung Zeit ein wert-
nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundes- volles Gut darstellt.
republik Deutschland untersucht. Hinsicht- Hand in Hand mit der Bewahrung und
lich des IQ bestand zwischen weißen Kindern Ausbildung solcher kultureller Traditionen
und Mischlingskindern kein konsistenter mögen Minoritäten als Reaktion auf die
Unterschied, wenn Geschlecht und Alter der erfahrene soziale Diskriminierung auch de-
Kinder parallelisiert wurden. Auf den ersten struktive Einstellungen und Verhaltenswei-
Blick sprechen somit diese Befunde nicht für sen entwickeln. Weil sie etwa den Glauben an
606
15 Gruppenunterschiede
die Fähigkeit verlieren, in den Bildungsinsti- Delinquenz und Kriminalität. Nicht von
tutionen der Bevölkerungsmehrheit (z. B. den einer solchen Erklärung erfasst wird aller-
Schulen) erfolgreich mithalten zu können, dings die Exzellenz in Intelligenz und gesell-
kommt es zum Verlust an Motivation und zu schaftlichem Erfolg von Mitgliedern anderer
einem Ersatz der konformen Wege zum ethnischer Gruppen, allen voran der Juden
Erfolg durch illegitime Mittel, wie etwa (c Kasten 15.3).
Kasten 15.3: Zur Intelligenz der Angehörigen von anderen ethnischen Gruppen
Nach einer weit in die Geschichte zurückreichenden Übersicht gelangte Levin (1997,
S. 132) zu der Feststellung, »in every society in which they have participated, Jews have
eventually been recognised (and disliked for) their exceptional talent.«
In allen Gesellschaften des westlichen Kulturkreises waren zumindest im letzten
Jahrhundert Juden in Wissenschaft und Wirtschaft erfolgreicher als ihre nichtjüdischen
Mitbürger (Letztere in der internationalen Literatur als »gentiles« bezeichnet, also als
»Heiden« oder Nicht-Juden). Sie stellen viel mehr Nobelpreisträger, Mitglieder in
akademischen Eliten, Großmeister im Schach und herausragende Bridgespieler, als es
ihrem Anteil an der jeweiligen Bevölkerung entspricht. An renommierten Universitäten wie
Harvard oder Yale sind ein Viertel bis ein Drittel aller Studierenden jüdischer Herkunft, und
das Forbes Magazine der reichsten 400 US- Amerikaner wies für die 1990er Jahre mehr als
ein Viertel als Juden aus (Slezkine, 2004). In Deutschland betrug der Anteil der jüdischen
Mitbürger zwischen 1918 und 1933 an der Gesamtbevölkerung 0,78 %, aber 16 % aller
Doktoren, 15 % der Zahnärzte, 25 % der Anwälte, 50 % der Theaterdirektoren und 80 %
der Führungspersonen an der Berliner Börse waren jüdischer Herkunft (Gordon, 1984). Für
diese herausragende Erfolgsbilanz sind verschiedene Faktoren verantwortlich gemacht
worden, darunter eine besonders hohe Leistungsmotivation und starke familiäre sowie
ethnische Netzwerke (Lynn, in Vorbereitung), ohne dass es dazu beweiskräftige Befunde
geben würde.
Eine stichhaltigere Erklärung für die intellektuelle und ökonomische Exzellenz der Juden
(und zwar hauptsächlich der Ashkenazim, die – kurz gefasst – ihren Ursprung in
Mitteleuropa haben und die in der Gegenwart den ganz überwiegenden Anteil der außerhalb
von Israel lebenden Juden bilden) stellt eine überdurchschnittliche Intelligenz dar. Unter-
suchungen, die bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichen, weisen auf
einen mittleren IQ jüdischer Testteilnehmer von ca. 110 hin. Lynn und Longley (2006)
errechneten für die jüdischen Probanden zweier Stichproben aus britischen Kohorten einen
Wert für 107,7 – signifikant verschieden von den nichtjüdischen Vergleichspersonen.
Maßgeblich für diese intellektuelle Überlegenheit scheinen nicht so sehr Werteunter-
schiede zu sein, denn in routinemäßigen Meinungsbefragungen an repräsentativen
Stichproben legten die jüdischen Befragungspersonen gegenüber den protestantischen
und katholischen keinen größeren Wert auf Erfolg im Leben und »Studiertheit« (»studious-
ness«), wohl aber auf allgemeine Interessiertheit und gutes Urteilsvermögen (Lynn &
Kanazawa, 2008). Einmal mehr stellt sich deshalb die Frage, ob vielleicht genetische
Faktoren eine Rolle spielen. In Bezug darauf sind drei Hypothesen formuliert worden:
l Die »eugenische These« geht davon aus, dass in der Vergangenheit einem weithin
geübten Brauch zufolge die Gelehrten und Rabbis häufig die Töchter von wohlhabenden
607
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Eine häufig geäußerte Vermutung geht dahin, dass Intelligenztests jene Gruppen eher
bevorzugen, die für ihre Konstruktion verantwortlich sind. Damit werden mitunter die
Minderleistungen der Menschen mit afrikanischer Herkunft erklärt. Da jüdische Personen
im Wissenschaftsbetrieb stark überrepräsentiert sind, könnte das Argument hier angewen-
det werden – aber es erklärt nicht die überragenden Leistungen außerhalb der Testwerte.
Und es erklärt auch nicht die überdurchschnittliche Intelligenz der Amerikaner mit
asiatischer Herkunft, die sich auf ca. 105 IQ-Punkte beziffern lässt (Lynn, 1991; s. a. Miller,
2006).
Auf empirische Weise haben Rowe et al. dukte oder Endwerte müssen somit als Folge
(1994) die Prozesse untersucht, die der Ent- unterschiedlicher Ausgangsbedingungen ver-
wicklung oder Ausbildung der unterschied- standen werden – für die kulturelle Elemente
lichen »Produkte« (Schulleistungen, Delin- Beispiele sein könnten.
quenz u. Ä.) in verschiedenen ethnischen Da die Befundlage auch nicht annähernd
Gruppen zugrunde liegen. Als Prozessvaria- vollständig wiedergegeben werden konnte,
blen standen häusliche Faktoren, das Verhal- muss sich eine Zusammenfassung auf die
ten von Gleichaltrigen, Selbstwertgefühle, Feststellung beschränken, dass hinsichtlich
Verhaltenskontrolle u. a. zur Verfügung. Allgemeiner Intelligenz genetische Kompo-
Das bemerkenswerte Resultat ging dahin, nenten innerhalb der einzelnen ethnischen
dass die Interkorrelationsmatrizen dieser Va- Gruppen gesichert wurden; ihr Stellenwert
riablen zwischen den miteinander vergliche- im Einzelnen bei der Aufklärung der durch-
nen Gruppen nicht voneinander abwichen, schnittlichen Differenz zwischen ethnischen
d. h., die Entwicklungsprozesse von Ameri- Gruppen ist solange nicht hinreichend zu
kanern europäischer, afrikanischer und la- bestimmen, wie die sozioökonomischen und
teinamerikanischer Herkunft folgen densel- Anregungsfaktoren in den miteinander ver-
ben Prinzipien. Die unterschiedlichen Pro- glichenen Gruppen nicht definitiv gleich sind.
Die empirische Forschungsliteratur zur Frage, ob sich die Persönlichkeit der Angehörigen
unterschiedlicher ethnischer Gruppen systematisch unterscheidet, hat sich vor allem auf ein
Phänomen konzentriert: Personen europäischer und afrikanischer Herkunft unterscheiden
sich durchschnittlich um 15 IQ-Punkte zugunsten der ersteren. Welche Ursachen dieser
608
15 Gruppenunterschiede
Unterschied hat, konnte bislang nicht klar beantwortet werden. Diskutiert werden sowohl
genetische Faktoren als auch Umweltfaktoren. Besonders die Ergebnisse aus Adoptions-
studien – in denen schwarze Kinder in weiße Familien adoptiert wurden – lassen eine
Interpretation sowohl zugunsten von Genen als auch von Umwelten zu. Bei dieser
Diskussion muss bedacht werden, dass sich beide Einflussquellen natürlich nicht aus-
schließen.
15.3.1 Bedeutung und Messung stützt sich gewöhnlich auf das Bildungs-
niveau (höchster erreichter Schulabschluss),
Seit altersher weisen nahezu alle Gesellschaf- die Art der Beschäftigung bzw. den ausgeüb-
ten eine Binnenstruktur auf, die nach Maß- ten Beruf und die Höhe des Einkommens.
gabe von Einkommen und materiellem Letzteres ist sicher diejenige Variable, die
Eigentum, Prestige und sozialem Einfluss aufgrund niedriger Auskunftsbereitschaft
hierarchisch gegliedert ist. Im westlichen der Teilnehmer und einer in vielen Fällen
Kulturkreis wird davon ausgegangen, dass mangelnden Vergleichbarkeit die geringste
die individuelle Zugehörigkeit zu einer der Aussagekraft besitzt. Dass es sich bei der
Schichten nicht lebenslang fixiert ist, sondern Reputation um ein sozial sichtbares Merkmal
eine gewisse Durchlässigkeit besteht und handelt, zeigt die sehr hohe Korrelation
aufgrund sozialer Mobilität ein Aufstieg zwischen Selbsteinstufungen und Fremdein-
ebenso möglich ist wie ein Abgleiten. Viele schätzungen in Höhe von 0,80 (Kleining &
der Merkmale, die die soziale Schicht defi- Moore, 1968).
nieren, variieren kontinuierlich, weshalb die Sofern Frauen nicht berufstätig sind, kön-
Übergänge zwischen den einzelnen Abstu- nen sich methodische und praktische Proble-
fungen je nach dem gewählten Auflösungs- me einer Einstufung ergeben. Häufig wurde
grad relativ fließend sind. Zwischen den in solchen Fällen auf den Beruf des Mannes
genannten Dimensionen bestehen offensicht- zurückgegriffen oder – bei Ledigen – auch
liche, d. h. im sozialen Umfeld beobachtbare auf denjenigen ihres Vaters.
Entsprechungen und Korrelationen. Ande- Mitunter werden Abschnitte auf der SÖS-
rerseits weist jedes der Merkmale auch eine Dimension mit kategorisierenden Begriffen
gewisse Eigenständigkeit auf, so dass in belegt wie »Oberschicht«, »Obere Mittel-
Forschungsuntersuchungen zur Kennzeich- schicht«, »Mittlere Mittelschicht«, »Untere
nung der individuellen Position häufig eine Mittelschicht« oder »Unterschicht« und Pro-
Kombination aus mehreren Statusindikato- zentzahlen für die relative Häufigkeit der
ren herangezogen wird. gebildeten Klassen an der Gesamtheit der
Neben (subjektiven) Selbsteinstufungen Bevölkerung angegeben. Solche und andere
des sozioökonomischen Status (SÖS) und Begriffe sind im alltäglichen Sprachgebrauch
Fremdeinschätzungen der Reputation ist die gängig, unterliegen aber willkürlichen Set-
sogenannte objektive Methode einer Bestim- zungen und historischen Veränderungen. So
mung der individuellen Positionen innerhalb sprachen noch Kleining und Moore (1968)
einer Hierarchie am weitesten verbreitet. Sie bei der Vorstellung ihres am Beruf orientier-
609
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
ten Indexes von der untersten Schicht als den schen 12 und 72 Publikationen) beruht,
»Sozial Verachteten«. Im Wissenschaftspro- korrelierte Intelligenz mit dem später erreich-
zess spielen solche Etikettierungen praktisch ten Bildungsgrad zu r ¼ 0,48, mit dem Beruf
keine Rolle. zu r ¼ 0,38 und mit dem Einkommen zu r ¼
Im vorliegenden Buch ist bei der Erörte- 0,19 (alle Koeffizienten nur aus den »besten«
rung von Leistungs- und Temperaments- Studien, also jenen, in denen die Intelligenz
konstrukten der »dahinter« liegende Einfluss vor dem 19. und die SÖS-Maße erst nach
von SÖS immer wieder angesprochen wor- dem 29. Lebensjahr bestimmt wurden). In
den, ohne dass diese Variable gesondert diesem Ansatz sagte Intelligenz den späteren
behandelt werden konnte. Das soll hier SÖS vorher.
detaillierend nachgeholt werden. Eine unabhängige Variable bildet SÖS
dort, wo der elterliche SÖS die sozioökono-
mischen Erfolgsmaße der Nachkommen vor-
15.3.2 SÖS und Intelligenz hersagt. In dem Material von Strenze (2007)
war dieses mit Koeffizienten von r ¼ 0,44
Die bislang referierten Befunde haben erken- (SÖS gebildet aus Bildungsniveau von Vater
nen lassen, dass Intelligenz bei Schulleistun- und Mutter) bzw. 0,31 (SÖS gebildet aus
gen, dem Bildungsniveau und der ausgeübten väterlichem Beruf) bzw. 0,14 (SÖS gebildet
Berufstätigkeit eine wesentliche Rolle spielt. aus familialem Einkommen) der Fall. Von
Intelligenz stellt damit eine für SÖS konsti- ganz ähnlicher Höhe waren die Korrelatio-
tutive Größe dar. Dementsprechend ist die nen, wenn als Prädiktor anstelle des elterli-
Korrelation zwischen Intelligenz und SÖS chen SÖS die Schulleistungen der Eltern
»größer als die meisten in psychologischer herangezogen wurden.
Forschung gefundenen« (Schmidt & Hunter, Auf der Basis dieser (und anderer Befunde
2004, S. 162). der Literatur) ist Intelligenz ein starker Prä-
Auf die unterschiedlichen IQs von Ange- diktor für SÖS. Darüber hinaus sagen SÖS
hörigen verschiedener Berufsgruppen war der Eltern und deren Schulleistungen in
bereits in Abschnitt 5.3.5 eingegangen wor- nahezu gleich starker Weise SÖS-Indikatoren
den. Hier soll ergänzend darauf hingewiesen auf Seiten der Kinder vorher. Der Vergleich
werden, dass schon in den Normierungsdaten zwischen diesen Prädiktoren ist aufschluss-
für den Stanford-Binet-Test (McNemar, reich deshalb, weil er verschiedene Wege zu
1942) die Kinder von Vätern in Angestellten- sozioökonomischem Erfolg aufweist: Intelli-
berufen gegenüber solchen aus Arbeiterberu- genz steht für allgemeine intellektuelle Leis-
fen sehr viel höhere IQs aufwiesen. Eine tungsfähigkeit, elterlicher SÖS repräsentiert
Differenz im Ausmaß von fast einer Stan- die sozialen Vor- oder Nachteile, die jemand
dardabweichung zwischen den Kindern aus erfahren hat, und die Schulleistungen mar-
diesen beiden Berufsgruppen trat auch in den kieren akademisches Lernen und Motiva-
lange unbeachtet gebliebenen Untersuchun- tion. Also: Zwar ist Intelligenz eine der
gen aus der Frühzeit der Sowjetunion auf zentralen Determinanten für sozioökonomi-
(Grigoriev & Lynn, 2009). Ebenso wie Stu- schen Erfolg, aber elterlicher SÖS und elter-
dien, die einen Leistungsvorsprung der Stadt- liche Schulleistungen spielen für den Erfolg
gegenüber der Landbevölkerung aufgezeigt auf der Status-Leiter eine ganz ähnlichen
haben, sind dieses lediglich Deskriptionen Rolle.
oder korrelative Resultate; völlig offen müs- Nun ist evident, dass auch bei den elter-
sen dabei Ursachen und Wirkungen bleiben. lichen SÖS- und Schulleistungsmaßen Intel-
In der Meta-Analyse von Strenze (2007), ligenz eine herausragende Rolle spielt. Intel-
die nur auf längsschnittlichen Studien (zwi- ligenz taucht insofern als Hintergrund-Va-
610
15 Gruppenunterschiede
riable sowohl auf Seiten der Prädiktoren als Weiteren mit Gefühlen von Glück, Wohlbe-
auch der Kriterien auf, was allein bereits die finden und Lebenszufriedenheit übersteigen
Korrelationen erklären könnte. Ganz allge- nur selten die Größenordnung von r ¼ 0,15.
mein wäre eine präzisere Ermittlung der Robust und numerisch nennenswert seien
separaten Beiträge von Intelligenz und SÖS lediglich die negativen Beziehungen von SÖS
etwa mittels Pfadanalysen wünschenswert. mit der Prävalenz, Inzidenz, Morbidität und
So haben Colom und Flores-Mendoza Mortalität von chronischen und Infektions-
(2007) gezeigt, dass Intelligenz unabhängig krankheiten. Für koronare Herzerkrankun-
vom SÖS mit den Punktwerten eines Schul- gen und auch für psychische Erkrankungen
leistungstests korreliert. Schon vorher hatten erweise sich der Zusammenhang als so evi-
Thienpont und Verleye (2003) festgestellt, dent, dass bereits vorgeschlagen worden sei,
dass der Pfad von Intelligenz über das Bil- eine niedrige Schichtzugehörigkeit neben De-
dungsniveau zur Berufstätigkeit stark ist und pression und sozialer Isolation als zusätzli-
der Einfluss von Intelligenz auf die berufliche chen Risikofaktor anzuerkennen.
Tätigkeit fast ausschließlich über das Bil- Insgesamt ähnelt damit die Befundlage
dungsniveau erfolgt. Aufschlussreich wären zum Zusammenhang von SÖS mit Persön-
Ansätze, in denen nach dem Stellenwert von lichkeits- und Einstellungsmerkmalen auffal-
solchen SÖS-Maßen gefragt wird, aus denen lend derjenigen von Intelligenz und den
der Anteil von Intelligenz herausgerechnet genannten Merkmalen.
ist. Erstaunlicherweise ist dieses Problem
bisher nicht angegangen worden. Nur dessen
Bearbeitung kann eine verbindliche Antwort 15.3.4 Interpretationen
darauf geben, ob SÖS substantiell mehr ist
als »the old workhorse«: Intelligenz. Was die Erklärung aufgetretener Schicht-
unterschiede angeht, so lassen sich drei An-
sätze voneinander unterscheiden:
15.3.3 SÖS, Persönlichkeit und
Werthaltungen l Dem sozialisationstheoretischen Ansatz
zufolge bestimmen die Lebensumstände
Die Ansicht ist weit verbreitet, dass Subgrup- die Entwicklung des Einzelnen, etwa in
pen innerhalb von Gesellschaften, wie sie dem Sinne, dass niedrige Schichtzugehö-
durch unterschiedliche Schichten gekenn- rigkeit geringere berufliche Freiräume
zeichnet sind, auch gemeinsame Interessen und Entscheidungsspielräume und schwe-
und Wertvorstellungen teilen. In Bezug dar- rere körperliche Arbeit mit sich bringt,
auf sind die Befunde allerdings widersprüch- mit der Folge psychischer und körperli-
lich und abhängig von Ländern, zeitlichen cher Erkrankungen. Eine niedrige
Epochen und Erhebungsmodalitäten. Durch- Schichtzugehörigkeit könnte ebenso ein
gängig lässt sich allenfalls festhalten, dass die größeres familiäres Konfliktpotential und
Effekte, wenn sie denn auftreten, nur von emotionale Unsicherheit veranlassen mit
mäßiger Größe sind. Eine der letzten Über- daraus resultierendem höheren Neuro-
sichtsdarstellungen stammt von Schwenk- tizismus und erhöhter Aggressionsnei-
mezger et al. (2000). Die dort berichteten gung usw.
Korrelationen von SÖS-Maßen mit Persön- l Umgekehrt gehen selektionstheoretische
lichkeitsfaktoren, Einstellungen zugunsten Überlegungen davon aus, dass Personen-
von Selbstbestimmung, Freizügigkeit in se- merkmale die Entscheidungen und das
xuellen Angelegenheiten und Liberalität so- Fortkommen im Ausbildungs- und Be-
wie der Akzeptanz von Immigranten, im rufsbereich determinieren.
611
Teil IV Determinanten interindividueller Unterschiede
Intelligenz und sozioökonomischer Status sind auf mehrfache Weise assoziiert. Erstens
weisen Personen mit höherem sozioökonomischem Status im Durchschnitt auch eine höhere
Intelligenz auf. Zweitens zeigen Kinder aus einem Elternhaus mit höherem sozioökonomi-
schem Status bessere Leistungen in einem Intelligenztest als Kinder aus einem Elternhaus mit
geringerem sozioökonomischem Status. Und drittens erlangen intelligentere Kinder und
Jugendliche später im Leben auch einen höheren sozioökonomischen Status. Für andere
Persönlichkeitsmerkmale finden sich keine nennenswerten Zusammenhänge mit dem
sozioökonomischen Status. Die Zusammenhänge von Intelligenz und sozioökonomischem
Status lassen sich theoretisch durch Sozialisation und Selektion oder beides erklären – eine
empirische Entscheidung zwischen diesen Erklärungsansätzen war bislang nicht möglich.
612
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Literatur
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Bildquellennachweis
674
Stichwortverzeichnis
A – allgemeinpsychologisch-experimentelle 400–
401
– differentialpsychologische 400, 402
Absolutskala 46 – psychodynamische 400–401
Abwehrmechanismen 133 Ängstlichkeit 325–326, 328, 360–361, 400,
Actor-Observer Bias 485 402–408, 410, 413, 416
Adoptionsstudien – biologische Grundlagen 413–417
– Intelligenz 545 – Eigenschaft 412
– Kriminalität 552 – Trait 408, 410–411
– Kritik 549 Angsttheorien
– Persönlichkeit 551 – Cattell & Scheier 402–403
Affektiver Stil 347, 350 – Epstein 400
Aggression 419 – Eysenck (Vier-Faktoren-Theorie) 405–406
– Aggressionsmaschine 426, 504 – Freud 400, 402
– Aggressivität 404, 419, 428, 599 – kognitionspsychologische Aspekte 405
– Beobachtungslernen 427 – Lazarus 401
– biologische Faktoren 422 – Mowrer (Zwei-Prozess-Theorie) 401, 404
– Definition 420 – Spielberger 408, 411
– Eigenschaft 428 – Theorie der Verarbeitungseffizienz 407–408
– Frustrations-Aggressions-Hypothese 430 – Vier-Faktoren-Theorie 405–406
– Geschlechtsprägung 422 – Zwei-Komponenten-Theorie 406
– Geschlechtsunterschiede 422, 432–433 Angstverarbeitung und -bewertung 401
– instrumentelle Konditionierung 426 ARAS (Aufsteigendes Retikuläres
– Katharsis-Hypothese 421, 424 Aktivierungssystem) 312–314, 360–361
– klassische Konditionierung 425 Ärger 351
– Lernprozesse 425 Arithmetisches Mittel 71
Agreeableness (s. Verträglichkeit) 294 arousal (Erregung) 313–314, 316–317
AHA-Trias 369 Assoziation
Akquieszenz 128 – freie 133
Aktivation 320 Aufmerksamkeit
Aktiviertheit und Aktivierung 144 – geteilte 316
Aktivität (activity) 299 – selektive 316
Alexithymie 368 – Vigilanz 316–317, 401
Allel 343 Augmenting-Reducing 356–357
Allgemeine Psychologie 20–21, 44, 150
alternatives Fünf-Faktoren-Modell 299
ambulantes Assessment 140 B
Angst 378, 400–402, 405, 407–408, 410, 413,
417
– Interaktions-Angst-Fragebogen 412 Behavioral Activation System (BAS) 327, 338
– Person x Situation-Interaktion 141, 411 Behavioral Approach System (BAS) 327–329,
– situationsspezifisch 412 331, 334, 360–361
– State 408, 410–413 Behavioral Inhibition System (BIS) 326–329,
– State-Trait-Anxiety-Inventory (STAI) 408 331, 334, 338, 360–361, 416–417
– Zustand 412 Behavioral Maintenance System 339, 360
Angstforschung 400 Behaviorismus 53, 434
675
Stichwortverzeichnis
676
Stichwortverzeichnis
677
Stichwortverzeichnis
678
Stichwortverzeichnis
679
Stichwortverzeichnis
M O
680
Stichwortverzeichnis
– Positive and Negative Affect Schedule Psychotizismus 284, 299, 312, 320–322, 325–
(PANAS) 348 326, 328, 367
– Selbstkonzept-Inventar (SKI) 470 – Diathese-Stress-Modell 321
– Temperament and Character Inventory – Eysenck Personality Profiler (EPP) 287
(TCI) 345 – Eysenck Personality Questionnaire (EPQ) 286
– Tridimensional Personality Questionnaire – Kontinuitätshypothese 321
(TPQ) 340
– Zuckerman-Kuhlman-Personality-
Questionnaire (ZKPQ) 298–299 Q
Persönlichkeitsmodelle
– Dispositionismus 36, 457
Q-Daten 271
Persönlichkeitspsychologie 49
Querschnittstudie 20
Persönlichkeitstheorien
– biopsychologische 311–312, 359, 361
– BIS/BAS-Theorie 324–325, 329, 334
– Cloninger 336–340, 345, 360 R
– Costa & McCrae 295
– Davidson 346–350, 360 Rasch-Modell 107
– Eysenck 278, 312–314, 322, 337, 360 Rauchen 288
– Freud 374 Reaktionsnorm 514
– Fünf-Faktoren-Modell 293 Reflex 53
– Gray 324–325, 329, 334, 360 Reiz und Reaktion 52
– Handlungstheoretisches Partialmodell der Reliabilität 103–104, 110–111, 113, 157
Persönlichkeit 442 – interne Konsistenz 105
– Reinforcement Sensitivity Theory (RST) – Messfehler 103
324, 329, 334 – Paralleltest 104
– Schwerpunkte 36 – Retest 104
– Zuckerman 352–353, 360 – skoeffizient-skoeffizient 104
Phrenologie 28, 264 – Split-Half 105
physiologische Variablen 143 – Testhalbierungsmethode 105
– Interkorrelation 145 – Testwiederholungsmethode 104
– Korrelation mit – wahrer Wert 103
Persönlichkeitseigenschaften 363 Repression – Sensitization 388, 403
physische Attraktivität 585–588 – Aufmerksamkeit gegenüber eigenen
P-Korrelationstechnik 146 Krankheiten 393
Pleiotropie 513 – Kritik 394
Polygenie 513 – Messung 391
Polymorphismus 343–344 – physiologische Reagibilität 392
Positive and Negative Affect Schedule (PANAS) – Reaktionen auf sexuelle Reize 393
348 – zweidimensionale Erfassung 395
positiver Affekt 349 Reward Dependence (RD) 339–340, 342–345,
Positiver Affekt 347–348, 351, 360–361 360–361
Produktmomentkorrelation 77–78, 90 R-Korrelationstechnik 145
Projektion 133 Rorschachtest 133
projektive Verfahren 133
Projektive Verfahren 133–134
Protokollsatz 46 S
Prototypizität 63, 501, 504
Psychoanalyse 132–133, 374, 458
– experimentelle Überprüfung 385 Sachfragen 128
– Überprüfbarkeit 384 salutogenetisches Modell 370
psychodynamische Ansätze 133 Satzergänzungsverfahren 134
Psychodynamische Ansätze 132 Scholastic Aptitude Test 566
Psychographie 39 Schwierigkeit 111
psycholexikalische Studie 270 Selbst 465, 477
Psychophysiologie 142 – als Objekt 465, 467
– als Subjekt 465
681
Stichwortverzeichnis
682
Stichwortverzeichnis
683
Stichwortverzeichnis
684
Personenverzeichnis
A Bar-On, R. 229
Barrett, D. E. 561
Barron, F. 234, 244, 249
Abbott, A. R. 588 Bartussek, D. 275, 293
Ackerman, P. L. 203, 583–584 Bates, J. E. 572
Adler, A. 382 Baudouin, J. Y. 586
Ahnert, J. 581 Baumann, U. 286
Albert, R. S. 235 Baumeister, R. F. 506
Alexander, C. 243 Beaunieux, H. 584
Allen, G. 532 Becker, P. 65, 301–302, 370
Allport, G. W. 36, 49, 57, 60, 270, 482 Bègue, L. 454
Altrocchi, J. 391 Bell, P. 483
Amabile, T. M. 255 Belmont, L. 564–565, 568
Ambady, N. 124 Bem, D. J. 482, 502–507, 538
Amelang, M. 65, 100, 113, 122–128, 137, 185, Bem, S. L. 598
213, 216, 227–228, 242, 276, 315, 333, 367, Bembenutty, H. 461
371, 454, 501, 503–504, 579, 588 Bemmels, H. R. 556
Amthauer, R. 154, 165–166, 185, 208, 214, Benn, L. 455
391, 578 Benton, D. 562
Anastasi, A. 100, 192, 521, 579–580 Benyamin, B. 529
Anderson, C. 585 Bergeman, C. S. 542
Andreassi, J. L. 143 Bergen, S. E. 527
Andresen, B. 285, 301 Berkman, D. S. 561, 563
Angleitner, A. 63 Berkowitz, L. 422, 425–426
Ansbacher, H. L. 382 Berndt, T. J. 474
Antonovsky, A. 370 Bettencourt, B. A. 433
Arasteh, A. R. 243 Bevan, W. 422
Arija, V. 562 Bewing, C. 258
Asendorpf, J. B. 130, 395–396, 506 Biesanz, J. C. 123, 506
Ashton, M. C. 283, 295 Binet, A. 31–32, 39, 110, 150, 156
Aster, M. 160 Birbaumer, N. 53
Avtgis, T. A. 438 Birch, H. G. 558
Bishop, E. G. 548
Bjerkedal, T. 568
B Bjorkqvist, K. 432
Bjornæs, H. 563
Bachelor, P. 240 Blake, R. 568
Backteman, G. 122 Block, J. 63
Baddeley, A. D. 203 Blum, G. S. 391
Bailey, H. N. 572 Böddeker, I. 431
Bajema, C. J. 516 Bolger, N. 141
Baker, L. A. 552 Boomsma, D. I. 568
Bally, G. 378 Boring, E. G. 150
Bandura, A. 55, 138, 426–427, 462 Borkenau, P. 122, 124–126, 130, 209, 296,
Barber, B. L. 574 501, 531, 544
Barefoot, J. C. 454 Bornewasser, M. 423
685
Personenverzeichnis
686
Personenverzeichnis
687
Personenverzeichnis
688
Personenverzeichnis
689
Personenverzeichnis
Kyle, K. 425 M
Kyllonen, P. C. 203
Mabe, P. A. 209
Macht, M. 561
L Macioszek, G. 248
MacKinnon, D. W. 234, 244
Lamb, M. E. 537 Mackintosh, N. J. 202
Lamiell, J. T. 51 Magen, E. 463
Lamnek, S. 421 Magnusson, D. 257, 486, 536
Landy, D. 586 Malamuth, N. M. 430
Langlois, J. H. 586, 588 Malcarne, V. L. 445
Larsen, R. J. 65, 332 Mandara, J. 573
Laursen, B. 572 Manders, W. A. 572
Lay, T. 121 Marjoribanks, K. 556–557
Lazarus, R. S. 401 Markus, H. 466
Lazarus-Mainka, G. 395 Marsh, H. W. 468–472
Leahy, A. M. 551 Marsh, R. W. 523
LeDoux, J. E. 413–414 Martindale, C. 252
Lee, E. S. 186 Marwitz, M. 145
Lee, S. M. 449 Maslach, C. 423
Lee, W. E. 284 Mathes, E. W. 587
Lefcourt, H. M. 438 Matthews, G. 231, 329, 367, 371
Lermer, S. 142 Mayer, J. D. 228, 231
Lesgold, A. 251 McAdams, D. P. 49
Letzring, T. D. 122 McCall, R. B. 185, 483
Levin, M. 605 McClelland, D. C. 100
Lewontin, R. 605 McCrae, R. R. 122, 242, 296, 303–305
Li, A. 127 McGinnies, E. 390
Lienert, G. A. 102, 113, 580 McGrew, K. S. 177
Lindauer, M. S. 243 McGue, M. 549
Linden, W. 127 McKusick-Nathans Institute of Genetic
Lindenberger, U. 180–181 Medicine 513
Link, B. G. 564 McLeod, B. D. 573
Lippa, R. 598–599 McNemar, Q. 154, 610
Lischke, G. 423 McRorie, M. 205
Lissmann, U. 258 McWilliams, L. A. 445
Locurto, C. 187 Mednick, S. A. 241, 251, 552
Loehlin, J. C. 521, 529, 531, 547, 552–553, Meer, B. 236
555, 606 Mendel, G. 28
Lohaus, A. 368 Mendelsohn, G. A. 251
Lönnqvist, J.-E. 127 Merikle, P. 391
Lopes, P. N. 231 Mertens, W. 384
Lorr, M. 142 Merz, F. 191, 419–420, 513, 516, 521
Lösel, F. 430 Metcalfe, J. 463
Lotzoff, B. 561 Meyer, A. E. 275
Lubinski, D. 158 Meyers, C. R. 243
Lubow, R. E. 256 Mikula, G. 587
Lucas, R. E. 283 Milgram, S. 427
Luhmann, N. 455 Miller, E. M. 532
Lundin, B. F. 36 Miller, G. 607
Lundin, R. W. 55 Miller, T. Q. 427
Luu, P. 143 Millet, P. 445
Lykken, D. T. 531, 541–542 Millham, J. 395
Lynn, R. 191, 290–291, 605, 607 Mingroni, M. A. 189
Lytton, H. 542 Mirels, H. L. 121
690
Personenverzeichnis
691
Personenverzeichnis
692
Personenverzeichnis
693
Personenverzeichnis
W Wilde, G. J. S. 530
Wilkie, F. L. 182
Wilson, G. D. 289, 329
Wachs, T. D. 537, 561
Wilson, R. S. 540
Wachtel, P. L. 490
Winick, M. 560
Wagner, R. K. 222–223
Winkler, J. D. 128
Waldman, I. D. 605
Winqvist, S. 563
Wallach, M. A. 237, 241, 244, 247–248
Wissler, C. 31, 156
Wallas, G. 250
Wittmann, W. W. 482, 496
Wallen, N. E. 237
Wohlwill, J. F. 536
Walschburger, P. 393
Wolf, R. 537
Walz, D. 454
Wolff, J. L. 186
Wann, D. L. 424
Wolpe, J. 138
Waters, L. E. 445
Wood, W. 427
Watson, D. 65, 123, 128, 283, 348, 500
Woodruffe, C. 122, 504
Watson, J. B. 35, 53, 511
Woodworth, R. S. 116, 545
Wechsler, D. 150, 154, 160, 179, 191, 214
Wright, J. C. 490
Weinberg, R. A. 605
Wrightsman, L. S. 455
Weinberger, D. A. 396, 405
Wundt, W. 68, 262, 278, 602
Weinert, F. E. 183–184
Weininger, O. 258
Weinstein, J. 393
Weinstein, S. 186
Y
Weisberg, R. W. 251
Weiss, L. H. 573 Yerkes, M. 589
Weiß, R. H. 166 Yoakum, C. S. 214
Weller, L. 463 Yule, G. U. 22
Wernimont, P. F. 136
Westhoff, K. 138
Westphal, K. 265 Z
Wheeler, L. R. A. 187
White, M. 419
Zajonc, R. B. 565–567
Wichman, A. L. 567
Zdanowicz, N. 447
Wicket, J. C. 207
Zimprich, D. 182
Wiener, B. R. 127
Zuckerman, M. 123, 140, 142, 298–299, 303,
Wigdor, A. K. 222
352, 355, 357, 501, 507, 587, 602
Wiggins, J. S. 293
694